Jeder Schuss ein Treffer - Regina Ramstetter - E-Book

Jeder Schuss ein Treffer E-Book

Regina Ramstetter

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Beschreibung

Zehn Kriminalgeschichten zu den Spielorten der Fußball-EM 2024 von bekannten Autoren: Als für einen Berliner Oberligisten alles aus dem Ruder läuft. Wie ein Taschendieb in Düsseldorf böse Überraschungen erlebt. Warum ein Fan das Waldstadion nie verlassen hat. Wie in München ein Held geboren wird. Als ein Polizist nackt eine Einbrecherin durch Köln verfolgt. Wie ein Giftmord in Stuttgart zum Eigentor wird. Warum in Dortmund ein Halbfinale vergeigt wird. Wie drei Schalker Juden das Endspiel 1941 zur Flucht nutzen wollen. Tod in den Untiefen des Leipziger Stadions. Weshalb ein Unentschieden in Hamburg gute Seiten hat.

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Lutz Kreutzer (Hrsg.)

Jeder Schuss ein Treffer

Fußballkrimis

Zum Buch

Kriminelles Fußballfest Zehn Kriminalgeschichten zu den zehn Spielorten der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland von bekannten Autoren. Als für einen Berliner Oberligisten, der hoch hinauswill, alles aus dem Ruder läuft. Warum in Dortmund ein explosives Halbfinale vergeigt wird. Wie ein Ehemann, der den Fußball mehr liebt als seine Ehefrau, und ein Taschendieb in Düsseldorf böse Überraschungen erleben. Von einem Star mit einem Geheimnis und einem Fan, der das Frankfurter Waldstadion nie verlassen hat. Wie drei Schalker Juden die Radioübertragung vom Endspiel 1941 zur Flucht nutzen wollen. Warum ein Unentschieden in Hamburg auch seine guten Seiten haben kann. Weshalb ein nackter Polizist eine verliebte Einbrecherin durch Köln verfolgt und drei Fußballfans unter Mordverdacht geraten. Wie die Frage „Unfall oder Mord?“ in die Tiefen und Untiefen der Geschichte des Leipziger Stadions führt. Als beim Eröffnungsspiel in der Münchner Arena ein Held geboren wird und warum ein Giftmord beim Viertelfinale in Stuttgart zum Eigentor wird.

Lutz Kreutzer wurde 1959 in Stolberg geboren. Er schreibt Thriller, Krimis, Sachbücher und gibt Kurzgeschichtenbände heraus. Auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig sowie auf Kongressen coacht er Autoren. Am Forschungsministerium in Wien hat der promovierte Naturwissenschaftler ein Büro für Öffentlichkeitsarbeit gegründet. Er war lange als Manager in der IT- und Hightech-Industrie tätig. Über seine Arbeit wurden im Hörfunk und TV zahlreiche Beiträge gesendet. Er wurde mit mehreren Stipendien gefördert. In Aachen hat er neben dem Tivoli gewohnt, in Wien in der Nähe des Rapid-Stadions, danach lebte er in der Fußballhauptstadt München, bevor er sich gegenüber der Fußballarena Salzburg niedergelassen hat.

Mehr unter:www.lutzkreutzer.de

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Wo historische Persönlichkeiten auftreten, ist ihr Reden, Denken und Handeln so frei erfunden wie das der anderen Figuren.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen

insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG

(»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Daniel Abt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © AlenaPaulus / istockphoto.com

ISBN 978-3-8392-7972-4

Vorwort des Herausgebers

Liebe Fußballfans, liebe Krimiverrückte,

ich erinnere mich oft an ein wunderbares Erlebnis während der WM 2006, dem Sommermärchen in Deutschland. Ich war an einem strahlenden Junitag in München im Olympiapark beim Public Viewing. Das Spiel war fast Nebensache, denn ich war hier, um die Gänsehautatmosphäre vor der Riesenleinwand zu genießen. In der Mitte des Olympiasees war sie aufgebaut, an dessen Uferböschung Tausende Zuschauer saßen. Im ersten Stock des neu erbauten Holzblockhauses, in dem ein Thekenbetrieb war, traf ich auf zwei Fußballverrückte, der eine aus England, der andere war Schotte. Sie trugen stolz ihre Nationaltrikots – obwohl die schottische Mannschaft es gar nicht in die Endrunde geschafft hatte.

Wir standen zufällig nebeneinander, beobachteten aus dem breiten Fenster das Spiel und hielten jeder ein frisch gezapftes Bier in Händen. Wir taxierten uns kurz, ich lächelte sie an, wir prosteten einander zu, und wir kamen ins Gespräch. Sie erzählten mir, dass sie bereits in der Vorrunde in verschiedenen deutschen Städten beim Public Viewing gewesen waren und dass es jedes Mal ein unglaubliches Fest gewesen sei. »What a country! Amazing friendly people. Wonderful beer!« Sie gaben sich sehr überrascht von den Deutschen, so freundlich, von dem Land, so wunderbar. Wenn in ihrer Heimat über Deutschland berichtet würde, sagten sie fast beschämt, dann oft über ein graues Land mit mürrischen Menschen. Sie sprachen den Wunsch aus, dass jeder Brite einmal im Leben mindestens zwei Wochen Urlaub in Deutschland machen solle, damit sie sähen, dass alles anders sei. Wir verbrachten den ganzen Abend zusammen, ich kann mich erinnern, wie glücklich mich das damals machte.

Fußball ist eben nicht nur ein Spiel, sondern gerade internationale Wettbewerbe sind zu gesamtgesellschaftlichen Ereignissen geworden. Ich wünsche mir, dass die Europameisterschaft 2024 ähnlich wird, dass sich die Gäste aus ganz Europa bei uns wieder so wohlfühlen werden, dass wir uns in Deutschland erneut von unserer besten Seite zeigen dürfen, dass Frauen wie Männer die Fanmeilen bevölkern mögen. Wie sagte Franz Beckenbauer damals: »So hat der liebe Gott sich die Welt vorgestellt.« So soll es wieder werden. Hoffen wir auf gute Spiele, friedliche Fans und gutes Wetter. Dann wird das klappen!

Aber halt! Das allgemeine Wohlbehagen möchten wir doch ein wenig stören und Ihnen ein paar mörderische Geschichten präsentieren. Lesen Sie in diesem Band zehn Kurzkrimis von elf Autorinnen und Autoren, für jede ausrichtende Stadt der EM ٢٠٢٤ ein eigenes böses Geschehnis. Begeben Sie sich mit der Autorenelf und ihrem Krimi-Coach auf eine spannende Deutschlandreise, von Hamburg über Dortmund und Frankfurt bis Stuttgart und München, von Köln über Düsseldorf und Gelsenkirchen bis Leipzig und Berlin.

Viel Spaß beim Schmökern und Ballern wünscht

Ihr Lutz Kreutzer

Herausgeber

Ausgleich in der Nachspielzeit

von Jürgen Ehlers

Hamburg

Professor Schulz saß an seinem Schreibtisch und überlegte. Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht. Zugegeben, dieser Prüfling war ihm zutiefst unsympathisch, und er war durchaus zufrieden damit, dass er die Prüfung nicht bestanden hatte. Andererseits hat ein Prüfer jederzeit die Möglichkeit, das mündliche Examen in die eine oder in die andere Richtung zu lenken, und von dieser Möglichkeit hatte er Gebrauch gemacht.

Es war bekannt, dass Schulz bei seinen Prüfungen durchaus einige Fragen einbaute, bei denen es nicht so sehr darauf ankam, sachlich richtige Antworten zu geben, sondern vielmehr darum, dass der Prüfling zeigen sollte, wie er sich bei einer überraschenden Frage aus der Affäre ziehen konnte. So hatte Schulz gleich zu Anfang die Frage gestellt: »Wie viele Gezeitenkraftwerke gibt es in Finnland?«

Tobias Krüger hatte die kleine HSV-Fahne auf dem Schreibtisch angestarrt, dann den Professor. Der Student riss sich zusammen. »Nicht sehr viele«, antwortete er.

Das war nicht völlig falsch.

»Genauer«, hatte Schulz verlangt.

»In Finnland gibt es gar kein Gezeitenkraftwerk«, hatte Krüger präzisiert.

Das war richtig. Aber der Prüfling hätte jetzt die Gründe erläutern sollen. Doch Krüger schwieg.

»Warum nicht?«, hatte Schulz schließlich wissen wollen.

Daraufhin hatte Krüger die hohen Kosten für ein Gezeitenkraftwerk aufgeführt.

Ja, die Kosten waren hoch. Hinzu kamen ökologische Bedenken. Jedoch war das eigentliche Problem im Falle Finnlands natürlich der zu geringe Tidenhub. Bei herkömmlichen Gezeitenkraftwerken lag dieser in der Regel bei deutlich über zehn Metern. Die waren in Finnland nirgendwo erreichbar. In Helsinki lag der Tidenhub bei einem Meter.

Schulz hätte es damit bewenden lassen sollen, aber ihn hatte der Teufel geritten. Er hatte als Alternative zur Ostseeküste den Bau eines Gezeitenkraftwerks an der Küste der Barentssee vorgeschlagen. Diesen Vorschlag hatte der Beisitzer mit einem Stirnrunzeln kommentiert. Zwar gab es an der Barentssee, wie Schulz anschließend ausführte, eine russische Versuchsanlage in Kislaja Guba, die sogar mit dem relativ geringen Tidenhub von fünf Metern auskam. Allerdings hatte Finnland keine Verbindung zur Barentssee, was Krüger ganz offensichtlich nicht wusste.

Nach diesem eindrucksvollen Fehlstart hatte Schulz eine ganze Serie von Fragen folgen lassen, bei denen er von vornherein ahnte, dass der Prüfling sie nicht würde befriedigend beantworten können. Konsequenterweise war er letztlich durchgefallen.

»Tut mir leid«, hatte Schulz behauptet.

Der Beisitzer sagte so leise, dass der Prüfling es nicht hören konnte: »Fair war das nicht.«

»Das Leben ist nicht fair«, hatte Schulz geantwortet. »Aber in vielen Fällen gibt es den Verlierern eine zweite Chance. Und in diesem Fall würde ich empfehlen, es vielleicht bei einem anderen Prüfer noch mal zu probieren.«

Diesen Ratschlag schien Tobias Krüger nicht beherzigen zu wollen. Er verkündete stattdessen: »Ich komme wieder, Herr Professor. Und das nächste Mal bin ich wesentlich besser vorbereitet, das schwöre ich Ihnen.«

Einen Moment lang hatte Schulz das Gefühl, dass das eine versteckte Drohung war, aber so leicht ließ er sich nicht erschrecken.

*

Schulz erzählte seiner Frau, was passiert war. Beate schüttelte den Kopf. »Was machst du nur für Sachen?«

»Wieso? Ich fand das lustig.«

»Lustig? So kannst du einen Prüfling nicht behandeln. Das ist zynisch und gemein. Diese Prüfung, die soll doch dazu dienen, diesem Studenten Selbstsicherheit zu geben. Stattdessen setzt du deine ganze Energie da rein, den jungen Mann aufs Kreuz zu legen.«

Das wollte Schulz nicht einsehen. »Er hätte auf jede dieser Fragen eine vernünftige Antwort geben können. Das sind keine Wissensfragen. Mit etwas Nachdenken hätte jeder die richtige Lösung finden können.«

»Ach, Hartmut, es ist lange her, dass du selbst eine solche Prüfung ablegen musstest. Wahrscheinlich hast du vergessen, wie das ist. Denk darüber nach.«

»Ich hatte gedacht, dass wir jetzt irgendetwas essen gehen …«

»Nein, Hartmut, das tun wir nicht. Mir ist nicht danach. Ich gehe ins Kino.«

»Wir könnten doch zusammen …« Während er sprach, wusste er schon, wie die Antwort lauten würde.

Beate schüttelte den Kopf.

»Ich geh noch mal ins Institut«, murmelte Hartmut.

Beate nickte. »Wir sehen uns nachher.«

*

Tobias Krüger hatte keine Beate, mit der er sich streiten konnte. Er hatte niemanden. Nein, eigentlich stimmte das nicht. Da waren ja seine Eltern. Seine Mutter wäre enttäuscht. Aber sie würde gar nichts sagen. Sie würde ihn nur still ansehen. Sein Vater hielt große Stücke auf ihn und glaubte unerschütterlich daran, dass sein Sohn ein blendendes Examen machen und anschließend promovieren würde. Er würde ihm Vorwürfe machen. Viele Vorwürfe. Die meisten davon kannte er bereits. Faulheit, Arroganz, Wankelmütigkeit.

Faulheit – das war nicht ganz unberechtigt. Arroganz – Tobias fühlte sich nicht arrogant. Hätte er diesem Schulz in den Arsch kriechen sollen? Wankelmütig – nein, Tobias war nicht wankelmütig. Im Gegenteil. Er war zum Äußersten entschlossen.

Professor Schulz musste weg. Es wäre ein Leichtes, ihn über den Haufen zu schießen. Theoretisch zumindest. Wenn man denn eine Schusswaffe hatte. Tobias hatte keine. Er würde sich eine Pistole besorgen müssen. Am leichtesten wäre es natürlich, in einen Schützenverein einzutreten, die erforderlichen Prüfungen abzulegen und dann eine Waffe zu kaufen. Aber das dauerte alles viel zu lange. Er wollte nicht jahrelang warten. Er wollte seine Rache jetzt. Sofort.

Die Pistole zu beschaffen war leichter, als Tobias gedacht hatte. Der Ingo aus seiner früheren Klasse hatte schon immer mit seinen Beziehungen zur Unterwelt geprahlt. Der kannte sich aus auf St. Pauli. 300 Euro wollte er haben für eine Makarow. Einschließlich Munition.

Tobias nickte.

»Die ist gebraucht«, sagte Ingo. Er wies Tobias darauf hin, dass die Waffe bei irgendeiner Schießerei benutzt worden sei und dass sie niemals bei ihm gefunden werden dürfe.

Tobias versprach, dafür zu sorgen. Schon in seinem eigenen Interesse.

»Bist du am Freitag dabei?«, fragte Ingo. Er war auch HSV-Fan.

Ja, Tobias würde dabei sein.

Blieb nur das schwierigste Stück: den Professor erschießen, ohne dabei erwischt zu werden.

*

Freitagabend. HSV gegen St. Pauli. Heimspiel im Volksparkstadion. Anpfiff: 18.30 Uhr. Einlass 90 Minuten vorher. Seine Freunde würden auf jeden Fall hingehen, das wusste Tobias. Er hatte sich einen Stehplatz auf der Nordtribüne gesichert und war zusammen mit den Kumpeln rechtzeitig angereist. Sie hatten in der U-Bahn und anschließend im Bus großartige Gesänge losgelassen – sehr zum Schrecken der übrigen Fahrgäste. Auf Pauli-Fans waren sie nicht gestoßen, und so ging die Anreise außerordentlich friedlich ab – zum Glück. Tobias konnte jetzt keinen Ärger gebrauchen.

Gemeinsam waren sie bis zum Eingang marschiert und hatten weitergesungen. Dann hatte Tobias in die Jackentasche gegriffen. »So ein Mist!«

»Was ist denn los?«

»Ticket vergessen! Aber kein Problem, es ist ja noch genug Zeit. Wir sehen uns im Stadion!«

»Beeil dich!« Ingo sah besorgt auf die Uhr.

Tobias lachte nur und machte sich auf den Weg.

Sie würden sich nicht im Stadion sehen. Aber alle würden bezeugen können, dass Tobias die ganze Zeit im Stadion gewesen war, wenn er rechtzeitig zum Schlusspfiff wieder am Ausgang war. Er sah auf die Uhr. Bis zum Spielbeginn waren es knapp 50 Minuten. Dann das Fußballspiel – 2 mal 45 Minuten plus 15 Minuten Halbzeitpause. Das sollte auf jeden Fall ausreichen.

Der Plan, den Tobias Krüger ausgearbeitet hatte, würde allerdings nur funktionieren, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt waren. Der entscheidende Punkt bestand darin, dass Professor Schulz tatsächlich zur vorgesehenen Zeit am vorgesehenen Ort sein würde. Der Ort war klar: das Arbeitszimmer des Professors im achten Stock des Geomatikums, des Hochhauses, in dem die Geowissenschaften der Universität Hamburg untergebracht waren. Die Zeit war auch klar: ungefähr eine halbe Stunde nach Anpfiff.

Natürlich war es eher unwahrscheinlich, dass einer der Professoren an einem Freitagabend um 19 Uhr noch in seinem Arbeitszimmer saß und arbeitete. Kein normaler Mensch würde das tun. Aber Schulz war kein normaler Mensch. Selbst an Wochenenden war er oft an seinem Arbeitsplatz zu finden. Er war verheiratet, möglicherweise unglücklich, vielleicht vermied er es deshalb, länger als nötig zu Hause zu sein.

Ein zweiter Punkt war, dass außer Tobias Krüger und dem Professor zu der vorgesehenen Zeit niemand im achten Stock des Geomatikums sein durfte. Der Schuss war natürlich nicht unhörbar, die Makarow hatte ja keinen Schalldämpfer, aber Tobias baute darauf, dass durch das System der zahlreichen Feuerschutztüren der Schall nicht bis ins Treppenhaus dringen würde, schon gar nicht bis ins Erdgeschoss, wo der Hausmeister in seiner Kabine saß und las oder schlief.

*

Nicht alle Eventualitäten ließen sich bei der Planung berücksichtigen. Ein Punkt, mit dem Krüger überhaupt nicht gerechnet hatte, war seine Mutter. Susanne Krüger hatte gestern beim Aufräumen die Pistole entdeckt. Eine Pistole war gefährlich. Als Mutter wollte sie nicht, dass ihr Sohn mit gefährlichen Dingen herumhantierte. Natürlich war sie keine Expertin im Umgang mit Schusswaffen, aber nach kurzem Herumprobieren hatte sie herausgefunden, wie man das Magazin herausnehmen konnte. Das hatte sie getan, die Patronen entnommen und das Magazin wieder eingeschoben. Nun war die Pistole schon sehr viel ungefährlicher. Dass noch eine Kugel im Lauf stecken könnte, ahnte sie nicht.

*

Ein weiterer Punkt, den Tobias Krüger nicht hatte voraussehen können, war, dass der Professor vielleicht im entscheidenden Moment nicht da sein würde. Krüger hatte sich durch einen Blick auf die Fassade des Hochhauses versichert, dass in dem fraglichen Zimmer im achten Stock Licht brannte. Der Eingang zum Geomatikum war offen, wie er erwartet hatte, und der Hausmeister nahm keine Notiz von ihm. Krüger fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben. Kein Mensch zu sehen. Schon stand er vor der Tür des Professors. Auf sein Klopfen antwortete niemand, die Tür war verschlossen. Was jetzt? Professor Schulz war ein ordentlicher Mensch. Er wäre sicher nicht nach Hause gegangen, ohne das Licht auszuschalten. Wahrscheinlich war er nur kurz weggegangen. Vielleicht aufs Klo.

Stühle gab es nicht. Krüger setzte sich im Flur auf den Fußboden und wartete. Es zeigte sich sehr rasch, dass das Sitzen auf dem harten Linoleum äußerst unbequem war. Der Professor kam nicht. Er war nicht nur kurz pinkeln gegangen. Krüger stand auf, streckte sich, lehnte sich gegen die Wand und wartete weiter. Professor Schulz war auch HSV-Fan. Vielleicht war er im Stadion? Nein, wahrscheinlich nicht.

Tobias Krüger begriff allmählich, dass der Mord nicht ganz so glatt ablaufen würde, wie er sich das vorgestellt hatte. Er war davon ausgegangen, dass der Professor in seinem Sessel säße, mit Blick auf die Tür. Vielleicht würde er aufspringen, wenn Krüger hereinkäme, vielleicht auch nicht, jedenfalls wäre er hinter dem Schreibtisch gefangen, und es würde keine Schwierigkeit bereiten, ihn aus kürzester Entfernung niederzuschießen. Dass das gelingen würde, stand außer Frage.

Krüger hatte gleich nach dem Erwerb der Waffe spätabends im Stadtpark geübt. Die Plastik »Diana auf der Hirschkuh« hatte er sich als Zielscheibe ausgesucht. Nach Einbruch der Dämmerung war dort nie jemand. Zumindest hatte er das geglaubt. Der Künstler hatte die sitzende Diana zwar etwas größer dargestellt als den sitzenden Professor, aber das hatte Krüger dadurch ausgeglichen, dass er einen etwas größeren Abstand wählte. Tobias Krüger hatte gezielt und geschossen. Der Rückschlag hatte ihn überrascht – aber nur beim ersten Schuss. Querschläger waren durch die Luft gesirrt. Krüger hatte ein ums andere Mal geschossen, bis plötzlich irgendwelche erbosten Spaziergänger herbeigeeilt waren und der Student sich durch eine rasche Flucht in Sicherheit hatte bringen müssen.

Das würde hier nicht passieren. Die Situation auf dem Flur im achten Stock war eine völlig andere. Wenn der Professor jetzt kam, vermutlich von den Fahrstühlen her, würde er in ungefähr 20 Metern Entfernung plötzlich um die Ecke biegen, und dann … Ja, was dann? Direkt schießen? Das erschien Krüger zu billig. Nein, irgendeinen dramatischen Satz würde er dem Mann entgegenschleudern. »So sieht man sich wieder, Herr Professor! Die erste Runde ging an Sie, aber jetzt bin ich am Drücker!« War das gut genug?

In diesem Augenblick bog Professor Schulz um die Ecke.

»So sieht man sich wieder …!«, rief Krüger. Er zog die Pistole.

Da ging das Flurlicht aus. Im nächsten Moment war der Professor verschwunden. Krüger hastete los, drückte den Schalter für die Flurbeleuchtung, die zögernd ansprang. Der Flur war leer. Krüger raste zum Treppenhaus. Aber hier war niemand. Ein Blick auf die Anzeigetafeln. Einer der Fahrstühle war auf dem Weg nach unten. Oft hatte er sich darüber geärgert, wie unendlich langsam die Fahrstühle im Geomatikum arbeiteten. Diesmal kam ihm dieser Mangel entgegen. Er riss die Tür zum Notausgang auf und sprintete los.

Der Fahrstuhl war schneller. Als Krüger unten ankam, sah er, wie der Hausmeister aus seiner Kabine kam und auf Professor Schulz zulief. Krüger zog sich den HSV-Schal vor das Gesicht. Der Professor sah ihn, ließ den Hausmeister stehen und rannte zum Ausgang. Tobias Krüger steckte die Pistole ein. Hier konnte er nicht schießen. Er hastete hinter dem Professor her. Die Schwingtür schlug ihm entgegen. Als er draußen war, sah er gerade noch, wie Hartmut Schulz nach links um die Ecke lief. Kein Zweifel, er wollte zur U-Bahn. Jetzt hatte Tobias Krüger freies Schussfeld. Leichter Schneeregen, dennoch gute Sicht. Krüger schoss. Der Professor stürzte zu Boden.

War es ein Kopfschuss? Ja, kein Zweifel, das war ein Kopfschuss. Krüger sah das Blut. Er wollte im Vorbeilaufen ein paar weitere Schüsse auf den am Boden liegenden Kerl abgeben. Zur Sicherheit. Aber die Waffe versagte. Er hielt kurz inne. Das Magazin war leer. Verdammt! Er war sich ganz sicher, dass er nach der Jagdszene im Stadtpark nachgeladen hatte. Oder doch nicht?

Egal, nichts wie weg! Krüger steckte die Waffe ein und ging mit raschen Schritten in Richtung U-Bahn. Hinter ihm schrie eine Frau. Krüger beschleunigte seine Schritte, fing an zu rennen. Er kam zu spät. Als er mit der Rolltreppe nach unten fuhr, verschwand die U2 gerade im Gleistunnel. Das machte nichts. Die Bahn fuhr alle fünf Minuten. Zum Glück hatte Krüger nicht nur an die Waffe gedacht, sondern auch an genügend Alkohol. Er genehmigte sich einen ordentlichen Schluck Korn.

Ein Blick auf die Uhr. Tobias Krüger erschrak. Die ganze Aktion hatte viel länger gedauert als geplant. Das Spiel war aus, die Fans längst auf dem Weg nach Hause. Und sein Alibi war zum Teufel! Er nahm noch einen Schluck, band sich den blau-weiß-schwarzen Schal wieder um. Vielleicht war ja nicht alles verloren. Ein junger Mann neben ihm starrte auf sein Handy. Er hatte offensichtlich das Spiel verfolgt. »Wie ist es ausgegangen?«, fragte Krüger.

»Ausgegangen? Sie spielen doch noch.«

Ah, verdammt! Die Nachspielzeit! Krüger hatte nicht an die Nachspielzeit gedacht.

»Pauli führt«, sagte der Mann.

Das war völlig egal. Hauptsache, das Spiel war noch nicht zu Ende.

Als Krüger am Eingang ankam, ging gerade ein Aufschrei durch das Stadion. Der HSV hatte in der 93. Minute den Ausgleich erzielt. Krüger kippte sich einen weiteren Schluck aus der Flasche in den Rachen. Man kriegte schnell kalte Füße, wenn man hier im Freien herumstand. Das Spiel lief weiter. Wie lange sollte das denn noch dauern? Krüger trat von einem Bein auf das andere. Er hätte sich wärmer anziehen sollen.

Noch ein Schluck! Ja, da fühlte er sich gleich viel besser. Und dann, endlich, endlich war das Spiel aus. Tobias Krüger entdeckte seine Freunde sofort. Ingo mit der großen HSV-Fahne war nicht zu übersehen. Als er Tobias Krüger sah, nahm er ihm die Flasche ab und trank ein paar beherzte Züge. »Das war ein Spiel!«, sagte er. »Erst dieses verrückte Eigentor und gleich danach das 2:0.« Er schüttelte den Kopf.

Krüger hatte inzwischen den Überblick verloren, aber auch das war völlig egal. Seine Freunde und er schafften es, sich in einen der ersten Busse zu drängen. »Und dann dieser Schuss!«, rief er. »Aus vollem Lauf, 20 Meter, auf den Kopf – rein!«

»Was?«, lallte Ingo. So einen Schuss hatte er nicht gesehen.

Die U2 ab Hagenbeck war natürlich überfüllt wie immer. Krüger grölte: »Wir sind der HSV, ganzes Leben schwarz-weiß-blau! Wir sind der HSV, nur der HSV!«

Die Freunde sangen mit.

Tobias Krüger war begeistert. Vor allem von sich selbst. Er wollte noch einen Schluck aus der Kornflasche nehmen, aber sie war leer. Weg damit. Er zerrte an der Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Ingo drückte auf Nothalt, löste damit die Türsicherung, und Tobias schmiss die Flasche in hohem Bogen nach draußen, quer durch den Tunnel. Die Bahn fuhr gerade in die Kurve vor dem Bahnhof Osterstraße. Krüger verlor das Gleichgewicht. Dass Ingo schrie, war das Letzte, was Tobias in seinem Leben hörte, als er nach draußen fiel und gegen den Pfeiler knallte.

Halbfinale für Chuck

von Matthias Bieling

Dortmund

Polizeioberkommissar Bert Giesing blickte zu seinem Kollegen hinüber, der sich auf eine Fensterbank im Schlagschatten des Treppenaufganges fläzte. Matt schob Bert die Uniformmütze in den Nacken. Es würde noch heißer werden, bis das Spiel stattfand, und er würde bis dahin noch einige Dienststunden im Objektschutz abschwitzen müssen. Aber die Hitze war sicher ein kleiner Vorteil für die Mannschaft, die völlig unerwartet den Weg ins zweite EM-Halbfinale nach Dortmund geschafft hatte.

Berts Partner auf der Fensterbank trank einen Schluck aus der Wasserflasche, die er neben sich gelagert hatte. Beim Tippspiel auf der Wache hatte Bert im Gegensatz zu ihm auf den Sieg des Außenseiters am kommenden Mittwoch getippt. Es würde eine ganz ansehnliche Summe geben, wenn der große Favorit über die Betonabwehr des Underdogs stolperte. Dazu kam der beherzte Angriffsfußball der Überraschungsmannschaft und die Knipsereigenschaft des einzigen Stürmers, die Bert hoffnungsvoll stimmten. »Wundergranate« hatte die Presse diese Stürmerneuentdeckung getauft. Es galt als ausgemachte Sache, dass er demnächst in der Premier League zu einem Höhenflug ansetzen würde, und die Spekulationen, welcher Verein in England ihn bald unter Vertrag nahm, waren jeden Tag einen Bericht in den Sportkolumnen wert.

Am Abend des Halbfinales hatte Bert dienstfrei und er würde zum Public Viewing in den Westfalenpark gehen. Von dort konnte man gut hören, was vor sich ging im nahegelegenen Stadion mit den gelben Pylonen, das aus unerfindlichen Gründen für dieses Turnier den Namen BVB Stadion trug. Ansonsten war es nach einem Versicherungskonzern benannt und für alle richtigen Fans hieß es immer noch Westfalenstadion. Mit den Großbildleinwänden und der besonderen Stimmung war Public Viewing wahrscheinlich sogar besser, als das Spiel im Stadion zu verfolgen. Karten konnte er sich sowieso nicht leisten. Es würde ein tolles Fest werden und er freute sich darauf.

Bert hatte sich gerade alle Spieler nach der Rückkehr von ihrer Trainingseinheit beim Aussteigen aus dem Bus genau angesehen, bevor sie in der Kühle der Lobby verschwunden waren. Sie sahen alle topfit aus, waren hoch motiviert und kamen offenbar hervorragend mit dem Wetter zurecht. Beste Voraussetzungen also.

Schade, dass er allein gehen musste. Nachdem seine Frau ihn verlassen hatte, war er eine Zeit für sich geblieben und hatte sich nicht mehr um andere gekümmert. Er konnte nicht sagen, warum. Vielleicht aus Scham, vielleicht aus Bequemlichkeit. Jedenfalls hatten die Kollegen und Freunde irgendwann aufgegeben, sich um seine Gesellschaft zu bemühen. Klar, niemand mied ihn bewusst, das nicht, aber er gehörte eben nicht mehr dazu.

Die vor dem Hotel auf Autogramme lauernden Fans hatten sich ohne Ausnahme in den Schatten einiger Bäume zurückgezogen. Es war klar, dass so schnell niemand mehr herauskommen würde, denn die Spieler begaben sich nun auf ihre Zimmer zur Regeneration.

Irgendwie konnte Bert seine Ex-Frau verstehen: Schichtdienst, zu viele Überstunden und ständig diese Angst, dass ihm im Dienst etwas zustoßen könnte. Er hatte überlegt, den Beruf zu wechseln, aber was sollte er machen? Er hatte doch nur Polizist gelernt. Und der Mensch ist ein Gewohnheitstier, und so war er halt dabeigeblieben. Er redete sich ein, ihr wäre die Trennung nicht schwergefallen, weil sie keine Kinder hatten. Kinder, ja, die hätten alles verändert. Aber so war es nun mal nicht gekommen.

Im obersten Stockwerk des Hotels blickte Chuck Reiners den letzten Spielern und Betreuern nach, die miteinander plaudernd und scherzend zu ihren Zimmern schlenderten. Seinen Servierwagen hatte er nahe des Zugangs zum Treppenhaus in einer kleinen Nische abgestellt, um den Ausgang aus dem Lift nicht zu behindern. Aber keiner der Spieler hatte den Aufzug benutzt, alle hatten die Treppe genommen. Wohl aus Trainingsgründen, dachte sich Chuck.

Chuck hieß eigentlich Karl, fand jedoch, dass er für seine angestrebte Karriere einen eingängigeren Namen brauchte, und hatte deshalb auf Chuck gewechselt. Es hatte etwas gedauert, aber da er jeden korrigierte, der ihn Karl nannte, hatte es irgendwann geklappt und er war jetzt für jeden Chuck. Leider stockte sein Journalismusstudium an der Uni Dortmund etwas, denn er hatte die Zulassung zur Bachelorarbeit verpasst. Angeblich, weil er seine Eignung zur journalistischen Arbeit im Praxisteil nicht habe nachweisen können. Lächerlich! Und da die praktische Studienleistung nur zweimal wiederholt werden konnte, war jetzt eigentlich Ende Gelände.

Aber er hatte einen Plan.