Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz - Jeremias Gotthelf - E-Book
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Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz E-Book

Jeremias Gotthelf

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Beschreibung

Jeremias Gotthelfs Werk 'Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz' ist eine faszinierende Erzählung, die die Abenteuer und Begegnungen eines Handwerksgesellen namens Jakob auf seiner Reise durch die malerische Schweiz beschreibt. Gotthelfs literarischer Stil zeichnet sich durch seine lebendige und detailreiche Beschreibung der Landschaften und Charaktere aus, die den Leser mitten in die Handlung eintauchen lässt. Das Buch ist ein Meisterwerk der Schweizer Literatur des 19. Jahrhunderts und zeigt Gotthelfs Talent, sozialkritische Themen geschickt in seine Erzählung zu integrieren.

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Jeremias Gotthelf

Jakobs des Handwerksgesellen Wanderungen durch die Schweiz

            Books
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel

Vorwort

Inhaltsverzeichnis

Für den Lesekreis, in welchem der Verfasser bekannt ist, bedürfte diese Schrift kein Vorwort. Was sie will, sagt sie klar, und was der Verfasser will, wissen seit zehn Jahren seine treuen Leser. Da dieses Büchlein aber möglicherweise in Kreise kömmt, wo weder der Verfasser noch seine früheren Schriften bekannt sind, so glaubt er bemerken zu sollen, er sei ein Republikaner, liebe das ganze Volk, nicht bloß einige Glieder desselben, und diese Liebe sei die Quelle seiner Schriften. In gleichem Maße, wie er das gesamte Volk, also vom höchsten Haupte bis zum niedrigsten, liebt, haßt er die falschen Freunde des Volkes, welche unter der Larve des Wohlwollens den Teufel wecken in des Volkes Brust und vom Schweiß und Blut des armen Volkes sich gieriger mästen als kaum je ein Tyrann kleinerer oder größerer Sorte sich gemästet hat. Vor solchen entlarvten Blutigeln gutmütige deutsche Handwerksbursche, deren schon so viele durch die verlarvten Freunde zugrunde gegangen sind, zu warnen, ist Zweck dieses Buches. Der Verfasser bezeichnet einstweilen bloß die Larven, nicht die Gesichter; wer noch für guten Rat empfänglich ist, wird die Gesichter bald erkennen und sich vor ihnen zu hüten wissen.

Schließlich bemerkt der Verfasser noch vorzüglich zuhanden allfällig neuer Leser, daß er nicht um Gunst und Gnade schreibt, sondern für das Volk, unbekümmert, schmecke es dem Volke süß oder bitter; er hält alle Schmeichler für niederträchtige Kreaturen, für den allerniederträchtigsten unter den Niederträchtigen aber den Volksschmeichler.

Lützelflüh, den 28. Jenner 1846Jeremias Gotthelf

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Jakobs Herkunft und Lehrjahre

Jakob war guter Leute Kind, aber Vater und Mutter waren an der Cholera gestorben, als er wenige Jahre alt war, doch Gott und eine alte Großmutter verließen die Waise nicht. Gott behütete das wilde Kind durch seine Engel, welche gesetzt sind, über die Kinder zu wachen, die Großmutter pflegte es zärtlich und erzog es streng auf großmütterliche Weise. Ein kleines Vermögen hatten seine Eltern hinterlassen, aber Vermögen ist nicht die Hauptsache, treue Hände sind es, welche das Vermögen bewahren, und frommer Sinn, welcher die Seele behütet; wo das Vermögen die Wächter der Kinder zur Untreue verleitet, da leidet auch die Seele der Kinder Schaden. Darum ist ein arm Waisenkind, welches in barmherzige Hände kömmt, glücklicher als eine Waise mit Vermögen in ungetreuen Händen. In dieser Beziehung ging es Jakob wohl, denn seine Großmutter war nicht bloß eine fromme, sondern auch eine herzhafte Frau von echt deutschem Stamme. Kein Vormund hätte es gewagt, an Jakobs Vermögen oder Seele sich zu versündigen, man wußte, die Alte würde einen solchen Sünder verfolgen durch alle Instanzen hindurch auf Erden und im Himmel bis vor Gottes Thron. Was Jakob und die Großmutter besaßen, reichte hin zu ihrem Unterhalt. Dessen ohngeachtet arbeitete die Großmutter tüchtig und hielt auch Jakob zu jeder Arbeit an, welche seinen Kräften angemessen schien, so daß sie auch den Dürftigen helfen konnten in der Not. Die Großmutter war nicht von dem Zeitgeiste angesteckt, das heißt, sie gehörte nicht zu den Weibern, welche meinen, arbeiten sei bloß eine Sache der Not, faulenzen eine Ehre, und wer müßig gehe, sei wenigstens halb adlich, wenn nicht ganz.

Sie sandte das Kind begreiflich auch in die Schule, war aber mit derselben nicht zufrieden. Sie klagte, wie man der Jugend nur dummes Zeug in den Kopf bringe und keine Gottesfurcht, ihnen alle Tage vorschwatze, was sie zu bedeuten hätten für die Nachwelt, und nicht, was sie schuldig seien ihren Mitmenschen. Die Jungens stolzierten einher, als ob sie Prinzen wären, und verachteten die alten Leute, als wären sie Hottentotten oder sonst bloß halb witzig. Sie ließ es aber nicht beim Klagen bewenden und legte dabei die Hände in den Schoß, sie brauchte sie, hielt scharfe Zucht auf alte Mode, wenn sie schon Großmutter war und Jakob ihr das Liebste auf Erden.

Freilich, je öfter sie Jakob strafen mußte, desto erbitterter ward sie über die neue Welt; denn die Welt sei an Jakobs Unarten schuld, er schlage wohl der Mutter nach, aber trotzdem käme das Böse ihm nicht in Sinn, wenn die Welt nicht wäre. Daß er so dumm sei, von bösen Buben zu allem Bösen sich verführen zu lassen, das war ihre ewige Klage, und wegen solcher Dummheit züchtigte sie ihn um so schärfer. Es sei gerade, als ob ihm der Herrgott seine Hände nur geschaffen habe, um für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen, warf sie ihm beständig vor; und damit traf die Großmutter den Nagel richtig auf den Kopf.

Jakob war ein guter Junge mit roten Wangen, heitern Augen, lustigem Sinn und sprang keck in die Welt hinein, als habe unser Herrgott nichts zu tun, als ihn in Schutz und Obhut zu nehmen. Seine geistigen und leiblichen Kräfte waren nicht ausgezeichnet, jedoch hatte er zu vielen Dingen ein gewisses Geschick, daß man leicht meinen konnte, seine Gaben seien größer als sie wirklich waren. Leider fehlte ihm Urteilskraft und Besonnenheit, statt dessen war er eitel und gutmütig, wie es gerade am schlimmsten ist. Bald läßt man sich mit Schmeicheln und Lobpreisen zu schlechten oder dummen Streichen verführen, weil man glaubt, dadurch sich groß zu machen, bald darf man aus lauter Gutmütigkeit böse Zumutungen nicht abschlagen, auch wenn man die bösen Folgen, wenn auch nicht gerade einsieht, so doch ahnet. »Jakobchen, du bist der Herzhafteste, Jakobchen, gehe du voran!« so hieß es, wenn die Jungen Streiche machen wollten, und Jakobchen ging richtig voran, kriegte dann aber, wenn es Schläge setzte, die ersten und derbsten. Sobald die Großmutter solches vernahm, besserte sie noch nach, das heißt, zählte ihm die Schläge noch zu, welche er ihrer Meinung nach zu wenig gekriegt. »Jakob«, sagte sie dabei, »Jakob, du bist ein Esel und bleibst ein Esel! Deiner Mutter schlägst du nach; akkurat wie du bist, war auch sie, Gott habe sie selig! Sie war drüben von Sturmau her, dort sind die Leute leider so.«

Wie es üblich ist auf Erden, wurde Jakob alle Jahre ein Jahr älter, es kam die Zeit, wo entschieden werden mußte, auf welchem Wege er sein ehrlich Brot verdienen, zu einem Ehrenmanne werden solle. Denn so hat es Gott geordnet, daß, wer ein Ehrenmann sein will, sein ehrlich Brot muß verdienen können, wenn auch nicht im Tagelohn. Sein ehrlich Brot verdient der König, und zwar heutzutage saurer und mühseliger als Holzhacker und Schulmeister.

Die Großmutter entschied für das Handwerk, welchem ihr Mann, dessen Vater und ihr Sohn obgelegen, und Jakob ließ es sich gerne gefallen. Welch Handwerk es war, sagen wir so wenig als wir gesagt haben, in welchem Dorf, Flecken, Gebiet Jakob zu Hause war, und zwar lassen wir beides aus guten Gründen aus. Hätten wir das Gebiet genannt, hätten wir auch den Ort nennen müssen; hätten wir den Namen eines Ortes ersonnen, der nicht zu finden gewesen wäre in jenem Gebiete, so hätte man über den dummen Schweizer gelacht, der nicht alle Winkel und Nestchen im weiten Deutschland kenne. Hätten wir einen wirklichen Ort genannt, so hätte jeder Philister desselben Ortes uns der Verleumdung oder wenigstens historischer Sünden bezüchtigt. Ließen wir aber einen Spängler oder Schneider durch die Schweiz wandern, durch Städtchen und Dörfchen, in denen vielleicht eben nur ein Spängler oder Schneider ist, und hätten wir von diesen Meistern und ihren Gesellen etwas erzählt, so wären wir Gefahr gelaufen, an Ort und Stelle zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wir hoffen indessen, diese Auslassung des Handwerkes und des engeren Vaterlandes werde unsere geneigten Leser nicht plagen, sie werden sich hinreichend an der Angabe ersättigen, daß Jakob etwas weiter als hundert Stunden von der Schweizergrenze zu Hause war und zwar im weiten und breiten Deutschland.

Die Großmutter selbst suchte einen Meister nach ihrem Sinn, einen frommen und arbeitsamen, der eine gute und kluge Hausfrau hatte, eine Frau Meisterin und nicht eine Madam.

Der Meister hatte ferner kein großes Geschäft, gewöhnlich bloß einen Gesellen und höchstens zwei Lehrknaben; gerade so wollte es die Großmutter. Ihr Alter, Gott habe ihn selig, sagte sie, habe gesagt, große Werkstätten taugten wenig zum Erlernen des Handwerks, der Lehrjunge sei nichts als der geplagte Aufwärter aller, der Sündenbock der Werkstatt, arbeite wenig im Handwerke, der Meister habe nicht Zeit, sich mit ihm abzugeben, Tage gingen vorüber, daß derselbe kein Wort mit ihm rede. In kleinen Werkstätten stehe der Junge immer unter der Meister Auge; wenn auch nicht vielerlei, so müßte er doch im Handwerk schaffen, lerne das Werkzeug gebrauchen und dessen Meister werden; das Vielerlei und das Künstliche müsse der Geselle auf der Wanderschaft sich zueignen.

Vier Jahre Lehrzeit machte die Großmutter fast gegen den Willen des Vormundes aus. Ihr Alter habe gesagt, sagte sie, in der Lehrzeit müsse man Zeit haben, zu trocknen hinter den Ohren und flink zu werden im Schaffen. Kurze Lehrzeit, böse Wanderschaft, wenig Arbeit, viel Fechten, viele Meister, schlechter Lohn. Wenn aber einer, setzte dann die Großmutter hinzu, einer langen Lehrzeit bedürfe, so sei es der Jakob, der dumme Junge, den jeder Schlingel verleiten könne, zu was er wolle; sie könne nicht begreifen, warum der seiner Mutter, die akkurat so gewesen sei, habe nachschlagen müssen. Indessen kam es der Großmutter doch sehr schwer an, als ihr dummer Junge zum Meister zog, als sie des Abends nicht mehr mit ihm beten, ihm die Decke über die Ohren ziehen, des Morgens ihn nicht mehr wecken, ihn nicht mehr kämmen konnte. Jakob weinte sehr, als er auszog, und doch wohnte der Meister kaum eine Viertelstunde weit von der Großmutter Häuschen. Die Großmutter dagegen stellte sich hart, sprach ihm ernst zu, daß er nicht für und für der alte dumme Junge bleiben möchte, seine Väter würden sich im Grabe umkehren, wenn sie sehen müßten, wie sehr er aus der Art schlage. Als sie aber des lieben Kindes Rücken sah, sah, wie er bei jedem Schritte nach ihr sich umwandte, da drehte sie sich auch um, ging in ihr Häuschen, und was sie da machte, das sah und hörte der liebe Gott. Was kann wohl eine gute Großmutter, wenn ihr einziger Enkel den ersten Schritt auf den Lebensweg setzt, der aus dem Hause hinaus in die Welt führt, anderes und Besseres machen als ein wenig weinen und viel beten!

Die ersten Wochen, ehe die Arme an die Arbeit sich gewöhnt hatten, überstand Jakob schwer, wie es übrigens den meisten Lehrknaben ergeht. Der ganze Leib schmerzte ihn, des Nachts schlief er nicht, sein Kamerad redete ihm nach, er habe ihn weinen gehört. Aber bald hatte er sich gewöhnt, es begann ihm gut zu gehen. Meister und Meisterin wiesen ihn mit Manier zurecht, nach dem Grundsatze, daß ihm die Sache nicht von selbst einfallen könne, sondern daß er eben darum vier Jahre bei ihnen sein solle, um sie zu erlernen. Daneben duldeten sie nicht, daß jemand ihn plage, wozu namentlich der ältere Lehrjunge gute Lust zeigte. Derselbe war also durch Jakobs Eintritt um eine Stufe vorgerückt, begann sich zu fühlen und meinte nun, dieses Gefühl dem unter ihm Stehenden alsobald zu fühlen geben zu müssen. Das ist halt Menschenart so und wird es bleiben trotz allen philosophischen und juridischen Theorien von Freiheit und Gleichheit und Gott weiß was allem.

Bei jeder Mahlzeit wurde gebetet, des Sonntags ging man in die Kirche, und gerne sah es der Meister, wenn seine Hausgenossen etwas Frommes lasen oder ihre Schulkenntnisse übten. Eine Bibel, Platz und Schreibezeug stunden ihnen zu Diensten des Sonntags, oder wenn sonst von der Arbeit gefeiert wurde. Fest hielt er seine Hausordnung, welche begreiflich strenger war für seine Lehrjungen als für den Gesellen, aber wenn ein Geselle die ihm gezogenen Schranken zum zweiten Male überschritt, so konnte er wieder wandern. Der Meister sagte, er sei der Meister und zwar nicht bloß in der Werkstätte, sondern im ganzen Hause. Als er sein Haus eingerichtet, habe er die Hausordnung und des Hauses Zucht mit Gott beraten, nach Gottes Rat sie festgestellt, darauf Gottes Segen genossen, darum halte er diese Ordnung auch fest, bis ihm einmal die Augen zugingen; wer in die Ordnung sich nicht fügen wolle, könne weiterwandern. Eines Wandergesellen wegen, der heute hier sei und morgen dort, ändere er das Eingericht seines Hauses nicht, und täten alle Meister wie er, so käme mancher Wanderbursche besser heim, und mancher Vater und manche Mutter müßten ihr grau Haar nicht mit Jammer zur Grube tragen.

Jakob wurde dem Meister und der Meisterin recht lieb, sie konnten lange nicht begreifen, warum die Großmutter ihn immer einen dummen Jungen nannte; sie meinten, es sei recht schade, daß seine Mutter, welcher er nachschlagen solle, gestorben sei, indem dieses eine gute und brave Person gewesen sein müsse. Jakob half willig und rasch der Frau Meisterin, wartete nicht immer den Befehl ab, sondern tat auch, was er ihr an den Augen absah, daß sie es gerne hätte. Dafür kriegte er manch gutes Wort, manchen Bissen Brot oder sonst etwas, welches einem hungrigen Jungen gut schmeckt. Die Zurechtweisungen und Belehrungen hatte er nicht immer am folgenden Morgen schon vergessen, darum kriegte er manche Ohrfeige weniger als andere Lehrjungen, ja, zuweilen verstieg sich der Meister zu dem Lobe, er hätte schon manch größern Ochsen in der Werkstätte gehabt, als der Jakob sei.

Nun ändert sich die eigentliche Natur des Menschen noch viel weniger als die sogenannte Welt. Darum ging es Jakob gerade so, wie vor uralten Zeiten es dem Joseph, des Erzvaters Jakobs Sohn, ergangen ist: die Lobsprüche des Meisters, das Wohlwollen der Meisterin stiegen ihm und den andern in die Köpfe, er wurde eitel, die andern neidisch. Jakob ließ es nun die andern auch fühlen, daß er Gunst habe bei Meister und Meisterin, und wenn er zur Großmutter kam, so rühmte er dieser, wie der Meister oft sage, er hätte schon manch größern Ochsen in der Werkstätte gehabt, als er sei. Dies freute freilich die Großmutter, aber sie ließ es Jakob nicht merken; so oft Jakob so rühmte, so oft sagte sie: »Warte nur, der Meister wird es schon noch erfahren, wie groß in dir der Ochse ist, welch dummer Junge du bist!« Und neben der Scheibe vorbei schoß die Großmutter nicht.

Den Gesellen und den andern Lehrjungen freute begreiflich diese Bevorzugung nicht, sie trachteten, dieselbe ihm einzutreiben. Plagen durften sie ihn nicht, aber seine Schwäche hatten sie erkannt, drehten darum das Ding und verleiteten ihn zu dummen Streichen. Will man einen guten dummen Jungen ins Garn jagen, so spielen die einen die Spötter, die andern die Freunde; auf diese alte Mode, die doch täglich neu wird, trieben es auch der Geselle und der Lehrjunge. Der eine spottete über Jakob, wie er zu dumm, zu schwach, zu feig sei zu diesem, zu jenem, wie er noch keinen so angetroffen, und wie sein Lebtag nichts Rechtes aus ihm werde. Der andere dagegen rühmte Jakob, wollte wetten, was einer könne und dürfe, das könne und dürfe auch er, und komme er einmal in die Fremde und zu seinen Jahren, so werde man von ihm reden von Paris bis Berlin. Ward dem guten Jakob in diesem Tone zum Tanze gepfiffen, so tanzte er richtig, ward grob gegen Meister und Meisterin, betrank sich einmal, prügelte sich ein ander Mal, warf ein drittes Mal einem andern Meister einen Stein ins Fenster. Solches setzte den Meister, der klare Augen hatte und die Hand am Arme, auf den richtigen Standpunkt, und wie recht die Großmutter hatte, begriff er. Das Herbste aber für Jakob war immer, wenn er nach einem solchen Streiche zu der Großmutter gehen und ihr beichten mußte. »Du bist und bleibst der dümmste Junge!« sagte dann diese und war nahe daran, zur Rute zu greifen. »Was sagt jetzt der Meister?« frug sie wohl. Mit Mühe brachte dann Jakob heraus, ein Esel sei ich und der größte, den er je gesehen. »So hat der Meister auch Verstand gekriegt«, erwiderte auf solche Beichte die Großmutter. »Aber sieh«, fuhr sie dann fort, »bleibst du ein solcher Esel, so gehst du in der Fremde im ersten Jahr zuschanden. Auf einen rechten Burschen, welcher Gottes Wege gehet, kommen immer sieben Schlingel, welche im Namen des Teufels ausgehen, um dumme Jungens ins Verderben zu locken und in dasselbe zu versenken. Mein Alter und dein Vater haben hundertmal erzählt, wie es zugeht in der Fremde, und wie fest und klug einer sein müsse, wenn er nicht ins Verderben gesprengt sein wolle. Willst du nicht gescheuter werden, willst du ein Laffe bleiben, wie du jetzt bist, so wäre dir besser, du wärest ein Kuhjunge geworden, dann könntest du in der Kuhweide bleiben, brauchtest nicht in der Fremde einem ehrlichen Handwerke nachzugehen.« Solche Worte waren hart für einen, dem als bald ausgelerntem Burschen ein stattlicher Kamm gewachsen war. Da nun der Meister und die Meisterin mit der Großmutter einstimmten und oft sagten: »Jakob, es ist doch jammerschade, daß du ein so großer Esel bist, wärest sonst ein ganz guter Bursche«, so nahm er sich zusammen, und Absonderliches fiel während der Lehrzeit nicht mehr vor. Der Meister hätte ihm an der Lehrzeit ein halbes Jahr geschenkt, aber die Großmutter gab es durchaus nicht zu. Lieber, sagte sie, wollte sie dieselbe um ein Jahr verlängern als um einen Tag verkürzen. Ihr Alter, Gott habe ihn selig, sagte sie, würde sich noch im Grabe umkehren, wenn er sehen könnte, welch dummen Jungen sie in die Fremde schicken müsse. Könnte sie sich nicht auf Gott verlassen und denken, ihr innig Gebet vermöchte auch etwas bei ihm, so dürfte sie ihn gar nicht ziehen lassen, fürchten müßte sie, schon im nächsten Dorfe ginge er ihr zugrunde.

Trotz dieser Strenge liebte Jakob die Großmutter. Ihr Regiment war kein tyrannisches, willkürliches, heute so und morgen anders, es war das gleiche heute und gestern und ein solches, daß Jakob die Wohlmeinenheit darin nicht verkennen konnte. Nicht bloß versorgte die Großmutter ihn freigebig und stattlich mit allem Nötigen, sondern nahm auch an allem, was ihn anging, an seinem Wohl und Weh den innigsten Anteil. Sie könnte vielen Eltern und Großeltern zum Beispiele dienen, wie nur da die rechte Liebe, welche bleibet und nicht verwachsen wird mit den kindlichen Kleidern, in den Kindern wohnet, wo die Liebe mit dem Respekt, der da erzeuget wird durch Kraft und Weisheit, sich paaret. Vor der rechten Kraft beugt sich alles, und die rechte Kraft ist es ja, welche der Mensch unwillkürlich verehrt in Liebe und Demut. Der Urquell dieser Kraft ist Gott, aber wie vom Himmel der Tau kömmt, so träufelt von dieser Kraft auch auf den Menschen nieder und nicht auf Männer alleine, sondern auch auf Mütter und Großmütter, und glücklich ist die Familie zu nennen, deren Häupter mit dieser Kraft von Gott gesegnet sind.

Als endlich die Lehrzeit ausgelaufen, der schöne Lehrbrief in Jakobs Händen war, da mußte die Großmutter Jakob ziehen lassen nach Handwerksgebrauch, und wie der es tun muß, welcher ein rechter Meister werden will. Sie rüstete ihm seine Mitgabe, sie war nicht groß, aber stattlich und währschaft, das Hauptstück dabei war das Felleisen. Drei Felleisen hatte sie in ihrer Kammer hängen, dennoch rüstete sie dem Großsohne ein neues. Drei Meister in gleichem Handwerke waren in ihrem Geschlechte aufeinander gefolgt, und jeder hatte sein Felleisen heimgebracht. Der erste, ihres Mannes Vater, hatte einen etwas lockeren Sohn gehabt, welchem er sein Felleisen nicht gerne anvertrauen wollte. Dasselbe war ihm lieb geworden, er betrachtete es als seinen Gefährten, der die guten und bösen Tage der Wanderschaft mit ihm durchgemacht hatte, es war zugleich sein Tagebuch, welches ihn an alle Erlebnisse erinnerte. Derselbe kaufte daher seinem Sohne ein neues Felleisen und stellte dabei dem Sohne vor, wie schwer es dem Vater um das Herz sein müsse, wenn sein Vertrauen zum Sohne also erschüttert sei, daß er ihm das alte, traute Wandergeräte nicht anvertrauen dürfe. Der Sohn nahm des Vaters Wort zu Herzen, brachte nicht bloß das Felleisen heim, sondern auch einen aus einem gebesserten Gesellen herausgewachsenen tüchtigen Meister. Als dieser wiederum einen Sohn in die Fremde sandte, machte er es ebenso, gab dem Sohne ein neues Felleisen, und es wurden die Felleisen handwerkliche Familienregister, gerade wie ritterliche Schilder und Rüstungen und sonstiger adlicher Familienschmuck nie verstummende Mahnungen der Ahnen an die Enkel waren, zu bewahren adelichen Sinn und ritterlichen Mut, solange die Enkel Ohren hätten, zu hören, und einen Verstand, zu begreifen.

Die Großmutter wollte den letzten Abend mit ihrem Jakob alleine zubringen. Sie war der Meinung, wer im Nebel eines nicht verschlafenen Rausches hinaus in die Welt ziehe, laufe Gefahr, sein Lebtag im Nebel zu bleiben, ein Leben im Nebel aber sei ein traurig, sei ein unselig Ding. Sie war überhaupt der Meinung, ein Christ solle in keinen ernsten Abschnitt seines Lebens hineintanzen oder hineinstolpern, sondern mit Gott und ernstem, nüchternem Sinn hineinschreiten.

Jakob fürchtete sich vor diesem Abend sehr, es war ihm fast zumute, als er zur Großmutter ging, wie es ihm war, als er zum ersten Male zum Mahl des Herrn trat. Vor solchen ernsten Abenden kriegen junge Leute gerne eine Art von Schlotter; manchmal steigt er empor aus einem bösen Gewissen, manchmal ist es der jungfräuliche Sinn, welcher zagt und bebt, wenn Gespräche beginnen, in welchen das Innerste der Herzen zutage gerufen wird, manchmal ists die Wehmut, welche man fürchtet, und deren man sich schämt. Wer von einer alten, treuen Großmutter, welche ihm Vater und Mutter gewesen, Abschied nehmen will auf mehrere Jahre, der hat allerdings Ursache, wehmütig zu werden, so oft er die treue Großmutter ansieht und im alternden Gesichte die Vorboten des beginnenden Todes erblickt. Alle drei Dinge mögen bei unserm Jakob das ernsthafte, verlegene Gesicht bereitet haben, mit welchem er zur Großmutter kam. Dieselbe empfing ihn in freundlichem Ernste mit der Bemerkung, daß sie schon lange auf ihn gewartet, hieß ihn zum Essen sich setzen, was er auch tat in banger Hast als einer, der nicht weiß, was da kommt, jedenfalls davor sich fürchtet. Die Großmutter hatte bis dahin Jakob nicht bloß in Unwissenheit über ihr bißchen Vermögen erhalten, sondern sich ärmer gemacht als sie war. Jetzt begann sie wider alles Erwarten eine freundliche Erörterung über ihr gemeinschaftliches Besitztum. »Jakob«, sagte sie, »jetzt, da du fortgehst, ist es gut, wenn du vernimmst, was wir besitzen, nicht damit du auf Zuschüsse rechnest auf der Wanderschaft -- der wackere Geselle nimmt nur in der höchsten Not seine Zuflucht zu solchen, und wer viel Geld von Hause kriegt, ist unter seinen Kameraden nichts als eine goldene Gans, an welcher jeder rupfen will -- sondern damit du weißt, was dein ist, und was du zu fordern hast, wenn es unterdessen in andere Hände gekommen sein sollte.« Nun setzte sie ihn, ohne sein Gefühl bewegen zu wollen, im Tone des Geschäfts über ihre Habe ins Klare.

Gerade durch diesen ruhigen Ernst und das bewiesene Zutrauen öffnete sich Jakobs Herz. Das Bangen schwand, und mit wehmütiger Innigkeit hing sein Auge an der Großmutter. Diese führte ihn, als sie gegessen hatten, in die Kammer, in welcher an der Wand die Felleisen hingen; auf dem Tische stand das neue, drum herum lag, was eingepackt werden sollte. Als alte Frau Meisterin und viel erfahren in solchen Dingen, packte sie das Felleisen, damit er lerne, wie der Platz am besten benutzt, die Kleider am meisten geschont, die Last am leichtesten getragen werde. Als es gepackt und zugeschnallt war, legte sie die Hand auf dasselbe und sprach: »Sieh, liebes Kind, dort an der Wand hängen drei Felleisen, deine Väter trugen sie mit Ehren durch die Welt, brachten mit Ehren sie heim und bewahrten sie in Ehren zum Gedenken für Kinder und Kindeskinder. Sieh, hier ist dein Felleisen, das vierte soll es werden in der Reihe, dort steckt in der Wand bereits die Schraube, an welcher es hängen soll. Wahre nun dasselbe in Ehren und bringe es heim wie deine Väter zum Gedenken für Kinder und Kindeskinder! Solange du ein Felleisen trägst, bist du ein ehrenwerter Geselle; trägst du die Trümmer deiner Habe in einem Nastuche herum, dann bist du ein Vagabund und Bettler, und vor solchem Zustande möge Gott dich bewahren; was deine Väter vor diesem Zustande bewahrte, das möge auch dich davor bewahren! Vergiß des Morgens und des Abends das Beten nicht, schaffe sechs Tage im Schweiße dein Brot, den siebenten aber heilige deinem Schöpfer! So du Arbeit findest, verschmähe sie nicht! Ein Geselle, der Arbeit verschmäht, ist wie ein Bettler, der Brot neben die Straße wirft. Die kleinste Arbeit schaffe, als sei sie dein Meisterstück, rasch und gut, ehre den Meister und die Meisterin, meide Spiel und Liebeshändel, sorge, daß, wo du gewesen, du wieder hindarfst, daß nie Flüche dich verfolgen, der Segen frommer Menschen dein Geleite ist!« So sprach langsam und in Absätzen die Großmutter, das Herz des jungen Gesellen ward guter Vorsätze voll. Darauf faltete die Großmutter die Hände und betete: »Auch du, o Herr und mein Gott, sei mit meinem Kinde auf allen seinen Wegen und Stegen, drücke du am Abend ihm die Augen zu, am Morgen wecke du es wieder, in deine Hände befehle ich es mit Leib und Seele. Führe uns wieder zusammen, o Herr, mein Gott, wenn nicht auf Erden, doch im Himmelreich und dann in alle Ewigkeit! Amen.«

Als die Töne des Gebetes verklungen waren in ihrem Herzen, küßte die Großmutter ihren Enkel, und ihre Stimme bebte, als sie zu ihm sagte: »Gute Nacht, liebes Kind, vergiß Gott nicht und auch mich nicht, so sehen wir uns einmal wieder hier oder dort.« Jakob aber weinte laut, und wie ein liebes, gutes Kind hing er am Halse der Großmutter.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Jakobs erste Wandertage

Wenn einmal der Morgen kömmt, der Tag langsam am Himmel heraufsteigt, wo der Wandergeselle zum ersten Male den Fuß auf die Straße setzt -- vor ihm geht die Welt auf, er kann gehen wohin er will, links oder rechts, er kann machen was er will, sich niedersetzen oder aufstehen, des Abends eine Herberge suchen oder unter einem Baume schlafen, an keine Stunde ist er gebunden, an keinen Ort, keine Stimme schallt ihm nach, keine Stimme ruft ihn hieher, ruft ihn dorthin, er ist frei in Zeit und Raum, kann machen was er will -- dann durchströmt ein eigen Gefühl den jungen Menschen, rasch und heiß rieselt ihm durch die Adern das Blut, und munter zieht aus und ein in die weite Brust der leichte Atem. Die Lebendigkeit dieses weit und leicht atmenden Gefühles ist freilich ebenfalls nicht unabhängig, wie nichts auf Erden es ist, es hängt ab vom Zuge der Wolken, von der Schärfe des Windes, vom Mangel oder Überfluß an Sonnenschein, von der Schwere des Felleisens, der Leichtigkeit des Geldbeutels, von Nerven und Muskeln, vom Herz und von der Seele, kurz von unendlich wichtigen und unendlich kleinlichen Dingen, welche Einfluß üben auf unsere Souveränität trotz den herrlichsten Theorien über unsere Selbstherrlichkeit, trotz den herrlichsten Variationen über das Thema »Selbst ist der Mann!« Aber wenn es ein schöner Morgen ist, sanft die Wolken ziehen, stark der Rücken ist und rüstig die Beine, dann wallet und siedet es in der Brust, und helle Dämpfe, ein rosenrotes Morgenrot voll süßer Hoffnungen, voll kühner Erwartungen wallet auf, und leicht und lustig wallet der Bursche dahin, als ob er schiffe auf leichten, rosenroten Wölklein.

Doch wie, wenn die Sonne höher steiget, das lustig aufgeschossene Saatkorn, welches nicht viel gute Erde hatte, vertrocknet, so geht es gerne und oft dem Jüngling mit Rosenrot und Morgenrot, mit Hoffnungen und Erwartungen, wenn er mit dem schweren Felleisen eine staubichte Straße dahinwandert, nachdem die erste Stunde verronnen ist. Allmählich kürzen sich die Schritte, nach der zweiten Stunde schon macht die Last auf dem Rücken sich geltend, die Tragriemen beginnen fühlbar zu werden, scheinen den Atem zu beengen; er fängt zu bedenken an, ob es wohl Zeit zur Einkehr sei, ob der Handwerksgebrauch es wohl erlaube, nach so wenig Stunden schon wieder abzusitzen. So ein junger Geselle trägt noch Bedenken, fügt sich in die Form; einem Altgesellen vergehen gerne die Bedenken, und gerne schneidet er seine Formen sich selbst zurecht, setzt sich ohne Bedenken nach den zwei ersten Schritten wieder in eine Kneipe, wenn es ihn dünkt, er hätte Durst oder sonst etwas. Wer Genie hat, begreiflich -- und solche Glückliche gibt es heutzutage bekanntlich wie Sand am Meere -- setzt sich, versteht sich, über alles Herkömmliche heraus und schneidet sich seine Lebensweise zu, eigentümlich, nagelneu, genial natürlich. Besieht man das Ding etwas näher, so kommen einem die verschiedenen genialen Weisen sehr ähnlich, wirklich schon etwas angerostet vor und mahnen einen an den verlornen Sohn, der nicht eher zu sich selbst kam, bis er vor dem leeren Schweintrog stand.

Wenn ein junger Wanderer seine erste Tagefahrt ehrlich vollbringt, nicht liegen bleibt auf halbem Wege, so geschieht es gerne, daß am Abend, wenn er endlich zur Ruhe kömmt, ihm ganz anders zumute ist, als ihm am Morgen war. Es schmerzen ihn die Füße, der Rücken tut ihm weh, eng ists ihm um die Brust, weh im Herzen, trüb, schwarz scheint ihm die Welt, das Weinen steigt ihm in die Augen, verlassen, elend kömmt er sich vor. Soll er heimkehren, soll er weitergehen? Zu keinem mag er sich entschließen, sterben möchte er am liebsten. Wohl dem armen Burschen, wenn er dieses Weh verwindet, wenn es sich ihm verklärt nach und nach zum freundlichen Gedenken der Heimat und des Tages, an welchem er als gemachter Bursche heimkehrt und nun ein Mann sein will im Sitze seiner Väter! Aber weh ihm, wenn diese Abende häufig wiederkehren, aber immer verwilderter, düsterer nach wild und bös verlebten Tagen; weh ihm, wenn ihm einst ein Abend kommen sollte im Spital an der Landstraße, wo seine Füße ihn auch nicht weitertragen, es trüb und schwarz ihm vor den Augen wird, schweres Stöhnen aus der Brust sich ringt, das Weinen nach der Heimat kömmt, aber keine Heimkehr mehr ist, hinter ihm der Weg abgebrochen, vor ihm der Tod, der ihm winket dem schwarzen Tore zu, aus dem nimmer wiederkehret, wer zu ihm eingegangen, vergeblich er nach dem Vater, nach der Mutter seufzt, keines kömmt, niemand kömmt als näher und näher der Tod und sein dunkel, finster Tor, in welchem endlich die Seufzer, der vergebliche Ruf nach Hülfe aussterben, der arme, verlorne Bursche verschlungen wird!

Auch unser Jakob verarbeitete einen schweren, trüben Abend, als er müde und wie gelähmt endlich zur Nachtherberge kam. Er wäre selben Abend von Herzen gerne gestorben, so elend war es ihm im Gemüte. Am folgenden Morgen hatte er sich wieder etwas erholt. Doch kam die Welt ihm noch immer ganz anders vor als am vorigen Tag, gar grausam lang schien sie ihm; wie er auch die Beine hob und weitersetzte, es wollte nicht vorwärts gehen. Er fing an zu glauben, irgendein boshafter Kobold dehne jede Strecke von einem Meilenzeiger zum andern vor ihm weg aus, daß sie lang wie eine Tagereise werde. Der gute Jakob hatte das Wandern sich ganz anders vorgestellt. Wenn einer vier Jahre Lehrzeit absitzt oder abhobelt in einer Werkstätte, selten zu einem freien Tag kömmt, wo er sich ordentlich strecken und ergehen kann wie er will, wie herrlich kommen ihm die Tage des Laufens und Schlenderns vor; gerade so sei auch das Wandern, denkt er, und darum freut er sich auch so darauf. Aber das Wandern ist ganz was anderes, es ist kein Spaziergang, sondern anfangs besonders eine harte Beschwerde; um sie unbeschwert zu ertragen, ist wiederum eine Lehrzeit vonnöten. Diese Lehrzeit des Wanderns ist von großer Bedeutsamkeit für den rechten Gesellen; er lernt daraus, Schritt um Schritt zu gehen mit Geduld, er erfährt, daß Schritt um Schritt zum Ziele führen so gut als Fliegen oder Rennen und sicherer noch obendrein, und diese Erfahrung, wenn sie praktisch angewendet wird, ist die Grundmauer des Handwerks. Jetzt fährt man auf Eisenbahnen für ein Lumpengeld hundert Stunden weit, aber wehe dem Gesellen, dem dieser Flug zu Kopfe steigt, der ihn übertragen möchte auf seinen Lebensweg, er kömmt von den rechten Schienen ab, gerät aus der Fahrbahn, kömmt nicht ans Ziel oder spät oder verstümmelt. Jakob hatte sich vorgenommen, gleich eine tüchtige Strecke weg von der Heimat sich zu entfernen, ehe er um Arbeit frage, hatte sich vorgenommen, hauptsächlich in größern Städten Arbeit zu suchen, weil da am meisten zu lernen sei, wie er sagte. Als Glanzpunkt stand Parnis (Paris) ihm vor Augen, derhalben hatte er auch alsobald den Flug nach Westen genommen, um durch die Schweiz in Frankreich einzurücken.

Es ist ein eigner Zug, der immer mehr die Leute in die Städte zieht: dort sei der rechte Verkehr, heißt es, dort sei das rechte Leben. Das ist wohl nur eine Täuschung, vielleicht nichts als der Instinkt eines unglücklichen Geschlechtes, weil im Wirbel einer Stadt die Jämmerlichkeit der Persönlichkeiten, ihr jämmerlicher Untergang am leichtesten zu verbergen ist, weil im Wirbel der Stadt das Glück ein Zufall scheint, während im stillen Lande augenscheinlich nur die persönliche Tüchtigkeit sich Bahn bricht, Ruf und Geld erwirbt.

Weit früher als er gedacht, entschloß sich Jakob, in einem kleinen vor ihm liegenden Städtchen um Arbeit zu fragen. Es wurde ihm schwerer als er gedacht. Er hatte als Lehrjunge gar oft gelacht, wenn ein müder, schüchterner Geselle in die Werkstatt getreten war und den Gruß vom Handwerk gebracht hatte, hatte hinterdrein über ihn gespottet, alles Lächerliche hervorgezogen, bis endlich der Meister ihn schweigen geheißen, wohl mit der Bemerkung, auf solche Weise versündige man sich, und später habe man Spott und Schmach, die man andern angetan, dreimal auszustehen. Er gab wohl auch zu bedenken, wie schön es sei, daß Meister und Gesellen des gleichen Handwerkes eine Brüderschaft seien, durch die ganze Welt durch Botschaft und Gruß verbunden, daß, so weit man komme, ein Glied der Brüderschaft des andern sich annehme, keiner verlassen sei und verstoßen, so weit das Handwerk bestehe und der Geselle seinen ehrlichen Namen bewahrt habe. Das sei gerade so, sagte er, wie es vor alten Zeiten mit den Ritterorden und auch den geistlichen Orden gewesen sei, welche auch überall Aufnahme und Hülfe gefunden zu Schutz und Trutz, so weit der Orden, ja, so weit das Christentum verbreitet gewesen sei. Was das für ein schönes Gefühl sei, sagte er, wenn man in der weiten Welt sei und doch nirgends fremd, sondern Brüder treffe an jedem Orte, welche mit Rat und Tat jedem vom Handwerk zur Seite stünden und absonderlich den Jungen und Unerfahrnen nützlich seien mit Warnungen und Anweisungen. Man sah wohl, es war mehr als ein Vierteljahrhundert vergangen, seit der gute Meister draußen in der Welt gewandert war mit dem Hui und dem Gruße von Meister und Gesellen; das war noch in der alten, guten Zeit, wo jeder noch das Gemeinsame im Auge hatte und Gefühl dafür, weil dieses Gemeinsame nicht größer war, als sein Auge es ermaß und also auch sein Gefühl empfand. Als man später diese Schranken des Handwerkes und der Stände einriß und die ganze Welt aufschloß und alles, so weit der Himmel blau ist, jedem gleich lieb sein sollte, da ward das Ding den meisten Herzen und Augen viel zu weit, es ward ihnen angst, sie schlossen Augen und Herzen zu, sahen weder Stände, Handwerker noch Familien mehr, sahen nichts mehr als sich alleine, und was man nicht siehet, für das wird man auch selten fühlen, wie schon der Apostel Johannes richtig bemerkte. Darum fanden des Meisters Worte bei denen, welche Kinder einer andern Zeit waren, einen andern Zeitgeist eingesogen hatten, keinen Anklang; man begriff ihn halt nicht, darum glaubte man sich über ihn erhaben nach der Weise der Zeit. Denn eben darin besteht die Weise der Zeit und ihre Weisheit, daß sie kurzab verneint, was sie nicht sieht oder nicht faßt. So hatte Jakob eigentlich auch keinen Begriff von der Würde seines Handwerks und eben deswegen auch das Hochgefühl nicht, welches das Bewußtsein gibt, einer ehrenwerten Gesamtheit anzugehören, dagegen bildete er sich viel ein auf seine erlangte Fertigkeit im Handwerk, auf sein Geschick zu allem, was ihm vorgelegt wurde, was er ausrichten sollte. Er begriff daher auch nicht, warum er einen schüchternen oder bedürftigen Kameraden nicht hätte auslachen sollen im vermeintlichen Gefühl seiner Überlegenheit. Als er vor dem Städtchen die Toilette machte, die Stiefel putzte und die Haare kämmte und nun aufbrach, um nach einem Meister zu fragen, da wankte sein Selbstvertrauen, ein vergeltend Gefühl kam über ihn, und als er in die Werkstätte trat, den Gruß verrichtete und um Arbeit frug, so stand er nicht anders da, als der verlegenste Geselle gestanden war, welcher ihre Werkstätte besucht hatte.

Jakob fand Arbeit, konnte ausruhen, aber lange blieb er nicht, es war ihm alles nicht recht. Obgleich nicht viele Tagereisen von der Heimat, war hier auf diesem Stücklein Erde schon vieles anders als auf demjenigen, auf welchem seine Heimat stand, andere Gebräuche waren in der Arbeit, andere im Hause, anders rochen die Würste, anders schmeckte das Bier, und was anders war, fand er schlecht, grundschlecht und glaubte, es sei nur hier also. Ganz besonders ärgerte ihn das, was anders war in der Arbeit. Einem solchen Neste zulieb ändere er seine Gewohnheit nicht, sagte er, und was er schaffe, sei für den alten Jörgen (so hieß der Meister) lange gut genug, derselbe wäre froh, er könnte es selbsten so.

Es war ein alter Geselle da, welcher es ihm auseinandersetzen wollte, wie es verschieden zugehe in der Welt, und daß eben das des Gesellen Kunst sei, in das Verschiedene sich zu schicken und das Beste zu wählen, und wie in der Welt nicht bloß verschiedene Arbeit sei, sondern auch verschiedene Arbeitsweise, verschiedene Handgriffe, verschiedene Ausarbeitung, und wie eben das die rechte Gesellenkunst sei, nicht nur verschiedene Arbeit zu machen, sondern auch auf verschiedene Weise, und wie eben nur der der rechte Meister sei, welcher alles kenne, was die Gesellen in die Werkstätte brächten, und dann jedem sagen könne, was er behalten dürfe, was er anders machen müsse.

Für solche Zusprüche hatte jedoch Jakob keine Ohren. Er sagte es nicht, aber er dachte es, wenn der Geselle so weise sei, wie er sich darstelle, so sei es kurios, daß er nicht längstens Meister sei, daß er schaffe in solch erbärmlichem Neste. Jakob wußte noch nicht, wie verschieden Lebensläufe und Ansichten sind und wie selten erfahrne Gesellen, welche die unerfahrnen Kameraden nicht mißbrauchen, sondern mit Rat und Tat kameradschaftlich sich gegen sie erweisen. Jakob blieb kurze Zeit, dann setzte er seinen Stab weiter, suchte an andern Orten Arbeit in der Hoffnung, gescheutere Leute zu finden als im ersten Neste, das heißt Leute, die kochten und schafften, wie es bei ihm zu Hause der Gebrauch sei. Aber Jakob fand die Leute immer dümmer, je weiter er kam, das heißt, je weiter er kam, desto verschiedener trieb man alles, als bei ihm zu Hause der Brauch war. Das machte ihn bitterböse, er war der gute Jakob gar nicht mehr, der dumme Junge, wie ihn die Großmutter gescholten hatte, der sich zu allem verleiten ließ, er hatte ausgelernt gehabt und sollte jetzt von vornen anfangen mit dem Lernen, sollte zum Beispiel gekochte Schinken essen lernen, die er von Kindesbeinen auf roh gegessen, wenn er zuweilen in zwei Jahren vielleicht einmal dazu kam.

Er setzte seine Hoffnung auf die Schweiz. Hier werde es allerdings auch dumm zugehen, dachte er, aber eben so dumm, daß die Leute sich glücklich schätzen würden, wenn so ein Jakob, wie er sei, zu ihnen käme und sie berichten täte, wie es draußen bei vernünftigen Menschen, das heißt da, wo er daheim sei, Sitte und Brauch sei. So steuerte er rasch der Schweiz zu und dachte oft, was sie dort sagen und wie sie dort schauen würden, wenn er, Jakob, daherkäme in die Schweiz. Er stellte sich die Schweiz etwas wunderlich vor, bald wie einen Eisberg mit einer Stadt auf dem Gipfel, einige Dörfer rund darum herum, bald wie eine große, weite Felsenspalte, vorn daran ein mächtiges Tor, dabei große Schweizermannen mit wilden Bärten und langen Hellebarden, bald wie eine große Weide voll Milch und Menschen, voll Käs und Kühen, die Straßen mit Butter bestrichen fausthoch und nebendran schöne Schweizermädel mit Körben voll Semmeln und Flaschen voll Kirschgeist und Muskateller.

Aber lang, lang war die Straße, ehe er ans große Schweizertor kam, bald hätte er zu glauben angefangen, das Dasein der Schweiz sei auch eine bloße Fabel, wie hie und da ein vorwitzig Bürschchen das Himmelreich ein Märlein nannte. Er hatte sich so ein neu Eingericht angeschafft, zwei Rädchen und sonst noch was, worauf er das Felleisen laden, dasselbe ziehen oder stoßen konnte. Aber das Ding ging nicht ohne Mühe, es mußte halt gestoßen oder gezogen sein, und wenn man es genau betrachtete, so war ein solch Ziehen oder Stoßen vielleicht noch mühseliger als das Tragen, jedenfalls stund das Tragen dem Burschen viel besser an. Ach, wenn er so mühselig durch den Kot seinen kleinen Karren zog, und es rollte an ihm vorbei eine rasche Chaise, eine stattliche Karosse, wie da in seiner Brust der Neid sich regte und die Gedanken kamen, ob denn der da drinnen besser sei als er, der mühselig den Karren zog, während jener rasch dahinflog, ob das wohl gerecht sei von Gott, daß er, Jakob, da in Kot und Staub langsam dahintrappen müsse, während andere in Schirm und Schatten mühelos dahinkutschierten!

Indessen wenn man alle Tage vorwärts rückt, kömmt man am Ende doch wohin. Jakob nahte sich der Schweiz, kam durch das Breisgau herauf und steuerte auf Basel zu, nachdem er zu seiner Verwunderung vernommen hatte, die Schweiz hätte mehr als einen Eingang und mehr als eine Stadt, und zwischen den Städten liege Land fast wie in Deutschland, bloß zu hinterst seien die Berge so gleichsam wie eine Wand. So recht glaubte er jedoch das Ding nicht. Als er wußte, daß er selben Abend noch in Basel die Schweiz erreichen werde, da schaute er gewaltig vor sich hin, um die Schweiz zu entdecken, sie emportauchen zu sehen am Himmel als ein sonderbar und eigentümlich Stück Welt. Aber wie er ausgucken mochte einem Seemann gleich, der nach Land oder Wolken sich sehnt, die Schweiz wollte sich nicht zeigen unterm blauen Himmel. So weit er blicken mochte, waren die Wiesen grün, die Bäume hatten Laub, die Berge trugen Wälder, wie er es allenthalben gesehen, und wie es bei ihm zu Hause auch war, und die Berge, welche nicht mit Wald bewachsen waren, waren mit Reben bepflanzt, wie er es aber ebenfalls schon früher gesehen hatte. Er ward ärgerlich in seiner Seele, dachte, er hätte sich verirrt oder sei an der Schweiz vorbeigegangen, ohne daß er es bemerkt hätte.

Vor sich in der Ferne sah er eine Stadt, eine sehr große, wie es ihm schien. Paris könne das doch nicht wohl schon sein, dachte er. Er hatte in der Schule die Geographie gelernt, der Schullehrer hatte ihm oft gesagt, er sei ein ganzer Geograph und werde sich einst blindlings in der Welt zurechtfinden trotz dem berühmten englischen Reisenden, der stockblind alleine alle Weltteile durchzieht und hinterher beschreibt, was er gesehen oder vielmehr nicht gesehen. Nun war er in der Welt, fand kaum den Weg mit Fragen und dem Beistand der Wegweiser, aber mit seiner Geographie konnte er nichts anfangen, sie gab ihm kein Licht in der Welt; als er in der Schule sich so stark damit beschäftigte, war eben die Reihe an Hinterpommern und China gewesen. Was half ihm jetzt alles, was er von dort wußte, jetzt, wo er vor einer Stadt stand und nicht wußte, war es Basel oder Paris, da ja weder die eine noch die andere dieser Städte in Hinterpommern oder gar in China liegt! Eins tröstete ihn, daß er nämlich jedenfalls noch in der Christenheit war, denn scheinbar auf dem höchsten Punkte, gleichsam die Krone oder das Haupt der Stadt, stand ein hoher Dom mit schlanken Türmen, der gar seltsam und schön in dunklem Rot sich heraushob aus dem blauen Hintergrunde, ein köstlicher Karfunkel im blauen Himmelsgewölbe. Da kam einer daher mit Zundel und Bürsten, und Jakob sprach ihn an: »Gut Freund, was ist denn dies für eine Stadt?« »Bosel ists«, antwortete dieser und sah dem Jakob ins Gesicht, als ob er erkunden wolle, ob er bei Troste sei oder nicht. »Bosel?« sagte Jakob erstaunt, »Bosel ist ja in der Schweiz, wo ist dann die Schweiz, die sehe ich ja gar nicht.« Darauf sah ihn der Zundelträger gar wunderlich an, wollte lachend vorübergehen, aber Jakob rief ihn an und sprach zornig: »Zum Narren lasse ich mich nicht halten, und wenn das Bosel ist, so zeig er mir auch die Schweiz, wo ist die zu sehen?« »Da liegt sie ja vor dir, und links neben den Türmen hinauf, da ist die Schweiz«, antwortete der Mann. »Das kann nicht sein«, sagte Jakob, »das ist ja Land wie ein ander Land, und zum besten lasse ich mich nicht halten, Freund, weiß er dies!« »Ja so«, sprach der Mann, »seid Ihr auch von denen einer, welche meinen, die Schweiz hange bald wie eine Bratwurst vom Himmel herab, und bald stehe sie da wie ein dicker, dicker Eiszapfen. Dann marschiert in Gottes Namen zu, am Tore fragt, wo Ihr seid, und wenn Ihr hineinkommt, so werdet Ihr wohl innewerden, daß Ihr in der Schweiz seid, wenns Euch im Kopf nicht fehlt.« 1

Der Mann ging lachend fürbaß, und Jakob sah bald dem Manne nach, bald nach der Stadt hin, welche Basel heißen und in der Schweiz stehen sollte. Da aber der Mann weiter- und weiterging, die Stadt dagegen am gleichen Orte stehen blieb, so entschloß Jakob sich endlich, sich der Stadt zuzuwenden, es sei allweg das Richtigere, dachte er. Indessen tat er es doch vorsichtig, mit großem Bedacht; wenn es wirklich Basel war, so meinte er, werde er wohl ein Zeichen sehen, etwas Apartes zum Erschrecken, etwas Schweizerisches: Männer mit Hellebarden, ein Rudel wilder Stiere, ein Dutzend donnernder Lawinen. Doch von allen diesen trat nichts in seinen Weg, eine schöne Straße führte in eine Stadt hinein, in welcher steinerne Häuser standen wie anderswo, die Menschen akkurat die gleichen Gesichter hatten, in alten Schweizerhosen wollte niemand kommen, keine einzige Kuh war sichtbar; er begann wiederum zu zweifeln. Da rauschte es vor ihm gewaltig und mächtig, die Türme des Domes in ihrer dunkelroten Pracht sah er wieder, die Straße erweiterte sich, vor ihm mündete sich eine breite Brücke, und als er auf derselben stand, sah er einen gewaltigen Fluß, der im vollen Bewußtsein seiner Kraft in ruhiger Schöne dahinfloß. Jakob stand lange still, er wußte nicht warum, aber bald mußte er den Fluß hinauf-, bald den Fluß hinuntersehen, und setzte er auch den Fuß weiter, so mußte er wiederum stillestehen und wiederum hinauf- und hinuntersehen, er kam sich so klein vor, der Strom so gewaltig, es war ihm, als rausche derselbe über die Brücke herauf, als fühle er den Schlag der Wellen an der klopfenden Brust, als gleite er dahin, von der Flut getragen; er konnte den Anblick nimmer vergessen. Aber jetzt wußte er, das war der Rhein -- er war in Basel.

1Wer glauben sollte, wir hätten unsern Jakob in seinen Vorstellungen über die Schweiz dümmer machen wollen, als er möglicherweise sein konnte, den erinnern wir an den dänischen Gelehrten, welcher in Zürich mit einem Kutscher akkordieren wollte, ihn bis auf den Montblanc zu fahren, an die russische Gräfin, welche in Thun im Bureau des Dampfschiffes Billets wollte bis auf die Jungfrau, an Alexander Dumas, welcher in Bern Reben sah, den Sturz der Wasserfälle, den Donner der Lawinen hörte, ja an Theodor Mundt, welcher die zürcherischen Dampfschiffe bis nach Italien fahren läßt.

Drittes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

Jakob kömmt nach Basel und kriegt Gift, aber nicht in den Leib

In Basel fand er Arbeit, aber der Mut, die Schweizer zu lehren, wie man arbeiten müsse, war ihm vergangen. Den Glauben, daß er es könnte, hatte er nicht abgelegt, aber er fühlte, daß er, Jakob, die Stadt Basel nicht wohl werde reformieren können, er fühlte das Ehrfurchtgebietende der großen Stadt. Freilich drückte er sich anders aus, er sagte, wo die Kerls so reich seien und in Kutschen führen wie Prinzen, da gelte ein armer Kerl, wie er sei, gar nichts, und wäre er hundertmal gescheuter als sie alle. Es gehe halt verflucht ungerecht zu in der Welt!

Wenn Basel nach der Zahl seiner Einwohner zu den kleinen Städten gehört, so trägt es doch das Gepräge einer großen, auf der europäischen Völkerwaage bedeutend ins Gewicht fallenden Stadt und macht auf alle Fremdlinge, welche zu seinen Toren aus- und eingehen, diesen Eindruck. Der mächtige, schöne Rhein trägt viel dazu bei, auch die für die verhältnismäßig kleine Einwohnerzahl große Ausdehnung der Stadt, indessen sind dies nur Nebendinge. Aber unwillkürlich wird, wer im Herzen der Stadt um die Brücke herum, oder wo von der Brücke weg die Straßen zusammenlaufen, steht, vom Gefühl ergriffen, er stehe an einer Pulsader Europas, an ihm vorbei rolle ein bewegend Etwas (Fluidum), dessen Anfang, dessen Ende er nicht kennt, dessen Bestandteile er bloß teilweis zu erforschen vermöge. Da läuft zusammen wie in einen Knoten und dann wieder auseinander in vieler Herren Länder, was reiset und handelt in Deutschland und Frankreich, in England und Italien; und in den großen, altaristokratischen Gebäuden zählt und sondert ein fester, nicht schwindelnder Sinn das flüchtige Geld, das leichte Papier und läßt es rollen durch die Adern der Welt, dessen reichliche Wiederkehr in die Herzkammer mit gleicher Sicherheit berechnend wie die Gelehrten das Kommen und Gehen der ausschweifungssüchtigen Kometen. Wer an der Ecke der Eisengasse steht, hineinsieht in die Bewegung, der wird von einem jämmerlichen Gefühle seiner Ohnmacht ergriffen; ohne an den Himmel zu sehen in die Schwingungen der himmlischen Welten, sieht er hier am Ende der Eisengasse so vieles, und das meiste begreift er nicht, weiß weder das Woher noch das Wohin, weder das Darum noch das Warum, er begreift nichts, als daß er ein arm Menschenkind ist, welches wenig fasset, und dessen wenige sich achten.

Während bei solchem Gefühl der Christ von Herzen demütig wird, Gott, der ihn erhält, den Bruder, der seiner sich annimmt, um so inniger liebt, so ward Jakob, ein Kind der Zeit, darüber um so bitterer, daß ihn, den Jakob, niemand nach Gebühr und Vermögen ästimierte, daß er stehen konnte an einer Ecke und kein Mensch sich nach ihm umsah. Jakob war noch immer ein guter Junge, aber in der Pein der ersten Gesellenmonate; im Staub der Straßen, auf denen er mühselig, vereinzelt wandern mußte, war seiner Seele ein Gift angeflogen, welches Anfliegen er aber ebenso wenig bemerkte, als man den Hauch inne wird, welcher die Ruhr, das Nervenfieber, die Blattern in unsern Körper absetzt. Er hatte Arbeit in einer großen Werkstätte, die Kost dagegen in einem Kosthause mit vielen andern Gesellen. Es war das erste Mal, daß er, wie man zu sagen pflegt, um Speise und Lohn arbeitete, der Meister nicht Hausvater und Erhalter war. Im Hausvater liegt eine ganz eigene Kraft und Macht, auf dem Hausvatertum ruht das Deutschtum und das Christentum, vom Hausvater aus geht die erziehende Kraft und die väterliche Liebe; er ist die sichtbare Vorsehung, nimmt Anteil an den Freuden und Leiden des Leibes, vermittelt der Jugend übersprudelnde Lust mit dem christlichen Fortschritt, kümmert sich um das Heil der Seelen und um die Ehre seines Hauses, welche vom Betragen aller abhängt. Das Auge des Meisters ist über dem Gesellen auch außerhalb der Werkstätte, der Geselle muß sich anständig am Tische betragen, muß beten vor dem Essen und wenn er gegessen; er erfährt es, daß sein Fortkommen nicht bloß von seinem Geschick im Handwerke abhängt, sondern ebensoviel von seinem christlichen Wesen und sittlichen Betragen, er wird freundlich ermahnt, wenn er gegen die Hausordnung sich verstößt, er wird fortgesandt trotz seiner Handwerksfertigkeit, wenn sein Betragen Ärgernis gibt. Er fühlt es, er ist nicht bloß eine Handwerksmaschine, sein Meister zieht nicht bloß Vorteil von ihm und nährt ihm den Leib, sein Meister gibt ihm etwas, welches mehr wert ist als Lohn und Arbeit, er gibt ihm den christlichen Halt im Leben, er ist ihm, was dem aus dem Baumgarten genommenen, ins Weite gepflanzten Bäumchen der Pfahl, an welchem dasselbe gebunden wird, damit es die Stürme überwinde und der eigenen Schwäche nicht erliege; das Gefühl wird ihm erhalten, er lerne auf der Wanderschaft mehr als nur das Handwerk, der Lohn sei nicht das Höchste, sei jedenfalls nicht zu messen an den sinnlichen Gelüsten, die sich steigern in dem Maße, je weniger die Seele taugt.

Die Handwerke steigerten sich zu Etablissements, das Fabrikartige, wo jeder Arbeiter nichts ist als der Zahn in einem großen Rade, ragte ins Handwerk hinüber, das christliche Band ward zerschnitten, das Benutzen ward die Hauptsache: der Meister benutzte den Gesellen, der Geselle den Meister. Welchem es am besten gelang, der war mit dem andern nicht bloß am besten zufrieden, sondern er machte aus der Weise, wie er es getrieben, dem andern gedient, ein Recht, dessen Fortbestand er auf jegliche Weise zu sichern suchte. Das, was man einmal hat, zu sichern und, glaubt man es gesichert, es zu mehren, ist den Menschen vom Schöpfer beigegebene Art, es kömmt dabei aber auf die Richtung des Erwerbs und die Weise des Sicherns an. Der Erwerb und der Genuß ward beidseitig die Hauptsache, es entstanden gleichsam zwei Mächte, welche um die Macht stritten, sich gegenseitig Boden abzugewinnen suchten, und die Materie wars, um welche sie sich stritten und immer heftiger, je mehr das geistige Element entwich.

Zu dieser Umgestaltung der handwerklichen Verhältnisse trug noch ein Zweites bedeutend bei. Je mehr die Stände sich sonderten, desto eiliger taten die Weiber, so weit hinauf als möglich in die Stände sich zu flüchten, akkurat wie die Mäuse, wenn das Wasser steigt und Gefahr des Ertrinkens ist; so schnell als möglich avancierte die Meisterin zur Madam, die Madam zur Dame usw. Wenns bloß bei den Titeln geblieben wäre, so hätte es sich gemacht, aber mit den Titeln änderten sich auch die Beschäftigungen. Die Töchter der Madam trieben feine Handarbeiten, und wer Aussicht zur Dame zu haben vermeinte, ließ auch die Arbeiten sein und trieb das Klavier oder Piano, daß die Dachziegel sturm wurden, hantierte auf der Gitarre, daß Ohrenschmerz epidemisch wurde, ja, zuweilen ward auch gezeichnet und zwar schön, so daß man einen Ochsen von einer italienischen Landschaft wirklich unterscheiden konnte, besonders wenn man die Brille aufsetzte. Begreiflich kostete es solchen Fräuleins oder Mesdemoiselles Mühe, eine Mehlsuppe von einem Reisbrei zu unterscheiden, wenn beide auf dem Tische standen. Zu wissen jedoch, wie die Mehlsuppe oder der Reisbrei entstand in der Küche, das mutete kein Christenmensch solch hochgebildeten Kulturpersonen zu.

Hatte nun ein Meister, das heißt der Vorstand eines Etablissements, das Glück, ein so hochgebildetes Frauenzimmer zur Gemahlin zu kriegen, so konnte er derselben nicht zumuten, die Frau Meisterin vorzustellen, ihren eleganten Haushalt mit Gesellen zu beflecken; er fand die Gesellen mit Geld ab, ließ sie ihre Wege gehen, ihre Speise suchen, wo es ihnen beliebte. Je eleganter und vornehmer der Meister und seine Gemahlin lebten, desto verschiedener war ihre Lebensweise von derjenigen ihrer Gesellen, desto mehr bildete sich bei diesen der grollende Gedanke aus, sie seien es, welche mit ihrem Schweiße dem Herrn ein so kostbares Leben verdienten, während sie kaum das Nötigste hätten, das Liebste entbehren müßten. Diesem Gedanken nimmt leider kein christlicher Sinn seine Schärfe; denn wenn Meister und Gesellen nicht mehr aus einer Schüssel essen, zu einem Gott zusammen beten, so ists, als ob der milde, vermittelnde Sinn, der sonst verband, das Ungleiche ausglich, entwichen sei.

Unser Jakob hatte noch alle seine Religion beisammen, aber auf das Verhältnis zu seinem Meister wandte er dieselbe halt nicht an. Sein Meister war ein stattlicher Mann, verstand das Handwerk, war selbst gewest, wie man zu sagen pflegt, hatte ein sogenanntes gutes Herz. Daneben war er rauh und barsch und oft nicht bei den Gesellen, dieweil er Ratsherr war in irgendeinem der verschiedenen Räte, welche Stadt und Republik Basel zu besitzen das Glück haben. Es war ein kurioses Gemisch von Verachtung und Respekt gegen den Meister in unseres Jakobs Seele. Von einer Republik, in welcher kein Fürst sei, nicht einmal Vornehme vom Adel, wo ganz gemeine Bürgersleute und gar noch dumme Bauern, welche er als Handwerker gründlich verachtete, regieren täten, konnte er sich keine rechte Vorstellung machen, er urteilte bloß, das Kind auf der Gasse könnte es begreifen, wie das schlecht gehen müßte, wo kein Fürst sei wie bei ihm zu Haus und keine Minister vom hohen Adel, welche alles kennen täten. Deswegen spottete er oft über den Meister, was der wohl für ein Ratsherr sein werde, und wie er die Sache kennen täte. Und doch hatte Jakob trotz seiner Reden unwillkürlich Respekt vor dem Meister. Derselbe war ein Mann, war reich, war Ratsherr, ging aufs Rathaus, und jeder Titel machte auf Jakob Eindruck. Das menschliche Gemüt ist halt ein seltsam Ding, und was ins Blut sich gesetzt hat gründlich, das bringt die ganze Welt und keine Theorie daraus fort.

Die Frau Meisterin dagegen haßte er, obgleich er in durchaus keine Berührung mit ihr kam, und wahrscheinlich eben deswegen. Sie stolziere einher, als wenn sie vom Adel wäre, und sei doch nur Frau Meisterin, sagte er, und akkurat nicht mehr als einer von ihnen, rede mit keinem, ja täte, als kenne sie keinen von ihnen. Wahrscheinlich kannte sie wirklich keinen; da die Gesellen in kein häuslich Verhältnis zu ihr kamen, so kümmerte sie sich durchaus nicht um sie, sie waren ihr eben nichts als Handwerksmaschinen, die keinen Wert für sie hatten als eben die Arbeit und den Gewinn, welchen dieselben dem Meister abwarfen.

So war Jakob also ganz frei und seine Person außerhalb der Arbeitsstunden durchaus keiner Aufsicht unterworfen. Aber eben diese Freiheit hat anfänglich für jeden etwas Unheimliches, und gerne vertrocknen in ihr die bessern Gefühle, die gemütlichen Empfindungen. Besonders wer eine Großmutter gehabt, an ihre vorsorgliche Teilnahme gewöhnt gewesen ist, dem wird es unheimlich, wenn er am Sonntag ein frisches Hemd anziehen will und keines ist gewaschen, oder wenn er eins gefunden und angezogen, kein Knöpflein am Hemdekragen findet, weil es die Wäscherin zerwaschen hat oder beim Plätten abgesprengt. Er steht nun da im gewaschenen Hemde, aber was hilft ihm das frische Hemd ohne Knopf am Kragen, und muß er jetzt am schönen Sonntage zu Hause bleiben, darf er nicht spazieren gehen? Nun hilft ihm wohl eine erfahrne und barmherzige Seele mit einer Stecknadel aus, woran er in seiner Einfalt nicht gedacht, oder er hat das Glück, einen kundigen Schneiderburschen in der Nähe zu haben, welcher den fehlenden Knopf durch neue zu ersetzen weiß. Doch ist das nur noch Nebensache. Aber wenn es ihn fröstelt über den ganzen Leib herauf, der Kopf ihm weh wird, als wäre er mit Blei ausgefüllt, oder als stecke eine ganze Kanonenkugel darin, und diese dränge sich an die Augen und wolle es erzwingen, durch diese engen Pässe hinaus ins Freie zu gelangen, und niemand sieht es ihm an, keine Großmutter, keine Meistersfrau fragt ihn: »Jakob, ist dir weh, wo fehlt es dir? Geh ins Bett und decke dich zu! Ich bringe dir Tee, und besserts nicht, so schick ich zum Arzt«, da wird ihm gerne weh ums Herz, dasselbe brennt ihm heißer als der brennende Kopf. »Ach, niemandem bin ich«, denkt er, »sterbe ich, oder lebe ich, niemand kümmert es, und legt man mich ins Grab, so vernehmen sies zu Hause nicht, und niemand weint um mich, und niemand weiß es, wie verlassen ich gestorben.«

Vielleicht sieht ein Nebengeselle, wie er fiebert, wie er schlottert, heißt ihn heim ins Kosthaus gehen. Dort achtet sich niemand seiner; wie er wankt die Treppe hinauf, bemerkt niemand, wenn auch viele ihn sehen, denn seiner achtet man sich nicht; der Fünffrankentaler Kostgeld, den er zahlt, der