Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise - Jean-Paul Dubois - E-Book

Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise E-Book

Jean-Paul Dubois

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Prix Goncourt 2019 – der Nummer-1-Bestseller aus Frankreich Warum sitzt ein unauffälliger Mensch wie Paul Hansen im baufälligen Gefängnis von Montréal? Der in Frankreich aufgewachsene Sohn eines dänischen Pastors und einer Kinobesitzerin hatte schon einiges hinter sich, bevor er seine Berufung als Hausmeister in einer exklusiven Wohnanlage in Kanada fand. Ein Vierteljahrhundert lang lief alles rund – die Heizungsanlage ebenso wie die Kommunikation, bis Paul eines Tages die Sicherung durchbrennt. Nun erträgt er mit stoischer Ruhe seinen Zellengenossen Patrick, einen Hells-Angels-Biker, der sich jedoch von einer Maus ins Bockshorn jagen lässt. Paul hat viel Zeit zum Nachdenken – Zeit für tragikomische Lebenslektionen und unerwartetes Glück.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 313

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Warum sitzt ein unauffälliger Mensch wie Paul Hansen im baufälligen Gefängnis von Montréal? Der in Frankreich aufgewachsene Sohn eines dänischen Pastors und einer Kinobesitzerin hatte schon einiges hinter sich, bevor er seine Berufung als Hausmeister in einer exklusiven Wohnanlaga in Kanada fand. Ein Vierteljahrhundert lang lief alles rund – die Heizungsamlage ebenso wie die Kommunikation, bis Paul eines Tages die Sicherung durchbrennt. Nun erträgt er mit stoischer Ruhe seinen Zellengenossen Patrick, einen Hells-Angels-Biker, der sich jedoch von einer Maus ins Bockshorn jagen lässt. Paul hat viel Zeit zum Nachdenken – Zeit für tragikomische Lebenslektionen und unerwartetes Glück.

 

 

 

 

Für Hélène,

Für Tsubaki, Arthur und Louis.

Für Vincent Landel, der mir fehlt.

Im Andenken an Jean-Michel Tarascon und Michel Ramonet.

In zärtlicher Liebe für Geneviève, Claire und Didier.

In tiefer Dankbarkeit für Serge Asselin

für seine freundschaftliche Hilfe und

sein wertvolles Fachwissen.

Voller Zuneigung für Frédéric,

für Oïta ein langes Leben.

Voller Anhänglichkeit für Pascal,

einen Gentleman des Nordens,

und für den transkanadischen Beiwagenfahrer Guy.

 

 

 

 

»All das lässt einen an die Abfolge der Tage denken, der nichts Form oder Richtung gegeben hat, die nichts belebt oder beseelt und in der nichts einen Sinn ergibt.«

Rosalind Krauss

 

 

»Irgendwie muss man den Tag ja bereinigen. Hab auf der Rennbahn heute zehn Dollar verloren. Auch nicht gerade sinnvoll. Oder so sinnvoll wie einen Schwung fetttriefender Pfannkuchen vollzuwichsen.«

Charles Bukowski, Über das Schreiben

DAS GEFÄNGNIS AM FLUSS

Seit einer Woche schneit es. Durch das Fenster betrachte ich die Nacht und höre der Kälte zu. Hier drin sind Geräusche. Besondere, unangenehme Geräusche, die einen glauben lassen, das in den Schraubstock des Eises gezwängte Gebäude stieße eine beklommene Klage aus, als würde es sich quälen und unter dem Druck zerbrechen. Zu dieser Stunde schläft das Gefängnis. Nach einer gewissen Zeit, wenn man sich an seinen Stoffwechsel gewöhnt hat, hört man im Dunkeln sein Atmen wie das eines großen Tiers, hin und wieder Husten und sogar Schlucken. Das Gefängnis verschlingt uns, verdaut uns, und, zusammengerollt in seinem Bauch, gekauert in die nummerierten Falten seiner Gedärme, zwischen zwei Magenkrämpfen, schlafen und leben wir, so gut es geht.

Die Haftanstalt Montreal, auch Bordeaux genannt, weil sie in einem ehemaligen Stadtviertel dieses Namens errichtet wurde, liegt am Boulevard Gouin Ouest Nummer 800, am Rand des Rivière des Prairies. 1357 Häftlinge. 82 hingerichtet durch den Strang. Bis 1962. Früher einmal, bevor dieses Zwangsuniversum erbaut wurde, muss der Ort herrlich gewesen sein, mit seinen Birken, Ahorn- und Essigbäumen, mit den hohen Gräsern, die von durchziehenden wilden Tieren umgeknickt wurden. Heute sind Ratten und Mäuse die einzigen Überlebenden dieser Fauna. Und ihrer anspruchslosen Natur entsprechend haben sie diese geschlossene Welt aus eingekerkertem Leid wiederbevölkert. Sie scheinen sich mit der Haft bestens zu arrangieren, ihre Kolonie breitet sich immer weiter aus, in allen Trakten des Bauwerks. Nachts hört man deutlich, wie die Nager in den Zellen und Fluren aktiv sind. Um ihnen den Zugang zu versperren, schieben wir zusammengerollte Zeitungen und alte Kleidungsstücke unter die Türen und vor die Lüftungsschlitze. Aber es nutzt nichts. Sie schlüpfen hindurch, drängen sich vorbei, schleichen sich ein und tun, was sie zu tun haben.

Die Art von Zelle, in der ich lebe, wird Condo genannt, was Wohnung heißt. Man hat dem Raum diese ironische Bezeichnung verpasst, weil seine Größe leicht über dem Standardmodell liegt, das den uns verbliebenen Rest Menschlichkeit auf sechs Quadratmeter zwängt.

Zwei Etagenbetten, zwei Fenster, zwei in den Boden zementierte Hocker, zwei Ablagebretter, ein Waschbecken, ein Klo.

Ich teile diesen Pferch mit Patrick Horton, ein Hüne, der sich die Geschichte seines Lebens – Life is a bitch and then you die – auf den Rücken und die seiner Liebe zu Harley-Davidsons auf die Schulter und Brust hat tätowieren lassen. Seit dem Mord an einem Hells Angel aus dem Charter Montreal, der von seinen Kumpel auf dem Motorrad erschossen wurde, weil sie ihn verdächtigten, mit der Polizei gemeinsame Sache zu machen, wartet Patrick auf seinen Prozess. Ihm wird vorgeworfen, an der Exekution beteiligt gewesen zu sein. Angesichts seiner einschüchternden Proportionen und seiner Zugehörigkeit zu dieser Motorradmafia mit ihrem beeindruckenden Katalog an Morden und Totschlägen treten alle respektvoll zur Seite, als sei er ein Kardinal, wenn er durch die Flure von Bereich B schlendert. Weil bekannt ist, dass ich die Zelle mit ihm teile, genieße ich denselben Respekt wie dieser sonderbare Nuntius.

Zwei Nächte schon stöhnt Patrick im Schlaf. Ihm tut ein Zahn weh, und er verspürt das typische Ziehen eines Abszesses. Mehrmals hat er bei einem Wärter über Schmerzen geklagt, bis der ihm schließlich Tylenol brachte. Als ich ihn fragte, warum er sich nicht in die Warteliste für den Zahnarzt eingetragen hat, sagte er: »Niemals. Wenn du Zahnschmerzen hast, behandeln diese Hurensöhne hier den Zahn nicht, sondern ziehen ihn dir. Wenn dir zwei Zähne wehtun, ist es das Gleiche, dann ziehen sie dir beide.«

Seit neun Monaten wohnen wir zusammen, und es läuft ziemlich gut. Eine Laune des Schicksals hat uns ungefähr zur selben Zeit hier zusammengebracht. Sehr bald wollte Patrick wissen, mit wem er tagtäglich die Kloschüssel teilen sollte. Ich habe ihm dann meine Geschichte erzählt, eine völlig andere als die der Hells Angels, welche den gesamten Drogenhandel in der Provinz kontrollierten und ohne zu zögern Ballerkriege lostraten, wie zwischen 1994 und 2002 in Quebec mit 160 Toten, als sie mit ihren alten Feinden, den Rock Machines, aneinandergerieten, welche dann von den Bandidos geschluckt wurden, die wiederum ihrem Namen alle Ehre machten und sich einigen Ärger einhandelten, als acht Leichen gefunden wurden, allesamt Mitglieder der Gang, nachlässig auf vier nebeneinander parkende, in Ontario zugelassene Autos verteilt.

Als Patrick den Grund meiner Inhaftierung erfuhr, interessierte er sich für meine Geschichte mit dem Wohlwollen eines Gildenbruders, der von den ersten ungeschickten Versuchen eines Lehrlings Kenntnis nimmt. Als ich meinen bescheidenen Bericht beendet hatte, kratzte er sich am rechten Ohrläppchen, das von einem leuchtend roten Ekzem angefressen war. »Wenn man dich sieht, würde man nicht glauben, dass du zu so etwas fähig bist. Das hast du richtig gemacht. Gar keine Frage. Ich hätte ihn gekillt.«

Vielleicht hatte ich das letztendlich auch gewollt, zumindest den Zeugen zufolge hätte ich diese Tat zweifellos begangen, wenn sich nicht sechs entschlossene Personen verbündet hätten, um mich zu überwältigen. Was den Vorfall selbst betrifft, erinnere ich mich abgesehen von dem, was mir erzählt wurde, an so gut wie nichts. Mein Gedächtnis scheint einen kompletten Reset vorgenommen zu haben, mit dem Ergebnis, dass alle Daten von vor meiner Wiederherstellung im Aufwachraum der Notaufnahme gelöscht sind.

»Verdammt, ja, ich hätte dieses Arschloch gekillt. Solche Typen gehören aufgeschlitzt.« Seine Finger kneteten immer noch sein brennendes Ohr, und er wippte schwerfällig von einem Fuß auf den anderen. Von einer dunklen Wut gepackt, schien Patrick Horton durch die Wände gehen zu wollen, um die von mir begonnene, jedoch in seinen Augen verpfuschte Arbeit zu beenden. Wie ich ihn so brodeln und seine entzündete Haut kratzen sah, dachte ich an jenen Satz des Anthropologen und Spezialisten für indianische Kulturen Serge Bouchard: »Der Mensch ist ein missratener Bär.«

Meine Frau Winona war eine Algonkin-Indianerin. Ich habe viel Bouchard gelesen, um mehr über den Stamm zu erfahren. Ich war bloß ein ungeschliffener Franzose, der so gut wie nichts wusste vom Ritual des bebenden Zeltes, von den mystischen Regeln der Sweat-Lodge-Zeremonie, der Gründungslegende vom Waschbären, der vor-darwinschen Auffassung »der Mensch stammt vom Bären ab« und von der Geschichte, die erzählt, warum »das Karibu nur unter dem Maul weiß gefleckt ist«.

Zu jener Zeit war das Gefängnis für mich noch ein theoretisches Konzept, ein Streich der Würfel, der einen auf das Gefängnis-Feld von Monopoly schickt. Und diese in Unschuld gekleidete Welt schien für die Ewigkeit gemacht, ganz wie mein Vater, Pastor Johanes Hansen, der in seiner protestantischen, vom herabprasselnden Asbest geweihten Kirchengemeinde die Herzen der Menschen und die Tonräder einer Hammond-Orgel zum Schwingen brachte; wie Winona Mapachee und ihre algonkinische Zartheit, die mit ihrem Beaver-Flugtaxi gleichmäßige Runden drehte, um Schwimmer und Kunden auf allen Seen des Nordens mit sanftem Gleiten abzusetzen; wie meine Hündin Nouk, die mich, kaum dass sie geboren war, mit ihren großen dunklen Augen ansah wie den Anfang und das Ende aller Dinge.

Ja, ich liebte diese bereits ferne Zeit, als meine drei Toten noch am Leben waren.

Wie gern würde ich einschlafen. Nicht mehr die Ratten hören. Nicht mehr den Geruch von Menschen einatmen. Nicht mehr dem Winter durch eine Scheibe zuhören. Nicht mehr in fettigem Wasser gekochtes braunes Hühnerfleisch essen müssen. Nicht mehr riskieren, für ein falsches Wort oder eine Handvoll Tabak totgeschlagen zu werden. Nicht mehr gezwungen sein, ins Waschbecken zu urinieren, weil wir nach einer bestimmten Uhrzeit nicht mehr die Spülung benutzen dürfen. Nicht mehr allabendlich Patrick Horton dabei zusehen müssen, wie er seine Hose runterlässt, sich aufs Klo setzt und defäkiert und mir dabei von den »gekreuzten Pleuelstangen« seiner Harley erzählt, die im Leerlauf »zittert, als würde sie vor Kälte bibbern«. Bei jeder Sitzung zeigt er sich völlig gelassen und spricht zu mir mit erstaunlicher Zwanglosigkeit, sodass man meinen könnte, sein Mund und sein Geist seien von seiner rektalen Betätigung völlig entkoppelt. Er versucht nicht einmal, seine Blähungen zu unterdrücken. Beim Beenden seines Geschäfts erläutert mir Patrick die Zuverlässigkeit der neuesten Motoren, die nun auf sogenannte »Isolastic Silentblocks« montiert werden, bevor er wie ein Mann, der seinen Tag zu Ende gebracht hat, wieder seine Hose richtet und auf der Kloschüssel als Ersatz für einen Deckel ein makelloses Tuch ausbreitet, was auf mich ein bisschen wie der Abschluss eines Gottesdiensts und zugleich ein Ite missa est wirkt.

Die Augen schließen. Schlafen. Das ist die einzige Möglichkeit, hier rauszukommen, die Ratten hinter sich zu lassen.

Im Sommer konnte ich, wenn ich mich in die Ecke am linken Fenster stellte, sehen, wie das Wasser des Rivière des Prairies in voller Geschwindigkeit auf die Île Bourdon, die Île Bonfoin und den Sankt-Lorenz-Strom zuschoss, der es in sich aufnahm und begrub. Doch in dieser Nacht, nichts. Der Schnee riegelte alles ab, sogar die Dunkelheit.

Patrick Horton wusste es nicht, aber es kam vor, dass mich um diese Stunde Winona, Johanes oder auch Nouk besuchten. Sie traten ein, und ich sah sie genauso deutlich, wie mir das ganze verkrustete Elend in dieser Zelle vor Augen stand. Und sie sprachen mit mir und sie waren da, ganz nah bei mir. In all den Jahren, seit ich sie verloren hatte, kamen und gingen sie in meinen Gedanken, sie waren bei sich, sie waren in mir. Sie sagten, was sie zu sagen hatten, gingen ihren Beschäftigungen nach, versuchten das Chaos in meinem Leben in Ordnung zu bringen und fanden immer die Worte, die mich schließlich in den Schlaf und die Stille des Abends geleiteten. Jeder stand mir auf seine Art, in seiner Rolle, in seinem Zuständigkeitsbereich zur Seite, ohne mich zu verurteilen. Vor allem, seit ich im Gefängnis bin. Sie wussten ebenso wenig wie ich, wie all das passiert war, warum sich alles so schnell, innerhalb weniger Tage gewendet hatte. Sie waren nicht da, um die Ursache des Unglücks zu ergründen. Sie bemühten sich nur, unsere Familie wiederherzustellen.

In den ersten Jahren fiel es mir ungeheuer schwer, die Vorstellung zu akzeptieren, mit meinen Toten leben zu müssen. Ohne zu murren die Stimme meines Vaters zu hören, wie damals, als ich Kind war, wir in Toulouse wohnten und meine Mutter uns liebte. Für Winona war die Verwirrung rasch behoben, denn sie hatte mir von der Unterwelt der Algonkin erzählt, in der sich die Lebenden und die Toten begegnen. Sie sagte oft, es gäbe nichts Normaleres, als sich auf die Zwiesprache mit den Verstorbenen, die nun in einem anderen Universum lebten, einzulassen. »Unsere Ahnen führen eine andere Existenz. Und wenn wir sie mit all ihren Dingen begraben, dann deshalb, damit sie dort weiter ihren Beschäftigungen nachgehen können.« Ich mochte die fragile Logik dieser aus Hoffnung und Liebe zusammengebastelten Welt sehr. Man beförderte die an ihrem verstorbenen Besitzer befestigten Gerätschaften ins Jenseits, wo sie angeblich, sofern sie elektrisch waren, mit allen Spannungspegeln und allen Steckdosen der unsichtbaren Welten kompatibel waren. Was Nouk anbelangt, meine Hündin, die alles über die Zeit, die Menschen und die Gesetze des Winters wusste, für die wir ein offenes Buch waren, so legte sie sich einfach neben mich, wie sie es immer getan hatte. Sie hatte ohne die Fürsprache der Schamanen, allein durch die Erinnerung an meinen Geruch, zu mir gefunden. Nachdem sie einen Ausflug in die Finsternis gemacht hatte, kehrte sie einfach nach Hause zurück, legte sich neben mich und setzte unser gemeinsames Leben dort fort, wo wir es zurückgelassen hatten.

Ich wurde genau an dem Tag ins Bordeaux-Gefängnis gesperrt, an dem Barack Obama gewählt wurde, am 4. November 2008. Es war für mich ein langer und anstrengender Tag, die Fahrt zum Gericht, das Warten auf den Fluren des Justizpalasts, meine Vorführung vor den Richter Lorimier, der, trotz einer eher wohlwollenden Befragung, eine Reihe persönlicher Bedenken gehabt zu haben schien, das gespenstische Plädoyer meines depressiven Anwalts, der mich »Janssen« nannte, mir andichtete, ein »schwerer psychiatrischer Fall« zu sein, und den Eindruck erweckte, als würde er sich mit meiner Akte gerade erst vertraut machen oder über die eines anderen sprechen, das Warten auf das Urteil, dessen heruntergeleierte Verlesung durch Lorimier, das Strafmaß – zwei Jahre geschlossener Vollzug –, das sich im Gedächtnis des Gerichtssaals verlor, der sintflutartige Regen auf der Rückfahrt, die Staus, die Ankunft im Gefängnis, die Identifizierung, die unangenehme Durchsuchung, drei in einer Zelle von der Größe einer Fahrradbox, »halt die Schnauze, hier hältst du die Schnauze«, eine Matratze auf dem Boden, Rattenkot, überall gebrauchte Tempos, ein leichter Uringeruch, die Essentabletts, braunes Hühnerfleisch, schwarze Nacht.

Einen Monat, bevor Barack Obama offiziell seine Räumlichkeiten im Weißen Haus bezog, wurde ich in meine neue Behausung verlegt, ins »Condo«, das Patrick Horton und ich noch heute bewohnen. Durch diesen Umzug konnte ich der Hölle in den Eingeweiden von Bereich A entkommen, wo Gewalt und Aggressionen den Stunden des Tages und manchmal auch der Nacht ihren Stempel aufprägten. Hier ist man zwar nicht vor einer Überschwemmung sicher, aber das Leben ist, auch dank des Stammbaums und der Statur von Horton, erträglicher. Und wenn die Selbstbedrängnis und das Gewicht der Zeit eine zu schwere Bürde werden, dann genügt es, Abstand zu gewinnen und sich dem langsamen und sturen Takt der Gefängnisuhr zu überlassen, sich der Agenda der hiesigen »Lebensführung« zu unterwerfen:

7 Uhr, Zellenöffnung. 7 Uhr 30, Frühstück. 8 Uhr, Bereichsaktivitäten. 11 Uhr 15, Mittagessen. 13 Uhr, Bereichsaktivitäten. 16 Uhr 15, Abendessen. 18 Uhr, Bereichsaktivitäten. 22 Uhr 30, Nachtruhe und Zellenschließung. Rauchverbot innerhalb und außerhalb der Anstalt. Unerlaubte Güter: Spielkonsolen, Computer, Handys, pornografische Bilder. Das Bett muss bis 8 Uhr gemacht sein, Aufräumen ist jeden Morgen bis 9 Uhr.

Es ist ein sehr seltsames Gefühl, dermaßen überwacht und aus aller Verantwortung entlassen zu sein. Sechsundzwanzig Jahre lang übte ich im Ahuntsic-Viertel, kaum einen Kilometer vom Gefängnis entfernt – es störte mich anfangs ungeheuer, so nah an meinem Zuhause eingesperrt zu sein –, den sehr anstrengenden Beruf des Oberverwalters aus, einer Art Concierge mit magischen Kräften, eines Faktotums aus erster Hand, das imstande ist, eine kleine, präzise Welt wieder in Ordnung zu bringen und zu reparieren, ein komplexes Universum aus Kabeln, Rohren, Schläuchen, Anschlüssen, Abzweigungen, Stützen, Abflüssen, Zeitstempeln, eine kleine, verspielte Welt, die nichts weiter im Sinn hatte, als ins Trudeln zu geraten, Probleme zu bereiten, Störungen hervorzubringen, die es dringend und unter großem Einsatz von Gedächtnis, Wissen, Technik, Beobachtung und manchmal auch ein wenig Glück zu beheben galt. In der Wohnanlage Excelsior war ich eine Art Deus ex Machina, dem man die Last, die Wartung, die Überwachung und den reibungslosen Betrieb dieses Condos aus achtundsechzig Einheiten anvertraut hatte. Alle Bewohner waren Eigentümer ihrer Wohnung und erfreuten sich eines Gartens mit Bäumen und Beeten, eines beheizten Schwimmbads mit 230 000 Liter Salzwasser, einer makellosen Tiefgarage mit Waschanlage, eines Fitnessstudios, eines Entrees mit Wartesalon und Empfang, eines »Forum« genannten Konferenzraums, vierundzwanzig Überwachungskameras und dreier großräumiger Aufzüge der Marke Kone. Sechsundzwanzig Jahre lang habe ich ein gigantisches, herausforderndes und erschöpfendes, weil endloses Werk vollbracht, das praktisch im Verborgenen blieb, weil es darin bestand, achtundsechzig dem Verschleiß, dem Klima und der Alterung ausgesetzte Wohneinheiten im Gleichgewicht der Normalität zu halten. 9500 Tage aus Wachsein, Bewachen und Eingreifen, 9500 Tage aus Nachforschungen, Überprüfungen, Rundgängen auf dem Dach, Stippvisiten in den Etagen, 104 Jahreszeiten, um zuweilen auch meine Befugnisse zu übertreten und Senioren zu helfen, Witwen zu trösten, Kranke zu besuchen oder sogar die Toten zu begleiten, wie es zweimal vorkam.

Ich glaube, dass die Erziehung, die Johanes Hansen, protestantischer Pastor von Beruf, mir zuteilwerden ließ, nicht unmaßgeblich war für die Selbstlosigkeit, die ich in all diesen Jahren an den Tag legte, um das ganze Schiff über Wasser zu halten. In solcher Weise tätig zu sein, im Hintergrund zu handeln, tagtäglich mit Ernst und Gründlichkeit undankbare Aufgaben zu erfüllen scheint mir dem Geist der Reform, wie ihn Johanes in seinen Kirchen verkündete, nicht zu widersprechen.

Ich weiß nichts von dem Mann, der in meiner Nachfolge dieses Amt übernahm und sich bereitfand, in den Eingeweiden dieser Residenz zu leben. Noch, wie die Innereien des Excelsior heute aussehen. Ich weiß nur, dass diese kleine, fantasievolle Achtundsechzig-Einheiten-Welt, die unendliche Kombinationsmöglichkeiten an Störungen, Sorgen und zu lösenden Rätseln hervorzubringen vermochte, mir wahnsinnig fehlt.

Zuweilen sprach ich mit den Dingen und Maschinen und war so schwach, zu glauben, dass sie mich verstanden. Heute habe ich nur noch Horton, seinen Zahn und seine Pleuelstangen.

Ich, der ich so lange den reibungslosen Betrieb des Excelsior verwaltet und bestimmt habe, bin nun gezwungen, mich der verweichlichenden »Lebensführung« in meinem neuen »Condo« anzupassen, 8 Uhr: Bereichsaktivitäten, 16 Uhr 15: Abendessen, 21 Uhr: Höllenböller, 22 Uhr 30: Nachtruhe und Zellenschließung.

Heute Morgen hat Patrick gleich nach dem Aufwachen den Wärter gerufen und einen Akuttermin beim Zahnarzt verlangt. Er fürchtet ihn mehr als einen brutalen Überfall der Bandidos. Seine Backe war über Nacht angeschwollen, vor Schmerz stand er unter Strom. Er lief in der Zelle auf und ab wie ein unter einem Glas gefangenes Insekt. »Kannst du heute Morgen mein Bett machen, wenn’s für dich okay ist? Dieser scheiß Zahn tut mir verflucht weh. Ich hab das von meinem Vater. Der hatte auch verfaulte Zähne. Sind wohl die Gene. Was? Ich hab keine Ahnung, nerv mich nicht mit deinen dämlichen Fragen, dafür ist heut nicht der Tag. Dieser verdammte Zahnarzt. Soll genauso übergeschnappt aussehen wie Jack Nicholson. Wie spät ist es? Dieses Arschloch hockt bestimmt noch zu Hause und holt sich vor seinen scheiß Cornflakes einen runter. Ich sag dir, dieser Nicholson tut gut daran, mich First Class zu behandeln, sonst, glaub mir, schlitze ich ihn auf, diesen Wichser. Wie spät ist es? Verflucht.«

Für Patrick, vor allem, wenn ihm ein Backenzahn wehtut, teilt sich die Welt in zwei klar unterschiedene Kategorien von Individuen. Diejenigen, die die Koloraturen der gekreuzten Harley-Davidson-Pleuelstangen kennen und schätzen. Und jene, sehr viel zahlreicheren Banausen, die noch nie etwas von »Isolastics« gehört haben und »aufgeschlitzt« werden müssten.

In zwei Stunden habe ich ein Gespräch mit einem gewissen Gaëtan Brossard, einem Beamten aus der Gefängnisverwaltung, der den Auftrag hat, meine Aussichten auf einen Straferlass zu prüfen und die Akten ans Gericht weiterzuleiten. Ich habe Brossard schon drei oder vier Mal getroffen. Sein ganzes Auftreten strahlt etwas Beruhigendes aus, und sein Gesicht, ein Abziehbild von Viggo Mortensen, bestätigt ihn in seiner Rolle als wohlmeinender Prüfer.

Unser erstes Gespräch dauerte nicht lange. Er hatte noch nicht einmal die Mappe mit meinen Prozessunterlagen geöffnet. »Unser Treffen heute ist rein formeller Natur, betrachten Sie es als eine einfache Kontaktaufnahme, Herr Hansen. Angesichts der schweren Straftat, die Sie begangen haben, ist es mir leider nicht möglich, zu diesem Zeitpunkt irgendeine Form von Freilassung, und sei sie auch unter begleitender Kontrolle, zu prüfen oder in Betracht zu ziehen. Wir sehen uns in ein paar Monaten wieder, und wenn Ihre Führungsberichte gut sind, können wir vielleicht etwas ins Auge fassen.«

Brossard hat sich nicht verändert. Ich bemerke ein Detail, das mir beim ersten Mal entgangen ist. Wenn er nicht spricht, neigt Gaëtan dazu, an seinen Fingerspitzen zu schnüffeln. Jedes Mal, wenn er einatmet, weiten sich seine Nasenlöcher und nehmen, nachdem er sich der Ausdünstungen vertrauter Moleküle vergewissert hat, wieder ihre ursprüngliche Form an.

»Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Herr Hansen. Ihre Beurteilungen sind durchweg exzellent und sprechen selbstverständlich dafür, dass ich dem Gericht Ihre Akte mit einer positiven Einschätzung übersende. Zuvor jedoch müssen Sie mich davon überzeugen, dass Sie sich der Schwere Ihrer Tat bewusst sind und dass Sie sie in vollem Bewusstsein bereuen. Bereuen Sie sie, Herr Hansen?«

Ich hätte natürlich sagen sollen, was er erwartete, hätte mich in Entschuldigungen ergehen, tiefe und aufrichtige Reue an den Tag legen, Ringeltänze des Bedauerns aufführen sollen, gestehen, dass mir das, was an jenem Tag geschehen war, immer noch unverständlich wäre, hätte für das Leid, das ich verursacht habe, das Opfer um Verzeihung bitten und zuletzt vor Zerknirschung den Kopf senken sollen, überwältigt von Scham.

Doch ich tat nichts dergleichen. Nicht ein Wort kam mir über die Lippen, nichts, mein Gesicht blieb ausdruckslos wie eine eiserne Maske, und ich hatte alle Mühe, Viggo Mortensen nicht auch noch zu eröffnen, wie sehr ich bedauerte, nicht mehr Zeit oder ausreichend Kraft gehabt zu haben, diesem verächtlichen, selbstgefälligen und widerlichen Kerl alle Knochen zu brechen.

»Ich muss zugeben, dass ich anderes von Ihnen erwartet habe, Herr Hansen. Eine angemessenere Reaktion. Wenn ich Ihre Akte lese, mir Ihren Werdegang und Ihre Vergangenheit ansehe, ist mir klar, dass Ihr Platz nicht hier ist. Ich fürchte jedoch, Sie werden aufgrund Ihrer Weigerung, sich zu hinterfragen, noch eine gewisse Zeit gezwungen sein, hierzubleiben. Das ist sehr bedauerlich, Herr Hansen. Jeder in diesem Gefängnis verbrachte Tag ist ein Tag zu viel. Wartet draußen jemand auf Sie?«

Wie sollte ich ihm erklären, dass zurzeit niemand draußen auf mich wartete, hingegen in dem Raum, in dem wir uns gerade befanden – und ich konnte ihren Atem spüren –, Winona, Johanes und Nouk sich neben mir in Geduld übten und hofften, dass er ginge.

Patrick ist zurück von seinem Zahnarztbesuch. Noch unter der Wirkung der Betäubungsspritze sabbert er roten Speichel in die Falten eines Papiertaschentuchs. Seine Begegnung mit Nicholson ist offenbar schlecht verlaufen.

»Dieser Mistkerl hat ihn mir gezogen. Ich wusste es, verdammt, man hatte mich gewarnt. Aber dieses Stück Scheiße hat mir keine Wahl gelassen. Er hat gesagt, er kann meinen Zahn nicht retten, und dass ich außerdem einen riesigen Abszess habe. Dann hat er mir irgendwelchen Schrott auf dem Röntgenbild gezeigt und gesagt: ›Hier, sehen Sie, das ist richtig entzündet.‹ Nerv mich nicht, hab ich geantwortet, tu, was du tun musst, aber ich warne dich, wenn du mir wehtust, bist du tot. Mit dem, was er mir ins Zahnfleisch gejagt hat, hätte man das ganze verdammte Dorf, in dem ich geboren bin, betäuben können. Eins sag ich dir, ich weiß zwar nicht, wann ich hier rauskomme, aber ich schwöre, sobald ich draußen bin, kriegt der Arsch von mir Besuch, und ich schneid ihn entzwei.«

Für diese Nacht sind minus 28 Grad vorhergesagt; gefühlt sogar minus 34 Grad. In vier Tagen ist der 25. Dezember. Nicholson wird im Kreise seiner Familie mit ihren tadellosen, väterlich geweißten Zahnreihen Weihnachten feiern. Die Jüngste wird noch ihre Zahnspange tragen und die Mutter ihr versprechen, dass dies der letzte Winter mit diesem ganzen Metall im Mund sei. Viele Kugeln und lächerliche Lichter werden im Haus wie in allen Häusern der Stadt glitzern und blinken, die Kaufhäuser werden, um die Kreditkarten zu ölen, Christmas carols spielen, und wie in einem unbegreiflichen Ballett werden alle möglichen unnützen und teuren Gegenstände, die aus dem Nichts aufgetaucht sind und bald wieder dorthin verschwinden, von Hand zu Hand wechseln, während die verzauberten Radiosender zu diesem Anlass All I want for Christmas is you ins Programm nehmen.

Hier wird bei Einbruch der Dunkelheit ein deklassierter Priester für die Liebhaber von Kniebeugen eilig eine ordnungsgemäße Messe halten und, ohne wirklich daran zu glauben, jedem versprechen, eines Tages zur Rechten seines Schöpfers zu sitzen, bevor er sich dann, so schnell es geht, wieder von den Socken machen wird, um den süßlichen Duft eines Kinderchors einzuatmen. Und uns, Kuffars, Gottlosen, Gelegenheitsdieben und kriminellen Muskelpaketen, uns wird eine doppelte Portion braunes Hühnchen mit Bratensauce und dazu eine Art Kuchen mit vertrockneter Ahorncreme zustehen. Bevor ich mit dem Essen beginne, werde ich Patrick mit heiligem Ernst frohe Weihnachten wünschen. Und er wird auf seinem faserigen Geflügel herumkauen und entgegnen: »Nerv mich nicht mit deinem Schwachsinn.«

SKAGEN, DIE VERSANDETE KIRCHE

Ich wurde am 20. Februar 1955 gegen 22 Uhr in Toulouse in der Clinique des Teinturiers geboren. In dem mir zugeteilten Zimmer betrachten mich zwei Personen, die ich nie zuvor gesehen habe, beim Schlafen. Die neben mir liegende junge Frau, die gerade von einer Party zurückgekommen zu sein scheint und trotz der Mühen der Entbindung umwerfend aussieht, ist Anna Margerit, meine Mutter. Sie ist fünfundzwanzig Jahre alt. Der neben ihr sitzende Mann, der sich auf der Bettkante ganz leicht macht, allem Anschein nach von hohem Wuchs, mit blondem Haar und klaren blauen Augen voller Wohlwollen und Sanftmut, ist Johanes Hansen, mein Vater. Er ist dreißig Jahre alt. Beide scheinen mit dem Endprodukt, das einer Situation entsprungen ist, deren Folgen sie damals vielleicht nicht in vollem Umfang abgesehen haben, zufrieden zu sein. Jedenfalls haben meine Eltern meine Vornamen schon lange ausgewählt. Ich werde also Paul Christian Frédéric Hansen heißen. Dänischer geht es kaum. Das Bodenrecht, das Abstammungsrecht und was weiß ich noch alles für Rechte, allem voran aber das Zufallsrecht haben mir die französische Staatsbürgerschaft beschert.

Johanes hat – wie seine vier Brüder – das Licht der Welt in Jütland erblickt, in Skagen, einer kleinen Stadt mit 8000 Einwohnern an der nördlichsten Spitze Dänemarks, wo man von Geburt an ausschließlich Fisch spricht. Die Hansens, seit Generationen Fischersleute, haben zu dem geruhsamen Wohlstand dieses kleinen Städtchens beigetragen, das sich fest an sein Land zu klammern scheint, um nicht hinüberzudriften zur nahe gelegenen Küste von Kristiansand in Norwegen oder Göteborg in Schweden. So wie die Welt ihre Gewohnheiten und ihre Prioritäten ändert, orientierte sich ein Teil der Hansen-Brüder neu, verkaufte seine Fischerboote und spezialisierte sich auf die Verarbeitung von Fischmehl, während Thor, der Älteste, weiter zwischen den Klippen dieses gefährlichen Gewässers zur See fuhr, das die Touristen gern von der Landspitze Grenen aus betrachten, wenn bei heftigem Unwetter die alten Konflikte zwischen den Strömungen der Ost- und der Nordsee wieder aufbrausen.

Johanes gehörte einer kleinen Minderheit der Hansens an, dem Zweig der dem der bor inde i landet, derjenigen, die auf dem Land leben sollten. Schon bald kehrte mein Vater der See den Rücken und bewunderte das einzigartige Licht auf der Halbinsel, das die größten Maler Skandinaviens anlockte, welche mit ihrem Stil und ihrer Arbeitsweise die berühmte Schule von Skagen begründeten. Bilder von friedlichen Landschaften, einfache Männer und Frauen bei der Arbeit, die stürmische Nordsee, Boote auf der Ostsee, nichts, was wirklich die Pforten der Museen aufgestoßen oder mit den Regeln der Schönen Künste gebrochen hätte. Bloß schöne, in geduldiger Arbeit entstandene Gemälde, gemalt für die Bewohner dieses Landstrichs, die nicht mehr verlangen.

Mit zwölf Jahren war mein Vater nicht nur ein bor inde i landet, sondern brüstete sich mit Religion, einer Sportart, die bis dahin von keinem in der Familie beachtet worden war. Sehr viel später einmal erzählte er mir von den eher ungewöhnlichen Umständen, die ihn dazu getrieben hatten, eine Pastorenkarriere einzuschlagen. Sand war dabei im Spiel, wandernder Sand, den die Geschichte und der Wind vor sich herschoben.

An der äußersten Nordspitze der Halbinsel, etwas abseits von der Stadt, hatte man im 14. Jahrhundert nur wenige Schritte vom Meer entfernt eine Kirche erbaut, die dem Schutzpatron der Seefahrer gewidmet war. Mit ihren 45 Metern Länge, ihrem 22 Meter hohen Turm mit Staffelgiebel und ihren 38 Bankreihen war sie ein imposantes und in ganz Jütland einzigartiges Gebäude. Das von der Gischt gebeutelte, zu nah am Tosen der Stürme errichtete und den heftigen Böen schutzlos ausgelieferte Bauwerk litt schon früh unter der Landkrankheit: Um 1770 wurden zunächst der Vorplatz und dann das Langschiff vom Sand verschlungen, während die gefräßigen Wanderdünen Tag und Nacht an den Gemäuern der Kirche nagten und sie fortschoben. 1775 versperrte ein furchtbarer Sturm alle Eingänge, und die Einwohner mussten Wege graben, um ihren Tempel betreten und den Gottesdienst feiern zu können. So handhabten sie es zwanzig weitere Jahre und schaufelten Woche für Woche die Mauern und Zugänge frei. Doch es nahm kein Ende: Der Wind blies, und der Sand häufte sich an. Eines Tages schließlich, nachdem er seine Niederlage eingesehen hatte, gab Gott den Kampf auf: Der Klerus schloss endgültig die Kirche, und das gesamte Mobiliar wurde versteigert. Heute hat der Sand das Gebäude vollständig unter sich begraben. Nur 18 Meter des Kirchturms ragen noch aus den Dünen hervor.

Der Anblick dieser versunkenen Kirche, dieses Strandguts des Glaubens, hat meinem Vater den festen Willen eingepflanzt, Pastor zu werden. »Weißt du, ich glaube, damals glaubte ich an gar nichts, ich wusste nicht einmal, was Glauben bedeutet. Beim Anblick dieses einzigartigen Schauspiels wurde ich von einem rein ästhetischen Gefühl ergriffen, wie man es nur einmal im Leben hat. Ein echtes Gemälde der Schule von Skagen. Wenn ich an diesem Tag an diesem Ort einen versandeten Bahnhof gesehen hätte, von dem nur noch ein Turm und die Bahnhofsuhr sichtbar geblieben wären, wäre ich vielleicht Eisenbahner geworden.« Das war mein Vater, zweifellos ein bor inde i landet, aber er war sich bewusst, dass er im ständigen Zweifel würde navigieren müssen, mal angezogen von den fragilen Segeln einer verlassenen Kirche, mal verführt vom rauen Abenteuerleben der Schiene.

Anna Madeleine Margerit, meine Mutter, reiste zwei Mal nach Skagen. Dort begegnete sie der ganzen Hansen-Sippe, Männern und Frauen, die alle gleich gebaut waren, um den klimatischen Unbilden zu trotzen und so jahrhundertelang zu leben. Es wurden für sie Scholle in Johannis- und Preiselbeersauce, Aalröllchen und Pramdragergryde gekocht, sie trank ein wenig Aquavit und unternahm schließlich eine Pilgertour zur versandeten Kirche, wo sie meinen Vater und alle noch lebenden Hansens hübsch aufgereiht vor den Überresten des Kirchturms fotografierte. Auf der Rückfahrt sprach sie mit meinem Vater über das, was sie empfunden hatte, als sie diese liturgischen Gebeine aus der Erde aufragen sah. »Wie konntest du nur beim Anblick eines solchen Dings Lust bekommen, Pastor zu werden? Das Ganze erinnert doch bloß an die Machtlosigkeit, Abkehr und Kapitulation Gottes und der Kirche. An deiner Stelle hätte ich mich, glaube ich, meinen Brüdern angeschlossen, hätte eine ihnen ähnlich sehende Frau aus der Umgebung geheiratet und meine Zeit dem Zermahlen von Fisch gewidmet.« Annas Erzählungen zufolge soll mein Vater daraufhin den Kopf gehoben und nach einer langen Pause mit seinem Clergyman-Lächeln bekannt haben: »Ich stimme dir in allem zu, bis auf den Punkt, eine Frau zu heiraten, die meinen Brüdern ähnlich sieht.«

Anna Margerit wurde in Toulouse geboren. Ihre Eltern, die ich nie kennengelernt habe, betrieben ein kleines Kino, das sich bescheiden Spargo nannte – aus dem Lateinischen »ich säe aus«. Es führte das damals noch brandneue Label »Programmkino« und zeigte ausgewählte Filme wie Blaue Gauloises, Blow Up, Theorema oder Zabriskie Point. Seit ihrer Kindheit mit diesen Bildern vollgesogen, aufgewachsen mit endlosen Abspannen, dieser eingängigen Musik, übertriebenen Küssen und dunklen Dramen, war meine Mutter zum wandelnden Filmlexikon geworden. Sie kannte diese Welt bis in ihre verborgenen Ritzen und Winkel und war in der Lage, den Cutter eines Pabst, den Komponisten eines Hawks oder den Beleuchter eines Epstein zu nennen. Überhaupt interessierte sie sich mehr für die Filmberufe, für die Handwerker, Regisseure und Produzenten als für die allzu vorhersehbare Routine der Schauspieler.

Im April des Jahres 1960 entsprach die Familie Hansen dem Besten und Konventionellsten, was die Zeit zu bieten hatte. Ein maßvoller und aufmerksamer Ehemann mit überwältigendem Charme, der ein mittlerweile klares und gepflegtes, wenn auch mit einer kleinen nordischen Note gewürztes Französisch sprach, in dem alten Gotteshaus in der Rue Pargaminières seinen Platz als zweiter Pastor gefunden hatte und mit seinen Predigten und seiner Art der Religionsausübung auf allgemeine Zustimmung stieß. Eine Ehefrau, die allem Anschein nach in ihren Mann verliebt war, deren natürliche, von jedem als spektakulär wahrgenommene Schönheit sich mit einem ebenso beeindruckenden intellektuellen Charme verband, eine Frau, die ihre Zeit zwischen der Erziehung ihres Sohnes und dem Betreiben eines achtbaren Kinos verbrachte, dessen Leitung sie sich bis 1958 mit ihren Eltern teilte. Was den jungen Paul Christian Frédéric mit seinen mageren Beinchen betraf, für dessen Beurteilung es noch zu früh war, so tat dieser zu festen Zeiten, was ihm aufgetragen wurde. Er entsprach dem Katalog der vorgeschriebenen Höflichkeiten und begleitete seinen Vater jeden Sonntag zum Gottesdienst, um ihn erbauliche Reden über den Gang der Welt und ihre sündhaften Schwächen halten zu hören.

Der einzige Schatten in diesem Stillleben, das die Skagen-Malerei gewiss nicht beachtet hätte, war meine Mutter, die sich den Dingen der Kirche und des Glaubens hermetisch verschloss, sich gar gegen die Vorstellung von Sünde sperrte und nie einen Fuß oder einen Absatz in das Gotteshaus setzte. Warum hatte sie unter diesen Bedingungen überhaupt eingewilligt, das Leben mit einem jungen Pastor zu teilen? Sooft ich meine Mutter später dazu befragte, erhielt ich stets die gleiche Antwort, die mich ebenso sehr verunsicherte wie beruhigte: »Dein Vater ist so schön.«

Es kam gelegentlich vor, dass sie am Tisch loswetterte, der Ton schärfer wurde und mein Vater ihr sein Lieblingsmantra entgegenhielt, auf das er ganz versessen war: »Mögest du, und sei es nur für wenige Stunden, in der Vollkommenheit des Glaubens leben.« Später begriff ich, wie Anna Madeleine sich damals gefühlt haben mochte. Dieses unerträgliche zuckersüße und doch leicht herablassende Wohlwollen, auf das sie unerschütterlich erwiderte: »Wie kannst du nur so einen Blödsinn reden?«

Ich glaube, ehrlich gesagt, dass Pastor Hansen, mein Vater, in seinem Bemühen zu gefallen und, zumindest nach außen hin, Zustimmung zu finden, auf dieser ersten Stelle konventionell, enttäuschend und ermüdend flach war. Aber war es nicht genau das, was man von ihm erwartete?

Ich kann sagen, dass meine Eltern, trotz der kleinen Hakeleien im Alltag, zu dieser Zeit glücklich waren, das Leben miteinander zu teilen. Nie habe ich herausgefunden, bis heute nicht, woher ihre natürliche Verbundenheit rührte. Trotz einiger Nachfragen, bei denen ich rasch begriff, dass sie nur Verlegenheit und Unbehagen hervorriefen, erfuhr ich nie, unter welchen Umständen mein Vater und meine Mutter sich begegnet waren, noch, durch welche Laune des Liebesschicksals es einem in Skagen aus dem Treibsand gezogenen Mann und einer Programmkino-Trappistin im Jahr 1953 gelungen war, die sie trennenden 2420 Kilometer zu überwinden, über die Sprachbarriere zu springen und sich am Ende über diesen verflucht guten Streich, den sie dem Leben gespielt hatten, mächtig zu freuen.

Fünf Jahre später, 1958, trat erstmals der Tod in unsere Familie. In einer Sommernacht zerlegte sich die schwarze DS 19 von Annas Eltern bei einem heftigen Aufprall auf einer der schönsten Nationalstraßen des Landes, der Route du Sud mit ihren majestätischen Platanen, deren breite Baumkronen sich in einer Wölbung zusammenschließen und zu einem dezenten, schützenden Sonnenschirm vereinen.

Meine Großeltern waren gerade auf dem Heimweg vom Festival de la Cité. In der hinter den Türmen und Schutzwällen der Stadt gefangenen Abendhitze hatten sie sich Das Rolandslied angesehen, ein Epos aus 9000 Versen, das von Jean Deschamps gespielt und inszeniert worden war. »König Karl, unser großer Kaiser, war sieben ganze Jahr in Spanien.« Vielleicht sind sie mit diesen Worten im Kopf gestorben, mit diesen Sätzen, die durch den Aufprall gegen ihre Schädelhöhlen knallten, mit diesen Skandierungen, die sich an ihr Gedächtnis klammerten, krallten und nun in Endlosschleife liefen wie auf einer zerkratzten Schallplatte.

Gegen ein Uhr nachts klingelte das Telefon, und eine Welle des Schmerzes und des Kummers überflutete plötzlich unsere Wohnung. Es versteht sich von selbst, dass alles, was ich hier berichte, mir erst später von meinen Eltern erzählt worden ist, denn ich habe kein Bild, kein Geräusch von diesen unsere Familie erschütternden Momenten in Erinnerung behalten.

In Naurouze, der Wasserscheide des Canal du Midi, kam die DS von ihrem Kurs ab und prallte frontal gegen eine Platane, an der sie regelrecht explodierte, sodass das Glasfaserdach in den Graben eines angrenzenden Ackers und die Körper meiner Großeltern auf eine Parzelle auf der gegenüberliegenden Seite der Nationalstraße geschleudert wurden.

An diesem Ort, wo das Wasser zusammenfließt und sich trennt, an dieser Stelle, wo sich die Welten scheiden, stehen zwei riesige Felsblöcke nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Der Legende nach wird in dem Augenblick, da die zwei sich berühren, das Ende der Welt gekommen sein.

In jener Nacht wahrten die Steine den Abstand, doch die Margerits betraten das Ende der Zeit. Sie wurden nach katholischem Ritus bestattet, im Anschluss an eine in der Kathedrale von Saint-Étienne gefeierten Messe, an der natürlich auch mein Vater teilnahm, sicherlich ergriffen, aber vor allem voller Aufmerksamkeit für den protzenden Prunk, die listige Liturgie und den Hokuspokus der Konkurrenz.

Das Spargo hatte seine Gründer verloren, aber mit meiner Mutter eine neue Vollzeit-Verwalterin geerbt, die bereit und gut gewappnet zu sein schien, eine neue Geschichte des Kinos zu schreiben.

1958 war ein gutes Jahr für das Spargo. Mein Onkel, Vertigo, Im Zeichen des Bösen und Die Katze auf dem heißen Blechdach füllten über mehrere Wochen den Saal und halfen den Zuschauern, über die abgenutzten Samtbezüge und die harten Armlehnen hinwegzusehen. Anna ließ einen neuen Philips-Projektor mit Xenon-Lampe, eine bessere Lautsprecheranlage sowie eine Leinwand mit höherem Reflexionsvermögen einbauen. Dank dieser Modernisierung gelangte das kleine Spargo wieder zu innerer Schönheit. Die kosmetische Behandlung würde später erfolgen.

Genau wie die kleinen Kinos erlebten auch die Kirchen ihre letzten schönen Tage. Die Welt befand sich im Wandel, und selbst wenn die großen Umbrüche erst noch bevorstanden, musste mein Vater bereits kämpfen, seine Predigten immer und immer wieder neu schreiben, um ein Publikum zu halten, das eigentlich danach verlangte, andere, weniger konventionelle und autoritäre Formen der Unterhaltung kennenzulernen und auszuprobieren.