Der menschliche Makel - Philip Roth - E-Book

Der menschliche Makel E-Book

Philip Roth

4,4

Beschreibung

Zuckerman begegnet dem alternden Professor Coleman Silk, der durch Missverständnisse und Intrigen alles verloren hat – sein Renommee, seine Familie. Das große Geheimnis, das ihn umgibt, kann er wahrscheinlich nur mit Faunia, seiner jungen Geliebten, teilen. Ein Sittenbild der amerikanischen Gesellschaft.

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Hanser E-Book

Philip Roth

Der menschliche Makel

Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien erstmals 2000

unter dem Titel The Human Stain

bei Houghton Mifflin in New York.

Der Übersetzer dankt dem Deutschen Übersetzerfonds

für die freundliche Unterstützung.

Von den Grenzen des Übersetzens:

Das »kleine Wort«, das Coleman Silk beiläufig zu Beginn der Seminarsitzung ausspricht und das seine Karriere beendet, lautet im Original spooks. Im heutigen Sprachgebrauch bedeutet spook: 1. Gespenst, 2. (im amerikanischen Slang) Spion, bes. CIA-Agent. Bis in die fünfziger Jahre war es jedoch darüber hinaus eine abfällige Bezeichnung für einen Schwarzen (und übrigens, von einem Schwarzen gebraucht, auch eine abfällige Bezeichnung für einen Weißen). Da es im Deutschen kein Wort gibt, das etwas Abwesendes, Unsichtbares bezeichnet und zugleich eine untergründige, vom Sprecher womöglich gar nicht intendierte Herabsetzung eines Schwarzen beinhaltet, habe ich spooks, um wenigstens das Moment der unbeabsichtigten rassistischen Verunglimpfung zu bewahren, mit »dunkle Gestalten, die das Seminarlicht scheuen« übersetzt.

Dirk van Gunsteren

ISBN 978-3-446-25122-9

© Philip Roth 2000

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2002/2015 Umschlag: © Peter-Andreas Hassiepen

Das Sophokles-Motto ist Kurt Steinmanns Übersetzung

des König Ödipus in Reclams Universal-Bibliothek entnommen.

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen

finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Inhalt

1 Jeder weiß

2 Abducken

3 Was macht man mit einem Mädchen, das nicht lesen kann?

4 Welcher Wahnsinnige hat sich das ausgedacht?

5 Das reinigende Ritual

Für R.M.

ÖDIPUS:

Durch welche Reinigung? Wie können wir ihn tilgen?

KREON:

Durch Ächtung oder Sühne, die Tod mit Tod vergilt…

Sophokles: König Ödipus

1 Jeder weiß

Im Sommer 1998 gestand mir mein Nachbar Coleman Silk – der, bevor er zwei Jahre zuvor in Ruhestand gegangen war, über zwanzig Jahre Professor für klassische Literatur am nahe gelegenen Athena College und darüber hinaus sechzehn Jahre Dekan gewesen war –, daß er, im Alter von einundsiebzig Jahren, eine Affäre mit einer vierunddreißigjährigen Putzfrau hatte, die in der Universität arbeitete. Zweimal pro Woche putzte sie auch das ländliche Postamt, eine kleine, graue, mit Schindeln verkleidete Hütte, die aussieht, als könnte sie in den dreißiger Jahren einer armen Farmersfamilie Schutz vor den Sandstürmen Oklahomas geboten haben, und allein und verloren auf dem Grundstück gegenüber der Tankstelle und dem Haushaltswarenladen ihre amerikanische Fahne wehen läßt, an der Kreuzung der beiden Straßen, die das wirtschaftliche Zentrum dieser kleinen Stadt in den Hügeln Neuenglands bilden.

Coleman hatte die Frau zum erstenmal gesehen, als er eines Tages ein paar Minuten vor Schalterschluß dort erschien, um seine Post abzuholen, während sie dort den Boden wischte: eine dünne, große, kantige Frau mit ergrauendem blondem, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenem Haar und jener Art von herben Gesichtszügen, wie man sie gewöhnlich mit kirchenfrommen, hart arbeitenden Familienmüttern aus Neuenglands entbehrungsreicher Frühzeit verbindet, mit jenen strengen Frauen der Kolonialzeit, die in der herrschenden Moral gefangen waren und ihr gehorchten. Sie hieß Faunia Farley, und die Nöte, die sie in ihrem Leben erduldet haben mochte, hielt sie hinter einem jener ausdruckslosen, knochigen Gesichter versteckt, die nichts verbergen und von einer immensen Einsamkeit zeugen. Faunia hatte ein Zimmer in einer auf Milchwirtschaft spezialisierten Farm, wo sie als Gegenleistung beim Melken half. Sie hatte die Highschool nur zwei Jahre lang besucht.

Der Sommer, in dem Coleman mich über Faunia Farley und ihr gemeinsames Geheimnis ins Vertrauen zog, war passenderweise der Sommer, in dem Bill Clintons Geheimnis in allen demütigenden Einzelheiten enthüllt wurde, in allen lebensechten Einzelheiten, wobei sich die Lebensechtheit wie die Demütigung aus den pikanten Einzelheiten ergab. Eine Saison wie diese hatten wir nicht erlebt, seit jemand in einer alten Ausgabe von Penthouse über Nacktfotos der neuen Miss America gestolpert war, die sie elegant kniend und auf dem Rücken liegend zeigten und die junge Frau mit einer solchen Scham erfüllten, daß sie gezwungen war, ihren Titel zurückzugeben und ein internationaler Popstar zu werden. In Neuengland war der Sommer des Jahres 1998 herrlich warm und sonnig, im Baseball war es der Sommer des mythischen Kampfes zwischen einem weißen und einem braunen Home-Run-Gott, und in Amerika war es der Sommer eines gewaltigen Frömmigkeitsanfalls, eines Reinheitsanfalls, denn der internationale Terrorismus, der den Kommunismus als größte Bedrohung der nationalen Sicherheit ersetzt hatte, wurde seinerseits durch Schwanzlutschen ersetzt, und ein viriler, jugendlicher Präsident in mittleren Jahren und eine verknallte, draufgängerische einundzwanzigjährige Angestellte führten sich im Oval Office auf wie zwei Teenager auf einem Parkplatz und belebten so die älteste gemeinsame Leidenschaft der Amerikaner wieder, die historisch betrachtet vielleicht auch ihre trügerischste und subversivste Lust ist: die Ekstase der Scheinheiligkeit. Im Kongreß, in der Presse und im Fernsehen moralisierten die selbstgerechten Heuchler auf den Haupttribünenplätzen um die Wette, erpicht darauf, zu beschuldigen, zu beklagen und zu bestrafen, allesamt besessen von dem Geist, den Hawthorne (der in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts hier in den Berkshires, nicht weit von meinem Haus entfernt, gelebt hatte) in jenem jungen Land aus längst vergangener Zeit als »Geist der Brandmarkung« bezeichnet hatte; sie waren nur zu bereit, strenge Reinigungsrituale zu vollziehen, auf daß die Erektion aus der Spitze der Exekutive verbannt und alles wieder sauber und anständig werde, damit Senator Liebermans zehnjährige Tochter und ihr peinlich berührter Daddy sich ungefährdet die Fernsehnachrichten ansehen konnten. Der konservative Zeitungskolumnist William F. Buckley schrieb: »Zu Zeiten Abälards gab es noch Mittel und Wege, die Wiederholung eines solchen Vorgangs zu verhindern«, womit er andeutete, die angemessenste Strafe für die Missetat des Präsidenten – die Buckley an anderer Stelle als Clintons »inkontinente Fleischeslust« bezeichnete – sei nicht der blutarme Vorgang eines bloßen Amtsenthebungsverfahrens, sondern vielmehr die mittelalterliche Vergeltung, die Kanonikus Abälard für seine heimliche Verführung und Heirat der jungfräulichen Heloise, einer Nichte seines Kapitelbruders Fulbert, von den messerschwingenden Kollegen ebenjenes Fulbert erfuhr. Im Gegensatz zu Khomeinis Fatwa, die Salman Rushdie zum Tode verurteilt hatte, war mit Buckleys wehmütigem Wunsch nach Ahndung durch Kastration jedoch kein finanzieller Anreiz für potentielle Vollstrecker verbunden. Die Strenge, mit der dieses Urteil gesprochen wurde, war jedoch nicht geringer als die des Ajatollah, und sie gründete sich auf ebenso hehre Ideale.

In Amerika war es der Sommer, in dem der Brechreiz zurückkehrte, in dem die Witze, die Spekulationen, die Theorien, die Übertreibungen kein Ende nahmen, in dem man die moralische Verpflichtung, seine Kinder über die Tatsachen des Erwachsenenlebens aufzuklären, zugunsten des Wunsches aufgab, ihnen alle Illusionen zu lassen, es war der Sommer, in dem die Kleinlichkeit der Menschen schlichtweg überwältigend war, in dem eine Art Dämon auf die Nation losgelassen wurde und man sich in beiden Lagern fragte: »Warum sind wir eigentlich so verrückt?«, der Sommer, in dem Männer wie Frauen beim Aufwachen feststellten, daß sie im Schlaf, in einem Zustand weit jenseits von Neid und Abscheu, von Bill Clintons Unverfrorenheit geträumt hatten. Ich selbst träumte in diesem Sommer von einem gewaltigen Spruchband, das dadaistisch wie eine Christo-Verpackung von einem Ende des Weißen Hauses zum anderen gespannt war und auf dem stand: . Es war der Sommer, in dem sich das Durcheinander, das Getümmel, das Chaos zum millionsten Mal als subtiler erwies als diese Ideologie oder jene Moral. Es war der Sommer, in dem jeder an den Penis des Präsidenten dachte und das Leben in all seiner schamlosen Schlüpfrigkeit Amerika wieder einmal in Verwirrung stürzte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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