Jähzorn - Die Getreuen und die Gefallenen 3 - John Gwynne - E-Book

Jähzorn - Die Getreuen und die Gefallenen 3 E-Book

John Gwynne

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Beschreibung

Wer Jähzorn säht, wird Ungnade ernten ....

Die Verfemten Lande versinken in Krieg und Chaos: Die dämonischen Kadoshim sind kurz davor, ihrem Herrscher Asroth und seinen Gefallenen Einlass in die Welt der Sterblichen zu gewähren. Doch damit dieses teuflische Unterfangen gelingt, benötigen die Dämonen die sieben Kostbarkeiten – das mächtigste Artefakt hält allerdings König Nathair in seinen Händen, während sich unbemerkt eine Rebellion gegen ihn erhebt. Denn zusammen mit seinen mutigen Gefährten und einer sprechenden Krähe macht sich Corban auf zur mystischen Feste Drassil, wo ein weiterer Schatz verborgen scheint ...

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Seitenzahl: 1470

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Das Buch

Die Verfemten Lande versinken in Krieg und Chaos: Die dämonischen Kadoshim sind kurz davor, ihrem Herrscher Asroth und seinen Gefallenen Einlass in die Welt der Sterblichen zu gewähren. Doch damit dieses teuflische Unterfangen gelingt, benötigen die Dämonen die sieben Kostbarkeiten – das mächtigste Artefakt hält allerdings König Nathair in seinen Händen, während sich unbemerkt eine Rebellion gegen ihn erhebt. Denn zusammen mit seinen mutigen Gefährten und einer sprechenden Krähe macht sich Corban auf zur mystischen Feste Drassil, wo ein weiterer Schatz verborgen scheint …

Der Autor

John Gwynne studierte an der Brighton University, wo er später auch unterrichtete. Er spielte Bass in einer Rock’n’Roll-Band, bereiste die USA und lebte in Kanada. Heute ist er verheiratet, hat vier Kinder und führt in England ein kleines Unternehmen, das alte Möbel restauriert.Weitere Informationen unter: http://www.john-gwynne.comVon John Gwynne bereits erschienenMacht · Bosheit · Jähzorn Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und www.twitter.com/BlanvaletVerlag

JOHN GWYNNE

Jähzorn

Die Getreuen und die Gefallenen 3

Aus dem Englischenvon Wolfgang Thon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Ruin – The Faithful and the Fallen 3« bei Pan Macmillan, London.1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © 2015 by John Gwynne

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2017 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Urban Hofstetter

Umschlaggestaltung: Isabelle Hirtz, Inkcraft, nach einer Originalvorlage

Umschlagillustration: Paul Young represented by Artist Partners

Karte: © Fred van Deelen

BL · Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-18869-6V005www.blanvalet.de

Für William, mein Gedächtnis und meine Freude. Und für Caroline, die Luft, die ich atme.

»Verwüstung, Raub und Sturz sind mein Gewinn.«

John Milton, Das verlorene Paradies

1. KAPITEL

ULFILAS

Im Jahr 1143 des Zeitalters der Verbannten, Adlermond

Ulfilas drückte die Hacken gegen die Flanken seiner Stute und trieb sie den Hang vor sich hinauf, eine Anhöhe aus grauem Fels und Schotter, die mit Holz abgestorbener Bäume übersät war. Ein Dutzend Schritte vor ihnen ritt Jaels Jagdaufseher Dag.

Jael sollte nicht hier sein, dachte Ulfilas, der ein flaues Gefühl im Magen hatte. Der König von Isiltir sollte nicht in der nördlichen Wildnis herumirren. Der Grund für Ulfilas Sorge war nicht etwa Loyalität zu Jael – er mochte den Mann ja nicht einmal. Es lag eher daran, dass es sich lächerlich angefühlt hätte, wenn sie nach allem, was sie durchgemacht hatten, auf einer Reise starben, die er für Zeitverschwendung hielt.

Ulfilas war sich bewusst, dass sich die Zeiten änderten, dass Krieg am Horizont aufzog und dass die Macht in Isiltir sich festigen musste. Er war seit seiner Langen Nacht Jaels Schildmann, und obwohl er dessen Charakter und sein Benehmen nicht mochte, war Ulfilas auch ein pragmatischer Mann. Ich bin ein Krieger. Also muss ich für jemanden kämpfen. Und die Ereignisse der letzten Zeit hatten bewiesen, dass er eine kluge Wahl getroffen hatte. König Romar war tot. Kastell, Jaels Cousin, war ebenfalls tot. Gerda, die ehemalige Frau von Romar, lebte auch nicht mehr. Ihr junger Sohn Haelan, genau genommen immer noch der Thronerbe von Isiltir, war verschwunden. Auf der Flucht. Ulfilas wusste, dass Jael so gut wie keine Loyalität gegenüber den Männern empfand, die ihm folgten. Der neue und selbsternannte König von Isiltir war ein verschlagener, eitler und machtgieriger Mann und würde alles tun, was nötig war, um seine neu gewonnene Krone zu verteidigen. Aber er war auch ein Mann, der im Aufstieg begriffen war. Also hatte Ulfilas zu ihm gehalten, obwohl eine Stimme in seinem Kopf ihm ständig sagte, er solle ihn verlassen und sich einen anderen, würdigeren Herrn suchen, dem er dienen konnte.

Ist diese Stimme dein Gewissen?, fragte er sich. Pah, ein Gewissen füllt meinen Teller nicht mit Speisen und verhindert auch nicht, dass mein Kopf auf der Spitze einer Lanze endet.

»Wie lange noch?«, rief Jael nach vorn.

»Es dauert nicht mehr lange, Mylord!«, erwiderte der Jagdaufseher. »Wir sind noch vor Sonnenuntergang bei ihnen.«

Kurz vor dem Grat der Steigung verhielt Ulfilas sein Pferd und blickte zurück.

Eine Kolonne von Kriegern marschierte den Hang hinter ihnen herauf. Sie scharten sich um einen Planwagen, der von zwei riesigen Auerochsen gezogen wurde. In ihrem Rücken erstreckte sich grau und öde das Land, und der Rand des Fornswaldes weiter im Süden war ein grüner Streifen am Horizont. In der Ferne funkelte ein Fluss im Licht der untergehenden Sonne, der die Grenze dieser nördlichen Einöde zu dem Reich dahinter markierte.

Isiltir, Heimat. Ulfilas drehte sich um und sah wieder den Hang hinauf zu seinem König. Dann trieb er sein Pferd an, um ihm zu folgen.

Sie zogen noch weiter nach Norden, während die Sonne immer tiefer sank und die Schatten um sie herum länger wurden. Der Pfad schlängelte sich durch menschenleere Steppen und steile Schluchten. Einmal überquerten sie eine Steinbrücke, die einen gewaltigen Abgrund überspannte. Ulfilas warf einen Blick hinab in die Dunkelheit. Ihm drehte sich der Magen um, als sein Pferd auf einem lockeren Stein ausrutschte. Bei dem Gedanken, ins Ungewisse zu stürzen, riss er heftig an den Zügeln. Als sie die andere Seite erreichten, atmete er erleichtert auf. Der Angstanfall verflog ebenso schnell, wie er gekommen war.

Sie hatten das unfruchtbare Vorgebirge erreicht, als sie schließlich einen weiteren Hügelkamm hinaufritten, wo Dag stumm auf sie wartete. Ulfilas und sein König verhielten ihre Pferde neben dem Jäger und starrten regungslos auf das, was vor ihnen lag.

Eine flache Ebene erstreckte sich in die Ferne, und am Horizont zeigten sich die zerklüfteten Gipfel von Bergen. Direkt unter ihnen lag ihr Ziel – ein riesiger Krater, so groß, als hätte Elyon, der Schöpfer, mit der Faust in die Erde geschlagen. Dort wuchsen weder Pflanzen noch drangen irgendwelche Tiergeräusche heraus.

»Der Krater des Sternensteins«, flüsterte Jael.

Ulfilas hatte diesen Krater des Sternensteins, der vom Himmel gefallen war, immer für eine Legende gehalten.

Vor wie vielen tausend Jahren sollte er auf die Erde gefallen sein? Und angeblich waren aus dem Stein dieSieben Kostbarkeiten geschmiedet worden, um die Kriege geführt worden waren, die das Antlitz derVerfemten Lande für immer verändert hatten. Gerade hier, wo angeblich Elyons Geißelung das Land zerstört und es verbrannt hatte.

Ulfilas sah zum Himmel empor. Er war schiefergrau und dicht bewölkt. Einen Moment stellte er sich vor, dass in diesen Wolken die Ben-Elim mit ihren weißen Schwingen und Asroths Dämonenhorde, die Kadoshim, kämpften und konnte fast ihre Schlachtrufe hören, das Klirren der Waffen und die Todesschreie.

Elyon und Asroth, Schöpfer und Zerstörer, deren Engel und Dämonen um die Vorherrschaft in diesenVerfemten Landen kämpfen. Ich habe das alles für ein Märchen gehalten, und jetzt sagt man mir, dass es erneut passiert.

Als Ulfilas nun durch dieses karge Land ritt, stellte er fest, dass er etwas glaubte, was er noch vor knapp einem Jahr für Ammenmärchen gehalten hatte. Er dachte an Haldis zurück, die Totenstätte der Hunen-Giganten, die tief im Fornswald versteckt lag. Dort hatte er gesehen, wie ein König verraten und wegen einer schwarzen Axt getötet wurde, die angeblich eine der aus dem Sternenstein geschmiedetenSieben Kostbarkeiten sein sollte. Er hatte Weißwyrmer gesehen und erlebt, wie Erdmagie den festen Boden in einen Sumpf verwandelte, der seine Schwertbrüder verschlang und erstickte. Er war ein Mann der Tat und der Taten. Monster zu akzeptieren, die real wurden, fiel ihm nicht so leicht. Allein bei der Erinnerung daran brannte die Furcht in seinem Magen.

Furcht hält dich wachsam.

Am Ende des Hangs und direkt am Rand des Kraters lag die Ruine einer uralten Festung. Ihre Mauern und Türme waren eingestürzt und verfielen. Zwischen den Ruinen bewegten sich Gestalten, die aus dieser Entfernung klein wie Nadelköpfe wirkten.

»Die Jotun«, verkündete Jael.

Die Giganten des Nordens. Angeblich die stärksten und wildesten der überlebenden Gigantenclans. Und nicht zum ersten Mal stellte Ulfilas die Klugheit dieser Reise infrage.

»Keine plötzlichen Bewegungen«, ermahnte Dag sie. »Und seid wachsam!«

Einige Jotun verließen die Ruinen und versammelten sich auf der Straße, die durch die zerstörten Mauern führte. Ihre Speerspitzen und ihre Rüstungen glänzten in der untergehenden Sonne. Eine Handvoll von ihnen saß auf struppigen, plumpen Kreaturen.

»Reiten sie etwa auf Bären?«, erkundigte sich Ulfilas ungläubig.

»Wir alle haben die Geschichten der Jotun aus dem Norden gehört«, antwortete Jael. »Wie es aussieht, sind zumindest einige von ihnen wahr.«

Sie machten an den ersten Trümmern einer Mauer halt. Die Kolonne von Reitern hinter ihnen kam allmählich zum Stehen. Krieger verließen den Pfad und scharten sich wie eine schützende Hand um Jael. Es waren zweihundert handverlesene Schildwachen von Jael. Ulfilas spürte die Spannung der Männer und sah, wie sie ihre Speerschäfte und Schwertgriffe umklammerten.

Giganten tauchten aus den Ruinen auf und kamen auf sie zu. Sie bewegten sich trotz ihrer massigen Leiber überraschend geschmeidig. Einige saßen auf dem Rücken von Bären, die ein dunkles Fell und gelbe Krallen hatten. Ulfilas wusste, dass Jael gut daran tat, misstrauisch zu sein. Sie hatten die Schlacht von Haldis aus erster Hand miterlebt und gesehen, wie tödlich ein Angriff von Giganten sein konnte. Hätten die Männer aus Tenebral nicht ihren Schildwall gebildet und den Angriff der Hunen aufgehalten, die gerade dabei gewesen waren, die Kriegerhorden von Isiltir und Helveth in Stücke zu reißen, dann, das war Ulfilas klar, würde keiner von ihnen hier stehen.

Jetzt ist es zu spät, die Technik des Schildwalls zu erlernen, aber ich schwöre, wenn ich es nach Hause zurückschaffe …

Einer der Bärenreiter löste sich aus der Gruppe der anderen. Bei jedem Schritt des Bären erbebte der Boden unter ihren Füßen. Das Tier blieb vor Jael stehen und überragte ihn um etliches.

Der Gigant rutschte aus dem Sattel mit der hohen Rückenlehne und trat vor. Sein blondes Haar und sein Schnauzbart waren zu dicken Zöpfen geflochten. Ein Umhang aus dunklem Fell verhüllte seinen Körper, und darunter schimmerte Eisen. In der Hand hielt er einen dicken Speerschaft, und an seinen Sattel war ein Streithammer gebunden. Der Bär beobachtete sie mit kleinen, intelligent wirkenden Augen. Dann zog er eine Lippe hoch und zeigte eine Reihe scharfer Zähne.

»Willkommen in der Ödnis, Jael, König von Isiltir.« Die Stimme des Giganten klang, als würde Schotter über Stein schleifen.

»Sei gegrüßt, Ildaer, Häuptling der Jotun«, erwiderte Jael. Er hob die Hand, und seine Krieger bildeten eine Gasse, damit der Planwagen weiterfahren konnte. Einer der Auerochsen, der ihn zog, schnaubte und scharrte mit einem Huf den Boden auf.

Ihm gefällt der Gestank der Bären genauso wenig wie mir, dachte Ulfilas.

Jael hob die Plane an, die den Inhalt des Wagens verhüllte. »Hier, wie meine Gesandten es dir versprochen haben. Ein Tribut. Waffen deiner Vorfahren, gelagert in Dun Kellen.« Er griff in den Wagen und zog mit Mühe eine riesige Streitaxt heraus. »Mein Geschenk an dich.«

Ildaer machte eine Handbewegung, und ein anderer Gigant trat an den Planwagen. Er trug ein Breitschwert auf dem Rücken. Er war genauso groß wie Jael, der auf seinem Pferd saß. Der Gigant nahm die Axt, drehte sie in seinen Händen hin und her und warf dann einen Blick in den Planwagen. Er konnte den freudigen Ausdruck nicht verbergen, der über sein Gesicht zuckte.

»Das sind die Waffen unserer Ahnen«, sagte er und nickte Ildaer zu.

»Ich gebe sie dir zurück als ein Unterpfand meines guten Willens und als eine Anzahlung für deine Hilfe bei einem Anliegen.«

Der Gigant packte den Harnisch der Auerochsen und führte sie weiter, während Ildaer einen Blick ins Innere des vorbeifahrenden Planwagens warf. Die Giganten drängten sich um ihn.

»Und was sollte mich davon abhalten, dich und deine Männer zu töten und eure Kadaver an meine Bären zu verfüttern?«

»Lebendig bin ich wertvoller für dich. Man hat mir gesagt, du wärst ein kluger Mann, kein wilder.«

Ildaer starrte Jael an, und die Augen unter seiner hervorstehenden Stirn wurden zu schmalen Schlitzen. Dann warf er einen Blick über die Schulter auf den Planwagen voller Waffen.

»Und außerdem, wer sagt denn, dass wir nicht dich und deine ganze Kriegerhorde töten würden?«, fuhr Jael fort.

Die Giganten hinter Ildaer maßen Jael mit bösen Blicken, und ein Bär grollte leise.

Ulfilas fühlte den vertrauten Stich von Furcht, ein Vorbote plötzlicher Gewalt. Seine Finger auf dem Schwertgriff zuckten.

»Ha!« Ildaer lachte barsch. »Ich glaube, ich mag dich, Südländer.«

Ulfilas spürte, wie die Anspannung nachließ. Südländer? Isiltir ist kein Südland. Andererseits sind wir hier in den Nordlanden. Die Leute hier nennen wohl alles, was nicht nördlich von ihnen liegt, Südlande.

Ildaer warf erneut einen Blick auf den Planwagen. »Diese Waffen sind für mein Volk von großem Wert«, gab er zu.

»Das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich dir geben werde, wenn du mir helfen kannst«, versprach ihm Jael.

»Und was willst du?«

»Ich will, dass du einen entlaufenen Jungen für mich findest.«

2. KAPITEL

CORBAN

Corban erwachte vom heftigen Hämmern seines Herzens. Es waren die Reste seines Traums, der mit dem Erwachen verblasste; nur ein schwacher Abglanz von schwarzen Augen, aus denen unermesslicher Hass leuchtete, hielt sich noch einen Moment. Dann war auch der verschwunden.

Um ihn herum herrschte nur kalte Dunkelheit.

Dann hörte er, wie Sturm knurrte, und richtete sich auf. Mit der Hand tastete er nach seinem Schwertgriff. Irgendetwas stimmt nicht.

Er spürte Sturms Körper neben sich, streckte die Hand aus und fühlte, dass sie die Nackenhaare sträubte.

»Was hast du, mein Mädchen?«, flüsterte er.

Im Lager war es still. Zu seiner Linken glühte die Feuergrube, aber dorthin blickte er absichtlich nicht, weil er wusste, dass er sonst überhaupt nichts mehr im Dunkeln würde erkennen können. Er bemerkte den etwas dunkleren Schatten eines Wächters – am Rand der Senke, in der sie lagerten. Der Mond trat hervor und beleuchtete eine andere Gestalt dicht daneben, eine große dunkelhaarige Gestalt. Meical. Er stand vollkommen regungslos da, während seine Aufmerksamkeit ausschließlich der oberen Kante der Senke galt. Hinter Corban wieherte ein Pferd.

Dann ertönte ein Flattern über ihm, und ein Vogel krächzte. »Aufwachen! Hütet euch vor dem Feind, aufwachen! Aufwachen! Wacht auf!«

Craf oder Fech. Corban sprang auf, und um ihn herum folgten weitere dunkle Schemen seinem Beispiel. Kratzend fuhren Schwerter aus ihren Scheiden. Dann tauchten Gestalten am Rand der Senke auf, deren Umrisse kurz im Mondlicht zu erkennen waren, bevor sie in die Senke stürmten. Es krachte, Körper prallten aufeinander, und Schreie ertönten.

»Kadoshim!«, brüllte Meical. Dann herrschte reines Chaos. Körper wirbelten überall umher, dunkle Schatten, die im Licht der Sterne und des Mondes nur undeutlich zu erkennen waren. Funken stoben auf, als das Feuer hell aufleuchtete und sein Licht auf die Senke fiel. Corbans Blick streifte Brina, die neben den Flammen hockte und Anrufungen flüsterte. Dadurch loderte das Feuer höher auf und schoss auf ihre Feinde zu.

In diesem Licht waren etwa ein Dutzend Angreifer zu erkennen, die genauso gekleidet waren wie die Jehar, sich jedoch anders bewegten. Sie besaßen nicht die Geschmeidigkeit der Krieger. Es war, als könnten ihre Körper die Kraft nicht bändigen, die in dieser Hülle aus Fleisch und Knochen steckte. Sie schlugen sich durch das Lager und schleuderten alle zur Seite, die sich ihnen in den Weg stellten. Corban erinnerte sich daran, wie die Kadoshim in Murias gekämpft hatten, unmittelbar nachdem sie aus dem Kessel emporgestiegen waren. Mit einer wilden, unmenschlichen Brutalität hatten sie ihren Gegnern die Glieder ausgerissen. Mit einem Mal überkam ihn Furcht, und er hatte das Gefühl, seine Füße wären wie angewurzelt. Dann vernahm er einen wütenden Schrei in einer fremden Sprache und sah, wie Balur Einauge, hinter dem sich die anderen Giganten seines Clans versammelt hatten, den Kadoshim seinen Trotz entgegenbrüllte. Die stockten kurz, bevor sie sich auf Balur stürzten.

Sie wollen die Axt.

Während Corban beobachtete, wie sie angriffen, erinnerte er sich an seine Mam, an den Angriff dieser Wesen auf sie, daran, wie er versucht hatte, den Blutfluss zu stillen, als er sie in seinen Armen hielt, und wie das Lebenslicht in ihren Augen allmählich erlosch. Wilder Hass auf diese Kreaturen durchströmte ihn und brannte die Furcht aus seinem Leib, die ihn eben noch hatte erstarren lassen. Im nächsten Moment stürmte er vor. Mit jedem Schritt wurde er schneller. Sturm lief neben ihm her.

Sie sahen ihn, bevor er sie erreicht hatte. Vielleicht war es auch Sturm, die ihn verriet. Jedenfalls erkannten die Kadoshim ihn ganz offensichtlich und wussten auch, wer er angeblich sein sollte: dasReine Licht, der Strahlende Stern, Elyons Paladin und fleischgewordener Avatar. Einige von ihnen lösten sich aus der Gruppe der Kadoshim, die mittlerweile mit Balur und den anderen Giganten kämpfte. Tukul und seine Jehar tanzten um sie herum und setzten ihnen mit ihren Schwertern zu.

Sturm beschleunigte und lief vor Corban. Er sah, wie die Muskeln in ihren Beinen sich zum Sprung anspannten, dann flog sie durch die Luft, krachte wie eine Kugel aus Pelz und Fleisch gegen einen der Kadoshim und schnappte nach seiner Kehle.

Als er seine Feinde erreichte, übernahmen Corbans Instinkte die Kontrolle; mit beiden Händen packte er sein Schwert, hob es hoch über den Kopf und schlug in schrägem Winkel zu. Dabei verlagerte er sein Gewicht und tanzte um sein Ziel herum. Er spürte, wie die Klinge Leder und Kettenpanzer durchdrang, Knochen zerschmetterte und sich durch das Fleisch fraß. Der Schlag hätte tödlich sein müssen. Doch der Kadoshim taumelte nur und packte Corbans Klinge mit einer Hand. Das Wesen starrte ihn mit einem durchbohrenden Blick seiner schwarzen Augen an, dann grinste es. Schwarzes Blut quoll aus seinem Mund. Sie waren nicht mehr die menschlichen Jehar, deren Körper sie in Besitz genommen hatten, nachdem sie aus dem Kessel gekommen waren, sondern etwas weit Mächtigeres.

Corban riss sein Schwert zurück und sah, wie abgetrennte Finger zu Boden fielen, als der Kadoshim versuchte, die Waffe festzuhalten. Seine andere Hand zuckte vor und packte Corban um die Kehle, hob ihn vom Boden hoch. Die Finger begannen mit unglaublicher Kraft zuzudrücken. Corban strampelte mit den Beinen und versuchte, sein Schwert einzusetzen, konnte jedoch keine Kraft in die Schläge legen. Sterne tanzten am Rand seines Blickfeldes, und ihm wurde allmählich schwarz vor Augen. Das Hämmern seines Herzens wurde immer lauter und übertönte alle anderen Geräusche. Panik durchströmte ihn. In dieser Angst fand er plötzlich neue Kraft und hämmerte den Woelvengriff seines Schwertes auf den Schädel des Kadoshim. Er spürte zwar, wie der Knochen brach, aber das Wesen hielt ihn immer noch gepackt.

Es betrachtete Corban gelassen und legte den Kopf auf die Seite.

»Du bist also Meicals Marionette«, knurrte es. Corban erschrak. Die Stimme des Wesens klang wie ein tiefes Rumpeln, zu tief für die Kehle, aus der es kam.

Corban versuchte, sein Schwert anzuheben, aber es war plötzlich zu schwer. Viel zu schwer. Und es glitt ihm aus den Fingern. Die Kraft verließ ihn, sickerte aus ihm heraus, während sich eine schreckliche Lethargie in ihm ausbreitete.

So viel dazu, dass alle hoffen, ich wäre derStrahlende Stern. Fühlt sich der Tod so an? Wenigstens werde ich Mam wiedersehen.

Etwas prallte gegen sie, dann knirschte es, ein Geräusch, das durch seinen ganzen Körper lief, und er sah, wie sich scharfe Zähne in den Hals und die Schulter des Kadoshim gruben.

Sturm. Die Erkenntnis kam wie aus weiter Ferne.

Der Kadoshim wurde herumgewirbelt, als Sturm versuchte, ihn von Corban wegzuzerren. Aber das Wesen ließ Corbans Kehle nicht los. Dann gab es einen neuen Aufprall, der von einem Geräusch begleitet wurde, als würde nasses Holz gespalten. Eine Axtklinge trennte die Hand des Kadoshim von seinem Arm ab.

Corban krachte zu Boden, und seine schwachen Beine konnten ihn nicht mehr tragen. Er sah hoch. Tukul kämpfte mit dem Kadoshim, während Sturm sich in das Bein der Kreatur verbissen hatte. Dann war noch jemand da, ein Schwert beschrieb einen undeutlichen zischenden Bogen, und im nächsten Moment wirbelte der Kopf des Kadoshim durch die Luft.

Sein Körper sank zu Boden, und seine Füße trommelten auf der weichen Erde, als schwarzer Nebel in der Form von großen Schwingen aus dem Leichnam aufstieg. Augen wie glühende Kohlen betrachteten sie einen Moment mit abgrundtiefer Bosheit, bevor ein Windstoß die Nebelgestalt auflöste. Nur ein gequältes Jammern hielt sich noch in der Luft.

Ghar stand neben Corban und zog ihn auf die Füße.

»Ihr müsst ihnen die Köpfe abschlagen«, erklärte der ehemalige Stallmeister.

»Ja, richtig, jetzt fällt es mir wieder ein«, krächzte Corban.

»Denk nächstes Mal gefälligst früher dran.«

Corban nickte und massierte seinen Hals. Als er seinen Krieger-Halsreif berührte, spürte er eine Delle im Metall.

Der Reif muss verhindert haben, dass er mir die Luftröhre zerquetscht hat.

Der Kampf war so gut wie beendet. Das erste Morgengrau war heraufgezogen, während sie kämpften, und in dem Licht sah Corban, wie eine Handvoll Giganten den letzten Kadoshim am Boden festhielt. Balur stand breitbeinig über der Kreatur. Er schwang seine Axt, und im nächsten Moment stieg eine Nebelgestalt empor, die kreischend ihre Wut herausstieß, während sie die Welt des Fleisches verließ.

Dann herrschte Stille, dieser von Erleichterung durchtränkte Augenblick, der sich immer am Ende eines Kampfes einstellt. Corban hielt inne, einfach nur froh darüber, noch am Leben zu sein, während die Angst und die Anspannung des Kampfes von ihm abfielen. Dasselbe Gefühl beobachtete er bei seinen Gefährten ringsum, die Entspannung der Muskeln, die Veränderung in ihren Gesichtern, die Dankbarkeit, die sie alle empfanden. Dann verflog der Moment der Pause.

Beim ersten Tageslicht sammelten sie ihre Toten ein und legten sie in einer Reihe ans Flussufer, neben dem Steingrab, das sie erst gestern fertiggestellt hatten. Corban stand da und starrte auf den Haufen von Steinen, die sie aus dem Fluss geholt hatten.

Unter diesen Steinen liegt meine Mam.

Eine Träne rollte ihm über die Wange, als Trauer und Erschöpfung ihn überkamen. Sie erfüllten seine Brust und nahmen ihm den Atem. Dann hörte er ein leises Jaulen. Sturm drückte ihre Schnauze in seine Hand. Sie war von Blut verkrustet.

Ein kalter Wind prickelte auf seiner Haut, als er vor dem Steingrab seiner Mutter stand. Wie kann es sein, dass sie von mir gegangen ist? Er fühlte ihre Abwesenheit wie etwas Physisches, als hätte man ihm einen Körperteil amputiert. Die Ereignisse von gestern kamen ihm fast wie ein Traum vor,wie ein Albtraum. Der Tod seiner Mam und der so vieler anderer, von Menschen, Giganten und den großen Wyrmern. Und er hatte den Kessel gesehen, eine derSieben Kostbarkeiten, ein Relikt aus einem Zeitalter der Legenden. Er hatte gesehen, wie eine blubbernde Welle aus Dämonengeistern von derAnderwelt herausgeströmt war, Asroths Kadoshim, die sich der Körper der wie gebannt dastehenden Jehar-Krieger bemächtigt hatten, als wären es einfach nur leere Gefäße. Er wusste, dass die Gruppe, die sie zuvor angegriffen hatte, nur ein kleiner Teil dieser Krieger war, die etwa ein Dutzend Wegstunden weiter im Norden geblieben waren. Nathair und seine Dämonenkrieger lagerten innerhalb der Mauern von Murias.

Und was machen wir jetzt?

Er sah zu, wie der Rest seiner Gefolgsleute sich daranmachte, das Lager abzubrechen. Er suchte nach Meical, fand ihn jedoch nicht. Brina stand dicht an der Feuergrube, während Craf und Fech um sie herumflatterten. Er sah Coraleen, die am Rand des Lagers umherging und nach den Pferden sah. Ihre Woelvenklauen hatte sie sich über die Schulter geschlungen. Corban erinnerte sich an ihre Worte vor dem Kampf in Murias, als sie vom Fall von Domhain und dem Tod ihres Vaters König Eremon gehört hatten. Sie war in den Wald geflüchtet, und er war ihr gefolgt, hatte sie trösten wollen, aber nicht gewusst, wie. Sie hatten miteinander geredet, und einen Augenblick lang hatte er einen Blick hinter die kalte, harte Mauer werfen können, die sie um sich herum errichtet hatte. Er wünschte sich, er könnte diesen Moment noch einmal heraufbeschwören und weiter so mit ihr sprechen. Dann drehte sie den Kopf, und ihr Blick streifte ihn kurz. Im nächsten Moment wandte sie sich brüsk ab. Hinter ihr stand eine Gruppe von Gestalten – die Giganten, die aus Murias geflüchtet waren. Sie scharten sich zusammen wie ein kleines Geröllfeld. In der Nähe sammelten sich die Jehar neben dem Fluss und bereiteten sich auf ihren Schwerttanz vor. Aus Gewohnheit schloss er sich ihnen an. Ohne nachzudenken, ging er zu ihnen, suchte Trost darin, etwas Vertrautes in diesem ganzen Gewirr aus Furcht, Tod und Trauer zu tun, das ihn zu verschlingen drohte.

Sie hatten sich um ihren Anführer versammelt, Tukul. Neben ihm stand Ghar. Eine weitere Gruppe hatte sich hinter dem alten Krieger zusammengefunden, diejenigen, die Corban in Rhins Festung gerettet hatten. Andere dagegen versammelten sich vor Tukul. Es waren mindestens doppelt so viele. Als Corban näher kam, erhob Tukul gerade seine Stimme und sagte etwas in einer Sprache, die Corban nicht kannte. Die Jehar vor ihm fielen auf die Knie und senkten die Köpfe. Nur einer folgte ihrem Beispiel nicht. Corban erkannte in ihm den Jehar, der bei Nathair gewesen war, bevor sie begriffen hatten, dass sie betrogen worden waren. Ganz offensichtlich war er wegen irgendetwas wütend. Ghar trat vor. Corban kannte ihn mittlerweile seit vielen Jahren und wusste, dass auch er zornig war. Ghars gerader Rücken und seine hochgezogenen Schultern verrieten es ihm.

Einen Moment standen sich die beiden Männer gegenüber und starrten sich an. Beide strahlten eine kaum beherrschte Bereitschaft zur Gewalt aus. Dann blaffte Tukul einen Befehl, und sie traten zurück. Der andere Mann ging steifbeinig davon.

Ghar sah Corban und ging zu ihm. Seine geröteten Augen wirkten entzündet. Corban erinnerte sich daran, dass er vor dem Steingrab seiner Mam geweint hatte. Es war das erste Mal, dass Ghar in seiner Gegenwart ein solches Gefühl gezeigt hatte.

Er hat immer so stark gewirkt, so beherrscht. Aber irgendwie war Ghar ihm menschlicher vorgekommen, als er ihn weinen sah. Corban durchflutete eine Woge von Gefühlen für diesen Mann, seinen Lehrer, Beschützer. Seinen Freund.

»Was ist passiert?«, wollte Corban wissen.

»Die Jehar, die Sumur und Nathair gefolgt sind« – Ghar nickte zu den Jehar, die sich erhoben hatten und die Reihen für die Schwerttanz-Übung bildeten –, »haben meinen Vater als ihren Hauptmann anerkannt.«

»Gut. Und er?« Corban blickte zu dem Jehar hinüber, der mit Tukul geredet hatte.

»Das ist Akar. Er war Sumurs Hauptmann. Er ist beschämt, weil sie derSchwarzen Sonne gefolgt sind und von Nathair getäuscht wurden. Er schämt sich, weil er zum Narren gehalten wurde. Er ist sehr stolz, deshalb sagt er dumme Dinge.« Ghar zuckte mit den Schultern. Die Gefühle von vorhin waren entweder verschwunden, oder er verbarg sie gut.

»Es hat ausgesehen, als wollte er gegen dich kämpfen.«

»Möglicherweise kommt es dazu.« Ghar sah zu dem Krieger, der sich jetzt in die Reihe der Schwerttänzer gestellt hatte. »Wir haben noch eine alte Rechnung offen.«

Corban wartete, aber Ghar sagte nichts weiter.

»Wo ist Meical?«, fragte Corban schließlich.

»Er kundschaftet die Gegend aus. Kurz nach dem Angriff ist er aufgebrochen. Mit einem Giganten und ein paar meiner Schwertgefährten.«

»Sollten wir ihn nicht suchen?«

»Meiner Meinung nach kann Meical sehr gut auf sich aufpassen. Er kommt sicher bald zurück. Wir sollten unsere Zeit lieber sinnvoll nutzen.« Ghar schob ihn nach vorne, zwischen die Reihen der Jehar-Krieger. Corban zog sein Schwert und nahm die erste Position des Tanzes ein; er konzentrierte sich auf den Rhythmus, und die Erinnerung seiner Muskeln übernahm instinktiv die Kontrolle über sein Bewusstsein. Die Zeit verstrich und verschmolz zu einer Einheit von Muskelbewegungen, von Konzentration und Schweiß, von rauschendem Blut und seinem schlagenden Herzen und dem Gewicht seines Schwertes. Als der Schwerttanz vorüber war, trat Tukul aus der Reihe und befahl den Jehar, das Lager abzubrechen.

Corban stand einen Moment da und genoss den Schmerz in seinen Handgelenken und Schultern, klammerte sich an dieses vertraute Gefühl. Er sah sich um und bemerkte, dass seine Freunde ihn aus der Nähe beobachteten. Farrell und Coraleen, die neben Dath standen. Dann kam jemand auf ihn zu – Cywen, die den Messergurt ihrer Mutter quer über den Oberkörper geschnallt hatte.

»Einen Frohen Namenstag, Ban«, sagte Cywen.

»Was?«

»Heute ist dein Namenstag. Du bist siebzehn Sommer alt.«

Tatsächlich? Er schüttelte den Kopf. Dann ist es über ein Jahr her, seit wir aus Dun Carreg geflohen sind und ich Cywen das letzte Mal gesehen habe. Ein Jahr auf der Flucht, ein Jahr voller Kämpfe, Blut und Furcht. Aber wenigstens habe ich dieses Jahr mit meiner Familie und meinen Freunden verbracht. Was hat sie dagegen durchgemacht? Ein Jahr ganz allein, und was sie dabei alles überlebt hat. Und das alles nur, um zurückzukommen, sich mit uns zu vereinigen und dann zu helfen, unsere Mam zu begraben. Er betrachtete sie genauer. Sie war dünner geworden, und der Schmutz auf ihren Wangen betonte die Tränenspuren umso deutlicher. Die Knochen in ihrem Gesicht traten deutlich hervor, und ihr Blick wirkte irgendwie gehetzt. Sie hatten gestern Nacht vor dem Einschlafen nicht viel miteinander geredet. An diesem Tag war so viel geschehen, dass sie an nichts anderes hatten denken können. Stattdessen hatten sie stundenlang am Feuer gesessen und einfach nur ihr Beisammensein genossen. Dath neckte Cywen und versuchte, sie zum Lächeln zu bringen, während Farrell ruhig zusah und Coraleen unablässig hin und her lief, als könnte sie nicht zur Ruhe kommen.

Bevor er jedoch auf Cywens Glückwunsch reagieren konnte, hörten sie das Trommeln von Hufen, und eine Handvoll Reiter tauchte am Rand der Senke auf. Meical ritt voran, gefolgt von den massigen Gestalten der Giganten. Corban konnte kaum glauben, dass jene, die einst die erbittertsten Feinde der Menschheit gewesen waren, jetzt ihre Verbündeten waren. Meical ritt in das Lager, glitt geschmeidig aus dem Sattel und schritt zu Corban herüber. Balur und eine Gigantin begleiteten ihn, und Tukul folgte ein Stück hinter ihnen.

»Nur einer der Kadoshim hat den Angriff letzte Nacht überlebt. Wir haben ihn den halben Weg bis Murias verfolgt, bevor wir die Jagd aufgegeben haben. Das Gebiet zwischen uns und der Festung ist erst einmal sicher«, erklärte Meical. »Ich vermute, dass die Kadoshim erst mal eine Weile innerhalb der Festung bleiben und sich an ihre neuen Körper gewöhnen.«

»Fech beobachtet sie für uns«, sagte die Gigantin. »Wir werden uns nicht noch einmal so überrumpeln lassen wie letzte Nacht.«

»Gut.« Corban nickte und sah Meical an. »Was jetzt?«

»Wir sind gekommen, um dich das zu fragen.« Tukul starrte Corban an.

»Mich?«

»Natürlich dich. Du bist dasReine Licht. Wir folgen dir.«

Corban spürte plötzlich eine Veränderung in der Atmosphäre um sich herum und sah sich um. Das gesamte Lager war still, und alle standen regungslos da, beobachteten ihn.

Er schluckte.

3. KAPITEL

UTHAS

Uthas von den Benothi blickte auf die Toten zu seinen Füßen. Er stand unmittelbar hinter den großen Portalen von Murias, und die Sonne wärmte seinen Rücken. Die Leichen seiner Clansleute waren vor ihm aufgereiht, Dutzende und Aberdutzende von ihnen. Hier lag die Stärke der Benothi sinnlos vergeudet. Hier und dort schlichen einige Überlebende seines Clans zwischen den Leichen herum, eine Handvoll von jenen, die sich ihm angeschlossen hatten, kaum mehr als zwei Dutzend. Sie zogen gefallene Benothi aus der Masse der Toten. Die ganze Kammer quoll förmlich über vor Leichen, denen von Giganten, Menschen und Pferden. Und der Gestank von Blut und Exkrementen überlagerte alles andere.

Es lauerten noch andere Gestalten in den Schatten, die der Kadoshim. Sie bewegten sich ungelenk, hatten sich noch nicht ganz an ihre neuen Körper aus Fleisch und Blut gewöhnt. Uthas unterdrückte einen Schauer und wandte rasch den Blick ab. Der Anblick war beunruhigend, jetzt, nachdem das Chaos und die Blutrunst der Schlacht abgeklungen waren.

Die meisten seiner überlebenden Stammesgenossen hatten sich um einen großen Topf mit Tinte versammelt, in den sie Knochennadeln tauchten, während sie die Geschichte der Dornen auf ihre Körper tätowierten. Sie alle hatten in der gestrigen Schlacht getötet, also würden sie auch alle frische Dornen auf ihrer Haut tragen. Er sah Salach, seinen Schildmann, der sich dicht über Eisa beugte, als er ihre Schulter tätowierte. Dann glitt Uthas’ Blick wieder zu den Leichen vor seinen Füßen zurück. Er betrachtete die Gesichter der Toten. Eines, auf das er gehofft hatte, befand sich jedoch nicht darunter. Balur. Ich hätte wissen sollen, dass er mir nicht den Gefallen tun würde, zu sterben. Furcht durchzuckte ihn bei der Erkenntnis, dass der alte Krieger immer noch am Leben war. Und es war klar, was Balur mit ihm anstellen würde. Er wird diese Blutfehde bis ans Ende aller Tage ausfechten. Er muss sterben. Dann fiel sein Blick auf den Leichnam von Nemain, seiner früheren Königin. Sie war jetzt nur noch Fraß für die Aasvögel.

Was habe ich getan? Furcht und Zweifel nagten an ihm, und er verfluchte die Ereignisse, die zu alldem hier geführt hatten. Er verfluchte Fech, den verdammten Vogel, der Nemain über seinen Verrat informiert hatte. Er hob die Hand und betastete die Narben, die Fechs Krallen auf seiner Stirn und seinen Wangen hinterlassen hatten.

Es wäre vielleicht alles anders gekommen, hätte ich Zeit gehabt, vernünftig mit Nemain zu reden … Er mahlte mit den Kiefern. Nein, es ist vollbracht, und es gibt kein Zurück. Ich muss aus diesen Trümmern retten, was mir möglich ist, meinen Clan beschützen und ihn neu aufbauen. Ich bin jetzt der König der Benothi.

Stimmen erregten seine Aufmerksamkeit, und er hob den Kopf. Gefolgt von dem Giganten Alcyon tauchte Nathairs Ratgeber Calidus aus einer Halle auf. Nach der Schlacht hatten sie ein improvisiertes Lager in der Kammer des Kessels errichtet, tief im Bauch des Berges. Aber Uthas hielt es darin nicht aus; der Gestank von so vielen toten Wyrmern bereitete ihm Übelkeit. Außerdem wäre es dumm gewesen, die großen Portale unbewacht zu lassen. Sie waren der einzige Eingang und Ausgang zur Festung Murias. Ihre Feinde waren zwar offensichtlich geflüchtet, aber wer wusste schon, wozu sie fähig waren? Meical und seine Gefährten waren bereits einmal in Murias eingedrungen und hatten die Zeremonie unterbrochen. Dadurch hatten sie viele, sehr viele Kadoshim daran gehindert, durch den Kessel in die Welt des Fleisches zu gelangen.

Calidus sah ihn und trat zu ihm.

»Wie viele Benothi haben den Kampf überlebt?«, wollte Calidus wissen. Auf seiner Stirn war eine verschorfte Schnittwunde, und die Haut legte sich in Falten, als er sprach. Nach der Schlacht hatte er müde auf Uthas gewirkt, sein Gesicht war ausgezehrt und sein silberfarbenes Haar stumpf. Zum ersten Mal hatte er zerbrechlich gewirkt wie ein alter Mann. Jetzt war das alles jedoch verschwunden. Er stand aufrecht da, sein Körper war erfüllt von frischer Energie, und seine gelben Augen wirkten wie die eines Raubtieres, strahlten Macht aus.

»Fünfundvierzig, vielleicht fünfzig von jenen, die zu mir gehalten haben. Es leben noch andere, die gegen uns gekämpft haben, oder zumindest wurden ihre Leichen nicht gefunden. Balur ist einer von ihnen.«

»Balur hat die Sternenstein-Axt. Er hat sie Alcyon abgenommen.« Calidus warf dem Giganten neben ihm einen vernichtenden Seitenblick zu. Alcyon stand mit gesenktem Kopf da; auf seinem Gesicht leuchtete eine dunkelviolette Prellung. Uthas bemerkte, dass er statt seiner gewohnten schwarzen Axt einen Streithammer auf dem Rücken trug. Zweifellos hat er sie einem gefallenen Benothi abgenommen. Das ärgerte Uthas, und er warf Alcyon, der dem rivalisierenden Gigantenclan der Kurgan angehörte, einen giftigen Blick zu.

Nein, sagte er sich. Wenn mein Traum Wirklichkeit werden soll, darf ich nicht so denken. Wir waren einmal ein einziger Clan, vor der Spaltung. So kann es wieder werden. Aber als er jetzt Alcyon anblickte, wurde ihm klar, wie tief der alte Groll saß.

»Hast du etwas zu sagen?« Alcyon richtete sich auf und erwiderte den zornigen Blick.

Beherrsche deine Wut, schlage Brücken, ermahnte sich Uthas.

»Wie ich sehe, trägst du eine Waffe der Benothi. Das ist sehr ehrenvoll.«

»Ehre? Bei den Benothi?« Alcyon sog verächtlich die Luft durch die Nase.

»Allerdings!« Uthas’ Ärger flammte auf. »Wie bei allen Clans. Selbst bei den Kurgan.«

Alcyon sah sich langsam um und ließ den Blick über die gefallenen Benothi gleiten. »Ich finde hier nur wenig Belege für die Ehre der Benothi.«

»Ich habe hier nur getan, was ich musste!«, knurrte Uthas. »Für unsere Zukunft! Für deine, meine, für die aller Clans. Hätte Nemain weiterhin nichts unternommen, wären alle Clans untergegangen, wären zu einer Sage geworden, mit der man Kinder erschrecken kann.«

»Und stattdessen schlachten wir uns gegenseitig ab, bis keiner mehr von uns übrig ist.«

Du Narr! Du siehst nicht den ganzen Weg, sondern immer nur den nächsten Schritt! Er konnte seine Wut kaum zügeln.

»Es wäre besser für dich, wenn du dich auf die Aufgabe konzentrieren würdest, die man dir gestellt hat.« Uthas spürte, dass Wut in ihm hochstieg wie Galle nach zu reichlichem Genuss von Wein. »Aber du warst nicht dazu in der Lage und konntest nicht einmal die Sternenstein-Axt bewachen.«

»Du hast kein Recht, mich zu verurteilen, du, der du deinen Clan und deine Königin verraten hast.« Alcyon blickte vielsagend auf den zerschmetterten Leichnam von Nemain. »Und ich habe die Axt an Balur Einauge verloren. Das ist keine Schande, wohingegen ich schon bei der bloßen Erwähnung seines Namens die Furcht in dir riechen kann.«

Die Worte trafen Uthas wie ein Schlag ins Gesicht. »Wir haben beide demselben Herrn gedient«, sagte er.

»Stimmt, du aber aus freiem Willen!«, gab Alcyon finster zurück.

»Genug!«, ging Calidus dazwischen. Er starrte Alcyon so lange an, bis der Gigant seinen Blick von Uthas abwandte. »Balur ist ein Problem. Ich habe gehofft, dass er in der Schlacht fallen würde.«

Ich ebenfalls. »Er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um mich zu töten.« Scham durchzuckte Uthas, als er das Zittern in seiner Stimme hörte. Er packte den Speer fester, und seine Scham schlug in Ärger um. »Er könnte tot sein, zur Strecke gebracht von jenen, die in der Nacht aufgebrochen sind.«

Nach der Schlacht hatte es Meinungsverschiedenheiten gegeben; einer der Kadoshim hatte mit Calidus gestritten. Es war sehr beunruhigend gewesen, eine so fremd klingende Stimme aus dem Munde des Jehar zu hören. Rau und zischend.

»Du hast Asroth enttäuscht«, hatte der Kadoshim Calidus beschuldigt. Seine Arme hatten gezuckt. »Wir müssen die Axt jetzt zurückholen, bevor es zu spät ist, und das Portal erneut öffnen.«

Calidus hatte tief Luft geholt und sich zusammengenommen. »Es ist ein zu großes Risiko, Danjal«, hatte er dann erwidert. »Es werden immer noch Schlachten geschlagen. Wir müssen die Festung sichern und dafür sorgen, dass der Kessel nicht gefährdet ist. Willst du tatsächlich, dass wir ihn hier zurücklassen?«

»Es muss unserem Großen Meister gestattet werden herüberzukommen. Dafür brauchen wir die Sternenstein-Axt.«

»Es werden alleSieben Kostbarkeiten benötigt, um Asroth den Weg zu ebnen, nicht nur die Axt. Es wird dazu kommen, aber noch müssen wir warten. Ich habe einfach nur die Gelegenheit beim Schopf ergriffen, und jetzt sind über tausend unserer Brüder Fleisch geworden. Gib dich damit zufrieden. Asroth wartet darauf, diese Welt in seiner eigenen Gestalt zu betreten, nicht in der eines anderen, so wie du es getan hast. Außerdem wäre es dumm, jetzt Meical zu verfolgen; das brächte nur den Kessel in Gefahr, und viele von euch würden ihre neuen Hüllen verlieren.«

»Dein Körper aus Fleisch und Blut hat dich ängstlich gemacht«, schnarrte der Kadoshim. »Asroth wird mich belohnen, wenn er erfährt, dass ich es war, der die Axt wiederbeschafft und seinen Übergang hierher ermöglicht hat.«

Calidus trat einen Schritt zurück und zückte sein Schwert. Das metallische Singen der Klinge zog alle Blicke auf sich. »Ängstlich? Ich habe gerade gegen Meical gekämpft, den hohen Hauptmann der Ben-Elim, und ihn in die Flucht geschlagen. Ich habe in zahllosen Schlachten gekämpft, um diesen Ort zu erreichen und eine Brücke zwischen derAnderwelt und der Welt des Fleisches zu schlagen, nur um deinen unwürdigen Geist hierherzuholen. Du schimpfst mich nicht ängstlich! Oder willst du mich herausfordern, Danjal?«

In schnellem Wechsel spannte der Kadoshim die Muskeln an und lockerte sie wieder. Es sah aus, als liefen zuckende Wellen über seinen menschlichen Körper. Schließlich senkte er den Blick.

»Mir liegt nur am Ruhm unseres Meisters«, grollte er.

»Mir ebenfalls«, erwiderte Calidus. »Verfolge Meical, und du wirst unserem Meister in derAnderwelt schneller wieder begegnen, als du dich’s versiehst.« Damit drehte Calidus ihm den Rücken zu und ging weg. Der Kadoshim im Körper eines Jehar sah sich um, rief einige andere zu Hilfe und lief dann aus der Kammer. Etwa ein Dutzend Kadoshim folgten ihm.

»Falls ihr sie findet, versucht, Meicals Marionette zu töten, seinenStrahlenden Stern. Dann ist euer Tod wenigstens ein klein wenig von Nutzen!«, rief Calidus ihnen nach.

Uthas hatte einen Hoffnungsschimmer verspürt. Denn wenn sie die Sternenstein-Axt zurückholen wollten, mussten sie Balur töten.

Er wünschte, es wäre so gekommen, aber bis jetzt hatten sie noch nichts von den Kadoshim gehört, die in der Nacht aufgebrochen waren.

»Deine Kameraden, die die Axt zurückholen wollten, haben Balur vielleicht getötet und die Axt bereits erbeutet.«

»Möglich.« Calidus zuckte mit den Schultern. »Aber ich bezweifle es. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Kadoshim, die die Axt zurückholen wollten, längst tot und ihre Geister in dieAnderwelt zurückgekehrt sind. Meical mag in vielerlei Hinsicht dumm sein, aber er hat sicherlich Wachen aufgestellt, und er versteht es zu kämpfen.«

Uthas konnte seine Enttäuschung nicht verbergen, als er seine Hoffnung so rasch im Keim erstickt sah.

»Aber all das tut nichts zur Sache. Danjal war schon immer ein Narr. Ohne sein rebellisches Wesen sind wir besser dran. Und fürchte Balur nicht. Ich werde dich beschützen. Deine Zukunft liegt jetzt in meinen Händen. Ich werde deine Treue Asroth gegenüber nicht vergessen. Nur durch dich bin ich in den Besitz des Kessels gekommen, und dafür bin ich dir dankbar.« Der alte Mann machte eine kleine Pause, und Uthas zog Kraft aus seinen Worten.

»Wie viele Giganten sind bei Balur?«, fragte Calidus ihn.

»Die genaue Zahl weiß ich nicht, aber dieses träumende Miststück von Tochter ist bei ihnen, Ethlinn. Und keine unserer Jungen wurden gefunden. Die Gigantlinge waren in einer höheren Kammer versteckt. Es sind etwa genauso viele.« Er schüttelte den Kopf, als eine Welle von Bedauern ihn überschwemmte. »Die Benothi sind fast ausgestorben, und unsere Zahl …«

»Jetzt ist es zu spät für Reue. Du hast eine Entscheidung getroffen. Und es war eine sehr kluge Entscheidung, denn du hast die siegreiche Seite gewählt. Die Kadoshim sind in dieser Welt, und das ist erst der Anfang.« Calidus grinste, aber seine Augen blieben kalt.

Er hat recht. Außerdem, welchem anderen Weg sollte ich jetzt noch folgen? Das Schicksal der Benothi ist nun mit dem der Kadoshim verwoben.

Uthas atmete bebend ein. »Was jetzt?«, fragte er Calidus. »Du hast den Kessel. Was willst du damit machen?«

»Ich werde ihn in Sicherheit bringen.«

»Hier ist er sicher genug.«

»Ganz offensichtlich nicht, denn schließlich haben wir ihn hier erbeutet. Nein, er muss nach Tenebral geschafft werden. Dort wird er in der Mitte eines Netzes platziert, das ich in jahrelanger Arbeit geknüpft habe. Lykos und seine Vin Thalun sowie Nathairs Adlerwache werden ihn beschützen, zusammen mit deinen Benothi und meinen Kadoshim.«

Uthas runzelte die Stirn. »Das ist eine lange Reise. Da kann viel passieren.«

»Das stimmt, aber der Kessel bekommt eine Eskorte, wie sie diese Welt noch nie zuvor gesehen hat. Ihr Benothi und über tausend Kadoshim.«

»Und wenn er in Tenebral ist?«

»Eins nach dem anderen. Zuerst reisen wir mit dem Kessel dorthin. Du und deine Benothi müssen einen Planwagen bauen, in dem der Kessel transportiert werden kann. Er muss stabil und groß sein.«

»Das machen wir. Nach Tenebral, sagst du. Aber dafür brauchst du Nathair.«

Calidus runzelte nachdenklich die Stirn. »Ja. Es ist die Zeit gekommen, wo ich mit unserem desillusionierten König reden muss.«

Calidus hatte Uthas mit der Aufgabe betraut, Nathair zu bewachen. Während der Schlacht hatte der König vor dem Kessel auf den Stufen des Podests gesessen, während sich die Konsequenzen seiner Handlungen vor ihm offenbarten und wie ein Leichentuch über ihn legten. Nachdem er so lange geglaubt hatte, dasReine Licht zu sein, stellte er angesichts dessen, was er mit seinen Handlungen bewirkt hatte, seine wahre Position infrage. Nach dem Kampf hatte er versucht, Calidus zur Rede zu stellen, aber der hatte ihn einfach ignoriert. Offenbar war das der Tropfen gewesen, der das Fass für Nathair zum Überlaufen brachte. Er bekam einen Wutanfall, griff Calidus an, spuckte ihn förmlich an und verfluchte ihn, beschimpfte ihn als Verräter. Uthas hatte Nathair gepackt und ihn festgehalten, und Calidus hatte ihn bewusstlos geschlagen. Anschließend hatte er eine Locke von Nathairs Haaren abgeschnitten.

»Wo ist Nathair?«, fragte Calidus den Giganten jetzt.

»Irgendwo da draußen.« Uthas deutete zu den Toren.

»Begleite mich. Ich brauche Nathairs Kooperation. Möglicherweise muss ich ihn überreden, und dein Beispiel ist vielleicht hilfreich.«

»Und wenn er nicht einverstanden ist?«

»Dann bleibt uns immer noch das hier.« Calidus öffnete den Umhang und zeigte Uthas eine primitive Lehmfigur, in die dunkle Haarsträhnen eingearbeitet waren.

Hat er auch meine Haare in eine solche Lehmfigur eingearbeitet? Uthas zitterte kurz vor Angst.

»Aber es wäre mir lieber, wenn es nicht dazu käme.« Calidus ließ den Umhang wieder zurückfallen.

»Aus Mitgefühl?«

»Sei kein Idiot!« Calidus verzog höhnisch das Gesicht. »Er wäre eine weitere Aufgabe, die ich zu erfüllen habe – und es ist so schon Arbeit genug, eine ganze Welt zu erobern.«

Als sie zum Tor gingen, rief einer der Kadoshim Calidus’ Namen. Uthas erkannte den Körper, den Asroths Handlanger besetzt hatte. Es war der von Sumur, dem Anführer der Jehar, die Nathair gefolgt waren. »Dieser Körper«, die Stimme des Kadoshim klang wie ein reptilienartiges Keuchen. »Er wird schwächer und reagiert nicht mehr wie vorher.«

»Menschen müssen essen, um ihre Energie zu erneuern«, antwortete Calidus. »Am besten ist es, wenn sie es jeden Tag tun.«

»Essen?«

»Du musst Nahrung zu dir nehmen, Früchte, Fleisch und viele andere Dinge.« Calidus machte eine unbestimmte Handbewegung.

In dem Moment sah Uthas, wie sich Sumurs Gesicht bewegte. Die schwarzen Augen traten hervor, und die Lippen verzerrten sich zu einer schmerzerfüllten Fratze, als er einen Schrei ausstieß. Einen Moment schien die Haut des Gesichts zu verwelken, und Finger schienen sich ihren Weg herausklauben zu wollen. Der Kadoshim in dem Körper drehte den Kopf, stöhnte, und seine Gesichtszüge wurden wieder glatt, ruhig und ausdruckslos.

»Dieser Mensch widersetzt sich mir!«, erklärte die reptilienartige Stimme. Eine Art Grinsen verzerrte sein Gesicht, und eine Zunge leckte über die Lippen. »Er liefert mir einen durchaus ansehnlichen Kampf.«

Uthas war entsetzt. Er hatte angenommen, dass die Seelen der Wirtskörper vertrieben worden wären, nicht, dass sie noch in ihren eigenen Körpern gefangen waren und darum kämpften, jene zu vertreiben, die von ihnen Besitz ergriffen hatten. Er schüttelte sich. Das war so, als wäre man bei lebendigem Leib tot.

»Er war ein hervorragender Schwertkämpfer wie alle eure neuen Wirte.« Calidus hob die Stimme, damit alle Kadoshim in der Halle ihn hören konnten. »Betrachtet ihre Seelen, nehmt sie auseinander und absorbiert ihre Fähigkeiten. Lernt die Eigenschaften eurer neuen Körper kennen. Und vor allem, esst!«

Zischendes Gelächter hallte durch die Kammer, als Calidus hinausging. Uthas sah, wie einer der Kadoshim sich auf den Boden kniete und sein Gesicht in den Bauch eines toten Pferdes grub. Dann hörte er lautes Schmatzen, als die Kreatur Fleischbrocken herausriss.

»Sie sind wirklich wie die Kinder.« Calidus seufzte. »Ich muss ihnen so viel beibringen, und das in sehr kurzer Zeit. Deshalb muss Nathair kooperieren.«

Sie fanden den König von Tenebral ein Stück entfernt von der Straße, die zu Murias führte. Um ihn herum lagen die Leichen der Krieger der Jehar und ihrer Pferde. Sie waren von dem Sturm aus Raben, den Königin Nemain auf sie gehetzt hatte, zu einer blutigen Masse zerfetzt worden. Nathair stand bei seinem gewaltigen Draaken und hielt die Zügel locker in einer Hand, während das Vieh sich den Kadaver eines Pferdes einverleibte. Als sie herankamen, hob es seine Schnauze aus dem zerschmetterten Brustkorb des Tieres und betrachtete sie mit kleinen schwarzen Augen. Blut troff von seiner Schnauze herunter. Sie näherten sich Nathair, und Uthas bemerkte zwischen den Farnen und dem Ginster Angehörige seines Clans, die den König von Tenebral bewachen sollten.

Nathair hörte sie und blickte auf. Er flüsterte dem Drachen etwas zu, der daraufhin weiter die Innereien des Pferdes fraß. Nathair kehrte ihnen den Rücken zu und blickte auf die trostlose Moorlandschaft hinaus, deren niedrige Hügel sich bis zum Horizont erstreckten.

»Er ist irgendwo da draußen«, sagte Nathair leise.

»Von wem redest du?«, erkundigte sich Calidus.

»Von demStrahlenden Stern. Ich habe so lange geglaubt, das wäre mein Titel.« Er drehte sich herum. Er wirkte gelassen, und Uthas sah, dass die Wut, die er noch in der Kammer des Kessels empfunden hatte, verpufft war. Seine Augen waren gerötet, und darunter lagen dunkle Schatten. Ein blauer Fleck zeichnete sich auf seiner Wange ab.

»Ihr habt mich getäuscht, die ganze Zeit.« Nathair sah erst Calidus an, dann an ihm vorbei auf Alcyon. Der Gigant senkte den Kopf, nicht imstande, Nathairs Blick zu erwidern.

»Du hättest es nicht verstanden«, antwortete Calidus.

Nathair hob eine Braue. »Da sind wir uns allerdings einig. Mein Erstes Schwert Veradis würde euch dafür die Köpfe abschlagen. Glücklicherweise ist er nicht hier und kann nicht bezeugen, wie tief wir gesunken sind.«

»Darüber wird die Zeit urteilen«, erwiderte Calidus gleichgültig. »Aber es gibt immer noch eine Zukunft für dich. Für uns.«

»Was denn, das hier wird nicht meine Exekution?« Nathairs Blick zuckte zu Alcyon und Uthas, die hinter Calidus standen, dann sah er zu den Benothi, die im Dickicht lauerten.

»Nein. Ich bin hier, um mit dir zu reden.«

»Zum Reden scheint es mir etwas zu spät zu sein. Aber bitte, sprich weiter …«

»Du siehst die Dinge so, wie man es dich gelehrt hat. Gut und böse, richtig und falsch. Aber die Dinge sind nicht immer so, wie sie zu sein scheinen …«

»Nein, das sind sie nicht. Dafür bist du der lebendige Beweis. Du behauptest, du wärst ein Ben-Elim, und in Wahrheit bist du das Gegenteil, ein Kadoshim, ein gefallener Engel und Diener von Asroth.«

»Du sprichst von Dingen, von denen du nichts verstehst!«, fuhr Calidus ihn an. »Kadoshim und Ben-Elim sind nur Namen, die von jenen verliehen wurden, die zu unwissend sind, um zu verstehen. Vergiss nicht, dass die Geschichte von den Siegern geschrieben werden wird. Sie ist keine unveränderliche Wahrheit, sondern ein pervertiertes und schmutziges Ding, verdorben von der Perspektive des Siegers. Elyon ist nicht gut, und Asroth ist nicht böse. Diese Sichtweise ist kindisch. Die Welt ist nicht in Schwarz und Weiß gemalt, sondern in alle möglichen Schattierungen von Grau getaucht.«

»Ich soll also glauben, dass Asroth gut ist und Elyon der Verräter?«

»Nein, aber irgendetwas dazwischen vielleicht, was dir ermöglicht zu erkennen, dass beide Parteien sowohl zu Gutem als auch zu Bösem fähig sind. Wie du. Stell sie dir menschlicher vor, wenn du willst. Ist es so schwer, sich das auszumalen?«

Uthas sah einen ungewohnten Ausdruck auf Nathairs Gesicht. Zweifel?

»Deine Geschichte sagt dir, dass Asroth diese Welt des Fleisches zerstören will«, fuhr Calidus fort. »In allen Legenden wird behauptet, dass das Asroths Absicht im Krieg der Kostbarkeiten gewesen ist. Frag dich doch selbst: Wenn das stimmt, warum versucht er dann so verzweifelt hierherzukommen, Fleisch zu werden?«

»Ich wage nicht mehr, Vermutungen zu äußern, nachdem ich so gründlich als naiv überführt worden bin.« Nathair verzog die Lippen, und etwas von seiner früheren Wut flammte wieder auf. In seiner Schläfe pulsierte eine Ader.

»Sei nicht so dramatisch!«, kanzelte Calidus ihn ab. »Du benimmst dich wie ein beleidigtes Kind. Ich bin hier, um dir harte Wahrheiten zu sagen, und will hören, dass du wie ein Mann antwortest, wie der Mann, der du sein kannst, ein Anführer, ein König. Nicht wie ein beleidigtes Balg.« Er wartete einen Moment, bis seine Worte Nathairs Ärger erstickten. »Also, bedenke Folgendes: Asroth kommt nicht hierher, um zu zerstören, sondern um zu herrschen. Er will ein Imperium schmieden, genauso eines, wie du es dir vorgestellt hast. Eine neue Ordnung, die von Frieden bestimmt wird, sobald alle Andersdenkenden ausgelöscht sind. Das unterscheidet sich nicht von deinen Plänen. Und du kannst immer noch eine Rolle darin spielen. Wir sind zu wenige; wir brauchen jemanden, der dieVerfemten Lande regiert. Jemanden, der die Reiche vereinen kann. Und ich glaube, dass du dieser Jemand bist.«

»Und du glaubst außerdem, dass ich noch irgendetwas für bare Münze nehme, was über deine Lippen kommt? Nach all dem da?« Nathair deutete auf die Festung von Murias.

»Ja, das glaube ich. Befrei dich von deinem Ärger, deinem Stolz und deiner Scham und benutze deinen Verstand. In derAnderwelt tobt der Krieg schon seit Äonen. Er war blutig, brutal und herzzerreißend. Ich habe mit angesehen, wie meine Gefährten niedergeschlagen, zerschmettert und vernichtet wurden. Und ich habe den Ben-Elim diese Brutalität hundertfach vergolten. Ich habe getan, was ich tun musste. Dir einen Teil der Wahrheit vorzuenthalten war notwendig. Im Krieg müssen schwierige Entscheidungen getroffen werden für das übergeordnete Ziel, für das Gute. Das weißt du.« Calidus machte eine Pause und hielt Nathair mit seinem Blick gebannt.

»Es gibt Grenzen, die nicht übertreten werden dürfen, ungeachtet eines übergeordneten Zieles!«, spie Nathair hervor.

»Du vergisst, dass ich dich kenne, Nathair. Ich weiß, was du getan hast. Ich kenne all die Grenzen, die du im Namen des übergeordneten Guten bereits übertreten hast.«

Nathair wich zurück und hob eine Hand, als wollte er einen Schlag abwehren. Sein Draaken hörte auf, Knochen zu zermalmen, und warf Calidus einen verächtlichen Blick zu.

»Das meine ich nicht als Kritik, sondern als Kompliment. Wenn du dich erst einmal einer Sache verschrieben hast, tust du alles, was notwendig ist, um sie zu Ende zu bringen. Ganz gleich, was es auch kosten mag. Es ist eine seltene Eigenschaft in dieser Welt von Schwäche und Feigheit. Eine Eigenschaft, die wir brauchen. Das respektiere ich. Also fordere ich dich auf, Nathair, zu uns zu stoßen. Verschreibe dich unserer Sache, und du wirst alles gewinnen, was du begehrst, wirst erleben, wie deine Träume Früchte tragen, und dein Ehrgeiz wird belohnt werden. Wenn du darüber nachdenkst, unterscheidet sich das nicht sonderlich von alldem, wonach du gestrebt hast, bevor dir die Augen geöffnet wurden.«

Alcyon trat hinter Calidus hervor. »Da kommt jemand.« Er zog seinen neuen Streithammer aus der Schlinge auf seinem Rücken.

»Wo?« Calidus legte die Hand auf den Schwertgriff und kniff die Augen zusammen.

Alcyon deutete nach Südosten, ins Moor. Dort wurde ein dunkler Fleck sichtbar, der sich mit beträchtlicher Geschwindigkeit bewegte.

»Das ist einer meiner Gefährten«, erklärte Calidus. »Einer von denen, die mit Danjal aufgebrochen sind.«

Sie warteten schweigend, während sich die Gestalt näherte. Sie kam schnell voran, lief mit langen Sätzen. Als sie näher kam, sah Uthas, dass sie im Zickzack rannte.

Und irgendetwas stimmt mit seinem Arm nicht.

Die Gestalt schien sie auf der Straße gesehen zu haben, denn sie schwenkte in ihre Richtung ab und brach schließlich vor Calidus zusammen. Ihre Hand war unmittelbar über dem Handgelenk abgetrennt, und das Blut tropfte immer noch aus der Wunde. Das Wesen war so bleich wie Milch, und die Adern in seiner Haut schimmerten schwarz. Nathairs Draaken grollte leise und dumpf.

»Ich bin schwach!«, stieß der Kadoshim rau hervor. »Dieser Körper ist erschöpft.«

»Ich habe dich gewarnt«, sagte Calidus. »Die Körper sind immer noch sterblich. Er wird schon bald an Blutverlust sterben.«

»Hilf mir«, flüsterte der Kadoshim.

»Schwöre, mir absolut zu gehorchen.« Calidus’ Stimme war so kalt wie Eisen.

»Ich schwöre es. Bitte …«

»Verbinde seinen Arm!«, fuhr Calidus Alcyon an und kniete sich hin, um einen Arm um den verletzten Kadoshim zu legen. »Du musst auf deinen neuen Körper aufpassen, Bune. Man muss sich darum kümmern wie um eine Waffe. Du hast viel Blut verloren, aber wenn wir deine Wunde verbinden und dich füttern, wird alles gut.«

»Danke!«, stieß die Kreatur hervor. »Ich will nicht so bald in dieAnderwelt zurückkehren.«

»Dann solltest du vermeiden, so närrisch davonzustürmen, um Schlachten zu schlagen, die man nicht gewinnen kann. Danjal? Die anderen?«

»Sie sind alle fort, wieder in derAnderwelt. Es waren zu viele gegen uns, und diese Körper …« Bune hob den gesunden Arm. »Es kostet Zeit, sich daran zu gewöhnen.«

»Allerdings. Komm, gehen wir zu den Unsrigen zurück, wo wir uns besser um dich kümmern können.« Calidus warf Alcyon einen Blick zu. Er hatte das Handgelenk verbunden und nahm jetzt den Kadoshim auf die Arme. Calidus führte sie wieder zurück durch die Tore von Murias. Nathair und sein Draaken gingen ihnen langsam hinterher. Über ihnen kreisten träge Vögel, die Überlebenden von Nemains Raben, die von dem Gestank von Aas angezogen wurden. Uthas starrte sie beinahe hasserfüllt an, als er an Fech dachte. Und als sie in den Schatten der Festung traten, sah der Gigant einen Raben, der auf einem Vorsprung in der Klippe hockte. Der Vogel schien seinen Blick zu erwidern. Einen Moment glaubte Uthas, es wäre Fech, und unwillkürlich betastete er sein vernarbtes Gesicht.

Sicher nicht. Fech ist weder so mutig noch so dumm, hierher zurückzukehren.

Calidus sah zu Nathair zurück.

»Denk über meine Worte nach, König von Tenebral. Ich möchte, dass du neben mir in dem bevorstehenden Krieg kämpfst. Und ab jetzt gibt es keine Lügen mehr.«

Nathair blieb vor den Toren stehen und legte eine Hand auf den Hals seines Draaken. König und Bestie beobachteten gemeinsam, wie Calidus und seine Gefährten Murias betraten.

»Beobachte ihn scharf«, flüsterte Calidus Uthas zu. »Wenn er versucht, von hier zu verschwinden, halte ihn auf. Ganz gleich wie.«

4. KAPITEL

MAQUIN

Maquin lief durch das dichte Unterholz des Waldes. Mit einer Hand schob er Zweige beiseite, mit der anderen zerrte er Fidele hinter sich her, die Regentin von Tenebral, die gerade erst Lykos, den Lord der Vin Thalun geheiratet hatte. Ich nehme an, dass sie versucht hat, ihn umzubringen, dürfte das Ende ihrer glücklichen Hochzeitsfeierlichkeiten gewesen sein.

Er fühlte, wie sie stolperte, und sah kurz zu ihr zurück. Sie keuchte, ihr Hochzeitsgewand war schmutzig, zerrissen und blutbefleckt. Sie muss ausruhen. Die Kampfgeräusche hinter ihm wurden zwar schwächer, aber sie waren immer noch näher, als ihm lieb war.

Es wird nicht lange dauern, bis Lykos und seine Vin Thalun die Aufständischen unterworfen haben. Dann wird er nach seiner verschwundenen Braut suchen. Aber wenn wir noch lange weiterrennen, ist sie ohnehin erledigt. Widerwillig verlangsamte er das Tempo, dann hörte er das Rauschen eines Flusses und hielt darauf zu.

Maquin verschlug es den Atem, als er sein Gesicht und seine nackte Brust mit dem eiskalten Wasser bespritzte, Blut und Dreck der Kampfgrube abwusch. Hunderte von kleinen Wunden brannten, als der Rausch seiner Flucht nachließ, und er bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. Er zitterte. Ich hätte mir einen Mantel schnappen sollen, als wir geflüchtet sind. Er war immer noch passend für die Hitze in der Kampfgrube gekleidet: Stiefel und Hose, ein Krummdolch in seinem Gürtel, doch am Oberkörper nichts außer Blut, Schmutz und Narben.

Aber ich bin frei. Er holte tief Luft und genoss den erdigen Duft des Waldes, der ihn an den Fornswald erinnerte. An ein anderes Leben. Er schloss die Augen, als Erinnerungen durch seinen Verstand zuckten. Die Gadrai, seine Schwertbrüder; Erinnerungen an Kastell, der von diesem verräterischen Mistkerl Jael ermordet worden war; Gedanken an Tahir und Orgull, die einzigen anderen Überlebenden dieses Verrats in Haldis. Es schien schon so lange her zu sein. Die Zeit davor. Er warf einen Blick auf seine Hände, auf das Blut, das ihm immer noch in den Hautfurchen und unter den Fingernägeln klebte. Orgulls Blut.

Das Gesicht seines sterbenden Freundes schob sich in seine Gedanken, so wie es ausgesehen hatte, als er seinen Kopf in den Schoß nahm – zerschlagen und blutig. Emotionen stiegen in ihm hoch, und Tränen verschleierten seinen Blick. Er erinnerte sich an Orgulls letzte Worte an ihn, an die Aufforderung, einen Mann namens Meical zu suchen und eine Botschaft weiterzugeben. Dass ich bis zum Ende loyal gewesen bin, hatte Orgull gesagt.

So viel Tod, und doch lebe ich. Mehr noch, ich bin ein freier Mann. Zugegeben, ein Flüchtling, der von Feinden verfolgt wird und zudem tausend Wegstunden von zu Hause entfernt ist. Aber ich bin frei. Frei, Jael zu jagen und ihn unter die Erde zu bringen.