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Philip Roth erzählt die Geschichte eines Lebens, wie es normaler nicht sein könnte und das uns gerade deswegen besonders berührt. Von der ersten schockierenden Konfrontation mit dem Tod in den Sommerferien seines Helden über die familiären Wirren und die beruflichen Erfolge in seinem Erwachsenenleben als Designer in einer Werbeagentur bis hin zu der Zeit, als ihm die eigenen Gebrechen zusetzen. Er ist der Vater zweier Söhne aus erster Ehe, die ihn verachten, und einer Tochter aus einer späteren Ehe, die ihn vergöttert. Er liebt, hasst und neidet und muss am Ende erkennen, dass er das wirklich große Glück nie erreicht hat.
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Hanser E-Book
Philip Roth
Jedermann
Roman
Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel Everyman
bei Houghton Mifflin in New York.
Der Abdruck des Mottos erfolgt mit
freundlicher Genehmigung
des Insel Verlags, Frankfurt/Main
ISBN: 978-3-446-25129-8
© Philip Roth 2006
Alle Rechte der deutschen Ausgabe:
© Carl Hanser Verlag München Wien 2006/2015
Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Für J.C.
Hier, wo der Mensch palavert und wehklagt,
Der graue Schopf, erbärmlich dünn, sich neigt,
Wo Jugend bleich und geisterhaft verdirbt,
Wo Denken heißt: sich sorgen
John Keats, »Ode an die Nachtigall«
(Deutsch von Heinz Piontek)
Um das Grab auf dem heruntergekommenen Friedhof standen einige seiner früheren New Yorker Kollegen aus der Werbung, die sich an seine Energie und Originalität erinnerten und seiner Tochter Nancy erzählten, was für ein Vergnügen es gewesen sei, mit ihm zu arbeiten. Es waren auch Leute aus Starfish Beach angereist, dem Seniorendorf an der Küste von New Jersey, wo er seit Thanksgiving 2001 gelebt hatte – ältere Leute, denen er bis vor kurzem noch Malkurse erteilt hatte. Und seine beiden Söhne waren da, Randy und Lonny, Männer in mittleren Jahren aus seiner turbulenten ersten Ehe, die sehr nach ihrer Mutter kamen und daher nur wenig Lobenswertes und viel Abscheuliches von ihm wußten und nur aus Pflichtgefühl und nichts anderem zugegen waren. Sein älterer Bruder Howie und seine Schwägerin waren da – am Abend zuvor aus Kalifornien eingeflogen – und eine seiner drei Exfrauen, die mittlere, Nancys Mutter Phoebe, eine große, sehr schlanke weißhaarige Frau, deren rechter Arm schlaff herabhing. Von Nancy gefragt, ob sie etwas sagen wolle, schüttelte Phoebe schüchtern den Kopf, begann dann aber doch mit leiser und etwas schleppender Stimme zu sprechen. »Es ist so schwer zu glauben. Ich muß immerzu daran denken, wie er durch die Bucht geschwommen ist – sonst nichts. Ich sehe ihn immer nur durch die Bucht schwimmen.« Und dann Nancy, die die Bestattung ihres Vaters organisiert und die Telefonate mit denen geführt hatte, die nun gekommen waren, damit die Trauergemeinde nicht nur aus ihrer Mutter, ihr selbst, seinem Bruder und seiner Schwägerin bestünde. Nur eine einzige Person von den Anwesenden war nicht eingeladen worden, eine korpulente Frau mit freundlichem runden Gesicht und rotgefärbten Haaren, die einfach auf dem Friedhof erschienen war und sich als Maureen vorgestellt hatte, die private Pflegerin, die sich vor Jahren nach seiner Herzoperation um ihn gekümmert hatte. Howie erinnerte sich an sie, ging zu ihr hin und begrüßte sie mit einem Kuß auf die Wange.
Nancy ergriff das Wort: »Ich kann damit anfangen, euch etwas über diesen Friedhof zu erzählen, denn ich habe herausgefunden, daß der Vater meines Großvaters, mein Urgroßvater, nicht nur hier auf dem ursprünglich viel kleineren Gelände zusammen mit meiner Urgroßmutter begraben wurde, sondern daß er im Jahre 1888 auch zu den Gründern dieses Friedhofs zählte. Die Gesellschaft, die den Friedhof finanzierte und anlegen ließ, hatte sich aus den in Union und Essex County verstreuten Bestattungsvereinen jüdischer Wohlfahrtsorganisationen und Gemeinden gebildet. Mein Urgroßvater besaß eine Pension in Elizabeth, in die vor allem frisch eingetroffene Einwanderer kamen, um deren Wohlergehen er sich eifriger kümmerte, als man von einem bloßen Vermieter erwarten mag. Das war auch der Grund, warum er zu den ursprünglichen Mitgliedern jener Gesellschaft zählte, die das freie Feld hier erwarb und planieren und gärtnerisch gestalten ließ, und warum er als erster den Vorsitz übernahm. Er war damals noch relativ jung, aber voller Energie, und nur sein Name steht unter dem Dokument, das den Zweck dieses Friedhofs bezeichnete: ›Bestattung verstorbener Mitglieder gemäß jüdischen Vorschriften und Ritualen‹. Wie nur zu deutlich zu sehen ist, entspricht der Zustand vieler Grabstellen sowie der Zäune und Tore längst nicht mehr dem, wie es sein sollte. Überall sehen wir Niedergang und Verfall, die Tore sind rostig, die Schlösser verschwunden, es kam zu Übergriffen von Vandalen. Der Ort ist zu einem Anhängsel des Flughafens geworden, und was ihr jetzt über Meilen hinweg hört, ist der Lärm des New Jersey Turnpike. Natürlich habe ich zunächst an die wirklich schönen Orte gedacht, an denen mein Vater begraben werden könnte, die Orte, wo er und meine Mutter, als sie jung waren, gemeinsam schwimmen gegangen sind, und an die Orte an der Küste, wo er so gern zum Baden hingefahren ist. Doch obwohl mir beim Anblick des Verfalls hier das Herz brechen will – wie es euch wahrscheinlich auch ergeht, so daß ihr euch vielleicht sogar die Frage stellt, warum wir hier an einem so vom Zahn der Zeit zerstörten Ort zusammengekommen sind –, war es mein Wunsch, daß er nahe bei denen liegen möge, die ihn geliebt haben und von denen er abstammte. Ich wollte nicht, daß er irgendwo allein ist.« Sie verstummte kurz, um sich zu sammeln. Eine Frau mit sanftem Gesicht, Mitte der Dreißig und auf so unauffällige Weise hübsch wie einst ihre Mutter, wirkte sie auf einmal nicht mehr, als sei sie Herrin der Lage oder gar tapfer, sondern wie eine überforderte Zehnjährige. Sie drehte sich zu dem Sarg um, nahm etwas Erde und sagte, ehe sie die auf den Deckel warf, leichthin und noch immer mit der Miene eines verwirrten jungen Mädchens: »Nun, so hat es sich ergeben. Mehr können wir nicht tun, Dad.« Dann fiel ihr seine stoische Maxime aus vergangenen Jahrzehnten ein, und sie begann zu weinen. »Man kann die Wirklichkeit nicht umändern«, sagte sie zu ihm. »Man muß es nehmen, wie es kommt. Halt dich tapfer, und nimm es, wie es kommt.«
Der nächste, der eine Handvoll Erde auf den Sarg warf, war Howie, der zu Kinderzeiten der Gegenstand seiner Verehrung gewesen war und ihn dafür stets liebevoll und freundlich behandelt hatte, ihm geduldig Radfahren, Schwimmen und andere Sportarten beigebracht hatte, die Howie selbst allesamt meisterhaft beherrschte. Noch heute traute man ihm zu, daß er sich beim Football durch die dichteste Abwehrkette kämpfte, und das mit seinen siebenundsiebzig Jahren. Er hatte noch nie ein Krankenhaus von innen gesehen und war, obwohl als sein Bruder demselben Stamm entsprossen, sein Leben lang ein Ausbund von Gesundheit gewesen.
Mit belegter Stimme flüsterte er seiner Frau zu: »Mein kleiner Bruder. Das kann doch gar nicht sein.« Dann wandte er sich an die anderen. »Sehen wir mal, ob ich das kann. Kommen wir zu dem Burschen hier. Mein Bruder …« Er unterbrach sich, um seine Gedanken zu ordnen und um etwas Vernünftiges zustande zu bringen. Seine Art zu reden und der angenehme Klang seiner Stimme erinnerten so sehr an seinen Bruder, daß Phoebe in Tränen ausbrach, und Nancy faßte rasch ihren Arm. »In seinen letzten Jahren«, sagte Howie und schaute in das offene Grab, »hatte er gesundheitliche Probleme, und er war einsam geworden – auch dies kein geringes Problem. Wir telefonierten miteinander, wann immer wir konnten, wenngleich er sich gegen Ende seines Lebens, aus Gründen, die mir nie klargeworden sind, von mir abgewandt hat. Seit seiner Zeit auf der Highschool empfand er den unwiderstehlichen Drang, zu malen, und nachdem er sich aus dem Werbegeschäft zurückgezogen hatte, wo er zunächst als Art Director und dann nach seinem Aufstieg zum Creative Director sehr erfolgreich gewesen war – nach einem ganzen Leben in der Werbebranche gab es in den Jahren, die ihm noch blieben, praktisch keinen Tag, an dem er nicht gemalt hat. Wir können von ihm sagen, was zweifellos von den Angehörigen nahezu aller, die hier begraben liegen, über sie gesagt wurde: Er hätte länger leben sollen. Das hätte er wahrlich verdient.« Er verstummte kurz, und auf seiner von Resignation verdüsterten Miene erschien ein bekümmertes Lächeln. »Als ich auf die Highschool kam und nachmittags Mannschaftstraining hatte, übernahm er die Botengänge, die ich sonst nach der Schule für unseren Vater erledigt hatte. Er genoß es, als erst Neunjähriger die Diamanten in einem Umschlag in seiner Jackentasche, mit dem Bus nach Newark zu fahren, wo der Fasser und der Goldschmied und der Schleifer und der Uhrmacher, mit denen unser Vater zusammenarbeitete, jeder in seinem eigenen Kabäuschen an der Frelinghuysen Avenue saßen. Diese Ausflüge machten dem Kind ungeheure Freude. Daß er diesen Handwerkern bei ihrer einsamen Arbeit in diesen engen kleinen Räumen zusehen durfte, brachte ihn vermutlich auf die Idee, seine Hände zu gebrauchen, um Kunstwerke zu schaffen. Daß er den Schliff der Diamanten durch Vaters Juwelierslupe betrachten konnte, wird ebenfalls seinen Wunsch beflügelt haben, selber Kunstwerke zu schaffen.« Plötzlich mußte Howie lachen, ein kleiner Gefühlsausbruch, der ihm seine Aufgabe ein wenig erleichterte, und er sagte: »Ich war der konventionelle Bruder. In mir haben Diamanten den Wunsch beflügelt, Geld zu verdienen.« Dann machte er dort weiter, wo er aufgehört hatte, und blickte aus dem großen sonnigen Fenster ihrer Kindheit. »Unser Vater gab einmal monatlich im Elizabeth Journal eine kleine Anzeige auf. In der Vorweihnachtszeit, von Thanksgiving bis Weihnachten, gab er die Anzeige wöchentlich auf. ›Wir nehmen Ihre alte Uhr gegen eine neue in Zahlung.‹ Alle diese alten Uhren, die sich so bei ihm ansammelten – die meisten waren nicht mehr zu reparieren –, landeten in einer Schublade hinten im Laden. Mein kleiner Bruder konnte dort stundenlang sitzen, die Zeiger bewegen, den Uhren beim Ticken zuhören, falls sie das noch taten, und eingehend die Zifferblätter und Gehäuse studieren. Das war es, was diesen Jungen interessierte. Hundert, zweihundert in Zahlung gegebene Uhren, alle zusammen wahrscheinlich keine zehn Dollar wert, aber in den Augen unseres angehenden Künstlers war dieses Schubfach im Hinterzimmer eine Schatztruhe. Er trug sie auch – er trug immer irgendeine Uhr, die er aus diesem Schubfach genommen hatte. Eine von denen, die noch funktionierten. An anderen, deren Aussehen ihm gefiel, bastelte er herum, um sie wieder zum Laufen zu bringen, freilich vergebens – meist machte er alles nur schlimmer. Dennoch fing es so an, daß er mit den eigenen Händen komplizierte Dinge tat. Mein Vater hatte immer zwei Mädchen als Aushilfe hinterm Ladentisch, junge Dinger um die Zwanzig, frisch von der Highschool. Hübsche, freundliche Mädchen aus Elizabeth, guterzogene, adrette Mädchen aus christlichen, meist irisch-katholischen Familien, deren Väter und Brüder und Onkel bei Singer oder in der Keksfabrik oder unten am Hafen arbeiteten. Er glaubte, bei netten Christenmädchen würde sich die Kundschaft besser aufgehoben fühlen. Wenn die Kundinnen sie darum baten, legten die Mädchen probeweise einzelne Schmuckstücke an und führten sie ihnen vor, und wenn wir Glück hatten, kauften die Frauen am Ende etwas. Wie mein Vater zu sagen pflegte: Wird ein Schmuckstück von einer hübschen jungen Frau getragen, bilden andere Frauen sich ein, sie sähen mit diesem Schmuck auch so aus. Manche Hafenarbeiter, die bei uns Verlobungs- oder Eheringe für ihre Freundinnen kaufen wollten, waren so verwegen und nahmen die Hand einer Verkäuferin, um den Stein aus der Nähe zu begutachten. Auch mein Bruder hielt sich gern in der Nähe dieser Mädchen auf, und das schon lange bevor er auch nur ahnen konnte, was ihm daran so besonders gefiel. Er half den Mädchen am Feierabend beim Ausräumen des Schaufensters und der Vitrinen. Er tat überhaupt alles, um ihnen zu helfen. Schaufenster und Vitrinen wurden jeden Abend ausgeräumt, nur das billigste Zeug blieb drin – und kurz vor Ladenschluß öffnete dieser kleine Junge mit der Kombination, die mein Vater ihm anvertraut hatte, den großen Tresor im Hinterzimmer. Vorher waren diese Dinge meine Aufgabe gewesen, und auch ich hatte alles unternommen, um so nahe wie möglich an die Mädchen heranzukommen, wobei es mir besonders zwei blonde Schwestern namens Harriet und May angetan hatten. Im Lauf der Jahre kamen und gingen Harriet, May, Annmarie, Jean, dann Myra, Mary, Patty, dann Kathleen und Corine, und jede einzelne von ihnen hat sich verguckt in diesen Jungen. Corine, die große Schönheit, saß Anfang November an der Werkbank im Hinterzimmer und adressierte zusammen mit meinem kleinen Bruder die Kataloge, die unser Geschäft drucken ließ und in der verkaufsträchtigen Vorweihnachtszeit an sämtliche Kunden verschickte; in dieser Zeit hatte mein Vater den Laden an sechs Abenden in der Woche geöffnet, und alle schufteten wie die Verrückten. Gab man meinem Bruder eine Schachtel mit Umschlägen, konnte er sie schneller zählen als jeder andere, erstens weil er so geschickte Finger hatte, und zweitens weil er sie immer in Fünfergruppen zählte. Wenn ich zufällig vorbeischaute, saß er natürlich da und gab mit seiner Zählerei vor Corine an. Wie der Junge es liebte, alles zu tun, was man vom zuverlässigen Sohn eines Juweliers erwarten konnte! Das war das Lieblingslob unseres Vaters – ›zuverlässig‹. Im Lauf der Jahre verkaufte unser Vater Eheringe an Iren und Deutsche und Slowaken und Italiener und Polen, die in Elizabeth lebten, die meisten von ihnen junge Leute aus der Arbeiterklasse. Und mindestens die Hälfte dieser Kunden lud uns dann zur Hochzeit ein, die ganze Familie. Die Leute mochten ihn – er hatte Sinn für Humor, hielt die Preise niedrig und gewährte jedermann Kredit; und so gingen wir hin, erst zur Kirche, dann weiter zu den lärmenden Festlichkeiten. Es gab die Depression, es gab den Krieg, aber es gab auch die Hochzeiten, es gab unsere jungen Verkäuferinnen, es gab die Busfahrten nach Newark mit den Umschlägen voller Diamanten im Wert von vielen hundert Dollar in unseren Manteltaschen. Auf jedem Umschlag standen die Anweisungen unseres Vaters für den Fasser oder den Goldschmied. Es gab den anderthalb Meter hohen Mosley-Tresor, in den wir jeden Abend die flachen Schmucktabletts schoben, um sie am nächsten Morgen wieder hervorzuholen … und das alles zusammen bildete den Kern des Lebens meines Bruders als guter kleiner Junge.« Howies Augen ruhten wieder auf dem Sarg. »Und was jetzt?« fragte er. »Ich denke, ich sollte es dabei belassen. Immer weiterreden, immer mehr Erinnerungen ausgraben … aber warum eigentlich nicht? Was bedeutet schon ein weiterer Eimer Tränen unter Angehörigen und Freunden? Als unser Vater starb, fragte mich mein Bruder, ob ich etwas dagegen hätte, wenn er Vaters Uhr nähme. Es war eine Hamilton, hergestellt in Lancaster, Pennsylvania, und dem Experten, dem Boss zufolge, die beste Uhr, die dieses Land jemals hergestellt hat. Immer wenn er eine verkauft hatte, versicherte unser Vater dem Kunden nachdrücklich, daß er keinen Fehler gemacht habe. ›Sehen Sie, ich trage selbst auch eine. Das ist eine sehr, sehr respektable Uhr, die Hamilton. Für mich‹, pflegte er zu sagen, ›die allerbeste amerikanische Uhr, ohne jede Ausnahme.‹ Neunundsiebzig fünfzig, wenn ich mich recht erinnere. Damals endeten sämtliche Preise auf fünfzig. Die Hamilton hatte einen hervorragenden Ruf. Es war wirklich eine erstklassige Uhr, mein Dad hat seine geliebt, und als mein Bruder sagte, er würde sie gern haben, hat mich das sehr glücklich gemacht. Er hätte auch die Juwelierslupe haben können oder das Diamantenetui unseres Vaters, das abgewetzte alte Lederetui, das er immer in seiner Manteltasche hatte, wenn er außerhalb des Ladens Geschäfte machte: darin befanden sich die Pinzette, die winzigen Schraubenzieher, der kleine Schablonenring, mit denen der Durchmesser der Steine bestimmt wird, und die gefalteten weißen Papiertütchen für lose Diamanten. Diese schönen, sorgsam gehüteten kleinen Gegenstände, mit denen er gearbeitet, die er in seinen Händen gehalten und an seinem Herzen getragen hatte – aber wir haben beschlossen, ihm das alles, die Lupe und das Etui mitsamt seinem Inhalt, mit ins Grab zu geben. Er hatte immer die Lupe in einer Tasche und seine Zigaretten in der anderen, und so haben wir ihm die Lupe ins Totenhemd gesteckt. Ich weiß noch, wie mein Bruder sagte: ›Eigentlich sollten wir sie ihm ans Auge stecken.‹ So weit kann der Schmerz einen treiben. Wir waren völlig verzweifelt, wir wußten nicht, was wir tun sollten. Ob zu Recht oder Unrecht, etwas anderes glaubten wir nicht tun zu können. Denn diese Dinge gehörten ihm nicht nur – sie waren er … Um auf die Hamilton zurückzukommen, meines Vaters alte Hamilton mit der Krone, die man zum allmorgendlichen Aufziehen drehen mußte und zum Verstellen der Zeiger herausziehen konnte … mein Bruder trug sie Tag und Nacht und legte sie nur zum Schwimmen ab. Erst vor achtundvierzig Stunden hat er sie für immer abgelegt. Er gab sie der Krankenschwester, die sie für ihn aufbewahren sollte, während er sich der Operation unterzog, die er dann nicht überlebt hat. Heute morgen im Auto auf dem Weg zum Friedhof hat meine Nichte Nancy mir gezeigt, daß sie ein neues Loch in das Armband hat stanzen lassen und daß sie jetzt die Hamilton trägt, um immer zu wissen, wieviel Uhr es ist.«