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Das Böse hat einen einzigartigen Duft ... Traust du dich, seiner Fährte zu folgen? Während ein Wintersturm über der Küstenstadt Brighton wütet, legen sintflutartige Regenfälle ein flaches Grab auf den Klippen frei. Zur gleichen Zeit läuft ein Teenager mit einer Schrotflinte in einem Supermarkt Amok und in einer feinen Boutique wird ein gewalttätiger Raubüberfall inszeniert. Die daraus resultierende Zahl der Toten übersteigt die Möglichkeiten der Polizei von Brighton. Sie suchen händeringend nach Hinweisen – aber können sie der Aussage von Ciara O'Cleary vertrauen, der einzigen Zeugin des Raubüberfalls, die nichts gesehen hat, aber wichtige Hinweise zu geben scheint? Die zierliche, junge Irin ist eine Superriecherin: Die Tatsache, dass selbst die alltäglichsten, uns umgebenden Gerüche sie pausenlos bedrängen und oft überwältigen, könnte ebenso als besondere Gabe wie auch als Fluch angesehen werden. Oder täuscht sie ihre Fähigkeit nur vor? Ist sie eine unschuldige Zeugin oder eine Schlüsselfigur in einem sorgfältig geplanten Verbrechen? Die ermittelnden Detectives sind sich uneins. Nur die eigenwillige Sergeant Kate Darroch beschließt, ihre Karriere zu riskieren, indem sie Ciaras Spuren folgt, die sie tief in die kriminelle Unterwelt von Brighton führen. Ein außergewöhnlicher, düsterer und fesselnder neuer Kriminalroman des Bestsellerautors von DAS ERBE VON STONEHENGE. --- "[Sam Christer] schreibt hervorragend" - Andrup's Bookshelf "Christers Prosa ist nichts weniger als fesselnd. Seine Fähigkeit, Schauplätze und Charaktere mit lebendigen Bildern zu beschreiben, gleicht der eines Malers, der akribisch Farbschichten auf eine Leinwand aufträgt" - The History of the World "Ich mochte den unterschwelligen Humor und die tollen Persönlichkeiten ... Bis zum Schluss hatte ich keine Ahnung, wer der Täter ist. Ein spannendes Buch, und ich kann es kaum erwarten, noch mehr von diesem Autor zu lesen" - Gullberg's Bogreol "Christer ist ein begnadeter Schriftsteller" - Taking the Short View "Ich habe dieses Buch vom ersten Kapitel an geliebt. Ciara und Kate sind großartige weibliche Hauptfiguren. Die Geschichte ist rasant und unerbittlich! ... Ich hoffe wirklich, dass es eine Fortsetzung von 'Jasmin, Rosenblüten und Mord' geben wird." - Amazon-Rezension
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Seitenzahl: 483
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Jasmin, Rosenblüten & Mord
© Sam Christer 2024
© Deutsch: Jentas A/S 2024
Titel: Das perfekte Leben
Originaltitel: Jasmine, Rose Petals & Murder
Übersetzung: Kirsten Evers, © Jentas A/S
ISBN: 978-87-428-2052-0
Published by arrangement with Casa Strada Productions Ltd.
– Jeder von uns hat seinen ganz eigenen, einzigartigen Geruch, der so identifizierbar ist wie unsere Fingerabdrücke.
– Manche Menschen sind als Hyperosmiker – sogenannte „Superriecher“ – bekannt: Sie nehmen Düfte wahr, die den meisten Menschen vorenthalten bleiben.
– Hyperosmiker, wie die Schottin Joy Milne, die die Parkinson–Krankheit bei ihrem Mann roch, noch bevor er erkrankte, können Diabetes, Nierenerkrankungen, Atemwegsinfektionen, Krebs, Lebererkrankungen und Migräne feststellen.
– Wissenschaftler glauben, dass Hyperosmiker auch andere Menschen allein anhand ihres Körpergeruchs identifizieren und erkennen können, wenn ein Mensch Angst hat, nervös oder aufgeregt ist – oder wenn jemand lügt.
11:01 Uhr
La Galerie des Senteurs Secrètes
North Laine, Brighton, England
Der sintflutartige Regen am späten Vormittag hat die Laufkundschaft von den Straßen vertrieben, und die Parfümerie von François Moreau ist dementsprechend leer.
Ich hätte genauso gut früher zumachen können, denkt der junggebliebene Dreiundsiebzigjährige und vertreibt sich die Zeit damit, an einem neuen Duft zu arbeiten. Kürzlich hat er sich in einer neuen Gärtnerei am Fuße des Vulkans Cotopaxi in Ecuador mit feinen schwarzen Rosen eingedeckt. Seiner Meinung nach sind sie für alle anderen Rosen das, was weiße Trüffel aus dem Piemont für englische Pilze sind. Unvergleichlich.
François stellt sich eine Basisnote aus Oud vor, vielleicht mit einem spritzigen Kopf aus Bergamotte – und natürlich einem Hauch von Jasmin: Jasmin und Rose sind schließlich unsere florale Signatur. Er erinnert sich noch gut an das erste Mal, als er einen Duft kreierte. Das war vor mehr als einem halben Jahrhundert, in Südfrankreich, als seine fehlgeleiteten Eltern erwarteten, dass er den Rest seines Lebens auf dem Weingut der Familie verbringen und staubige, sonnenverbrannte Früchte hegen und pflegen würde.
„Soll ich mit dem neuen Bestand beginnen?“
Die Stimme unterbricht jäh die Erinnerungen an seine Kindheit.
„Pardon?“ Er schaut zu seiner gelangweilten jungen Assistentin hinüber.
„Bestandsaufnahme, Monsieur?“, wiederholt sie. „Ich kann anfangen, solange es ruhig ist.“
„Oui, oui, ja, mach das.“ Er beobachtet, wie sie das teuflische Tablet, das ihn so verwirrt, in die Hand nimmt und in einem Hinterzimmer verschwindet, in dem sich die letzten Lieferungen aus seinen Produktionsstätten in Nizza und Marseille stapeln.
Der unerbittliche Regen hämmert gegen die Schaufensterscheibe des Ladens. Er hat das heutige Geschäft ruiniert, aber das geht auch wieder vorbei. Sieben Jahrzehnte des Lebens haben ihn das gelehrt.
Alles ist vorübergehend. Der Regen wird aufhören, und dann werden wir von verrückten Engländern überrannt, die in allerletzter Minute noch Weihnachtsgeschenke kaufen wollen.
Fast wie aufs Stichwort läutet die verbeulte alte Messingglocke über der Eingangstür und kündigt die Ankunft von zwei durchnässten Besuchern an, die Regenwasser aus ihren Kapuzenmänteln auf dem makellosen Eschenholzboden verteilen.
Die Etikette verlangt von François, dass er ihnen einen Moment Zeit lässt, um sich zu sammeln, bevor er zum Angriff übergeht und seine Verkaufsstrategie beginnt. Unnötigerweise ordnet er eine bereits tadellose Auslage mit Parfüms neu an.
Sekunden später spürt er die Berührung der Hand eines Fremden auf seiner Schulter.
Er spürt sie, kurz bevor sich ein Arm um seinen Hals legt und ihm die Luft abdrückt.
Er wird von der Theke weggezogen und bekommt einen Schlag in den Magen.
„Ladenschlüssel und Kombination für den Safe, von dem wir wissen, dass Sie ihn hinten haben“, verlangt der hochgewachsene Mann.
François zögert.
„Und zwar ein bisschen zackig, verdammt! Die Kombination, verdammt noch mal, jetzt!“ Er schlägt ihn erneut.
François fällt. Sein Kopf und seine Ellbogen prallen schmerzhaft auf den unnachgiebigen Boden. Der Schläger fällt auf ihn, dann zieht er ihm wie eine Elster alles aus den Jackentaschen – sein Portemonnaie, seine Schlüssel, sein wertvolles Foto von sich und Maman, das letzte, das sie zusammen aufgenommen haben.
„Zum letzten Mal, du alter Wichser: Wie lautet die Kombination?“
„Eins – neun – fünf – null“, sagt François leise.
„Ich hoffe für dich, dass das stimmt.“ Sein Angreifer klebt dem Ladenbesitzer schwarzes Klebeband über den Mund und um die Handgelenke. „Du solltest zu Hause sitzen, Opi, und dein verdammtes Geld zählen, nicht in diesem Scheißladen arbeiten. Lass dir das heute eine verdammte Lektion sein.“ Er verpasst ihm einen weiteren unnötigen Tritt, bevor er aufsteht und geht.
François schnaubt und riecht Blut.
Meine Nase. Meine kostbare, kostbare Nase!
Er blutet stark. Seine Augen sind von Tränen geblendet. Er kann die Männer nicht mehr sehen, aber er kann sie hören.
Sie schließen die Ladentür ab. Durchqueren den Raum. Sie gehen in das Hinterzimmer. Das Zimmer, in dem der Safe steht. Wo sich die herzensgute kleine Ciara befindet – in die Arbeit vertieft, zweifellos mit diesen neumodernen weißen Dingern in den Ohren, aus denen immer diese schreckliche Musik schallt.
François kämpft sich auf die Knie, sein siebzigjähriges Herz hämmert hinter gebrochenen Rippen.
Irgendwie schaffe ich es, sie zu warnen. Irgendwie werde ich sie beschützen.
Er richtet sich auf Händen und Knien auf. Greift blind nach der Ladentheke, um auf die Beine zu kommen.
Ein erneuter Schlag setzt sowohl seinen galanten Absichten als auch seinem Bewusstsein ein Ende.
11:16 Uhr
Oldhaven, Brighton
Die Kaufhausdetektivin Shirley Johnson hält drei Rekorde bei der Ergreifung von Ladendieben – die meisten an einem Tag, die meisten in einem Monat und die meisten in einem Jahr. Sie ist der Shirl-lock Holmes der Supermarktwelt. Zumindest nennt sie ihr zu Wortspielen neigender Chef, der überhaupt sehr liebenswerte Mr Rod Rickham, so.
Shirl arbeitet inzwischen seit sechs Jahren bei Zantafoods und ist nur noch läppische einunddreißig versuchte Ladendiebstähle davon entfernt, die Gesamtzahl von fünfhundertvierzig der Legende Alfie Richards (möge er in Frieden ruhen) zu übertreffen, der zum Ende seiner Karriere auf dreihundertzwei Gerichtsurteile zurückblicken konnte. Angesichts der aktuellen Lebenshaltungskostenkrise rechnet sie damit, dass sie seinen Rekord noch vor Weihnachten brechen wird.
Gerade läuft es gut für Shirl, und wenn sie ihren Instinkte trauen kann, läuft es gleich sogar noch ein bisschen besser. Es sind gerade mal fünf Minuten vergangen, seit sie die Bildschirme im Überwachungsraum verlassen hat, um sich „die Beine zu vertreten“, und schon hat sie erste verdächtige Aktivitäten entdeckt.
Für das ungeschulte Auge ist an dem Mann, der seinen voll beladenen Einkaufswagen durch den Gang für Körperpflegeprodukte schiebt, nichts Fragwürdiges zu erkennen.
Er legt ein paar billige Deoroller in seinen Wagen, dazu Rasierklingen und Tampons.
Schon von weitem kann sie erkennen, dass es sich augenscheinlich um einen Familieneinkauf handelt. Da sind Kinderkleidung, Fleisch, Konserven, Käse, etwas billiger Wein und eine Flasche Schnaps. Man könnte ihn leicht mit einem Vater verwechseln, der den wöchentlichen Großeinkauf erledigt. Aber das ist er nicht. Da ist sich Shirl sicher.
In seinem Korb befinden sich fünf der landesweit am häufigsten gestohlenen Supermarktartikel. Vorgepacktes Fleisch – lässt sich leicht im Pub verscherbeln – ist seit langem die ungeschlagene Nummer eins, dicht gefolgt von Rasierklingen – dummerweise teuer und klein genug, um sich leicht verstecken zu lassen – sowie Alkohol, Käse und Batterien.
Das nächste verdächtige Zeichen ist, dass die Kinderkleidung – immer in den Top Ten – aus einem Wintermantel für einen Vierzehnjährigen und einer Dreierpackung Strampler für Neugeborene besteht. Das ist merkwürdig. Shirls Erfahrung nach bekommen die meisten Familien ihre Kinder dicht hintereinander. Zehn Jahre Altersunterschied sind höchst ungewöhnlich, wenn auch natürlich nicht unbekannt. Aber vierzehn Jahre und mehr? Das hingegen ist so selten wie fliegende Einhörner.
Dazu kommt der eigentliche Knackpunkt.
Dieser Typ sieht weder verloren noch verwirrt aus. Genervt ist er auch nicht, oder verzweifelt, weil er unbedingt hier raus muss. Auch sein Handy hat er kein einziges Mal angerührt. Kein Anruf nach Hause, um zu beichten, dass er etwas, das auf der Liste steht, nicht finden kann, und zu fragen, ob man es durch irgendetwas ersetzen kann. O nein. Dieser Kerl hat es faustdick hinter den Ohren, soviel ist klar.
Shirl ist sich sicher, dass sie genau weiß, was für ein Spiel er hier spielt.
Der knielange Mantel ist weit geöffnet. Sie ist bereit, ihren nächsten Bonusscheck darauf zu verwetten, dass er ein leicht zugängliches falsches Futter hat, in das rechts die Fleischpakete gesteckt werden, während die Schnapsflasche und die Rasierklingen in einen Schlitz auf der linken Seite passen.
Er wird seinen Einkaufswagen in der Nähe so vieler Kunden wie möglich parken und seinen „Mantel–Trick“ vollführen. Die Menschen, die sich um ihn herum drängen, werden das Schauspiel schön vor den Überwachungskameras verbergen. Als nächstes wird er sich auf den Weg zur Kasse machen.
Und tatsächlich: Mr Family Man tut genau das, was sie vorausgesehen hat.
Schwups haben sich Fleisch und Whisky in Luft aufgelöst.
Der schlaue Fuchs tritt in Aktion.
Shirl schlängelt sich an ein paar trödelnden Rentnern vorbei, entschuldigt sich, als sie zwischen zwei tratschenden Müttern hindurcheilt, und reiht sich in die Kassenschlange ein, zwei Leute hinter ihrem Ziel. Sobald er bezahlt hat und durch die Ausgangstüren gegangen ist, wird sie zuschlagen.
Ein paar Gänge weiter wirft jemand eine Auslage um. Flaschen krachen klirrend und splitternd auf die Fliesen.
Wahrscheinlich mal wieder die Neue, Brenda, nicht die Hellste. Rod wird ihr gehörig die Meinung geigen. Wäre ja nicht das erste Mal.
Dann schreit jemand. Dann noch jemand. Dann schreien plötzlich viele. Menschen rennen durcheinander.
Im nächsten Moment bricht ein brennender Schmerz in Shirls Rücken aus.
Verdammter Ischias!
Nein, Moment. Das hier ist schlimmer als der Ischias.
Viel schlimmer.
Sie geht in die Knie. Spürt, wie sie von einer eisigen Kälte durchströmt wird. Sieht, wie Blut durch ihre Bluse sickert.
Selbst jetzt sucht Shirl, die ewige Detektivin, noch nach dem Ladendieb.
Er liegt auf dem Boden, den Rücken ihr zugewandt. Aus seinem Schädel quellen Grau- und Rottöne, Knochensplitter und Gewebe. Hätte Tessa sich an der Kasse ein bisschen mehr beeilt, wäre er schon durch die Schlange durch, und sie wäre ihm dicht auf den Fersen, vor dem Laden, und hätte ihn geschnappt.
11:32 Uhr
Seadean, Brighton
An Tagen wie diesen – dem schlimmsten Tag in ihrem Leben – wünschen sich Jack und Lisa Thornton, sie hätten ihren Job in der Stadt nie aufgegeben und wären nicht aufs Land gezogen.
Sie waren seit zehn Jahren verheiratet und hatten das Londoner Hamsterrad, die langen U-Bahn-Fahrten zur Arbeit und die lächerlich hohen Lebenshaltungskosten satt. Als Jacks Großvater starb und ihm 80 Hektar Land, eine Herde der süßesten Schafe der Welt und ein idyllisches Bauernhaus aus Stein hinterließ, ergriffen sie die Chance, das Landleben für sich zu entdecken.
Hätten sie gewusst, was sie erwartet, wären sie geblieben, wo sie waren.
Eine Woche mit Rekordregen und weitreichenden Überschwemmungen hat sie dazu gezwungen, die Winterställe viel früher als geplant zu füllen. Und wie üblich sind einige Schafe ausgebüxt. Daher die heutige Suchexpedition und ihre jüngste Pechsträhne.
„Sie sind den Hügel hinunter“, ruft Lisa, als Bess, der Collie, über die aufgeweichten Felder auf einen weißen Wollfleck in der Ferne zu wetzt.
„Ich brauche Scheibenwischer für meine Augen“, sagt Jack, der Mühe hat, das, was am Horizont geschieht, klar zu sehen.
Der Abstieg ist steil und so rutschig, dass sie vom öffentlichen Fußweg abweichen und am Rand des Feldes hinuntergehen, wobei sie sich mit klammen Fingern an die alte Steinmauer klammern, die ihr Land von dem des Nachbarn trennt.
„Guck! Einer der kleinen Trottel ist in einen überfluteten Graben gefallen“, konstatiert Jack, als sie nahe genug herankommen, um die Ausreißer zu sehen, die der Hund jetzt zusammengetrieben hat.
„Armes Ding.“ Lisa will sich nicht anmerken lassen, wie vielen der Tiere sie in einem Anflug von Anfängersentimentalität Namen gegeben hat, und meint zu erkennen, dass das verirrte Mutterschaf eines ihrer Lieblingstiere ist.
„Es lebt, aber es steckt fest.“ Jack watet in das sumpfige Gebiet, der Schlamm saugt bei jedem Schritt schmatzend an seinen Gummistiefeln. „Nimm ein Bein, wir ziehen sie raus.“
Lisa folgt ihm und rutscht prompt aus. „Scheiße!“ Sie steht so schnell auf wie sie kann. Hände und Knie sind durchnässt. Eiskaltes Wasser überflutet ihre Hunters. Trotzdem streckt sie die Hand nach dem verzweifelten Tier aus – Demelza, benannt nach der Heldin in Poldark – und hält ihr Hinterbein fest.
Jack schnappt sich das andere: „Okay, zieh!“
Sie ziehen gemeinsam, rutschen und schlittern, während das Tier verzweifelt strampelt und blökt und ihnen das schlammige Wasser ins Gesicht spritzt. Trotz beginnender Dämmerung und strömenden Regens schaffen sie es irgendwie, einander anzugrinsen. Das hier ist trotz allem immer noch besser als die allabendliche Fahrt in einem ratternden U-Bahn-Zug voller seelenloser Fremder.
Das blökende Schaf findet endlich Halt und befreit sich aus dem Sumpf.
„Gott sei Dank!“ Jack fällt hintenüber, und sofort will Demelza um ihn herum ausweichen und erneut die Biege machen, nur um augenblicklich von Bess eingefangen zu werden.
„Verdammte Schafe“, ruft er und rappelt sich mühsam auf. „Warum konnte Granddad keine Kühe halten?“
Lisa lacht nicht.
Sie schreit.
„Fuck, fuck, fuck!“, schreit sie und verdeckt vor Entsetzen ihr Gesicht.
Jetzt sieht Jack, warum.
Es schwimmt in dem Wasserloch, aus dem Demelza gerade entkommen ist.
Ein Skelett.
Ein unverkennbar menschlicher Kopf und Torso.
12:30 Uhr
Brighton
Die Touristen sind längst weg und mit ihnen jegliche Spuren des glorreichen Sommers, der die berühmte Stadt am Meer dieses Jahr gesegnet hat. Der Rummelplatz am Ende des Piers ist geschlossen. Die Promenade, auf der es einst von hummerfarbenen Eishungernden wimmelte, ist jetzt nur noch von Hundespaziergängern mit Regenmänteln und trüben Blicken und einer einsamen, atemlosen Joggerin bevölkert, die in neuen Turnschuhen durch die Pfützen platscht.
Die sechsundzwanzigjährige Kate Darroch rennt geradewegs in den stechenden Regen eines wilden Novembersturms, als sie das geschwärzte Skelett des alten Piers passiert, das wie ein gestohlener Einkaufswagen im Meer zurückgelassen wurde.
Na toll, denkt sie, zwei Wochen Karibik mit 30 Grad und Sonne, und dann das hier.
Wenn es nach Kate ginge, würden sie und ihr Mann Steve sofort auswandern. Mindestens nach Spanien. Vielleicht sogar noch weiter südlich.
Oder Kalifornien, wo es nur eine einzige Jahreszeit gibt – nämlich die vernünftigste, den Sommer!
Wärme, wo bist du?
Das ist es, was sich Kate zu Weihnachten wünscht. Immerwährende Wärme und keine sechs Monate lang eisige Kälte, vor allem in einer Zeit, in der die Energierechnungen so hoch sind und ihr geiziger Ehemann sagt, dass sie die Heizung erst im Dezember anstellen darf.
Scheiß Dezember!
Kate sagt oft „scheiß“. Aber eigentlich nur deshalb, weil Steve die Alternative („verfickt“) ablehnt, widerwillig jedoch das mildere „scheiß“-Präfix als Kompromiss akzeptiert hat.
Der Regen erreicht inzwischen „biblische Ausmaße“, wie ihr Vater immer sagt, und wenn sie ehrlich ist, würde Kate in diesem Moment lieber eine Arche bauen, als die Qualen des Trainings für den bald anstehenden Halbmarathon in Hove zu ertragen. Wenn es nicht um das Geld ginge, das sie bereits für wohltätige Zwecke gesammelt hat – und um ihren Kollegen zu beweisen, dass sie das sehr wohl schafft –, würde sie jetzt ganz sicher nicht auf dem Bürgersteig herumtorkeln wie eine ersoffene Katze, die von sadistischen Besitzern in so einem Scheißwetter ausgesperrt wurde.
An der Tür ihres Arbeitsplatzes hält sie an, zieht ihren Dienstausweis durch das elektronische Lesegerät und betritt das anonyme mehrstöckige Gebäude.
O Gott – das kann doch nicht wahr sein!
Sie kann es nicht glauben.
Ein Blick auf die Sportuhr bricht ihr das Herz.
Werde ich tatsächlich langsamer statt schneller? Und meine Beine tun mehr weh, nicht weniger, wie es eigentlich sein sollte. Eigentlich müsste das mit dem Laufen doch irgendwann einfacher werden. Immerhin ist heute das dritte Mal in zwei Monaten, dass ich volle drei Meilen geschafft habe!
Nachdem sie geduscht und sich in der Umkleide des Sportraums im Keller umgezogen hat, steigt sie keuchend die Treppe hinauf in den langen, offenen Raum, in dem die Kripo untergebracht ist. Alle sind entweder am Telefon oder eilen von einem Schreibtisch zum anderen. Sogar Gareth das Faultier – der sich sonst nur bewegt, wenn er pinkeln, essen oder nach Hause gehen muss – ist in hellster Aufregung.
Etwas ist passiert.
Etwas Großes.
Ihre Vermutung wird dadurch bestätigt, dass niemand gemütlich Tee trinkt oder herumalbert. Es gibt keine gesenkten Köpfe, die außereheliche Partner anschreiben, keine Videospiele, die heimlich auf zur Seite gedrehten Computerbildschirmen gespielt werden.
Kate lässt sich an ihrem Schreibtisch gegenüber ihrer Lieblingskollegin, DC Wendy Lynch, nieder, die am Telefon darauf wartet, mit jemandem zu sprechen, und stellt die Frage, die ihr auf der Zunge brennt: „Was ist hier los?“
Wendy schirmt das Telefon mit einer Hand ab und sagt: „Irgendein bewaffneter Wichser, der in einem Supermarkt in Oldhaven Amok gelaufen ist – und ein Skelettfund auf einem Feld in Seadean. Was ist mit deinem Gesicht passiert?“
Kate hatte eigentlich gedacht, der blaue Fleck auf ihrer Wange sei fast nicht mehr sichtbar, zumal sie ihn mithilfe von Concealer und Rouge gekonnt überdeckt hatte. „Ich hab mich auf einer Wasserrutsche zum Affen gemacht“, gesteht sie. „Bin oben ausgerutscht und hab den ganzen Weg nach unten geheult.“
Wendy lacht.
„Darroch!“ Die Stimme erklingt aus einigen Metern Entfernung, und Kate muss sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass sie DCI Jacqui Ross gehört.
Die beiden haben eine gemeinsame Vergangenheit – und keine gute. Zunächst einmal ist Kate nicht gut darin, Berichte zu schreiben, Formulare auszufüllen oder sich strikt an alle Regeln und Richtlinien der Behörde zu halten. Bei Ross hingegen ist das ganz anders. Tatsächlich hat die Fünfzigjährige ehemalige Militärpolizistin viele dieser Regeln während ihrer Zeit am Hendon Police College buchstäblich selbst geschrieben.
„Ja, Ma‘am, bin schon unterwegs.“ Sie eilt in die Richtung, wo Behemoth, wie sie sie im Geheimen nennt, bereits ungeduldig lauert. „Die Leiche auf dem Feld oder die Schießerei im Supermarkt, Ma‘am?“
„Weder noch.“ Sie hält ihr eine Akte hin. „Raubüberfall in der North Laine.“
Kate nimmt die Akte entgegen, schaut sie sich aber nicht an. „Gibt es keinen DC, den wir schicken können, Ma‘am? Normalerweise kümmern die sich um diese Art von ... Lappalien.“
„Nein, gibt es nicht. Wir haben einen älteren Ladenbesitzer, der bewusstlos und auf dem Weg ins Krankenhaus ist. Seine Assistentin war gefesselt und hatte die Augen verbunden. Sie konnte sich erst befreien und uns anrufen, als die Mistkerle schon längst das Weite gesucht hatten.“
„Ist sie verletzt?“, fragt Kate.
„Erschüttert, nicht verletzt. Nehmen Sie ihre Aussage auf und kommen Sie dann schnellstmöglich zurück.“
„Sie klingt wie ein Martini, Ma‘am – Sie wissen schon, ‘geschüttelt, nicht gerührt’...“
„Nicht lustig, Darroch.“ Ross blinzelt sie an. „Was ist mit Ihrem Gesicht passiert? Lassen Sie mich raten – sternhagelvoll im Urlaub auf die Nase gefallen, wie beim letzten Mal?“
„Ausgerutscht, Ma‘am. Auf einer Wasserrutsche. Und stocknüchtern, wohlgemerkt – nicht sternhagelvoll.“
Die DCI wirft ihr einen Blick zu. „Wasserrutschen sind das Werk des Teufels, Darroch. Das hätten Sie wissen müssen. Heute aber keine Ausrutscher, bitte. So, und jetzt ab mit Ihnen.“
La Galerie des Senteurs Secrètes
Brighton
Der Laden liegt im Dunkeln. Kate läutet zum zweiten Mal und wartet ungeduldig im Regen. Im Innern flackert Licht auf. Eine kleine rothaarige Frau mit einem cremefarbenen Seidentop und einer schwarzen Schlaghose erscheint an der Eingangstür.
Kate drückt ihren Dienstausweis an das Glas. „Polizei – DS Kate Darroch – ich hatte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen.“
Die Tür öffnet sich, und eine unverkennbar irische Stimme sagt: „Bitte kommen Sie doch herein, bei dem Regen.“ Sie tritt zur Seite, damit die Beamtin eintreten kann.
„Ich nehme an, Sie sind Ciara“, sagt Kate. „Sie waren es, die uns angerufen hat?“ Sie klappt ihren Schirm zusammen und schüttelt ihn trocken.
„Ja, das stimmt, ich bin Ciara O’Cleary.“
„Ich muss Ihre Aussage aufnehmen, solange Sie noch alles im Kopf haben.“ Sie quetscht sich an der Frau vorbei in den warmen, trockenen Laden, woraufhin Ciara die Tür wieder abschließt.
„Geht es Ihnen gut?“, fragt Kate, der die Nervosität in ihrem Gesicht nicht entgangen ist. „Soll ich einen Arzt oder sonst jemanden anrufen?“
„Schokolade, Kaffee, Zigaretten“, sagt Ciara und sieht dabei aus, als würde ihr jedes Wort Schmerzen bereiten. „Schokolade, Kaffee, Zigaretten“, wiederholt sie und wirkt dieses Mal noch gequälter.
„Was? Ich verstehe nicht ganz.“
„Schokolade, Kaffee, Zigaretten.“ Diesmal schließt Ciara die Augen und wendet sich ab.
„Hey, hey – ganz ruhig, Sie sind jetzt in Sicherheit.“ Kate vermutet, dass es sich bei dem Ausbruch um eine Verarbeitung des Traumas handelt. „Es ist vorbei. Sie sind weg, und alles wird wieder gut.“
„Tut mir leid.“ Ciara klingt fast atemlos. „Immer wenn ich gestresst bin, muss ich laut aussprechen, was mich beschäftigt. Ich muss es dreimal sagen – das hat mir mein Therapeut gesagt. Sag es dreimal, Ciara, und dein Kopf kann weitermachen, anstatt bei dem zu verweilen, was er als Gefahr wahrnimmt. Das hat er gesagt. Wenn ich das tue, dann kriege ich keinen Anfall. Klingt komisch, aber es funktioniert.“
Kate ist verwirrt. „Und jetzt gerade machen Ihnen also Schokolade, Kaffee und Zigaretten zu schaffen?“
„Nein – na ja, doch, irgendwie schon.“ Ciara schaut ein bisschen betreten drein. „Was ich damit sagen will, ist, dass mir natürlich der Überfall zu schaffen macht – aber die drei Dinge, die ich gesagt habe, sind das, wonach Ihr Atem und Ihre Kleidung riechen.“
„Wonach ich rieche?“ Kate fühlt sich ein wenig beleidigt.
„Ja, als Sie an mir vorbeigegangen sind, hat mich Ihr Geruch ein bisschen überrascht, und – na ja – ehrlich gesagt ist mir ein bisschen schlecht geworden.“
Kates Augen weiten sich vor Überraschung. „Von meinem Geruch wird Ihnen übel?“
„O je, das klingt wirklich unhöflich. Tut mir leid.“ Ciara wird noch nervöser. „Lassen Sie mich erklären. Ich leide an einer Krankheit namens Hyperosmie, und starke Gerüche tauchen in meinem Kopf auf wie Etiketten von Parfümflaschen:
SCHOKOLADE
KAFFEE
TABAK
Offenbar habe ich Geruchsrezeptoren in meiner Nase, die etwa hundertmal empfindlicher sind als Ihre oder die von fast jedem anderen Menschen. Ich erkenne also, dass Sie kürzlich etwas Schokoladiges gegessen, einen sehr starken Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht haben – und zwar eine starke, keine Mentholzigarette. Die Tabaknote ist am auffälligsten, aber so ist das nun mal mit Tabak – der bleibt immer hängen.“
In Kates Kopf dreht sich alles. „Ich verstehe immer noch nicht ganz, was Sie da sagen, aber Sie haben recht – ich hab mir im Starbucks um die Ecke einen schwarzen Kaffee und einen Schokoladenmuffin geholt, und vor einer Stunde habe ich mir heimlich eine Zigarette gegönnt. Mein Mann denkt, ich hätte es aufgegeben, also hol ich mir besser auf dem Heimweg ein paar Minzbonbons.“
„Bitte machen Sie sich keine Sorgen über das, was ich gesagt habe“, fleht Ciara. „Wenn Ihr Mann nicht so ein Freak ist wie ich, können Sie sich ziemlich sicher sein, dass er nichts riechen wird.“ Sie blickt auf ihre Uhr. „Brauchen Sie mich lange? Ich würde nur gerne ins Krankenhaus fahren, um nach Monsieur Moreau zu sehen.“
„Hoffentlich nicht.“ Kate sieht sich im Laden um. „Können wir uns irgendwo hinsetzen, damit ich Ihre Aussage aufnehmen kann?“
„Im Lagerraum gibt es einen Tisch und Stühle. Aber – na ja – es riecht nicht besonders angenehm da drin. Einer von den Jungs hat etwas gemacht, als er dort hinten war.“
„Was hat er gemacht?“
„Gepisst. Er hat in die Ecke und auf einige der Kisten gepisst. Es stank nach Ammoniak. Der muss richtig dehydriert gewesen sein.“
„Das konnten Sie riechen?“ Kate beantwortet ihre eigene Frage: „Ja, natürlich konnten Sie das, sonst hätten Sie es wahrscheinlich nicht gesagt. Leider sind Einbrecher und Räuber während ihrer Taten oft gestresst, und dann müssen sie halt. Vielleicht können wir einfach ein paar Stühle hierher bringen?“
Ciara nickt und verschwindet ins Hinterzimmer.
Die Polizistin lässt den Blick durch den Laden schweifen.
Die feigen Scheißkerle haben alles kaputt gemacht, was sie nicht mitnehmen konnten. Haben Spiegel, Glastheken und Regale zerschlagen. Vielleicht gab es nicht so viel Bargeld, wie sie sich erhofft hatten, und das hat sie wütend gemacht.
„Es dauert nur eine Minute. Entschuldigung!“, ruft Ciara und hält die Tür des Lagerraums auf.
„Alles gut.“
In der Nähe des Schaufensters mit den umgestürzten Auslagen beugt sich Kate tief hinunter, um Blutspritzer und -flecken zu untersuchen.
Hier muss Moreau angegriffen worden sein.
Sie zückt ihr Handy und fotografiert einen blutigen Handabdruck auf der Unterseite des Hauptschalters.
Der Alte muss sich daran festgehalten haben, um aufzustehen.
Kate macht weitere Weitwinkel- und Nahaufnahmen von den eingetrockneten Blutpfützen in der Nähe der Stelle.
Wahrscheinlich ist er hier ohnmächtig geworden. Was sind das bloß für Tiere, die einen alten Mann zusammenschlagen. Ich hoffe, die Hundestaffel erwischt sie und beißt ihnen die Eier ab.
Ciara taucht wieder auf und erschrickt beim Anblick der Blutflecken. Ihre Nase nimmt den Geruch von Kupfer, Rost und Eisen der getrockneten Pfützen wahr. „Soll ich die Stühle nebeneinander stellen?“, fragt sie. „Oder einander gegenüber? Ist gegenüber das Beste für Sie? Oder möchten Sie, dass ich neben Ihnen sitze, damit ich lesen kann, was Sie schreiben, und Sie gegebenenfalls korrigieren kann?“
„Wie es Ihnen am besten passt“, antwortet Kate und steckt das Handy zurück in die Tasche.
„Dann ist gegenüber das Beste. Das heißt, für mich. Verzeihen Sie den Egoismus.“ Sie stellt die Plastiksitze ziemlich weit auseinander. „Wissen Sie, wenn ich gestresst bin, mag ich es nicht, wenn mir jemand zu nahe kommt. Wenn es okay ist, dann ziehe ich es vor, ihnen gegenüber zu sitzen und etwas Abstand zu halten.“
„Das ist in Ordnung. Völlig in Ordnung.“ Kate öffnet ihr Notizbuch und setzt sich hin. „Wir können auch jederzeit aufhören, wenn Sie möchten. Ich möchte nur, dass Sie in Ihren eigenen Worten und in Ihrem eigenen Tempo erzählen, was passiert ist.“
Ciara setzt sich. Rücken gerade, Schultern gerade, Knie zusammen, Hände auf dem Schoß gefaltet. All die Dinge, die man ihr beigebracht hat. Genauso, wie es sich für eine junge Dame in Gesellschaft gehört.
Dann steht sie wieder auf. „Das habe ich ganz vergessen, tut mir leid. Sie werden sicher ein Video von der Tat sehen wollen, das weiß ich. Ich habe es auf meinem Tablet hinten. Es ist zwischen einige Kisten gefallen, als einer der Männer mich geschubst hat; sonst hätte er es wohl auch gestohlen. Ist es in Ordnung, wenn ich es hole?“
„Bitte.“ Kate denkt immer noch über den pissenden Mann nach. Es ist schwierig, aber nicht unmöglich, DNA aus Urin zu gewinnen. Mir wurde gesagt, dass sie sich in Urin schneller zersetzt als in Fäkalien. Schade, dass der Mistkerl nicht scheißen musste. Ciara kehrt zurück und übergibt ihr das Tablet. „Unser CCTV-Material wird automatisch über die App, die auf dem Bildschirm geöffnet ist, in der Cloud gespeichert. Ich habe es in dem Moment angehalten, als der Kerl den Laden betrat. Ich bin nicht zu sehen, weil ich zu diesem Zeitpunkt bereits im Hinterzimmer war.“
Das Videobild zeigt zwei Männer mit Kapuzen und gesenkten Köpfen, die wie Statuen vor dem gefallenen Ladenbesitzer stehen. Kate drückt auf Play und schneidet eine Grimasse, als sie sich den kurzen, aber brutalen Angriff ansieht. Während François Moreau auf dem Boden liegt und ein Räuber sich über ihn beugt, öffnet der zweite eine große schwarze Reisetasche und holt drei ähnliche Taschen heraus. „Sie tragen beide Sturmhauben unter den Kapuzen“, sagt sie, während sie beobachtet, wie sie die Ware stehlen. „Das macht die Identifizierung schwierig. Gibt es Kameras vor dem Laden?“
„Leider nicht.“
„Und im Hinterzimmer, wo Sie waren?“ Sie zuckt zusammen, als sie sieht, wie Moreau versucht, auf die Beine zu kommen, nur um wieder umgestoßen zu werden.
Verdammte Tiere.
„Ja. Die Kameras im Lagerraum sind auf einer zweiten Videodatei zu sehen. Scrollen Sie einfach nach unten.“
Kate findet sie und beobachtet das Geschehene. Zunächst erscheint nur einer der Männer. Ciara steht mit dem Rücken zu ihm und merkt nicht, dass er da ist, bis er sie gegen ein Regal stößt und schreit: „Dreh dich nicht um, verdammt. Wenn du mich auch nur ansiehst, mach ich dich fertig.“
Die Stimme ist akzentfrei, vielleicht lokal? Schwer zu sagen heutzutage, weil Brighton so kosmopolitisch ist.
Auf dem Bildschirm zieht der Räuber Ciaras Hände hinter ihren Rücken und umwickelt sie mit schwarzem Klebeband. Dasselbe macht er um ihren Kopf, um ihren Mund und ihre Augen zu bedecken.
Uff, das ist verdammt schmerzhaft, das klebrige Zeug abzukriegen. Ich bin überrascht, dass sie überhaupt noch Augenbrauen hat.
Dann drückt er sie in der Ecke des Raumes auf die Knie, mit dem Gesicht zur Wand. Zufrieden damit, dass sie sich nicht rührt und ihm keinen Ärger macht, geht er weg und schaufelt Lagerbestände in die Taschen.
Der zweite Mann kommt ins Bild. Sagt etwas zu seinem Freund, das Kate nicht hören kann. Er geht weg, tritt dann neben Ciara, öffnet den Reißverschluss seiner Hose und pinkelt auf den Boden.
Ein Wunder, dass du dich nicht nass gemacht hast, Kumpel – sieht aus, als wäre das ziemlich knapp gewesen.
Schließlich verschwinden beide Männer aus dem Bild. Kate hält das Video an und fragt: „Haben Sie eine Ahnung, was aus diesen Regalen entwendet wurde? Um welchen Wert es sich handelt?“
„Die meisten unserer 100-ml-Parfüms kosten im Einzelhandel zwischen 200 und 300 Pfund, einige sogar mehr als 500.“
„Das klingt teuer.“
„Ja, aber einige der Kreationen von Monsieur Moreau kosten deutlich mehr.“
„Wie viel mehr?“
„Bis zu 3.000 Pfund.“
„Aber hallo! So viel ist nicht mal mein Auto wert.“
Ciara lächelt. „Mein Chef ist ein Genie in der Parfümwelt – wir nennen ihn eine Nase –, ein Schöpfer von Originaldüften. Er hat prominente Kunden auf der ganzen Welt.“
Kate deutet mit der Hand auf die allgemeine Unordnung um sie herum. „Also, wieviel, würden Sie sagen, ist hier insgesamt alles kaputt gegangen oder gestohlen worden?“
„Insgesamt? Das kann ich wirklich nicht sagen.“
„In etwa?“
„Ich hatte gerade erst angefangen zu schauen, was gestohlen wurde, als Sie auftauchten – ich würde sagen, vielleicht mehr als eine Viertelmillion Pfund.“
„Eine Viertelmillion? 250.000 Pfund?“
„Mindestens.“
Zum ersten Mal fragt sich Kate, ob die kleine, verletzliche Ciara mit ihrem charmanten irischen Akzent in Wirklichkeit ein falsches Spiel treibt.
Vielleicht ist es Versicherungsbetrug: Der Inhaber eines angeschlagenen örtlichen Unternehmens heuert zwei Ganoven an, die ihn ein wenig aufmischen und Ware „stehlen“, die er nicht verkauft kriegt. Dann beauftragt er seine nervöse Assistentin, eine völlig überzogene Schätzung der fehlenden Sachen abzugeben. Sobald die Versicherung zahlt, kriegt er seine Ware zurück, und die Ganoven erhalten jeweils eine fette Summe als Bezahlung. Wäre sicherlich nicht das erste Mal, dass so ein Spiel abgezogen wird.
„Verstehen Sie mich bitte nicht falsch“, sagt Kate, beugt sich etwas vor und schaut Ciara in die Augen, „aber dieser Laden ist nicht besonders groß – und selbst bei drei Riesen für einige Sets, wie können Sie so viel wertvolles Material hier haben?“
„Nehmen Sie das Tablet, das ich Ihnen gerade gegeben habe, und googlen Sie ‚teuerste Parfums der Welt’.“ Ciara nickt in Richtung des iPads. „Da finden Sie eine Moreau-Kreation namens Intouchable und auch den Preis.“ Während Kate sucht, fügt Ciara hinzu: „Das Öl für den Duft war im Safe.“
„Das ist verrückt“, sagt Kate, nachdem sie die Webseite aufgerufen hat. „Hier steht, dass Untouchable nicht einmal unter den fünf teuersten Parfüms zu finden ist. Es gibt sogar eins, das mehr als eine Million Pfund wert ist!“
Ciara korrigiert sie: „Intouchable, nicht Untouchable. Einige dieser Top-Five-Düfte sind so teuer, weil die Flakons mit Juwelen besetzt oder mit Gold oder anderen Edelmetallen beschichtet sind, aber einige, wie der von Monsieur, enthalten ‘neuartige Moleküle’, die er patentiert hat. Intouchable stammt von einer bisexuellen Form des Jasmins, die ein Molekül enthält, das nicht synthetisch hergestellt werden kann. Weiß Gott, die Chinesen haben es versucht. Monsieur hat Patente angemeldet und schuf damit das, was man in der Parfümbranche einen Captive nennt.“
„Was bedeutet ‘captive’“, fragt Kate, „in diesem Zusammenhang?“
„Es bedeutet, dass wir das exklusive Nutzungsrecht haben – wir haben den Duft ‘eingefangen’. Niemand sonst kann ihn kopieren, produzieren oder ausnutzen.“
„Und wie viel davon war im Safe?“
„Ein halber Liter: das sind 17,6 flüssige Unzen, und der Einzelhandelswert liegt bei etwas über 14.000 Pfund pro Unze, woraus sich ein Wert von etwa 246.000 Pfund ergibt.“
Das ist doch ein Witz, denkt Kate. Das hier ist entweder ein viel größerer Raubüberfall oder ein viel größer angelegter Versicherungsbetrug, als ich gedacht hatte.
Sie steht auf und holt ihr Telefon heraus. „Entschuldigen Sie, ich muss meine Chefin anrufen.“
„Soll ich hinten warten oder draußen?“
„Weder noch. Bleiben Sie ruhig hier.“
Kates Anruf wird verbunden.
„DCI Ross.“
„Ma’am, ich bin‘s, Darroch. Dieser Ladendiebstahl ist nicht das, was wir gedacht –“
Ihre Chefin unterbricht sie: „Ich weiß. Wir haben gerade vom Krankenhaus erfahren, dass der Besitzer, François Moreau, auf der Intensivstation verstorben ist. Sie sind ja noch da, also überbringen Sie seiner Assistentin die Nachricht und kommen Sie so schnell wie möglich zurück.“
„Ja, Ma’am.“
„Es behagt mir zwar nicht, aber Sie sind die leitende Ermittlerin in diesem Fall, also tun Sie mir zur Abwechslung bitte den Gefallen und lassen Sie mich – und sich selbst – nicht hängen.“
„Wenn ich nicht die Bestandsaufnahme gemacht hätte“, sagt Ciara zu Kate und einem anderen Beamten im Verhörraum – einem großen Mann, an dessen Namen sie sich nicht erinnern kann –, „dann wäre er noch am Leben.“
„Oder Sie wären ebenfalls verletzt worden – oder getötet“, sagt Lewis Morgan, ein Polizist Mitte zwanzig, der gerade seine Prüfung zum Sergeant bestanden hat. „Sie haben sich in keiner Weise schuldig gemacht – im Gegensatz zu den Männern, die Sie überfallen haben.“
Kate nimmt Ciara die zutiefst aufrichtige Gutmütigkeit ab. Sie scheint ihrem Chef gegenüber echte Zuneigung empfunden zu haben. „Wissen Sie, ob Mister Moreau Verwandte hatte, die wir benachrichtigen sollten?“
„Nicht hier. Es gibt einen Bruder in Frankreich, aber sie haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Er hat ein Weingut.“
„Irgendeine Idee, wo genau?“
„Châteauneuf-du-Pape. Es war der Familienbetrieb und ging nach dem Tod der Eltern auf ihn über.“
„Aber Mister Moreau hatte weder einen Partner noch andere Familienangehörige in diesem Land?“
„Nein. Und könnten wir ihn bitte Monsieur und nicht Mister nennen? ‘Mister’ erscheint mir so respektlos gegenüber seiner französischen Seele.“
„Natürlich“, sagt Kate.
„Danke.“ Ciara verstummt, dann fügt sie hinzu: „O Gott, ich habe Tanguy vergessen.“
„Ein Verwandter?“ fragt Lewis.
„Nein, sein Kater. Er muss gefüttert werden – und sein Katzenklo stinkt inzwischen sicher zum Himmel.“
„Wir können uns um Tanguy kümmern“, antwortet Kate, „oder wir können ihn zu Ihnen bringen lassen, wenn Sie das möchten.“
Ciara nickt. Das würde ihr gefallen. Jetzt fällt ihr eine weitere, größere Sorge ein. „Und Monsieur – sein Leichnam?“ Bei dem Gedanken spürt sie ein unbehagliches, emotionales Ziehen. „Ich weiß nicht, was ich tun soll – ich meine wegen seiner Beerdigung. Er war zwar nicht religiös, aber es müssen doch trotzdem einige Vorkehrungen getroffen werden, oder nicht?“
„Das stimmt“, sagt Kate. „Aber wegen der Art und Weise, wie er gestorben ist, wird es zuerst eine Untersuchung geben müssen, und das bedeutet, dass es derzeit in der Hand des Gerichtsmediziners liegt, was als Nächstes passiert. Was die weiteren Vorkehrungen betrifft, so können wir Sie entweder mit Bestattungsunternehmen in Kontakt bringen, die Ihnen helfen können, oder –“
„Ich möchte mich selbst darum kümmern, danke. Ich denke, er würde wollen, dass ich das für ihn tue.“
„Dann werden wir Sie so gut wie möglich unterstützen“, sagt Kate.
„Ciara“ – Lewis schlägt einen sanften Ton an –, „auf den Überwachungsbildern sind die Gesichter der Täter nicht zu sehen. Wir werden mithilfe der Straßenkameras nach ihnen fahnden und sie hoffentlich erwischen, bevor sie ihre Sturmhauben aufsetzen. Fällt Ihnen noch irgendetwas ein, das uns dabei helfen könnte, sie zu identifizieren? Konnten Sie zum Beispiel einen Blick auf ihre Schuhe erhaschen, haben Sie vielleicht eine Tätowierung an einer Hand gesehen oder etwas in der Art?“
Sie schüttelt den Kopf. „Nein. Es tut mir sehr leid, aber ich habe nichts gesehen.“
Kate wirft ein: „Sie wurde von hinten angegriffen, Lewis, und sie haben ihr die Augen und den Mund zugeklebt.“
„Haben wir das Klebeband?“, fragt er.
„Haben wir“, bestätigt Kate, die sich darüber ärgert, dass er denkt, sie würde ihre Arbeit nicht richtig machen.
„Es gibt da allerdings etwas, das ich Ihnen sagen kann“, sagt Ciara. „Aber es geht nicht darum, wie sie aussahen. Mir ist aufgefallen, dass ihre Kleidung stark nach Nagelstudio und Kaffee gerochen hat.“
„Nagelstudio?“, fragt Lewis nach. „Nicht gerade der typische natürliche Lebensraum von gewalttätigen Räubern.“
„Nein, das habe ich nicht gemeint. Als ich noch in Irland lebte, habe ich ehrenamtlich mit Drogenabhängigen gearbeitet, und daher weiß ich, dass, wenn man Kokain und Backpulver mischt und erhitzt, so ein süßlicher Geruch entsteht ... wie die Lacke, die man riecht, wenn man ein Nagelstudio betritt.“
„Und Kaffee?“, fragt er. „Sie hatten Kaffee erwähnt.“
„Ja. Ein leichter, sehr leichter Geruch von Kaffee – aber kein guter Kaffee, wie Kate ihn trinkt.“
„Dealer strecken Kokain oft mit Kaffee, um ihren Gewinn zu erhöhen.“ Lewis fügt hinzu: „Aber wie um alles in der Welt haben Sie das riechen können?“
„Na ja, einer der Gründe, warum ich mit Parfüms arbeite, ist, dass ich einen sehr ausgeprägten Geruchssinn habe. Das liegt zum einen an einer Grunderkrankung, die ich seit meiner Geburt habe, und zum anderen an der Ausbildung, die mir Monsieur Moreau freundlicherweise zukommen lässt.“ Sie zieht eine Grimasse, als sie ihren Fehler bemerkt. „Ließ.“
„Der Schmerz wird mit der Zeit weniger.“ Kate schenkt ihr aus einem Krug auf dem Tisch des Verhörraums ein Glas Wasser ein.
„Danke.“ Ciara nimmt einen Schluck und versucht, den Kopf freizubekommen, aber jetzt kann sie nur noch an den Räuber denken, der sie gegen die Wand gestoßen hat.
Da war er mir am nächsten, als er seinen Körper gegen meinen gedrückt hat, meine Handgelenke gepackt und sie hinter meinen Rücken gezogen hat... seine Handschuhe waren ganz nah an meiner Nase, an meinem Mund, an meinen Augen. Die Handschuhe...
„Sie rochen nach Waschsalon“, erzählt sie den beiden Polizisten. „Ich habe es zuerst bei dem Mann bemerkt, der mich gefesselt hat, und dann auch bei dem anderen.“
„Und wie riecht Wäsche?“, fragt Lewis.
„Keine Wäsche, ein Waschsalon“, korrigiert Ciara. „Das ist doch etwas ganz anderes. Wäsche riecht in jedem Haushalt anders. Das hängt davon ab, wie hart oder weich das Wassers in der Gegend, wo man wohnt, ist, welches Waschpulver verwendet wird und ob parfümierte Weichspüler hinzugefügt werden. Industrielle Waschsalons – die sind anders. Weil so viele Leute dieselben Maschinen benutzen, entsteht ein Gesamtgeruch in der Trommel, im Metall, in den Bakterien und in der Luft.“
„Und beide Männer hatten den gleichen Geruch?“, fragt Kate, die beginnt, Ciaras Gedankengang zu folgen.
„Genau. Waschsalons haben spezifische industrielle Gerüche, sie haben einzigartige Basis- und Herznoten – Bleiche, Chlor, Stärke, Waschmittel. All diese Gerüche entstehen bei sehr hohen Temperaturen, und das heißt, sie werden zu Dampf, der überall hinweht, den man überall riechen kann.“
„Vielleicht habe ich das falsch verstanden“, sagt Lewis, „aber wollen Sie damit sagen, dass unsere Räuber in einem Waschsalon arbeiten? Das klingt nämlich ein bisschen sehr weit hergeholt.“
„Das sage ich doch gar nicht.“ Ciara kann nicht anders, als ein bisschen eingeschnappt zu klingen – ihr ganzes Leben hat sie bereits damit zu kämpfen, dass die Leute sie ständig missverstehen. „Was ich damit sagen will, ist, dass sie irgendwann im Laufe des Tages entweder für längere Zeit zusammen im selben Waschsalon waren oder irgendwo ganz in der Nähe eines Waschsalons.“
„Zum Beispiel in einer Wohnung oder einem Haus in der Nähe?“, schlägt Kate vor. „Wäre das möglich?“
Ciara denkt an die Parfümfabrik von Monsieur in Frankreich und an die zarten, nach Honig duftenden Wolken, die sie immer wieder aus den mit Hundertblättrigen Rosen gefüllten Dampfdestillationskesseln aufsteigen sah. „Ja, ja, das wäre sehr gut möglich“, antwortet sie.
„Ich verstehe, dass Sie an dieser Krankheit leiden“, fährt Lewis betont geduldig fort, „und dass Sie sich mit Parfüms beschäftigen und einen ausgeprägten Geruchssinn haben und so weiter und so fort, aber sind Sie sich sicher – absolut sicher –, dass das, was Sie uns sagen, korrekt ist? Denn wenn Sie das nicht sind, wenn das nur wilde Vermutungen sind – oder Sie sich das aus irgendeinem seltsamen Grund ausdenken –, dann könnten Sie unsere Ermittlungen ernsthaft in die Irre führen.“
„Ich denke mir nie etwas aus – und vermuten tu ich schon gar nicht“, erwidert Ciara. „Monsieur Moreau hat mir mal gesagt, dass der Tag, an dem er mich dabei erwischt, wie ich Elemente eines Duftes errate, der Tag ist, an dem er unsere Zusammenarbeit beendet.“
„Das klingt hart“, sagt Kate.
„Ganz im Gegenteil. Er hat meinen Geruchssinn geschult und gepflegt und mir beigebracht, Gerüche zu artikulieren. Er war ...“ Ciara fehlen plötzlich die Worte, Tränen steigen ihr in die Augen.
„Möchten Sie eine Pause machen?“, fragt Kate. „Wir wissen, dass das sehr schwer für Sie sein muss.“
Ciara hört Kate nicht zu. Ihre Gedanken schweifen wieder ab. Diesmal zurück zu dem Moment, als alles anfing – dem Moment, als sich ihr Leben für immer veränderte.
Sechs Jahre zuvor
In London hatte alles begonnen.
Ciara war an ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag aus Dublin gekommen, nicht um ihn zu feiern, sondern um einen Neuanfang zu wagen und ihrer Vergangenheit zu entfliehen. Schon bald kam sie ganz gut über die Runden, indem sie nachts in Bars und tagsüber in jedem Kaufhaus in der Oxford Street arbeitete, das zu wenig Personal hatte.
Während einer Vertretungsschicht in einer Parfümerie erfuhr sie, dass in Brighton ein Ausbildungsplatz für einen Parfümeur frei war. Die Stelle war schwer zu besetzen, da der französische Eigentümer bekanntermaßen „schwierig“ war. „Ein richtig pingeliger alter Arsch“, war der genaue Wortlaut des Verkäufers, der ihr von der Stelle erzählte.
Ciara schickte keine schriftliche Bewerbung und rief auch nicht vorher an, um sicherzustellen, dass sie für die Stelle geeignet war. Am Morgen, nachdem sie von dem Ausbildungsplatz erfahren hatte, zog sie ihr einziges gutes Kleid an und bestieg den Zug um 5:59 Uhr .
Etwas mehr als eine Stunde später machte sie sich auf den achtminütigen Weg vom Bahnhof Brighton zur Galerie des Senteurs Secrètes im Stadtteil North Laine, wo sie fast zwei Stunden vor der üblichen Öffnungszeit ankam. Zufälligerweise war der Besitzer ein Mann, dessen Arbeit sein Leben war, und sie beobachtete, wie er einige Minuten nach 8 Uhr die Ladentür aufschloss.
Nervös ging sie auf ihn zu und versuchte sich tapfer an ihrem Schul-Französisch: „Bonjour Monsieur Moreau, je suis venue pour le travail.“
„S’il vous plaît – ne me parlez pas en français“, antwortete er, ohne vom Türschloss aufzublicken. „So früh am Morgen ist Ihr Akzent für meine Ohren zu schmerzhaft.“
„Tut mir leid, ich dachte, Sie würden mich besser finden, wenn ich Französisch spreche.“
„Das würde ich auch – wenn es denn Französisch wäre“, antwortete er knapp und blickte schließlich auf die zierliche Gestalt neben ihm herab. „Aber woher genau kommt denn dieser Akzent eigentlich, mit dem man Sie gestraft hat?“
„Irland, Sir. Ich bin in Dublin aufgewachsen, und bei allem Respekt, das sehe ich keinesfalls als Strafe an.“
„Sie haben recht. Es ist keine Strafe, es ist ein Vergehen.“
„Sir, ich bin den ganzen Weg aus London gekommen, um mich für die freie Stelle zu bewerben, die Sie ausgeschrieben haben.“
Moreau warf ihr erneut einen prüfenden Blick zu, seufzte und sagte: „Na, dann kommen Sie mal rein.“
„Danke.“ Sie schlich durch die Tür an ihm vorbei, während er den Alarm ausschaltete, und atmete dabei versehentlich das Parfüm ein, das er vor einer halben Stunde aufgetragen hatte. Das reichte, um augenblicklich sowohl physische als auch psychische Reaktionen auszulösen. Physisch in Form von stechenden Kopfschmerzen. Psychisch in Form ihrer bereits damals gut eingeübten Ablenkungstherapie der Vokalisation. „Jasmin“, flüsterte sie.
„Pardon?“ Er warf ihr einen unbehaglichen Blick zu.
„Jasmin“, wiederholte sie und sagte es dann, peinlich berührt und weil sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte, noch einmal: „Jasmin.“ Sie war sich sicher, dass sie ihren großen Auftritt ruiniert hatte, noch bevor er überhaupt begonnen hatte. „Ich bin ein bisschen nervös, und wenn ich nervös bin, sage ich immer, was ich rieche, und ... na ja ... ich weiß, es ist ein bisschen unhöflich ... aber ich habe mich irgendwie auf Ihr Parfüm fixiert.“
„Und Sie haben Jasmin gerochen.“ Er sah vage amüsiert aus. „Wissen Sie denn auch, welche Art von Jasmin?“
Sie spürte, wie ihr Gesicht rot wurde. „Ich wusste nicht, dass es verschiedene Arten gibt. Ich dachte, es gäbe nur einen Jasmin.“
Er schaute sie verblüfft an. „Es gibt mehr als zweihundert verschiedene Arten. Sie haben Jasminum sieboldianum identifiziert. Was noch?“
„Rose?“
„Und?“
Ciara hatte Mühe, weiter zu gehen. „Vielleicht Vanille?“
„’Vielleicht’? Das ist kein Wort, das wir in der Parfümerie verwenden. Zumindest nicht in meiner Parfümerie. Gibt es nun Vanille oder nicht?“
Mit scharlachrotem Gesicht antwortete sie: „Es gibt Vanille.“ Sie schnupperte unauffällig. „Und – noch etwas anderes.“
„Oh. ‘Etwas anderes.’“ Er zuckte mit den Schultern und blickte gespielt gelangweilt drein. „Würden Sie das auch einem Kunden vorschlagen, der uns beauftragt, für ihn einen maßgeschneiderten, unverwechselbaren Duft zu kreieren? ‘Möchten Sie vielleicht Vanille und vielleicht noch etwas anderes, Monsieur?’ Meinen Sie, dass man uns dafür bezahlen würde – für eine einzigartige Mischung aus ‘Vielleicht’ und ‘Noch etwas anderes’?“
Ciara hatte keine Ahnung, was in dieser Situation der beste nächste Schritt sein könnte – außer vielleicht auf der Stelle zu sterben, was ihr fast lieber wäre als sein unangenehmes Verhör.
„Haben Sie einen Abschluss in Chemie, Mademoiselle? Die meisten, die die Agentur schickt, haben das – lauter kleine Wissenschaftler mit noch kleinerer Vorstellungskraft.“
Ihr blieb nichts anderes übrig, als zuzugeben: „Nein, nicht mal das habe ich.“
Ungeduldig schaute er auf die alte Patek-Philippe-Uhr mit Lederband an seinem Handgelenk, das Einzige, was ihm sein millionenschwerer Vater in seinem Testament hinterlassen hatte. „Ich denke, es ist Zeit, dass Sie gehen, damit ich mich auf die Arbeit vorbereiten kann.“
Ciara drehte sich um und schlich wie ein geschlagener Hund zur Tür. Aber dann packte sie ein unvorhergesehener Mut, der sie einen Schlenker zu einer der Auslagen machen ließ, wo sie einen Tester in die Hand nahm und damit in die Luft sprühte. „Patschuli und Kumarin.“ Gleich ein wenig selbstsicherer griff sie nach dem nächsten Tester. „Limette und Teerose.“ Als sie den dritten in die Hand nahm, wusste sie, dass sie seine volle Aufmerksamkeit hatte. „Rum und ...“
„Und was?“
Sie tat sich schwer. Jetzt, wo es drauf ankam, konnte sie die andere Zutat beim besten Willen nicht benennen. Die einzigen Worte, die ihr auf der Zunge lagen, waren ‘etwas anderes’ oder ‘vielleicht’.
„Na, kommen Sie schon“, drängte der Meisterparfümeur sie mit einem wissenden Lächeln. „Soyez brave.“
Ciara schloss die Augen, blendete seinen herausfordernden Blick aus und sagte das Einzige, was ihr einfiel. „Süß und trocken. Rosinen – es riecht nach Rum und Rosineneis.“ Sie machte sich auf das unvermeidliche verbale Sturmgewitter gefasst.
Moreau brach in schallendes Gelächter aus. „Oui, oui! Précisement! Rum-Rosine.“ Seine Freude war so groß, dass sein ganzer Körper zu zittern schien. „Das ist gut, sehr gut. Die kleinen Chemiker, die zu mir kommen, können das nicht. Die kennen ihre Formeln und ihre Maße, aber sie würden ihre eigene Haut nicht riechen, wenn sie brennen würde. Sie sind nutzlos. Sie verschwenden meine Zeit – und in meinem Alter ist Zeit nichts, was man verschwenden sollte. Aber jetzt lassen Sie mich Sie einmal genau ansehen.“
Ciara stand unbeholfen da, während er sie zum ersten Mal ernst und überlegt ansah.
„Dieses sogenannte Kleidungsstück, das Ihnen vom Hals bis zu den Knöcheln hängt“, sagte er kritisch. „Das würde ich höchstens meiner Großmutter zu ihrer eigenen Beerdigung anziehen. Nein – ich korrigiere mich – es ist zu trist für eine Tote. Warum sind Sie bloß in diesem Kartoffelsack hierhergekommen?“
Ciara errötete vor Wut und Verlegenheit. „Das ist das beste Kleid, das ich besitze. Ich meine, ich habe nur zwei, aber ich verspreche Ihnen, dieses ist das neueste und das teuerste.“
„Mein liebes Mädchen, es kommt nicht auf die Kosten oder die Neuheit an. Es ist der Geschmack. Eine Kundin wird Ihrem Parfümgeschmack nicht trauen, wenn sie sieht, dass Sie sich nicht avec brio kleiden können. Und der männliche Kunde wird Ihnen nicht zutrauen, dass Sie ihm einen Duft empfehlen, der ihn begehrenswert macht, wenn er sieht, dass Sie sich nicht begehrenswert kleiden können. Begehrenswert für Sie selbst, wohlgemerkt, nicht für ihn. Mode, die gefällt, muss Ihre eigenen Augen ansprechen, so wie ein Parfüm zuerst Ihre eigene Nase anregen muss. Verstehen Sie?“
„Ja, ich glaube, ich verstehe.“
Er schüttelte missbilligend den Kopf. „Nein, nein, sagen Sie niemals ‘ich glaube’ – das ist wieder eines Ihrer geliebten ‘Vielleicht’s oder ‘Noch etwas anderes’s. Sie müssen sich präzise ausdrücken. Haben Sie verstanden, was ich gerade gesagt habe, Mademoiselle?“
„Ja“, antwortete sie entschlossen und fügte dann mutig hinzu: „Aber ich muss Ihnen sagen, dass wir in Irland ein altes Sprichwort haben, das meiner Meinung nach sehr viel Wahrheit enthält: Cuir síoda ar ghabhar agus is gabhar i gcónaí é – das bedeutet, dass Sie eine Ziege in alle Seide der Welt hüllen können, aber sie bleibt trotzdem nur eine Ziege.“
„Aha!“ Er lachte. „Das ist lustig – und ja, es ist wahr. Aber es ist nun mal unser Geschäft, Böcke und Ziegen wie Löwen und Löwinnen riechen zu lassen, wie die Könige und Königinnen des Dschungels.“ Er hielt inne und lächelte. „Sie haben eine starke Nase, das ist eine kostbare Gabe, aber Sie haben ein schlechtes Duftlexikon – in Sachen Parfümterminologie sind Sie wie eine Rentnerin mit dem Wortschatz eines kleinen Mädchens.“
„Ich kann lernen. Mein Französisch ist schlecht, das gebe ich zu, aber ich spreche fließend Italienisch und Latein“, verkündete Ciara defensiv. „Ich kann die Sprache der Parfümerie lernen, ich verspreche es.“
Er sah die Hoffnung in ihren jungen Augen und sagte dann: „Eine Stelle als Parfümeurlehrling zu bekommen – das ist ein Preis, den man nicht so leicht gewinnt. Aber: Ich werde Ihnen eine Chance geben, sich zu beweisen. Ich schlage eine Probezeit von einem Monat vor – danach werden wir über eine Festanstellung sprechen. Ist das für Sie akzeptabel?“
„Ab sofort?“, fragte sie hoffnungsvoll.
Er nickte. „Warum nicht? Ich bin schließlich in einem Alter, in dem man gut daran tut, etwas heute zu erledigen, statt es auf morgen zu verschieben.“
Heutiger Tag, 8 Uhr
Polizeipräsidium South East Coast
Brighton
Es ist der Morgen nach einem der einsatzreichsten Tage in der Geschichte der South East Coast Police Force. Nur der berüchtigte IRA-Bombenanschlag auf den Parteitag der Konservativen im Jahr 1984, bei dem fünf Menschen getötet und mehr als dreißig verletzt wurden, übertraf die traurige Zahl des gestrigen Tages.
DS Kate Darroch sitzt neben DI Dave Paver, einem freundlichen Hünen Ende dreißig, der dafür bekannt ist, mindestens sein eigenes Gewicht an IPA und Whisky zu trinken. Neben ihm sitzt die Beamtin, als die Kate am liebsten wiedergeboren werden würde, wenn sie die Wahl hätte: DI Amita Khan, Leiterin des Schusswaffendezernats, ausgebildete Geiselvermittlerin, Absolventin der Psychologie in Cambridge und stolze Besitzerin der schönsten Wangenknochen, die die Menschheit je hervorgebracht hat.
Die drei sitzen um einen kleinen Konferenztisch im Büro von DCI Ross und halten ihre übermüdet aussehende Chefin über die jeweiligen Vorgänge auf dem Laufenden.
„Fünf Tote, Ma‘am – eine Ladendetektivin, eine Kassiererin, ein Mann Ende zwanzig und ein älteres Ehepaar, die ihren Wocheneinkauf erledigten“, berichtet Amita. „Zwei weitere – beide Männer Mitte dreißig – liegen immer noch auf der Intensivstation. Sieben weitere Kunden, darunter eine junge Mutter und ihr achtzehn Monate altes Kind, sind weiterhin im Krankenhaus und werden wegen nicht-kritischer Wunden behandelt.“
„Und der Schütze?“, fragt Ross.
„Sam Rankin, vierzehn Jahre. Wurde festgenommen, ohne verletzt zu werden. Hat sich sofort ergeben, als wir uns identifiziert haben. Er ließ seine Waffe fallen und sagte: ‘Jetzt werde ich berühmter sein als wie mein Dad, oder?’“
„Fügen Sie Verbrechen gegen die Grammatik zu seiner Akte hinzu“, seufzt Dave Paver. „Der kleine Stinker ist Tommy Rankins Jüngster.“
„Sam, Tommy und seine drei Brüder sind tatsächlich Rückfalltäter“, fährt Amita fort, irritiert von Daves besserwisserischer Einmischung. „Zum Klan gehört die Peterson-Gang, die mit Waffen, Drogen und Prostituierten handelt. Es scheint, dass der schwänzende Sam und zwei seiner Kumpels von dem Kokainvorrat seines Vaters genascht haben, was den jungen Rankin dazu veranlasste, den örtlichen Supermarkt zu bestrafen, weil man sich dort geweigert hatte, ihm Alkohol zu verkaufen, und ihm Zutritt zum Laden verbot. Er packte mehrere Waffen und Munitionsschachteln in einen Rucksack und machte sich – nach seinen eigenen Worten – auf den Weg, um ‘den Wichsern eine Lektion zu erteilen’.“
„Also hat er bereits ausgesagt?“, fragt Ross.
„Nein, Ma‘am. Das hat er am Tatort gesagt, und es wurde von den Beamten und seinen beiden Freunden bestätigt, die beide dringlichst von der Tat Abstand nehmen wollen.“
„Haben sie in Anwesenheit von Erziehungsberechtigten und unter Belehrung ausgesagt?“
„Ja, Ma‘am – bei beiden Jungs waren je ein Elternteil und ein Anwalt anwesend.“
„Gehen Sie mal ruhig davon aus, dass sich diese Zeugenaussagen in Luft auflösen, wenn es zum Prozess kommt“, warnt Dave. „Sams alter Herr ist nicht unbekannt dafür, Zeugen verschwinden zu lassen.“
„Das würde unsere Chancen auf eine Verurteilung nicht beeinträchtigen“, beteuert Amita. „Es gab eine 360-Grad-Überwachung im Laden, und die halbe Stadt war zu der Zeit dort einkaufen. Außerdem haben wir die Tatwaffen. Wir werden keine Probleme haben, ihn zu verurteilen, wenn er ‘nicht schuldig’ plädiert.“
„Haben Sie das Jugendamt alarmiert?“, fragt Ross. „Da er nicht volljährig ist, wird es endlose Bürokratie und Meldebeschränkungen geben. Und Amita, Sie müssen dafür sorgen, dass niemand aus Ihrem Team etwas an die Medien weitergibt, das ihn identifiziert.“
„Völlig klar. Ich habe das Amt bereits informiert und mir erlaubt, ein internes Memo zu verfassen, das Sie für die stationsweite Verteilung in Betracht ziehen können. Ich habe es heute Morgen an Ihr Büro gemailt.“
„Danke, ich werde es direkt im Anschluss durchsehen. Dave, wie weit sind wir mit dem Fall Seadean?“
„Tatsächlich haben wir zwei Leichen, nicht nur eine, wie ursprünglich gemeldet. Sie wurden von einem jungen Paar gefunden, das gerade die Leitung der Brook Farm übernommen hat. Sie suchten auf einem überfluteten Feld nach verirrten Schafen und fanden eines der Skelette im Graben. Als der Pathologe es entfernte, fand er darunter noch eine weitere Leiche.“
„Und wir sind uns sicher, dass es nur zwei sind?“, fragt Ross.
„Ja, Ma‘am. Die Radarjungs haben alles doppelt abgesucht. Ein Grab, zwei Leichen.“
„Gibt es schon Neues aus der Pathologie darüber, wie sie gestorben sind?“
„Wir reden hier von Hugo Black.“ Dave verdreht die Augen. „Sie wissen ja, wie ungern er sich äußert, bevor er die Obduktion abgeschlossen hat.“
„Leider nur zu gut.“ Ross fragt sich, wann ihr wohl endlich eine Pause vergönnt sein würde. Wäre ihr Detective Chief Super nicht kürzlich in den Vorruhestand gegangen und ein anderer Vorgesetzter in die Covid-Quarantäne, wäre sie jetzt im Urlaub, würde am Loch Ness wandern gehen, die steilen Anstiege des Great Glen Way verfluchen und in sternenklaren Nächten die örtliche Whiskylandschaft erforschen.
„Er hat allerdings gnädigerweise bestätigt, dass es sich bei den beiden Opfern um erwachsene Frauen gehandelt habe“, fügt Dave hinzu, „im gebärfähigen Alter, aber dazu, wie alt sie waren, wollte er sich nicht näher äußern. Er rechnet aber damit, dass die beiden seit Jahren und nicht erst seit Monaten dort begraben liegen.“
„Könnten sie von Tobin sein?“, fragt Ross. „Sie wissen, dass die Medien uns danach als Erstes fragen werden.“
„O Gott, bitte nicht.“ Dave Paver stößt einen schmerzhaften Seufzer aus. „Verdammter Peter Tobin – ich kann nicht zählen, wie viele Urlaubstage ich verloren habe, um falsche Hinweise auf Leichen zu überprüfen, die er angeblich begraben haben soll, während er hier in Brighton gelebt hat.“
Ross lächelt mitfühlend. „Aber er war ein Serien-Sexualstraftäter, der zwei junge Frauen in einem Garten vergraben hat.“
„Ich weiß, Ma‘am. Und Tobins Opfer waren zwischen vierzehn und dreiundzwanzig Jahre alt, also könnten unsere Damen in diese Spanne fallen. Aber die wirklichen Verbindungen hängen davon ab, wann genau unsere Leichen begraben wurden. Sie müssten von vor 1994 sein, als er wegen Vergewaltigung inhaftiert wurde. Oder zwischen 2004 und 2007, als er freigelassen wurde.“
„Okay, vergessen wir Tobin für den Moment“, drängt Ross. „Das ist eine Wundertüte, die wir nur aufmachen, wenn es wirklich sein muss – und dabei denke ich sowohl an den Publicity-Aspekt als auch ans Budget.“
„Dem kann ich nur zustimmen, Ma‘am. Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nicht einmal sicher sein, dass die beiden Frauen überhaupt Opfer einer Straftat waren.“
„Warum das?“
„In letzter Zeit gab es in Nordengland mehrere Fälle, in denen illegale Einwanderer, die eines natürlichen Todes starben, von anderen Illegalen in Wäldern und Mooren begraben wurden. Sie tun das, um die Beerdigungskosten und das Risiko, von den Behörden entdeckt zu werden, zu vermeiden.“
„Ich verstehe“, räumt die DCI ein. „Es ergibt durchaus Sinn, dass Menschen, die außerhalb des Systems leben, auch außerhalb des Systems sterben – das ist einfach ein Zeichen der Zeit.“
„Verstehen Sie mich nicht falsch, Ma‘am, ich würde wahrscheinlich mein Haus verwetten – na ja, inzwischen ist es das Haus meiner Ex-Frau –, dass es sich eindeutig um Mord handelt. Dass jemand dort sein erstes Opfer beseitigt hat und dann gedacht hat, der Ort wäre ideal für ein weiteres. Aber – und das ist ein großes Aber – ich hoffe wirklich, dass ich mich irre, denn wenn nicht, haben wir einen Serienmörder in unserem Revier.“
„Um Himmels willen“, ruft Ross. „Wie weit sind Sie mit der DNA der Opfer für ihre Identifizierung?“
„Black hat Proben zur Profilerstellung geschickt. Ich habe zwei DCs, die in und um den Bezirk herum nach Vermissten suchen, bevor sie landesweit tätig werden, und es gibt ein einheitliches Suchteam in Seadean. Wir haben auch gerade mit Befragungen in den umliegenden Wohnsiedlungen begonnen, und natürlich habe ich alle angewiesen, die zweite Leiche nicht zu erwähnen. Das Lokalradio hat gestern Abend in den Nachrichten nur von einer gesprochen, und ich nehme an, dass Sie das so lange wie möglich beibehalten wollten.“
„Da haben Sie richtig gedacht“, bestätigt sie. „Gleich nach unserem Meeting muss ich den Polizeichef und den stellvertretenden Polizeichef informieren, und dann haben wir alle das Vergnügen eines Treffens mit dem Polizei- und Kriminalkommissar vor der Pressekonferenz heute Mittag. Sonst noch etwas, Dave?“
„Nichts, Chef.“
„Okay. Kate, bringen Sie uns auf den neuesten Stand, was Ihren Fall angeht – ein Raubüberfall, der sich als Mord herausgestellt hat, und eine ziemlich fette Beute an Parfüm, wie ich höre.“