Jeder ist ein Theologe - R. C. Sproul - E-Book

Jeder ist ein Theologe E-Book

R. C. Sproul

0,0

Beschreibung

Wer will schon Theologe werden? Viele verbinden Theologie mit trockenen, fruchtlosen Diskussionen über irrelevante Lehren. Sie ziehen es vor, sich einfach auf die Bibel oder auf ihre Beziehung zu Jesus zu beschränken. R.C. Sproul argumentiert jedoch, dass jeder von uns ein Theologe ist. Schließlich betreiben wir immer Theologie, wenn wir über eine Lehre der Bibel nachdenken, von Jesus weitererzählen oder über unseren Glauben sprechen. Deshalb ist es wichtig, dass wir über die verschiedenen Lehren der Bibel nachdenken und zu einer Theologie gelangen, die ohne Widersprüche ist und auf Wahrheit beruht. Genau das tut R.C. Sproul in Jeder ist ein Theologe: Er nimmt den Leser an die Hand und führt ihn durch die verschiedenen Teilbereiche der Systematischen Theologie. Dieses Buch ist alles andere als eine trockene Diskussion über irrelevante Lehrfragen. Stattdessen bringen die leicht verständlichen Erklärungen des Autors uns zum Staunen und Anbeten darüber, wer Gott ist und was er für sein Volk tut.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 500

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Titel des englischen Originals:

Everyone’s a Theologian:

An Introduction to Systematic Theology

© 2014 by R. C. Sproul

Published by Ligonier Ministries

421 Ligonier Court, Sanford, FL 32771

Ligonier.org

Translated by permission.

All rights reserved.

Wenn nicht anders angegeben, wurde folgende Bibelübersetzung verwendet:

Lutherbibel, revidiert 2017,

© 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart

© 2024 Verbum Medien gGmbH, Bad Oeynhausen

verbum-medien.de

[email protected]

Übersetzung: Marion Gebert

Lektorat: Florian Gostner

Buchgestaltung und Satz: Annika Felder

Druck und Bindung: Finidr

1. Auflage 2024

Best.-Nr. 8652 067

ISBN 978-3-98665-067-4

E-Book 978-3-98665-068-1

DOI: 10.54291/z366459662

Solltest du Fehler in diesem Buch entdecken, würden wir uns über einen kurzen Hinweis an [email protected] freuen.

Jeder ist ein Theologe

R. C. Sproul

EINFÜHRUNG IN DIE SYSTEMATISCHE THEOLOGIE

Meiner Familie, die michin all den Jahren meinesDienstes liebevoll undunterstützend begleitet hat.

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEILEINLEITUNG

Kapitel 1Was ist Theologie?

Kapitel 2Umfang und Zweck der Theologie

Kapitel 3Allgemeine Offenbarung und natürliche Theologie

Kapitel 4Besondere Offenbarung

Kapitel 5Inspiration und Autorität der Heiligen Schrift

Kapitel 6Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit

Kapitel 7Kanonizität

Kapitel 8Die Autorität der Bibel

ZWEITER TEILDIE EIGENTLICHE THEOLOGIE

Kapitel 9Gotteserkenntnis

Kapitel 10Eins im Wesen

Kapitel 11Drei Personen

Kapitel 12Nicht übertragbare Eigenschaften

Kapitel 13Übertragbare Eigenschaften

Kapitel 14Der Wille Gottes

Kapitel 15Vorsehung

DRITTER TEILANTHROPOLOGIE UND SCHÖPFUNG

Kapitel 16Creatio ex nihilo

Kapitel 17Engel und Dämonen

Kapitel 18Die Erschaffung des Menschen

Kapitel 19Die Natur der Sünde

Kapitel 20Die Erbsünde

Kapitel 21Die Übertragung der Sünde

Kapitel 22Die Bünde

VIERTER TEILCHRISTOLOGIE

Kapitel 23Der Christus der Bibel

Kapitel 24Eine Person, zwei Naturen

Kapitel 25Die Namen von Christus

Kapitel 26Die Stände Christi

Kapitel 27Die Ämter Christi

Kapitel 28Warum ist Christus gestorben?

Kapitel 29Stellvertretende Sühne

Kapitel 30Das Ausmaß des Sühnopfers

FÜNFTER TEILPNEUMATOLOGIE

Kapitel 31Der Heilige Geist im Alten Testament

Kapitel 32Der Heilige Geist im Neuen Testament

Kapitel 33Der Paraklet

Kapitel 34Die Taufe mit dem Heiligen Geist

Kapitel 35Die Geistesgaben

Kapitel 36Die Frucht des Geistes

Kapitel 37Gibt es heute noch Wunder?

SECHSTER TEILSOTERIOLOGIE

Kapitel 38Allgemeine Gnade

Kapitel 39Erwählung und Verwerfung

Kapitel 40Wirksame Berufung

Kapitel 41Die Rechtfertigung durch Glauben allein

Kapitel 42Rettender Glaube

Kapitel 43Adoption und Vereinigung mit Christus

Kapitel 44Heiligung

Kapitel 45Die Bewahrung der Heiligen

SIEBTER TEILEKKLESIOLOGIE

Kapitel 46Biblische Bilder von der Kirche

Kapitel 47Die Kirche: eins und heilig

Kapitel 48Die Kirche: katholisch und apostolisch

Kapitel 49Anbetung in der Kirche

Kapitel 50Die Sakramente der Kirche

Kapitel 51Die Taufe

Kapitel 52Das Abendmahl

ACHTER TEILESCHATOLOGIE

Kapitel 53Tod und Zwischenzustand

Kapitel 54Die Auferstehung

Kapitel 55Das Reich Gottes

Kapitel 56Das Tausendjährige Reich

Kapitel 57Die Wiederkunft Christi

Kapitel 58Das Jüngste Gericht

Kapitel 59Ewige Bestrafung

Kapitel 60Ein neuer Himmel und eine neue Erde

ANHANG

STICHWORTVERZEICHNIS

ÜBER DEN AUTOR

ÜBER LIGONIER

TEIL 1

Einleitung

1

Was ist Theologie?

Vor einigen Jahren war ich eingeladen, in einer bekannten christlichen Hochschule vor den Dozenten und der Hochschulleitung über die Frage zu sprechen: »Was ist eine christliche Hochschule oder Universität?« Nach meiner Ankunft zeigte mir der Dekan das Universitätsgelände. Während des Rundgangs fiel mir eine Aufschrift an einigen Bürotüren auf: »Fakultät für Religion«. Als ich am Abend meinen Vortrag hielt, erwähnte ich diese Bezeichnung und fragte, ob der Fachbereich schon immer so geheißen habe. Ein älteres Fakultätsmitglied sagte, dass er vor einigen Jahren noch »Fakultät für Theologie« hieß. Niemand konnte mir erklären, warum der Name geändert worden war.

»Religion« oder »Theologie« – was macht das für einen Unterschied? In der akademischen Welt wird die Religionswissenschaft traditionell als Disziplin der Soziologie oder Anthropologie verstanden, da Religion mit dem Glauben und den Anbetungsformen der Menschen zu tun hat. Bei der Theologie hingegen geht es um die Lehre von Gott. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Studium menschlicher Vorstellungen von Religion und dem Studium des Wesens und Charakters Gottes. Ersteres behandelt das Innerweltliche und Diesseitige. Letzteres befasst sich mit dem Übernatürlichen und Jenseitigen.

Nachdem ich dies in meiner Vorlesung vor der Fakultät erklärt hatte, fügte ich hinzu, dass eine echte christliche Hochschule oder Universität dem Grundsatz verpflichtet ist, dass die letzte Wahrheit die Wahrheit Gottes ist und dass Gott die Grundlage und Quelle aller Wahrheit ist. Alles, was wir lernen – Wirtschaft, Philosophie, Biologie, Mathematik – muss im Licht der übergeordneten Realität des Charakters Gottes gesehen werden. Deshalb nannte man im Mittelalter die Theologie »die Königin der Wissenschaften« und die Philosophie »ihre Dienerin und Magd«. Heute ist die Königin von ihrem Thron gestürzt und vielerorts ins Exil verbannt worden, während ihre Nachfolgerin regiert. Wir haben Theologie durch Religion ersetzt.

EINE DEFINITION VON THEOLOGIE

In diesem Buch geht es um Theologie, genauer gesagt um Systematische Theologie. Diese stellt ein geordnetes, kohärentes Studium der wichtigsten Lehren des christlichen Glaubens dar. Dieses Kapitel enthält eine kurze Einführung in die Systematische Theologie und einige grundlegende Definitionen. Das Wort »Theologie« hat die Nachsilbe »-ologie« mit den Bezeichnungen vieler wissenschaftlicher Disziplinen gemeinsam, wie etwa der Biologie, Physiologie und Anthropologie. Diese Endung stammt vom griechischen Wort logos, das wir am Anfang des Johannesevangeliums finden: »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort« (Joh 1,1). Das griechische Wort logos bedeutet »Wort« oder »Idee«, oder – wie ein Philosoph es übersetzte – »Logik«. Wenn wir Biologie studieren, befassen wir uns also mit dem Wort oder der Logik des Lebens. Anthropologie ist das Wort oder die Logik vom Menschen, anthrōpos das griechische Wort für Mensch. Der Hauptbestandteil des Wortes »Theologie« kommt vom griechischen theos, was »Gott« bedeutet. Theologie ist somit das Wort oder die Logik von Gott.

Theologie ist ein sehr weit gefasster Begriff. Er bezieht sich nicht allein auf Gott, sondern auf alles, was Gott uns in der Heiligen Schrift offenbart hat. Zur Theologie gehört auch die Lehre von Christus, die »Christologie«. Theologie umfasst ferner die Lehre vom Heiligen Geist, »Pneumatologie« genannt, die Lehre von der Sünde, die als »Hamartiologie« bezeichnet wird, sowie die Lehre von den letzten Dingen, die wir »Eschatologie« nennen. Dies sind alles Unterabteilungen der Theologie. Theologen sprechen auch von der »eigentlichen Theologie«, die sich speziell auf die Lehre von Gott selbst bezieht.

Vielen ist das Wort Theologie vertraut, sie schrecken aber zurück, wenn sie das Adjektiv »systematisch« davor hören. Das liegt daran, dass wir in einer Zeit leben, in der eine weitverbreitete Abneigung gegen bestimmte Systeme besteht. Wir respektieren unbelebte Systeme – Computersysteme, Feueralarmsysteme und elektrische Schaltkreise –, weil wir ihre Bedeutung für die Gesellschaft verstehen. Wenn es jedoch um Gedankensysteme oder um ein kohärentes Verständnis des Lebens und der Welt geht, fühlen sich viele Menschen unwohl. Das hat zum Teil mit einer der einflussreichsten Philosophien der westlichen Geschichte zu tun – dem Existentialismus.

DER EINFLUSS DER PHILOSOPHIE

Der Existentialismus ist eine Existenzphilosophie. Er geht davon aus, dass es so etwas wie essentielle Wahrheit nicht gibt, sondern nur individuelle Existenz – nicht Essenz, sondern Existenz. Definitionsgemäß verabscheut der Existentialismus ein allgemeines System der Realität. Er ist ein Antisystem, das an Wahrheiten, aber nicht an die Wahrheit glaubt. Existentialisten sind der Meinung, dass der Wirklichkeit keine Ordnung zugrunde liegt, weil sie die Welt als chaotisch und ohne Sinn und Zweck betrachten. Man sieht das Leben einfach so, wie es geschieht – es gibt nichts Übergeordnetes, um dem Ganzen einen höheren Sinn zu geben, weil das Leben einfach keinen Sinn hat.

Der Existentialismus hat zusammen mit seinen Ablegern, dem Relativismus und dem Pluralismus, einen enormen Einfluss auf die westliche Kultur gehabt. Der Relativist sagt: »Es gibt keine absolute Wahrheit außer der absoluten Wahrheit, dass es absolut keine absolute Wahrheit gibt. Wahrheit ist relativ. Was für den einen wahr ist, kann für den anderen falsch sein.« Relativisten versuchen nicht (wie ein System dies tut), gegensätzliche Ansichten miteinander in Einklang zu bringen, weil man ihrer Ansicht nach zu keinem systematischen Verständnis der Wahrheit gelangen kann.

Diese Philosophie hatte auch einen starken Einfluss auf die Theologie und die theologischen Ausbildungsstätten. Die Systematische Theologie gerät immer mehr in Vergessenheit – nicht nur wegen des Einflusses des existenziellen Denkens, des Relativismus und des Pluralismus, sondern auch, weil manche Menschen sie als Versuch missverstehen, die Bibel in ein philosophisches System zu zwingen. Das haben in der Tat einige versucht, wie etwa René Descartes mit dem Rationalismus oder John Locke mit dem Empirismus. Diejenigen, die solche Versuche unternehmen, hören nicht wirklich auf das Wort Gottes und bemühen sich auch nicht, es zu verstehen. Vielmehr versuchen sie, ein vorgefasstes System auf die Heilige Schrift zu übertragen.

In der griechischen Mythologie griff der Räuber Prokrustes Menschen an und schnitt ihnen die Beine ab, damit sie in sein Eisenbett passten, anstatt das Bett zu vergrößern. Alle Versuche, die Heilige Schrift in ein vorgefasstes Denksystem zu zwängen, sind ähnlich fehlgeleitet, und das Ergebnis ist eine Abneigung gegen die Systematische Theologie. Diese will die Bibel aber weder in eine Philosophie noch in ein System pressen, sondern sie versucht, die Lehren der Heiligen Schrift herauszuarbeiten und sie geordnet und thematisch darzustellen.

DIE ANNAHMEN DER SYSTEMATISCHEN THEOLOGIE

Die Systematische Theologie geht von bestimmten Annahmen aus. Die erste ist, dass Gott sich nicht nur in der Natur, sondern auch durch die Schriften der Propheten und der Apostel offenbart hat und dass die Bibel das Wort Gottes ist. Das ist Theologie schlechthin – der ganze logos des theos. Die zweite Annahme lautet, dass sich Gott gemäß seinem eigenen Charakter und Wesen offenbart. Die Heilige Schrift sagt uns, dass Gott ein geordnetes Universum geschaffen hat. Er ist nicht der Urheber von Verwirrung, weil er selbst niemals verwirrt ist. Er denkt klar und spricht deutlich und verständlich. Eine dritte Annahme ist, dass die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift diese Eigenschaften aufweist. Das Wort Gottes ist trotz der Verschiedenheit seiner Autoren eine Einheit. Das Wort Gottes wurde über viele Jahrhunderte hinweg von vielen Autoren verfasst und behandelt zahlreiche Themen, aber in dieser Vielfalt liegt auch eine Einheit. Alle Informationen, die in der Schrift zu finden sind – das Sühnopfer, die Inkarnation, die letzten Dinge, das Gericht Gottes, die Barmherzigkeit Gottes, der Zorn Gottes – haben ihre Einheit in Gott selbst. Wenn Gott spricht und sich selbst offenbart, besteht eine Einheit in diesem Inhalt, eine Kohärenz. Die Offenbarung Gottes ist einheitlich und konsistent, weil auch Gott selbst von seinem Wesen und seinem Charakter her absolut beständig ist. Er ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit (vgl. Hebr 13,8).

Diese Annahmen leiten den Systematischen Theologen bei seiner Aufgabe, den gesamten Umfang der Heiligen Schrift zu betrachten und zu fragen, wie alles zusammenpasst. An vielen Universitäten ist die Abteilung für Systematische Theologie von der Abteilung für Neues Testament und der Abteilung für Altes Testament getrennt. Der Grund dafür ist, dass der Systematische Theologe einen anderen Schwerpunkt hat als der Professor für Altes Testament und der Professor für Neues Testament. Bibelwissenschaftler konzentrieren sich darauf, wie Gott sich im Laufe der Zeit zu verschiedenen Zeitpunkten geoffenbart hat, während der Systematiker diese Informationen nimmt, sie zusammenfügt und zeigt, wie sie ein sinnvolles Ganzes ergeben. Das ist eine gewaltige Aufgabe, und ich bin überzeugt, dass sie noch niemand perfekt gelöst hat.

Wenn ich mich mit Systematischer Theologie beschäftige, bin ich immer wieder erstaunt über die spezifische, komplexe Kohärenz der göttlichen Offenbarung. Systematische Theologen sehen, dass jeder einzelne theologische Gedanke mit allen anderen Gedanken verbunden ist. Wenn Gott spricht, hat jedes Wort Auswirkungen auf alle anderen Worte. Deshalb arbeiten wir ständig daran, zu erkennen, wie sich alle Teile zu einem organischen, sinnvollen und konsistenten Ganzen zusammenfügen. Genau das werden wir in diesem Buch tun.

2

Umfang und Zweck der Theologie

Theologie ist eine Wissenschaft. Viele widersprechen dem vehement und behaupten, dass zwischen Wissenschaft und Theologie eine große Kluft besteht. Wissenschaft sei das, was wir durch empirische Untersuchungen und Nachforschungen erfahren, während Theologie den religiösen Gefühlen von Menschen entspringt. In der Vergangenheit galt die Systematische Theologie jedoch immer schon als Wissenschaft.

THEOLOGIE UND WISSENSCHAFT

»Wissenschaft« beinhaltet bereits das Wort »Wissen«. Christen glauben, dass sie durch Gottes göttliche Offenbarung wirkliches Wissen über Gott haben. Die Theologie dürfte nicht als Wissenschaft bezeichnet werden, wenn man keine Erkenntnis über Gott gewinnen könnte. Das Streben nach Wissen ist immerhin das Wesen der Wissenschaft. Die Wissenschaft der Biologie bemüht sich folglich, Wissen über lebende Dinge zu erlangen. Die Wissenschaft der Physik strebt danach, Wissen über physikalische Dinge zu erlangen. Und die Wissenschaft der Theologie möchte ein kohärentes, konsistentes Wissen über Gott gewinnen.

Alle Wissenschaften verwenden Paradigmen oder Modelle, die sich im Laufe der Zeit ändern oder verschieben. Wesentliche Änderungen der wissenschaftlichen Theorie einer bestimmten Disziplin bezeichnet man daher als Paradigmenwechsel. Wenn man ein Physiklehrbuch aus den 1950er-Jahren in die Hand nimmt, wird man feststellen, dass einige der damals aufgestellten Theorien inzwischen überholt sind. Niemand nimmt sie mehr ernst, weil die physikalischen Theorien sich inzwischen erheblich verändert haben. Das Gleiche geschah, als die newtonsche Physik frühere Physiktheorien ersetzte. Dann kam Albert Einstein und löste eine neue Revolution aus, und wieder mussten wir unser Verständnis der Physik anpassen. Ein Paradigmenwechsel findet statt, wenn eine neue Theorie eine alte ablöst.

Was in den Naturwissenschaften in der Regel zu Paradigmenwechseln führt, ist das Auftreten von Anomalien. Eine Anomalie ist ein Detail, das nicht in eine bestimmte Theorie passt – etwas, für das die Theorie keine Erklärung hat. Wenn man versucht, tausende Details in ein kohärentes Bild (wie bei einem Puzzle mit 10.000 Teilen) zusammenzufügen, und es gelingt, dass alle Teile bis auf eines passen, dann betrachten die meisten Wissenschaftler dies als ein gutes Paradigma. Die zusammengesetzte Struktur, die auf 9.999 Arten zusammenpasst, ergibt Sinn und erklärt fast alle untersuchten Daten. Wenn es jedoch zu viele Anomalien gibt und eine erhebliche Datenmenge nicht in die Struktur eingeordnet werden kann, bricht die Theorie zusammen.

Wenn Anomalien zu zahlreich oder zu gewichtig werden, ist der Wissenschaftler gezwungen, neu nachzudenken, die Annahmen früherer Generationen infrage zu stellen und ein neues Modell zu entwickeln, das den neuen Entdeckungen oder Informationen gerecht wird. Das ist einer der Gründe, warum wir in den Wissenschaften ständige Veränderungen und bedeutende Fortschritte erleben.

Wenn es um das Verständnis der Bibel geht, ist der Ansatz ein anderer. Theologische Gelehrte arbeiten seit zweitausend Jahren mit denselben Informationen, weshalb ein dramatischer Paradigmenwechsel unwahrscheinlich ist. Natürlich gewinnen wir neue Erkenntnisse über kleine Details, z. B. über die Nuancen eines griechischen oder hebräischen Wortes, die früheren Generationen nicht zur Verfügung standen. Doch die meisten Veränderungen in der heutigen Theologie werden nicht durch neue archäologische Entdeckungen oder das Studium alter Sprachen ausgelöst. Sie entstehen überwiegend durch neue Philosophien, die in der säkularen Welt auftauchen, und durch Versuche, eine Synthese oder Integration zwischen diesen modernen Philosophien und der in der Heiligen Schrift offenbarten alten Religion zu erreichen.

Aus diesem Grund bin ich eher ein konservativer Theologe. Ich bezweifle, dass ich jemals auf eine Erkenntnis stoßen werde, die nicht bereits von größeren Denkern als mir detailliert ausgearbeitet wurde. Wenn es um Theologie geht, bin ich eigentlich nicht an Neuem interessiert. Wäre ich Physiker, würde ich ständig versuchen, neue Theorien aufzustellen, um lästige Anomalien zu beseitigen, aber in der Wissenschaft der Theologie verzichte ich bewusst darauf.

Leider suchen viele Theologen nach Neuem. In der akademischen Welt herrscht der ständige Druck, etwas Neues und Kreatives hervorzubringen. Ich erinnere mich an einen Mann, der zu beweisen versuchte, dass Jesus von Nazareth nie existiert hat, sondern eine mythologische Schöpfung von Mitgliedern eines Fruchtbarkeitskultes war, die unter dem Einfluss psychoaktiver Pilze standen. Seine These war sicherlich neu, doch sie war ebenso absurd wie neu.

Natürlich ist diese Faszination für Neues nicht nur auf unsere Zeit beschränkt. Der Apostel Paulus begegnete ihr unter den Philosophen auf dem Areopag in Athen (vgl. Apg 17,16–34). Wir wollen unser Wissen erweitern und unser Verständnis vertiefen. Wir müssen aber aufpassen, dass wir nicht der Versuchung erliegen, uns etwas Neues einfallen zu lassen, nur weil es neu ist.

DIE QUELLEN DER SYSTEMATISCHEN THEOLOGIE

Die wichtigste Quelle für den Systematischen Theologen ist die Bibel. In der Tat ist sie die Hauptquelle für alle drei theologischen Disziplinen: Biblische Theologie, Historische Theologie und Systematische Theologie.

Die Aufgabe der Biblischen Theologie besteht darin, die Daten der Heiligen Schrift in ihrer zeitlichen Entfaltung zu betrachten (was wiederum dem Systematischen Theologen als Quelle dient). Der Biblische Theologe geht dafür die Heilige Schrift durch und untersucht die fortschreitende Entwicklung von Begriffen, Konzepten und Themen sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, um zu sehen, wie sie im Laufe der Offenbarungsgeschichte verwendet und verstanden werden. Ein Problem in den heutigen theologischen Hochschulen ist eine Methode der Biblischen Theologie, die als »Atomismus« bezeichnet wird, bei der jedes »Atom« der Schrift für sich allein steht. Ein Gelehrter kann sich darauf beschränken, nur die Heilslehre des Paulus im Galaterbrief zu studieren, während ein anderer sich ausschließlich auf die Heilslehre des Paulus im Epheserbrief konzentriert. Das Ergebnis ist, dass jeder zu einer anderen Sicht des Heils kommt – eine aus dem Galaterbrief und eine andere aus dem Epheserbrief –, aber es wird nicht untersucht, wie die beiden Ansichten miteinander harmonieren. Man geht davon aus, dass Paulus nicht von Gott inspiriert war, als er den Galater- und den Epheserbrief schrieb, sodass es keine übergreifende Einheit, keine Kohärenz im Wort Gottes gibt. In den letzten Jahren konnte man oft von Theologen hören, dass es nicht nur theologische Unterschiede zwischen dem »frühen« und dem »späten« Paulus gibt, sondern auch so viele unterschiedliche Theologien in der Bibel, wie es Autoren gibt. Es gibt die Theologie des Petrus, die Theologie des Johannes, die Theologie des Paulus und die Theologie des Lukas, und sie passen alle nicht zusammen. Dadurch verliert man den Blick auf die Kohärenz der Schrift. Es ist gefährlich, sich nur auf einen schmalen Ausschnitt der Bibel zu konzentrieren, ohne gleichzeitig den gesamten Rahmen der biblischen Offenbarung zu betrachten.

Die zweite Disziplin und eine weitere Quelle für die Systematische Theologie ist die Historische Theologie. Historische Theologen untersuchen, wie sich die Lehre historisch entwickelt hat, vor allem an Krisenpunkten – wenn Irrlehren auftauchten und die Kirche darauf reagierte. Theologen wundern sich stets, wenn in Kirchen und theologischen Ausbildungsstätten sogenannte brandneue Kontroversen aufkommen, denn die Kirche hat jede dieser scheinbar neuen theologischen Auseinandersetzungen in der Vergangenheit immer wieder erlebt. Christen sind damals auf Konzilien zusammengekommen, um Streitigkeiten beizulegen, wie etwa auf dem Konzil von Nicäa (325 n. Chr.) und dem Konzil von Chalcedon (451 n. Chr.). Die Erforschung dieser Ereignisse ist Aufgabe der Historischen Theologen.

Die dritte Disziplin ist die Systematische Theologie. Die Aufgabe des Systematikers besteht einerseits darin, die Quellen der biblischen Daten zu untersuchen. Andererseits setzt er sich auch mit den Quellen der historischen Entwicklungen auseinander, die sich aus Kontroversen und Kirchenkonzilien und den daraus resultierenden Glaubensbekenntnissen ergeben. Zuletzt erforscht er auch die Erkenntnisse bedeutender Gläubiger, mit denen die Kirche im Laufe der Jahrhunderte gesegnet wurde. Das Neue Testament sagt uns, dass Gott der Kirche in seiner Gnade Lehrer geschenkt hat (vgl. Eph 4,11–12). Nicht alle sind so scharfsinnig wie Augustinus, Martin Luther, John Calvin oder Jonathan Edwards. Solche Männer haben keine apostolische Autorität, aber der schiere Umfang ihrer Forschung und die Tiefe ihres Verständnisses kommen der Kirche in jedem Zeitalter zugute. Thomas von Aquin wurde von der römisch-katholischen Kirche »doctor angelicus« oder »engelsgleicher Doktor« genannt. Römisch-katholische Gläubige glauben nicht, dass er unfehlbar war, aber kein römisch-katholischer Historiker oder Theologe ignoriert seine Texte. Der Systematiker studiert nicht nur die Bibel, die Glaubensbekenntnisse und die Bekenntnisse der Kirche, sondern auch die Einsichten der großen Lehrer, die Gott im Laufe der Geschichte gegeben hat. Er betrachtet alle Daten – biblische, historische und systematische – und fügt sie zusammen.

DER WERT DER THEOLOGIE

Die eigentliche Frage betrifft den Wert eines solchen Studiums. Viele Menschen glauben, dass das Theologiestudium von geringem Wert ist. Sie sagen: »Ich brauche keine Theologie, ich muss nur Jesus kennen.« Theologie ist jedoch für jeden Christen unverzichtbar. Theologie ist unser Versuch, die Wahrheit zu verstehen, die Gott uns offenbart hat – sie ist daher etwas, das jeder Christ tut. Die Frage ist also nicht, ob wir Theologie betreiben oder nicht, sondern ob unsere Theologie gut oder schlecht ist. Gott hat sich große Mühe gegeben, sich seinem Volk zu offenbaren. Darum sollten wir sein Wort studieren. Er hat uns ein Buch gegeben, das nicht dazu da ist, im Regal zu stehen und vertrocknete Blumen zu pressen, sondern das gelesen, erforscht, verdaut, studiert und vor allem verstanden werden will.

Ein wichtiger Text in den Schriften des Apostels Paulus befindet sich in seinem zweiten Brief an Timotheus: »Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Zurechtweisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt« (2 Tim 3,16–17). Dieser Text sollte die Behauptung widerlegen, dass wir keine Lehre brauchen oder dass die Lehre keinen Wert hat. Ein sorgfältiges Bibelstudium ist von Nutzen. Weil die Bibel vom allmächtigen Gott inspiriert ist, gibt sie uns ein wertvolles und gewinnbringendes Gut, und dieses Gut ist die Lehre.

Die Bibel dient auch zur Zurechtweisung. In der akademischen Welt wird viel Energie auf die Bibelkritik verwendet, die manchmal auch als historisch-kritische Methode bezeichnet wird und eine analytische Kritik der Heiligen Schrift darstellt. Jene Bibelkritik aber, mit der wir uns beschäftigen sollten, macht uns eher zum Objekt als zum Subjekt der Kritik. Mit anderen Worten: Die Bibel kritisiert uns. Wenn wir uns dem Wort Gottes zuwenden, legt es unsere Sünde offen. Die biblische Lehre vom Menschen schließt auch uns ein, ebenso wie die biblische Lehre von der Sünde auch uns betrifft. Wenn wir uns mit der Heiligen Schrift beschäftigen, werden wir darin für unsere Sündhaftigkeit getadelt. Wir mögen nicht auf die Kritik unserer Mitmenschen hören, aber wir sind gut beraten, die Kritik Gottes zu beachten, wenn sie uns in der Bibel begegnet.

Die Heilige Schrift ist auch nützlich, um uns von einem falschen Leben und einem irrigen Glauben abzubringen. Vor einiger Zeit las ich auf Bitten eines Freundes einen New York Times-Bestseller darüber, wie man ein Medium wird und mit Toten kommuniziert. Als ich etwa bei der Hälfte des Buches angelangt war, musste ich aufhören zu lesen. Das Buch enthielt so viel geistigen Schmutz und Unwahrheit, dass selbst Menschen mit einem minimalen Verständnis des göttlichen Gesetzes im Alten Testament in der Lage gewesen wären, die darin enthaltenen Lügen zu erkennen. Das ist der Gewinn der Korrektur von falscher Lehre und falschem Leben, den wir aus der Schrift ziehen können.

Schließlich ist die Heilige Schrift nützlich »zur Erziehung in der Gerechtigkeit, dass der Mensch Gottes vollkommen sei, zu allem guten Werk geschickt« (2 Tim 3,16–17). Der Zweck der Theologie besteht nicht darin, unseren Intellekt zu kitzeln, sondern uns in den Wegen Gottes zu unterweisen, damit wir zur Glaubensreife und zum völligen Gehorsam ihm gegenüber heranwachsen können. Das ist der Grund, warum wir uns mit Theologie beschäftigen.

3

Allgemeine Offenbarung und natürliche Theologie

Wir haben bereits gesehen, dass das Christentum nicht auf einer spekulativen Philosophie beruht. Vielmehr basiert es auf göttlicher Offenbarung. Die Grundaussage des christlichen Glaubens besteht darin, dass die von uns Christen angenommene Wahrheit von Gott selbst zu uns gekommen ist. Wir können ihn zwar nicht mit unseren Augen sehen, aber wir können ihn durch Offenbarung erkennen – denn er hat den Schleier, der ihn vor uns verbirgt, weggenommen. Eine Offenbarung ist eine Sichtbarmachung oder Entfaltung dessen, was verborgen ist.

In der Theologie unterscheiden wir verschiedene Arten von Offenbarung. Eine wichtige Unterscheidung ist die zwischen allgemeiner Offenbarung und besonderer Offenbarung. In diesem Kapitel werde ich mich auf die allgemeine Offenbarung konzentrieren. Die Heilige Schrift sagt uns, dass Gott die Quelle aller Wahrheit ist. Alles fließt aus ihm – so wie eine kleine Quelle einen mächtigen Fluss speisen kann. Gott ist der Ursprung und die Quelle aller Wahrheit. Das bedeutet, nicht nur die religiöse Wahrheit, sondern alle Wahrheit ist abhängig von Gottes Offenbarungswerk.

Der von Augustinus und später von Thomas von Aquin gelehrte Grundsatz lautet, dass wir als Geschöpfe nichts wissen könnten, wenn Gott uns keine Erkenntnis ermöglicht hätte. Augustinus veranschaulichte diesen Gedanken anhand der physischen Sehkraft. Er sagte, dass selbst Menschen mit perfektem Sehvermögen, die sich in einem Raum voller schöner Dinge befänden, nichts von dieser Schönheit sehen könnten, wenn der Raum in Dunkelheit getaucht wäre. Selbst mit dem schärfsten Sehvermögen könnten die Gegenstände nicht wahrgenommen werden, wenn kein Licht vorhanden ist. In gleicher Weise, so Augustinus, ist das Licht der göttlichen Offenbarung notwendig, damit wir irgendeine Wahrheit erkennen können. Thomas von Aquin zitierte Augustinus wörtlich und sagte, dass alle Wahrheit und alles Wissen letztlich auf Gott als der Quelle der Wahrheit und als demjenigen beruhen, der es uns ermöglicht, überhaupt etwas zu wissen. Manche Wissenschaftler mögen uns gering schätzen, weil wir in Glaubensfragen auf Offenbarung vertrauen. Wir können jedoch antworten, dass auch sie in ihren Labors nichts aus einem Reagenzglas lernen könnten, wenn der Schöpfer uns keine Offenbarung und die Fähigkeit geschenkt hätte, durch das Beobachten der Natur zu lernen.

DIE ENTSCHLEIERUNG GOTTES

Dass Gott sich auf diese Art offenbart, wird aus zwei Gründen als »allgemein« bezeichnet. Erstens ist diese Offenbarung allgemein, weil es sich um Wissen handelt, das uns allen mitgeteilt wird. Die allgemeine göttliche Offenbarung ist für alle Menschen auf der Welt zugänglich. Gott offenbart sich nicht einfach bestimmten Personen, sondern seine Selbstoffenbarung wird jedem Menschen zuteil. Die ganze Welt ist sein Publikum. In der Bibel heißt es zum Beispiel: »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk« (Ps 19,2). Jeder, der sehen kann, kann das Theater der Natur betreten und die Herrlichkeit Gottes durch die Sterne, den Mond und die Sonne betrachten – und das ist ein herrliches Theater!

Die körperlich Blinden sind jedoch nicht ausgeschlossen, denn die Bibel spricht auch von der Erkenntnis, die Gott in die Seelen der Menschen einpflanzt. Er gibt dem Menschen ein Gewissen, durch das er sich ihm in seinem Innersten offenbart. Gott hat allen Menschen einen Sinn für Recht und Unrecht gegeben, sodass selbst Blindgeborene ein inneres Wissen über Gott haben (vgl. Röm 1,19–20). Zusammenfassend bedeutet der Begriff allgemein, dass alle Menschen die Offenbarung Gottes wahrnehmen können. Millionen von Menschen haben noch nie eine Bibel gesehen oder eine Predigt gehört, aber sie haben im Theater der Natur gelebt, in dem Gott sich offenbart.

Der zweite Grund, warum diese Art von Offenbarung als allgemein bezeichnet wird, ist, dass ihr Inhalt allgemeiner Natur ist. Wir erfahren keine Einzelheiten über Gottes Erlösungsgeschichte, wie z. B. das Sühnopfer oder die Auferstehung Christi. Man kann keinen Sonnenuntergang studieren und dabei erkennen, wie der Himmel Gottes Heilsplan verkündet – dazu muss man die Bibel lesen. Die Heilige Schrift enthält spezifische Informationen, die man nicht durch ein Studium der Natur gewinnen kann.

Wir müssen diesen Unterschied zwischen allgemeiner und besonderer Offenbarung verstehen. Die allgemeine Offenbarung wird allen Menschen zuteil und vermittelt ein allgemeines Wissen über Gott. Sie ist etwas anderes als die Offenbarung der Heiligen Schrift. Die Bibel ist eine besondere Offenbarung, und nur diejenigen, die Zugang zu ihr oder ihrem Inhalt haben, erhalten sie. Die besondere Offenbarung gibt uns viel detailliertere Informationen über das Wirken und die Pläne Gottes.

NATÜRLICHE OFFENBARUNG

Manchmal wird die allgemeine Offenbarung auch als »natürliche Offenbarung« bezeichnet, was etwas verwirrend sein kann. Im theologischen Sprachgebrauch ist der Begriff natürliche Offenbarung ein Synonym für allgemeine Offenbarung, weil die allgemeine Offenbarung in und durch die Natur zu uns kommt.

In der allgemeinen Offenbarung gibt Gott uns nicht einfach den Planeten Erde und erwartet dann von uns, dass wir mit bloßer Verstandeskraft herausfinden, wer er ist – nur aufgrund dessen, was er geschaffen hat. Wir können ein Gemälde sorgfältig studieren und anhand des Stils der Pinselstriche oder der Farbpigmente herausfinden, wer der Künstler ist, aber so funktioniert die allgemeine Offenbarung nicht. Die Schöpfung ist ein Medium, durch das Gott sich selbst aktiv offenbart. Die Natur ist nicht von Gott losgelöst und unabhängig, sondern Gott teilt sich selbst durch die Welt mit. Er zeigt sich selbst durch die Herrlichkeit und Majestät des Himmels, der Welt und all dessen, was er geschaffen hat. Die Offenbarung Gottes durch die Natur bezeichnen wir als natürliche Offenbarung. Der Begriff natürliche Offenbarung bezieht sich, einfach ausgedrückt, auf das Werk oder die Handlungen, durch die Gott sich in und durch die Natur offenbart.

LERNEN DURCH DIE NATUR

Es gibt ein weiteres Studiengebiet, das »Natürliche Theologie« genannt wird. Natürliche (oder allgemeine) Offenbarung und Natürliche Theologie sind nicht dasselbe. Die natürliche Offenbarung stammt von Gott, während die Natürliche Theologie von Menschen aufgrund der natürlichen Offenbarung gemacht wird. Seit geraumer Zeit gibt es unter Theologen eine Kontroverse darüber, ob wir durch die Natur zu wahrer Gotteserkenntnis gelangen können, d. h. ob die Natürliche Theologie ein fruchtbares Unterfangen ist. Einige wehren sich vehement gegen die Vorstellung, dass der Mensch überhaupt etwas über Gott wissen kann, ohne gerettet zu sein. Paulus sagt in 1. Korinther 2,14, dass der natürliche Mensch Gott nicht erkennt und nicht erkennen kann. Es scheint also, dass der Apostel die Möglichkeit ausschließt, dass wir durch die Natur zu irgendeiner Erkenntnis Gottes gelangen können, wenn nicht der Heilige Geist uns erleuchtet. In Römer 1, dem wichtigsten biblischen Text zur Natürlichen Theologie, sagt der Apostel jedoch, dass wir tatsächlich durch die Natur zur Erkenntnis Gottes gelangen.

Die Atomisten behaupten, Paulus habe etwas Bestimmtes geglaubt, als er den Römerbrief schrieb, und etwas anderes, als er den 1. Korintherbrief verfasste. Mit anderen Worten: Gott habe, als er durch Paulus sprach, seine Meinung geändert. Andere wiederum glauben, dass die Unterschiede zwischen 1. Korinther 2 und Römer 1 ein klares Beispiel dafür sind, dass die Bibel Widersprüche enthält. Das Verb »wissen« wird jedoch sowohl im Griechischen als auch im Hebräischen unterschiedlich verwendet. Es gibt ein Wissen, das wir als »kognitives Wissen« bezeichnen und das auf die intellektuelle Erkenntnis einer Tatsache hinweist. Dann gibt es noch ein persönliches, intimes Wissen. Wenn in der Bibel davon die Rede ist, dass ein Mann seine Frau »erkennt«, drückt dieses Verb die intimste menschliche Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau aus. In ähnlicher Weise schreibt Paulus im Korintherbrief über das geistliche Unterscheidungsvermögen für göttliche Dinge und sagt, dass wir dieses in unserem gefallenen Zustand nicht besitzen. Er schreibt hier von einem Wissen, das über das bloße intellektuelle Erkennen hinausgeht.

In Römer 1 sagt Paulus: »Denn Gottes Zorn wird vom Himmel her offenbart über alles gottlose Leben und alle Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten« (Röm 1,18). Paulus will hier zeigen, warum wir gerettet werden müssen. Er stellt die ganze Welt vor das Gericht Gottes, um zu beweisen, dass jeder das Evangelium braucht, weil jeder schuldig geworden ist – nicht weil er Jesus abgelehnt hat, von dem viele nie gehört haben, sondern weil er Gott, den Vater, abgelehnt hat, der sich jedem Menschen offenbart hat. Es liegt in unserer Natur als Sünder, diese Wahrheit in Ungerechtigkeit niederzuhalten (andere Übersetzungen verwenden hier das Wort »unterdrücken« oder »aufhalten«; Anm. d. Red.). Paulus schreibt, dass Gott darüber zornig ist, wie die Menschen mit seiner Offenbarung umgehen.

Paulus fährt fort: »Denn was man von Gott erkennen kann, ist unter ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen offenbart« (Röm 1,19). Das griechische Wort, das mit »offenbar« übersetzt wird, ist phaneros; im Lateinischen heißt es manifestum, woraus sich das Wort manifest ableitet, was so viel bedeutet wie »deutlich«. Gott hat keine geheimen Spuren in der Welt hinterlassen, sodass der Mensch einen Guru braucht, der ihm sagt, dass Gott existiert. Vielmehr ist die Offenbarung, die er von sich selbst gibt, manifestum – deutlich und klar. Paulus fügt hinzu: »Denn sein unsichtbares Wesen … wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es wahrnimmt, ersehen an seinen Werken« (Röm 1,20a). Diese Aussage mag widersprüchlich erscheinen – wie kann jemand etwas Unsichtbares sehen? Doch das ist kein Widerspruch. Wir sehen klar, aber nicht direkt. Wir sehen nicht den unsichtbaren Gott, aber wir sehen die sichtbare Welt, und diese trägt die Offenbarung Gottes in sich. Gottes unsichtbares Wesen wird durch Dinge offenbart, die wir sehen können.

Der Mensch hat keine Ausrede dafür, Gottes Offenbarung zu übersehen: »Denn sein unsichtbares Wesen – das ist seine ewige Kraft und Gottheit – wird seit der Schöpfung der Welt, wenn man es wahrnimmt, ersehen an seinen Werken, sodass sie keine Entschuldigung haben« (Röm 1,20). Diejenigen, die sich weigern, zu Gott zu kommen, versuchen sich zu entschuldigen, indem sie behaupten, Gott habe keinen ausreichenden Beweis für seine Existenz geliefert. Paulus widerlegt ihre Entschuldigung hier im Römerbrief hingegen mit einer bitteren Wahrheit: »Denn obwohl sie von Gott wussten, haben sie ihn nicht als Gott gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert« (Röm 1,21). Die Bibel zeigt klar, dass Gottes Selbstoffenbarung in der Natur uns eine wahre und klare Kenntnis seines Wesens vermittelt.

MITTELBARE UND UNMITTELBARE OFFENBARUNG

Wir müssen auch die Unterscheidung zwischen mitteltbarer und unmittelbarer allgemeiner Offenbarung beachten. Die Begriffe mittelbar und unmittelbar haben mit der Funktion oder der Nutzung von etwas zu tun, das zwischen zwei Punkten steht. Gott ist transzendent und wir sind auf der Erde. Gottes Offenbarung wird nun durch die Natur vermittelt. Mit anderen Worten: Die Natur ist das Medium der Offenbarung, so wie eine Zeitung oder eine Fernsehsendung ein Kommunikationsmedium ist, weshalb solche Kommunikationsarten allgemein »Medien« genannt werden. Ebenso ist das Hauptmedium der allgemeinen Offenbarung die Natur.

Unmittelbare allgemeine Offenbarung ist der Begriff, der eine andere Art und Weise beschreibt, wie Gott sich uns offenbart. In Römer 2,15 sagt Paulus, dass das Gesetz Gottes in unsere Herzen geschrieben ist, was Johannes Calvin den sensus divinitatis oder den Sinn für das Göttliche nannte. Es ist ein Bewusstsein von Gott, das er in die Seele des Menschen eingepflanzt hat, und dieses Bewusstsein manifestiert sich in unserem Gewissen und in unserer Kenntnis des göttlichen Gesetzes. Dieses Wissen erlangen wir nicht durch ein Medium, sondern es kommt direkt von Gott zu uns, weshalb eine solche Offenbarung »unmittelbar« genannt wird. Gottes ewige Macht und Gottheit werden der ganzen Welt durch die allgemeine Offenbarung deutlich gemacht. Unsere sündhafte Unterdrückung dieser Offenbarung löscht nicht das Wissen über Gott aus, das er uns durch die Natur und in unser Herz gegeben hat.

4

Besondere Offenbarung

Zwar offenbart sich Gott in gewisser Weise allen Menschen auf der Welt durch die allgemeine Offenbarung, aber es gibt noch eine andere Art von Offenbarung, die besondere Offenbarung, die nicht jedem zugänglich ist: Diese offenbart Gottes Erlösungsplan. Sie beschreibt die Inkarnation, das Kreuz und die Auferstehung – Dinge, die man nicht durch das Studium der natürlichen Welt erfahren kann. Sie findet sich in erster Linie (wenn auch nicht ausschließlich) in der Heiligen Schrift. Die Bibel legt Zeugnis davon ab, wie Gott sich auf besondere Weise offenbart hat:

»Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welten gemacht hat. Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe.«

HEBR 1,1–3

Wir erhalten bestimmte Informationen von Gott selbst, und diese erstaunliche Tatsache bildet die Grundlage für das christliche Verständnis von Wissen.

Die Erkenntnistheorie (ein Teilgebiet der Philosophie) ist die Wissenschaft vom Wissen. Sie analysiert die Art und Weise, wie der Mensch Wissen erwirbt. Große Debatten werden darüber geführt, ob der Mensch in erster Linie durch den Verstand lernt – der rationale Ansatz, Erkenntnis zu gewinnen – oder durch die fünf Sinne Sehen, Hören, Schmecken, Tasten und Riechen – der empirische Ansatz. Selbst in christlichen Kreisen wird darüber gestritten, ob die Vernunft oder die Sinne im Vordergrund stehen. Als Christen sollten wir uns jedoch alle einig sein, dass das Christentum letztlich auf Wissen beruht, das uns Gott selbst vermittelt. Das Festhalten an dieser Überzeugung ist für unsere Wahrheitsfindung von entscheidender Bedeutung. Wissen, das von Gott kommt, ist allem, was wir aus der Analyse unserer Situation, aus der Selbstbeobachtung oder aus der Beobachtung der Welt um uns herum ableiten können, weit überlegen.

In alttestamentlichen Zeiten sprach Gott manchmal direkt zu den Menschen. Es gab auch Gelegenheiten, bei denen er sich durch Träume oder besondere Zeichen offenbarte, wie bei Gideon. Es gab Zeiten, in denen Gott sich durch das Werfen von Losen, durch den Gebrauch von Urim und Tummim durch die Priester und durch Theophanien offenbarte. Das Wort Theophanie kommt von den griechischen Wörtern theos (Gott) und phaneros (Manifestation) – somit war eine Theophanie eine sichtbare Manifestation des unsichtbaren Gottes.

Die vielleicht bekannteste Theophanie im Alten Testament ist der brennende Dornbusch, dem Mose in der Wüste Midian begegnete. Als Mose einen brennenden Busch sah, der aber nicht von den Flammen verzehrt wurde, näherte er sich diesem, und Gott sprach hörbar zu ihm aus dem Busch: »Ich werde sein, der ich sein werde« (2 Mose 3,14). Der Busch war eine sichtbare Manifestation des unsichtbaren Gottes. Die Wolkensäule und die Feuersäule, die das Volk Israel nach seinem Exodus durch die Wüste führten, waren ebenfalls sichtbare Erscheinungsformen des unsichtbaren Gottes.

PROPHETEN UND APOSTEL

Gott kommunizierte mit dem Volk Israel in erster Linie durch die Propheten. Die Propheten waren Menschen wie wir. Sie benutzten die menschliche Sprache, aber da sie Informationen von Gott erhielten, fungierten ihre Worte als Gefäße oder Kanäle der göttlichen Offenbarung. Deshalb begannen sie ihre Prophezeiungen mit den Worten: »So spricht der Herr«. Die Worte der Propheten wurden schriftlich festgehalten und galten als geschriebenes Gotteswort. Das Alte Testament wurde also von normalen Menschen geschrieben, die – anders als wir – von Gott dazu bestimmt wurden, in seinem Namen zum Volk Israel zu sprechen.

Natürlich war nicht jeder im Volk Israel, der behauptete, ein Prophet zu sein, auch tatsächlich einer. Man könnte sogar sagen, dass Israels größtes Problem nicht die Auseinandersetzung mit feindlichen Völkern war, sondern mit falschen Propheten im Lager oder vor den Toren der Stadt. Falsche Propheten waren dafür bekannt, dass sie statt wahrer Gottesoffenbarungen nur sagten, was die Menschen hören wollten. Während seines gesamten Dienstes wurde Jeremia von falschen Propheten angefeindet. Als er versuchte, das Volk vor dem bevorstehenden Gericht Gottes zu warnen, widersetzten sich die falschen Propheten Jeremias Prophezeiung und versuchten mit allen Mitteln, seine Botschaft zu unterdrücken.

Es gab Möglichkeiten, um zwischen einem wahren und einem falschen Propheten zu unterscheiden. Die Israeliten sollten drei Tests anwenden, um festzustellen, wer ein wahrer Träger der göttlichen Offenbarung war. Der erste Test bestand darin, die göttliche Berufung nachzuweisen. Deshalb waren die Propheten eifrig darauf bedacht, zu zeigen, dass sie direkt von Gott berufen und mit einer bestimmten Aufgabe betraut worden waren. Im Alten Testament berichten mehrere Propheten – darunter Amos, Jesaja, Jeremia und Hesekiel – ihren Zuhörern genau, wie sie als Propheten berufen und gesalbt wurden.

Das neutestamentliche Gegenstück zu den Propheten waren die Apostel. Die Propheten und die Apostel bilden zusammen das Fundament der Kirche (vgl. Eph 2,20). Das Hauptmerkmal eines Apostels war, dass er eine direkte Berufung durch Christus erhalten hatte. Der Begriff Apostel bezieht sich auf jemanden, der mit der Autorität desjenigen, der ihn sendet, beauftragt wird. Jesus sagte zu seinen Aposteln: »Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat« (Mt 10,40). Im Gegensatz dazu gehörte einer der wichtigsten Apostel im Neuen Testament nicht zu den ursprünglichen Zwölfen: Paulus. Er kannte Jesus vermutlich nicht, als dieser als Mensch auf dieser Erde lebte, und er war auch kein Augenzeuge der Auferstehung wie die übrigen Apostel. Paulus schien nicht über die notwendigen Voraussetzungen zu verfügen, um ein Apostel zu sein, weshalb das Neue Testament sowohl durch Paulus selbst als auch durch Lukas die Umstände der Berufung von Paulus auf der Straße nach Damaskus schildert. Darüber hinaus bestätigten die anderen Apostel die Echtheit seines Apostelamtes.

Der zweite Test für einen echten alttestamentlichen Propheten war das Vorhandensein von Wundern. Nicht alle Propheten im Alten Testament vollbrachten Wunder, aber ihr Dienst wurde von Anfang an durch Wunder beglaubigt, angefangen mit Mose über Elia bis zu den anderen Propheten. Es war nicht leicht, ein echtes Wunder von einem falschen zu unterscheiden, denn es gab auch nachgeahmte Wunder, wie die der Magier am Hof des Pharaos. Ihre sogenannten Wunder waren jedoch nur Zaubertricks.

Der dritte Test für einen echten Propheten bestand in der Erfüllung der Prophezeiung: Sind die Dinge, die der Prophet ankündigte, auch tatsächlich eingetreten? Falsche Propheten versuchten vorherzusagen, was geschehen würde, aber wenn ihre Vorhersagen nicht eintrafen, erwiesen sich ihre Botschaften als falsch.

Sowohl durch die Propheten des Alten Testaments als auch durch die Apostel des Neuen Testaments erhielten wir eine schriftliche Aufzeichnung der besonderen Offenbarung. Sie wurde uns von jenen gegeben, die von Christus selbst beauftragt und bevollmächtigt wurden, seine Offenbarung zu überbringen. Jesus hinterließ kein eigenhändig unterzeichnetes Manuskript und schrieb auch keines der Bibelbücher. Alles, was wir über ihn wissen, ist in den Aufzeichnungen des Neuen Testaments durch seine Apostel enthalten. Sie sind seine Gesandten – ausgestattet mit seiner Vollmacht, um in seinem Namen zu sprechen.

DAS FLEISCHGEWORDENE WORT

Der Verfasser des Hebräerbriefes weist auf eine weitere Dimension der besonderen Offenbarung hin: die wichtigste und alles überragende Offenbarung, nämlich das fleischgewordene Wort. Wir haben das geschriebene Wort, durch das wir eine besondere Offenbarung empfingen, aber wir haben auch das fleischgewordene Wort Gottes, von dem das geschriebene Wort spricht. Derjenige, der das Wort Gottes verkörpert, ist Jesus selbst, wie der Autor des Hebräerbriefes erklärt: »Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten, hat er zuletzt in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Welten gemacht hat« (Hebr 1,1–2).

Als die Jünger im Obergemach mit Jesus versammelt waren, sagte Philippus zu ihm: »Herr, zeige uns den Vater, und es genügt uns.« Jesus antwortete: »So lange bin ich bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? … Glaubst du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir?« (Joh 14,8–10). Das Oberhaupt aller Apostel, derjenige, den Gott als letzten Träger seiner Selbstoffenbarung erwählte – ist Christus selbst. Nur in Christus haben wir die Fülle der Offenbarung des Vaters, und nur in der Heiligen Schrift begegnen wir diesem Christus.

5

Inspiration und Autorität der Heiligen Schrift

Hauptauslöser der Reformation im 16. Jahrhundert war die Lehre von der Rechtfertigung allein aus Glauben, aber im Hintergrund schlummerte noch ein anderes wichtiges Thema: die Frage nach der Autorität. Als Martin Luther mit den Führern der römisch-katholischen Kirche über die Rechtfertigungslehre stritt, sah er sich gezwungen, öffentlich zu bekennen, dass seine Ansichten nicht mit früheren Aussagen der Kirche und mit einzelnen Erklärungen früherer Päpste übereinstimmten. Das löste bei Luther eine Krise aus, denn es war zu seiner Zeit inakzeptabel, die Autorität der Kirche oder des Papstes infrage zu stellen. Luther blieb jedoch standhaft und erklärte am Ende auf dem Reichstag zu Worms im Jahr 1521:

»Werde ich nicht durch Zeugnisse der Schrift oder durch klare Vernunftgründe überwunden – denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, da es am Tage ist, daß sie des öfteren geirrt und sich selbst widersprochen haben –, so bleibe ich überwunden durch die von mir angeführten Stellen der Schrift und mein Gewissen gefangen durch Gottes Wort. Widerrufen kann und will ich nichts, denn es ist weder sicher noch heilsam, gegen das Gewissen zu handeln. Gott helfe mir, Amen.«1

Aus diesem Konflikt resultierte der reformatorische Grundsatz Sola Scriptura, was so viel bedeutet wie »allein die Schrift«. Luther und die anderen Reformatoren sagten, dass letztlich nur eine Autorität das absolute Recht hat, unser Gewissen zu binden. Luther schmälerte damit keineswegs die geringere Autorität der Kirche oder die Bedeutung historischer Kirchenkonzilien wie Nicäa und Chalcedon. Er wies jedoch darauf hin, dass selbst Kirchenkonzilien nicht die gleiche Autorität haben wie die Bibel. Damit lenkte er die Aufmerksamkeit auf das Wesen und die Grundlage der biblischen Autorität.

AUTORENSCHAFT UND AUTORITÄT

Hinsichtlich der Vorrangstellung und Autorität der Heiligen Schrift war die Autorenschaft der Bibel für die Reformatoren von grundlegender Bedeutung. Man beachte die Ähnlichkeit der Wörter Autorität und Autorenschaft: Beide enthalten das Wort Autor. Obwohl die Bibel von Menschen niedergeschrieben wurde und nicht als Ganzes auf einmal erschien, sondern ein Buch nach dem anderen, waren die Reformatoren der Auffassung, dass der eigentliche Autor der Bibel nicht Paulus, Lukas, Jeremia oder Mose war, sondern Gott selbst. Gott übte seine Autorität durch die Schriften menschlicher Autoren aus, die als seine Sprecher dienten.

Wie war es aber möglich, dass menschliche Autoren göttliche Autorität erhielten? Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, behaupteten die Propheten, dass ihre Botschaft von Gott stammte. Daher werden seit jeher zwei lateinische Ausdrücke verwendet, um das Wesen der Heiligen Schrift zu beschreiben: verbum Dei (»das Wort Gottes«) und vox Dei (»die Stimme Gottes«). Die Reformatoren glaubten, dass Gott die Worte in der Bibel zwar nicht persönlich niedergeschrieben hat, dass sie deswegen aber nicht weniger seine Worte sind, als wenn sie uns direkt vom Himmel übermittelt worden wären.

In seinem zweiten Brief an Timotheus schreibt Paulus: »Alle Schrift ist von Gott eingegeben« (2 Tim 3,16a). Das griechische Wort graphē, das hier mit »Schrift« übersetzt wird, bedeutet einfach »Schriften«. Juden meinten mit graphē jedoch damals das Alte Testament. Außerdem war die Formulierung »es steht geschrieben« ein Fachausdruck, der sich nach ihrem Verständnis speziell auf die biblischen Schriften bezog. Dieser Text in 2. Timotheus ist sehr bedeutsam, denn der Begriff »Schrift« bezieht sich hier auf das Alte Testament und schließt auch die Schriften der Apostel im Neuen Testament ein, da diese sich ihrer Autorität bewusst waren, das neutestamentliche Wort Gottes zu überbringen, das ihnen durch den Heiligen Geist mitgeteilt wurde. (Beispielsweise schließt der Apostel Petrus die Schriften von Paulus in die übrige Heilige Schrift ein; vgl. 2 Petr 3,16. Paulus wiederum ist sich seiner eigenen Autorität bewusst, eine verbindliche Offenbarung mitzuteilen; vgl. 1 Kor 7,10–16.) Paulus stellt eine erstaunliche Behauptung auf, wenn er sagt, dass alle diese Schriften, alle graphē, auf göttlicher Inspiration beruhen.

GOTTGEHAUCHT

Das Wort, das im griechischen Grundtext »ausgehaucht« oder »eingehaucht« bedeutet, wird in den meisten Übersetzungen mit »von Gott eingegeben« übersetzt. Angesichts der langen Geschichte der Inspirationslehre müssen wir zwischen der Bedeutung in 2. Timotheus 3,16 und der Art und Weise, wie die Inspiration im Laufe der Kirchengeschichte verstanden wurde, unterscheiden.

B. B. Warfield wies einmal darauf hin, dass es bei 2. Timotheus 3,16 weniger darum geht, wie Gott seine Informationen (durch menschliche Schreiber) übermittelt hat, sondern wer die Quelle dieser Informationen ist. Wörtlich schreibt Paulus hier, dass die ganze Schrift theopneustos, d. h. »von Gott eingegeben« ist, was eher damit zu tun hat, dass Gott etwas aushaucht, als damit, wohin Gott etwas einhaucht. Paulus’ Worte haben Kraft, weil die ganze Schrift gottgehaucht ist. Da Ausatmen Exspiration und Einatmen Inspiration ist, müsste man diesen Satz eigentlich so übersetzen, dass die ganze Schrift durch ein »Ausatmen Gottes« und nicht durch »Inspiration« entstanden ist. Wenn Paulus darauf besteht, dass die ganze Schrift gottgehaucht ist, sagt er damit, dass ihr Ursprung Gott ist. Gott ist die Quelle dieser Schriften.

Wenn wir von Inspiration als Konzept sprechen, meinen wir das Wirken des Heiligen Geistes, der zu verschiedenen Zeiten auf die Menschen kam und sie mit seiner Kraft salbte, sodass sie inspiriert wurden, das wahre Wort Gottes aufzuschreiben. Dieses Wirken wird zwar in der Schrift nirgends näher beschrieben, aber die Bibel bezeugt klar, dass sie nicht menschlichen Ursprungs ist. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Lehre von der Inspiration erläutert, wie Gott über die Abfassung der Heiligen Schrift wachte.

Orthodoxe Christen wurden von einigen Theologen beschuldigt, eine mechanische Sicht der Inspiration zu lehren, die manchmal auch als »Diktat-Theorie« bezeichnet wird. Dabei sollen die Autoren der Heiligen Schrift einfach Worte von Gott diktiert bekommen haben – so wie ein Sekretär einen mündlich diktierten Brief Wort für Wort niederschreibt. Die Kirche hat sich im Lauf der Geschichte von dieser allzu vereinfachenden Inspirationstheorie distanziert, obwohl es Zeiten gab, in denen einige Geistliche diese Sichtweise übernahmen. So sagte Johannes Calvin beispielsweise, die Propheten und die Apostel hätten in gewissem Sinne Gott als amanuenses (Sekretäre) gedient. Als Überbringer der Worte Gottes waren sie Amanuenses, aber das erklärt nicht die Art und Weise der Inspiration.

Wir wissen nicht, wie Gott über die Aufzeichnung der Heiligen Schrift gewacht hat. Es ist jedoch entscheidend für die Kirche heute, dass das, was wir als Heilige Schrift vorliegen haben, unter der Aufsicht Gottes geschrieben wurde. Die Autoren haben nicht aus eigener Kraft geschrieben – obwohl ihre Texte die Persönlichkeit, den Wortschatz und die Anliegen der menschlichen Schreiber widerspiegeln. Hätten sie aus eigener Kraft geschrieben, würden wir erwarten, viele Fehler zu finden.

JEDES EINZELNE WORT

Überdies hat die Kirche von jeher geglaubt, dass die Bibel verbal inspiriert ist. Mit anderen Worten: Die Inspiration betrifft nicht nur allgemein die von den menschlichen Autoren übermittelten Informationen, sondern die einzelnen Wörter und Sätze der Schrift. Das ist einer der Gründe, warum die Kirche eifrig bemüht war, die Originalmanuskripte der Bibel so gut wie möglich zu rekonstruieren und die Bedeutung der alten hebräischen und griechischen Begriffe sorgfältig zu studieren. Jedes Wort besitzt göttliche Autorität.

Als Jesus bei seiner Versuchung in der Wüste mit Satan sprach, diskutierten sie über Zitate aus der Heiligen Schrift. Jesus konnte den Teufel oder die Pharisäer stets mit einem einzigen Wort widerlegen. Er sagte auch, weder der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz werde vergehen, bis alles erfüllt ist (vgl. Mt 5,18). Jesus meinte damit, dass es im Gesetz Gottes kein überflüssiges oder verhandelbares Wort gibt. Jedes einzelne Wort trägt das Gewicht der verbindlichen Autorität seines Urhebers.

In unserer Zeit, in der eine Lawine an Bibelkritik losgetreten wurde, gab es Versuche, dem Konzept der Inspiration zu widersprechen. Der deutsche Gelehrte Rudolf Bultmann (1884–1976) lehnte die Vorstellung vom göttlichen Ursprung der Schrift pauschal ab. Neoorthodoxe Theologen sind bestrebt, die kirchliche Lehre wiederherzustellen und der Bibel ein höheres Ansehen zu verschaffen, als sie im Liberalismus des 19. Jahrhunderts besaß. Allerdings lehnen sie die Verbalinspiration und propositionale Offenbarung ab. So sagte Karl Barth (1886–1968) beispielsweise, Gott offenbare sich durch Ereignisse und nicht durch Aussagen. Die Bibel ist jedoch nicht nur eine Aufzeichnung von Ereignissen, in der uns gesagt wird, was geschehen ist, und die uns dann überlässt, deren Bedeutung zu interpretieren. Vielmehr gibt sie uns sowohl einen Bericht von dem, was geschehen ist, als auch die autoritative, apostolische und prophetische Auslegung dieser Ereignisse.

Der Tod Jesu am Kreuz zum Beispiel wurde für uns aufgezeichnet und in den Evangelien und Briefen erklärt. Die Menschen betrachteten den Tod Jesu auf unterschiedliche Weise. Für viele seiner Anhänger war er eine tragische Enttäuschung. Für Pontius Pilatus und Kaiphas war er politisch von Nutzen. Wenn der Apostel Paulus die Bedeutung des Kreuzes erläutert, stellt er es als kosmischen Erlösungsakt dar – als Sühne, die angeboten wird, um der Gerechtigkeit Gottes Genüge zu tun, und als Wahrheit, die man nicht unmittelbar erkennt, wenn man nur das Ereignis an sich betrachtet.

Neoorthodoxe Theologen sagen auch, dass die Bibel keine Offenbarung ist, sondern ein Zeugnis von der Offenbarung, was die Autorität der Bibel erheblich schmälert. Sie behaupten, dass die Schrift zwar eine gewisse historische Bedeutung hat und Zeugnis für die Wahrheit ablegt, dass es sich bei der Schrift jedoch nicht um die Offenbarung an und für sich handelt. Im Gegensatz dazu bekennen orthodoxe Christen, dass die Bibel nicht nur Zeugnis von der Wahrheit ablegt, sondern selbst die Wahrheit ist. Sie ist göttliche Offenbarung. Sie weist nicht einfach über sich selbst hinaus – sie übermittelt uns nichts weniger als das wahre Wort Gottes.

6

Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit

Jede Diskussion über das Wesen der Heiligen Schrift, bei der es auch um die Frage der Inspiration geht, muss sich mit ihrer Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit befassen. Während der gesamten Kirchengeschichte war es die traditionelle Auffassung, dass die Bibel unfehlbar und irrtumslos ist. Mit dem Aufkommen der sogenannten historisch-kritischen Methode, insbesondere im 19. und 20. Jahrhundert, wurde jedoch nicht nur die Inspiration der Heiligen Schrift auf breiter Front angegriffen, auch die Konzepte der Unfehlbarkeit und Irrtumslosigkeit wurden scharf kritisiert.

Einige Kritiker behaupten, die Idee der Irrtumslosigkeit sei erst von den Protestanten im 17. Jahrhundert aufgebracht worden. Diese Epoche wird auch als »Zeitalter der protestantischen Scholastik« bezeichnet und sollte dem »Zeitalter der Vernunft« in der säkularen Philosophie entsprechen. Man argumentiert, die Irrtumslosigkeit als rationales Konstrukt sei den biblischen Autoren und sogar den Reformatoren des 16. Jahrhunderts unbekannt gewesen. Dagegen steht die Tatsache, dass nicht nur die Reformatoren die Heilige Schrift für irrtumslos hielten, sondern auch Kirchenväter wie Tertullian, Irenäus und insbesondere Augustinus. Noch mehr Gewicht hat der eigene Anspruch der Bibel, göttlichen Ursprungs zu sein. Für die Kirche ist es von großer Bedeutung, dass die Bibel selbst behauptet, durch göttliche Inspiration entstanden zu sein.

BEGRIFFSDEFINITIONEN

Die Kirche hat von Anfang an bestätigt, dass die Bibel als einziges schriftliches Werk der Geschichte unfehlbar ist. Das Wort unfehlbar kann definiert werden als »seinen Zweck nicht verfehlen«. Es bedeutet, dass etwas nicht in der Lage ist, einen Fehler zu machen. Aus sprachlicher Sicht ist der Begriff unfehlbar höher zu bewerten als der Begriff irrtumslos. Zur Veranschaulichung ein Beispiel: Ein Schüler kann einen Test mit zwanzig Fragen und zwanzig richtigen Antworten ablegen, womit er ein irrtumsloses Testergebnis erreicht. Seine Irrtumslosigkeit in diesem begrenzten Bereich macht ihn jedoch nicht unfehlbar, wie Fehler in späteren Tests beweisen würden.

Ein großer Teil der Kontroverse um die Frage der Inspiration kommt durch eine gewisse Verwirrung über die Begriffe Irrtumslosigkeit und Unfehlbarkeit. Anhand dieser beiden Aussagen möchte ich dies deutlich machen:

A.Die Bibel ist die einzige unfehlbare Autorität für Glauben und Leben.

B.Die Bibel ist einzig dann unfehlbar, wenn sie über den Glauben und das Leben spricht.

Beide Aussagen klingen ähnlich, sind aber grundverschieden. Im ersten Satz wird durch das Wort »einzige« die Heilige Schrift als alleinige unfehlbare Quelle der Autorität genannt. Die Schrift ist hier also die Autorität für unseren Glauben, d. h. sie ist maßgebend für das, was wir glauben, und sie ist die Autorität für unser Leben, d. h. sie ist maßgebend dafür, wie wir uns als Christen verhalten.

Im zweiten Satz ist das anders. Hier schränkt das Wort »einzig« einen Teil der Bibel selbst ein und besagt, dass sie nur dann unfehlbar ist, wenn sie über den Glauben und das Leben als Christ spricht. Diese Sichtweise wird als »begrenzte Irrtumslosigkeit« bezeichnet und ist heutzutage populär. Die Begriffe »Glauben« und »Leben« umfassen die Gesamtheit unseres Lebens als Christen, aber in der zweiten Aussage werden »Glauben und Leben« auf einen Teil der Lehre der Heiligen Schrift reduziert – wobei das, was die Bibel über Geschichte, Wissenschaft und Kultur sagt, außen vor bleibt. Mit anderen Worten ist die Bibel hier nur dann maßgebend, wenn sie über den religiösen Glauben spricht; ihre Lehren über alles andere werden als fehlbar betrachtet.

DIE AUTORITÄT CHRISTI

Letztendlich hängt die Frage der Autorität der Bibel von der Autorität Christi ab. In den 1970er-Jahren veranstaltete Ligonier Ministries eine Konferenz über die Autorität der Schrift.2 Gelehrte aus der ganzen Welt kamen zusammen, um die Frage der Irrtumslosigkeit zu erörtern. Ohne sich zuvor mit den anderen Teilnehmern abgesprochen zu haben, entschied sich jeder Einzelne dafür, das Thema aus christologischer Perspektive zu behandeln: Wie verstand Jesus die Heiligen Schrift? Der Wunsch dieser Gelehrten war es, eine Sicht der Bibel zu vertreten, die von Jesus selbst gelehrt wurde.

Die einzige Möglichkeit, um herauszufinden, was Jesus über die Bibel dachte, besteht darin, die Bibel zu lesen, was zu einem Zirkelschluss führt: Jesus lehrte die Irrtumslosigkeit der Bibel, aber wir wissen nur aus der Bibel, was Jesus gesagt hat. Es besteht jedoch selbst unter Kritikern weitgehende Einigkeit darüber, dass die am wenigsten umstrittenen Teile der Schrift im Hinblick auf ihre historische Authentizität diejenigen sind, die Jesu Aussagen über die Schrift enthalten. Unter Theologen gibt es keine ernsthafte Diskussion darüber, wie Jesus zur Bibel stand. Gelehrte und Theologen aller Richtungen, liberale wie konservative, sind sich einig, dass der historische Jesus von Nazareth dieselbe hohe, erhabene Auffassung von der Schrift vertrat und lehrte, die im Judentum des 1. Jahrhunderts üblich war: dass die Bibel nichts anderes ist als das inspirierte Wort Gottes. Jesu Auffassung von der Heiligen Schrift wird in den Evangelien deutlich: »Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis es alles geschieht« (Mt 5,18); »Die Schrift kann doch nicht gebrochen werden« (Joh 10,35); und »Dein Wort ist die Wahrheit« (Joh 17,17). Außerdem stützte sich Jesus häufig auf das Alte Testament und sagte oft nur: »Es steht geschrieben«, um einen theologischen Streit zu schlichten.

Es gibt nur wenige Gelehrte, die bezweifeln, dass Jesus von Nazareth das lehrte, was die Kirche seit zweitausend Jahren lehrt. Allerdings behaupten viele von ihnen, dass Jesus mit seiner Auffassung der Schrift falsch lag. Man kann sich über die Arroganz einer solchen Aussage christlicher Theologen nur wundern. Sie begründen ihre Behauptung damit, dass Jesus von der vorherrschenden Schriftauffassung der jüdischen Gemeinschaft seiner Zeit beeinflusst war, von der er als Mensch nicht wusste, dass sie fehlerhaft war. Sie sind schnell dabei, ihre Kritiker darauf hinzuweisen, dass es Dinge gab, die der Mensch Jesus trotz seiner göttlichen Natur nicht wusste. Als er zum Beispiel über den Tag und die Stunde seiner Wiederkunft befragt wurde, sagte Jesus seinen Jüngern, dass dies niemand wisse außer dem Vater (vgl. Mt 24,36), womit er zeigte, dass sein Wissen begrenzt war. Dies, so behaupten die Kritiker, könne als Entschuldigung dafür dienen, dass Jesus uns eine falsche Sicht der Schrift vermittelt hat.

Die orthodoxen Gelehrten entgegnen, dass die menschliche Natur Jesu zwar nicht das Attribut der Allwissenheit besaß, dass er aber auch nicht allwissend sein musste, um unser Erlöser zu sein. Seine göttliche Natur verfügte über Allwissenheit, seine menschliche Natur hingegen nicht. Es geht hierbei jedoch vielmehr um die Sündlosigkeit Christi. Es wäre sündhaft gewesen, wenn jemand, der behauptet, nichts anderes zu lehren als das, was er von Gott empfangen hat, einen Irrtum gelehrt hätte. Die Heilige Schrift vertritt eine Ethik, die besagt, dass nicht viele Lehrer werden sollen, weil diese strenger beurteilt werden (vgl. Jak 3,1). Als Lehrer habe ich die moralische Verantwortung, meine Schüler nicht zu belügen. Wenn sie mir eine Frage stellen, auf die ich keine Antwort weiß, darf ich ihnen das nicht verschweigen. Wenn ich unsicher bin, muss ich ihnen sagen, dass ich nicht weiß, wie ich antworten soll. Diese Vorsicht ist notwendig, weil ein Lehrer die Macht hat, das Denken seiner Schüler zu beeinflussen.

Kein Lehrer hatte jemals mehr Einfluss und größere Autorität als Jesus von Nazareth. Wenn er den Menschen sagte, dass Moses von ihm geschrieben hat, dass Abraham sich freute, seinen Tag zu sehen, dass das Wort nicht gebrochen werden kann und dass die Schrift wahr ist, sich dabei aber geirrt hat, dann ist er dafür verantwortlich. Er hätte offenlegen müssen, dass er sich bei diesen Aussagen auch irren konnte.

Wenn Jesus in einer so entscheidenden Frage wie der Autorität der Bibel falsch gelehrt haben soll, kann ich mir nicht vorstellen, dass irgendjemand ihn bei anderen von ihm gelehrten Dingen ernst genommen hätte. Obwohl Jesus sagte: »Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage?« (Joh 3,12), gibt es heutzutage Theologen, die behaupten, dass Jesus zwar in Bezug auf die himmlischen Dinge recht hatte, aber bei irdischen Dingen falsch lag.

Da uns die Bibel jedoch genügend zuverlässige historische Informationen liefert, um zu erkennen, dass Jesus ein Prophet war, und da Jesus selbst sagte, dass die Quelle dieser Informationen absolut zuverlässig ist, handelt es sich hierbei nicht um einen Zirkelschluss, sondern um progressive Argumentation. Wir haben uns von einem Ausgangspunkt historischer Offenheit hin zur Kritik, dann zu historischer Zuverlässigkeit, dann zu historischem Wissen über die Lehre Jesu und schließlich zur Lehre von Jesus selbst bewegt, der uns sagt, dass diese Quelle nicht nur einigermaßen, sondern absolut zuverlässig ist, weil sie Gottes Wort ist.