Jedes Kind ist hoch begabt - Gerald Hüther - E-Book
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Jedes Kind ist hoch begabt E-Book

Gerald Hüther

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  • Herausgeber: Knaus
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2012
Beschreibung

Jedes Kind ist hoch begabt, wir müssen es nur erkennen

Lernen muss so schön sein, dass Kinder weinen, wenn sie Ferien haben. Und Kindheit muss so schön sein, dass man ein Leben lang davon zehrt.

Dieses Buch begründet, warum ein radikales Umdenken in Erziehung und Schule notwendig ist: Unser veraltetes Bildungskonzept schadet den Kindern und der Gesellschaft. Wir müssen aufhören, schon bei den Jüngsten Druck und Stress aufzubauen. Schließlich kann die Neurowissenschaft längst belegen: Jedes Kind ist hoch begabt, wir müssen es nur erkennen und entsprechend handeln.

Wer Arzt werden will, muss gut sein in Mathe, nicht in Mitgefühl. Die vorherrschende Auffassung von Begabung und „Intelligenz“ ist nicht nur falsch, sondern sehr gefährlich. Eltern und Schulen tun zwar alles, um die Fähigkeiten unserer Kinder zu fördern. Doch weil unser Schul- und Bildungssystem immer noch fast ausschließlich auf Wissensvermittlung und Leistung setzt, bringen wir zwar Einserschüler und -studenten hervor, die dann im Berufsleben aber versagen. Auf der Strecke bleiben viele ungenutzte und frustrierte Talente, und diesen Irrweg beschreiten wir schon viel zu lange.

Gerald Hüther und Uli Hauser beschreiben, welche Begabungen in jedem Kind angelegt sind und wie sich das kindliche Gehirn entwickelt. Sie zeigen, dass unsere Erziehung dem viel zu wenig Rechnung trägt und fordern ein radikales Umdenken: Damit alle Kinder ihre Möglichkeiten ganz entfalten können.

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Seitenzahl: 182

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Gerald Hüther

Uli Hauser

Jedes Kind ist hoch begabt

Die angeborenen Talente unserer Kinder und was wir aus ihnen machen

Knaus

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© 2012 beim Albrecht Knaus Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Lektorat: Margret Trebbe-Plath Umschlaggestaltung und Motiv: bürosüd, München Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling ISBN 978-3-641-07959-8V004
www.knaus-verlag.de

»When I was 5 years old, my mother always told me that happiness was the key to life. When I went to school, they asked me what I wanted to be when I grew up. I wrote down ›happy‹. They told me I didn’t understand the assignment, and I told them they didn’t understand life.«

John Lennon

1 Bevor es losgeht

Wie ist das eigentlich, wenn man einfach nur sein darf? Tun und lassen kann, was man will? Morgens aufsteht, das Fenster öffnet, die Luft atmet und froh ist? Froh, am Leben zu sein? Froh, auf der Welt zu sein? Froh, Freunde zu haben, Eltern, eine Familie?

Wie wäre es, wenn wir uns an den Moment erinnern könnten, als wir zum ersten Mal in die Welt geblickt haben? In die Augen der Mutter, in die des Vaters. Wie wohl wir uns fühlten in ihren Armen, lächelnd, brabbelnd, sabbernd; wie egal war uns damals unsere eigene Unvollkommenheit. Was würden wir dafür geben, noch einmal zu erleben, wie wir plötzlich aus dem Dunkel ins Helle gestoßen wurden, in ein aufregendes Abenteuer, das sich Leben nennt? Alles war so groß, so neu, es schien weder Raum noch Zeit zu geben, es war phantastisch, einfach da zu sein. Ohne große Ansprüche, nur atmen, essen, trinken, schlafen. Waren wir müde, schliefen wir ein. Waren wir traurig, weinten wir. Und wir waren froh, wenn uns nur jemand fröhlich anblickte.

Was gäben wir dafür, die Welt aus der Sicht eines Kindes, das wir selbst einmal waren, zu sehen? Als eine Sensation die nächste jagte, als wir aus dem Staunen nicht mehr herauskamen, zu aufgeregt zum Schlafen und müde von all den Eindrücken? Wir waren wie verzaubert von neuen Geräuschen und Gerüchen und all dem, was uns in den Sinn kam. Wir phantasierten, wir erfanden, wir spielten uns ins Leben. Wir waren Könige, keine Knechte. Wir träumten uns auf den Mond und schwebten durch die Zeit. Es war, als hätten die anderen nur auf uns Himmelsstürmer gewartet: Hey, kleiner Fratz!

Wie einfach war das! Und wie schwer ist das Leben geworden, seitdem. Die Leichtigkeit ist verflogen, anstrengend so vieles. Was ist aus der Begeisterung von damals geworden? Aus dem Empfinden, dass jede Sekunde einen neuen Augenblick bereithält, jede Minute aufregende Bewegungen, jede Stunde eine andere Sicht auf die Dinge?

Nun sind wir, erwachsen und der Kindheit entwachsen, aus dem Staunen längst heraus. Die Pflicht, die Verantwortung, die Gewöhnung hat verschüttet, was war. Das Einfache ist kompliziert geworden. Das Langsame schnell. Das Große klein. Wir nehmen uns nicht mehr Zeit, die Zeit nimmt uns. Wir drehen am Rad. Sind müde und erschöpft, fühlen uns ausgelaugt und überfordert. Der Takt der Arbeitswelt diktiert den Alltag, er bestimmt unsere Beziehungen, unsere Verhältnisse, unser Denken. Der technische Fortschritt, der soziale Wandel und das Tempo des Lebens– wir erfahren es täglich– lassen uns zunehmend ratlos zurück. Das Leben ist zu einem Stresstest geworden, effizient soll es sein, perfekt, optimiert. Alles muss Sinn machen, einen Zweck haben, unser Dasein ist Analyse. Wir werten und werden bewertet, der Wettbewerb hat auf allen Ebenen Besitz von uns ergriffen. Bei der Wahl eines Partners, der Geburt eines Kindes, im Job und in der Freizeit. Wir sind vernetzt und verdrahtet und unsere Köpfe voll von Bildern. Wir kommen kaum nach, diese zu ordnen. Haben für alles ein Wort und für nichts mehr Zeit. Denken daran, was wird und was war. Wir rasen durchs Sein und vergessen zu sein, beugen uns wie selbstverständlich Zwängen, ohne sie in Frage zu stellen, und liefern uns einem System aus, das von drei Wörtern beherrscht wird: Ich. Alles. Sofort. Das ist die eilige Dreifaltigkeit unserer Tage.

Wir beschäftigen uns mit allem und jedem. Aber was ist mit unserem eigenen Leben? Wer sind wir und was wollen wir? Wie oft haben Sie sich schon gefragt, weshalb Sie so geworden sind, wie Sie sind? Wer Sie am meisten beeinflusst hat, welche Erfahrungen Sie geprägt haben? Sind Sie der, der Sie sein wollten? Oder der, der Sie sein sollten? Erinnern Sie sich, ob Sie es waren, der über die Richtung entschied, die Sie eingeschlagen haben? Und haben die Anstrengungen, die Sie unternommen haben, um erfolgreich voranzukommen, Sie auch wirklich weitergebracht? Oder hätten Sie lieber einen Weg gewählt, der Umwege zulässt und die Möglichkeit bietet, viele Eindrücke zu sammeln und neue Erfahrungen zu machen? Dann hätten Sie sich vielleicht andere Fähigkeiten angeeignet. Es hätten sich unter Umständen andere Begabungen entfalten können.

Es ist schwer zu sagen, was damals, als Sie klein waren, alles in Ihnen steckte. Wovon Sie träumten, wofür Sie sich begeisterten. Was Sie antrieb. Und wofür Sie eine Begabung mitbrachten. Haben Sie sich schon einmal überlegt, welche Ihrer Talente brachliegen und in Ihrem Leben bisher keine Rolle spielten? Und haben Sie eine Ahnung davon, welche Talente in Ihren Kindern schlummern? Was sie wirklich gut können und was nicht?

Wir fragen uns: Was ist das eigentlich, ein Talent, eine besondere Begabung? Wie entsteht es? Sind Talente angeboren? Woran erkennen wir, ob in einem Kind etwas angelegt ist, über das andere Kinder nicht verfügen? Und was wird aus einer solchen Begabung, wenn niemand sie entdeckt und wenn sich keiner darum kümmert, dass ein Kind dieses Talent auch wirklich entfalten kann? Wenn niemand da ist, der bestärkt, ermutigt, ermuntert? Das Talent wird wohl verkümmern.

Das wäre schade. Wie arm wäre die Welt, würden wir uns nicht ihrer großen Talente erfreuen. Wie dankbar sind wir all den Helden der Geschichte, deren Begabung uns nicht verborgen blieb. Armstrong und Chaplin, Dalí und Disney, Mozart und Wagner. Ihr Schaffen wirkt durch alle Zeit, für alle Zeit. Sie folgten ihrem Ruf und niemand kann im Nachhinein sagen, wann sie ihn zuerst gehört haben. Was genau passierte, dass sie erkannten und erkannt wurden. Was wäre geschehen, wenn die Eltern von Einstein ihrem schüchternen Sprössling das Träumen ausgetrieben und ihm verboten hätten, stundenlang nur Kartenhäuser zu bauen? Wenn seine Lehrer nicht zugelassen hätten, dass Albert im Unterricht über die Antwort auf eine Frage stundenlang grübelte und Aufgaben unmöglich auswendig lernen konnte? Und wie erstaunlich ist die heitere Selbstauskunft des Weltendenkers über das Geheimnis seines Erfolges, die er später gab. Er habe keine besondere Begabung, meinte der Mann im ausgebeulten Mantel, er sei nur »leidenschaftlich neugierig«.

Wie wunderbar. Aber woran lässt sich nun erkennen, welche besonderen Begabungen und Talente in einem Kind verborgen sind? Einer Begabung folgen ja nicht sofort eine besondere Leistung, ein besonderes Können oder eine besondere Fähigkeit. Eine Begabung oder ein Talent ist zunächst nur eine Möglichkeit, später eine besondere Fähigkeit zu erwerben und bestimmte Leistungen zu erbringen, die sich deutlich von dem unterscheiden, was andere auf einem Gebiet sich anzueignen und zu leisten imstande sind.

Es gibt Experten, sogenannte Talentsucher, die meinen herausfinden zu können, ob ein Kind ein solches besonderes Potenzial in sich trägt. Im Leistungssport sind viele solcher Talentsucher unterwegs. Sie schauen sich die Kinder schon sehr früh an, beobachten ihre Bewegungen, bewerten ihren Willen und geben ein Urteil ab. Diese »Scouts« vermögen vielleicht am Körperbau abzuschätzen, ob ein Kind über besonders günstige Voraussetzungen für spätere Spitzenleistungen verfügt. Aber wenn man bedenkt, dass zum Beispiel wirklich große Sportler wie der Welt-Fußballer Lionel Messi eher klein im Wuchs sind, wird deutlich, wie unzuverlässig solche Prognosen sind.

Ein Talent zu sichten ist also nicht so einfach und gestaltet sich noch schwieriger, wenn es um das frühe Erkennen von musischen, gestalterischen oder intellektuellen Begabungen geht. Da muss man noch genauer hinschauen. Thomas Alfa Edison zum Beispiel, einer der größten Erfinder in der Menschheitsgeschichte, war stets der Schlechteste in seiner Klasse. Marcel Prousts Lehrer fanden seine Aufsätze zum Schreien. Pablo Picasso konnte sich nie an die Reihenfolge des Alphabets erinnern. Giacomo Puccini fiel bei Prüfungen immer wieder durch und Paul Cézanne wurde von der Kunstschule abgelehnt.

Auch all jene Begabungen zu erkennen, die Kinder später in die Lage versetzen, als Führungskräfte in Politik und Wirtschaft herauszuragen, ist nicht leicht. Oder Persönlichkeiten zu werden, welche uns allen großen Respekt abnötigen und Maßstäbe für Engagement und Menschlichkeit setzen. Wer hätte gedacht, dass aus dem kleinen Schulbub Nelson Mandela eine der größten Gestalten der Weltgeschichte werden würde, vergleichbar mit Mahatma Gandhi? Dem Gandhi, der von seinen Schuljahren als der »unglücklichsten Zeit in meinem Leben« sprach? Konnte man ahnen, dass ein armes albanisches Bauernmädchen als Mutter Teresa zur Retterin der Betrübten werden würde? Oder Pummel Winston zum großen Churchill? Diese Menschen geben Zeugnis davon, was alles möglich ist. Und sie sind unübertroffene Genies, wie es Beethoven in der Musik war und Henry Ford als moderner Unternehmer. Wenn man den Erzählungen glauben kann, hat der kleine Henry schon im Alter von sieben Jahren Uhren auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Und nichts anderes getan als gebastelt und geforscht und gebaut, ehe dann später in seiner Garage ein motorisiertes Gerät auf vier Rädern stand. Ein Auto.

Schaut man genauer hin, wann erkannt worden ist, dass jemand außergewöhnliche Leistungen zu vollbringen oder enorm verantwortungsvolle Positionen auszufüllen imstande ist, gelangt man zu einer sehr ernüchternden Erkenntnis: Gerade diese Menschen sind als kleine Kinder, im Kindergarten, in der Schule und– wenn sie eine besucht haben– auch auf der Universität nicht durch herausragende Leistungen aufgefallen. Im Gegenteil, die meisten von ihnen haben sich eher dadurch hervorgetan, dass sie in Kindergarten, Schule und Berufsausbildung fehl am Platz waren. Die Schule, sagte der norwegische Komponist Edvard Grieg, »entwickelte in mir nichts als das Schlechte und ließ das Gute unberührt«. Genies sind in der Mehrzahl frustrierte Schulabbrecher, unmotivierte Studenten, Eigenbrötler, unangepasste Querdenker und Musterbrecher. Sie haben weder besondere Schulerfolge noch ausgezeichnete Berufsabschlüsse oder hervorragende akademische Examen vorzuweisen. Vielen, die heute unser Leben bereichern, wurde in ihrer Kindheit das Leben schwer gemacht. John Lennon wurde aus dem Kindergarten geworfen und Woody Allen hatte Probleme in der Schule, weil er auf alles achtete, nur nicht darauf, was die Lehrer sagten.

Was wir heute als außergewöhnliche Fähigkeit dieser Menschen bewundern, trat dann zutage, wenn sie taten, was ihnen wichtig war, und nicht, was von ihnen erwartet wurde. Salvador Dalí zeichnete den lieben langen Tag und Pablo Picasso weigerte sich, rechnen zu lernen. Sie malten, forschten, träumten. Und das so konsequent, kompetent und erfolgreich, wie das ihre Eltern, Erzieher, Lehrer, Ausbilder und Dozenten kaum von ihnen erwartet hätten. Sie bewiesen Charakter, hatten Ausdauer, waren kreativ und eigensinnig. Sie konnten sich so lange Fragen stellen, bis sie Antworten fanden. Sie waren einfach sie selbst und genügten ihren eigenen Ansprüchen. Darunter taten sie es nicht.

Doch in der Schule werden Eigensinn und Charakter nicht positiv bewertet. Die Aufgabe der Lehrer ist es, eine irgendwann formulierte Leistung einzufordern und mit einer anderen zu vergleichen. Dafür gibt es ein Zeugnis und es wird ein Durchschnitt errechnet. Soll sich die Durchschnittsnote verbessern, muss vor allem in den Fächern gelernt werden, die am wenigsten Spaß machen, wo die größten Defizite sind. So gibt es Nachhilfe in Französisch, um von »mangelhaft« auf »ausreichend« zu kommen. Nicht in Englisch, um sich von »befriedigend« auf »sehr gut« zu verbessern. Es ist ein absurdes System, viel Zeit mit dem zu verbringen, was man eher nicht kann. Und nicht mehr Zeit in das zu investieren, was man kann, um richtig gut zu werden. Im System Schule zählt am Ende nur eins: einen passablen Durchschnitt vorweisen zu können. Wer bis dahin dachte, das Leben sei dazu da, um nach Höherem zu streben, dem wird schnell beigebracht, sich lieber am Mittelmaß zu orientieren. Vielleicht stimmt, was der begnadete Aufklärer und Satiriker Georg Christoph Lichtenberg (»Jeder Fehler erscheint unglaublich dumm, wenn andere ihn begehen«) über die Schule sagte: »Ich fürchte, unsere allzu sorgfältige Erziehung erzeugt nur Zwergobst.«

Mehr schlecht als recht hat dieses Ausbildungssystem in den vergangenen Jahrzehnten funktioniert. Irgendwann wurde festgelegt, was man wann zu wissen hat, und über jede richtige Antwort wurde Zeugnis abgelegt. Wer keine Bestnoten mit nach Hause brachte wurde Autoschlosser oder Klempner, wer Arzt werden wollte, musste büffeln. Wenig Zeit wurde auf die Förderung von eigenständigen Persönlichkeiten verwandt und darauf, Potenziale zu erkennen. Wie zum Beispiel bei den Kindern, die wegen eines genetischen Defekts (Trisomie 21) noch vor wenigen Jahren als nicht lernfähig betrachtet wurden. Weil sie in ihrem Aussehen ein wenig an Mongolen erinnern, bezeichnete man sie als »mongoloid«. Oder schimpfte sie »Idioten«; als »Idiot« galt Medizinern und Psychologen lange Zeit ein Mensch mit schweren geistigen Beeinträchtigungen. Heute haben die ersten dieser Kinder Abitur gemacht und studieren. Ihren genetischen Defekt haben sie immer noch; aber sie hatten das Glück, auf Lehrer zu treffen, die nicht daran glauben wollten, dass bei ihnen nichts mehr zu machen sei. Sie begegneten diesen besonderen Kindern respektvoll und akzeptierten ihre Besonderheiten ohne Berührungsängste. Sie verstanden, dass diese Schüler sehr sensibel sind, und ermunterten sie in scheinbar aussichtslosen Situationen. Und ließen sich von ihrem fröhlichen Wesen begeistern. So war plötzlich möglich, was vorher undenkbar erschien.

Doch in der Regel haben unsere Schulen mit Potenzialentfaltung wenig gemein. Und dass immer noch viele Kinder und Jugendliche als unbegabte Versager gelten, bekümmert die für unser Bildungssystem Verantwortlichen nicht. Was vor allem zählt, sind gute Abschlüsse. Ist die Produktion sogenannter Leistungsträger, die Führung übernehmen sollen. Eine gewisse Menge an Versagern hält jedes Bildungssystem aus, solange es nur genügend Eliteschüler und Universitätsabsolventen hervorbringt, die entscheidende Positionen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik zu besetzen imstande sind.

So lautete bislang die Meinung der meisten Bildungsbürger in unserem Land. Deshalb konnte unser Bildungssystem bleiben, wie es war. Und so wird nach wie vor Begabung mit einer guten Schulnote verwechselt. Die Fähigkeit zur Anteilnahme oder die Kunst des Zuhörens sind keine Kategorien, die im Zeugnis oder bei der Besetzung des Studienplatzes eine Rolle spielen. Wer in Deutschland Arzt werden will, muss in Mathe besser sein als im Mitgefühl.

Das aber ist altes Denken. Damit kommen wir heute nicht mehr weiter. Unsere Schulen sind von gestern. Unser antiquiertes Bildungssystem mit seinen Auswahlkriterien ist den neuen Anforderungen nicht mehr gewachsen.

Mehr noch: Immer häufiger erweisen sich die sogenannten High Performer als Nieten. Die Musterschüler glänzen mit blendenden Abschlüssen und ausgezeichneten Zeugnissen. Mit Bravour bestehen sie jede Prüfung, sie gehen gerade ihren Weg, und der führt nach oben: Bald schon werden sie die Führung übernehmen. Und doch scheitern viele kläglich an den Anforderungen, die im Berufsleben an sie gestellt werden. Top-Leute, die sorgfältig vorbereitet und gut aufgestellt sind, Einser-Typen, wie man sagt, kommen plötzlich nicht mehr zurecht und enttäuschen die in sie gesetzten Erwartungen.

Wie kann es sein, dass sie sich in wachsendem Maß als ungeeignet erweisen, die an sie gestellten Anforderungen im Beruf zu bewältigen? Sie haben zwar gelernt, sich höchst effektiv und in kürzester Zeit all das anzueignen, was in Schule und Universität von ihnen verlangt wird, aber sie haben nicht gelernt, komplexe Probleme, Unsicherheiten und Risiken zu meistern. Sie waren immer nur erfolgreich, mussten sich selbst nie in Frage stellen, sind nie gescheitert und wissen nicht, mit Misserfolgen umzugehen. Sie haben nicht gelernt, im Team zu arbeiten, und sind nicht in der Lage, ihre Mitarbeiter zu inspirieren. Sie sind perfekt an ein Leistungssystem angepasst, das klar vorgibt, was zu tun ist. Aber sie können nicht improvisieren, sich einfühlen. Ihnen fehlt die für die wirkliche Entfaltung ihrer Begabungen erforderliche Leidenschaft, die Bereitschaft, eigensinnig neue Wege zu gehen und neue Lösungen zu suchen. Sie sind keine Spitzenkräfte, sondern nur Pflichterfüller geworden.

Aber die werden heute nicht mehr gebraucht. Menschen, die nur auf sich schauen, auch nicht. Die Zeit der Egomanen ist vorbei. In einer zunehmend komplexen Welt kommt es nicht mehr darauf an, eine Rolle zu spielen, sondern man selbst zu sein. Seine Fähigkeiten zu erkennen und auch fähig zu sein, sich mit anderen zu verbinden. Nicht abzugrenzen. In Beziehung zu treten. Den Kontakt zu suchen. Über seinen Schatten zu springen. Das Strecken zu üben, nicht das Beugen. Zu lernen, sich zu öffnen und nicht zu verschließen. Offen zu sein für neue Lösungen. Informationen immer wieder neu miteinander zu kombinieren. Eigensinn, Kreativität, Querdenkertum und soziale Kompetenz sind die Fähigkeiten, die heute von weitaus größerer Bedeutung sind als im vorigen Jahrhundert. Doch all das kann man nicht auswendig lernen oder durch Leistungskontrollen messen. Auf die Herausbildung dieser besonderen Fähigkeiten sind unsere Schulen und Hochschulen nicht vorbereitet.

Die Personalchefs der großen, global operierenden Unternehmen haben offenbar als Erste bemerkt, dass sie sich in der Auswahl der begabtesten Bewerber aus Hochschulen und Universitäten nicht allein auf Zeugnisse und Zensuren verlassen können. Zwar suchen sie nach wie vor die besten Absolventen von Harvard, Oxford oder Cambridge aus, aber vor der Einstellung schicken sie die Bewerber erst einmal für ein Jahr in eine öffentliche Schule, möglichst in ein ärmeres Viertel. Dort bekommen die Eliteabsolventen Gelegenheit, eine Schulklasse zu unterrichten. Keine gewöhnliche, eher eine, in die sich kaum noch ein Lehrer wagt. In der Kinder sitzen, die andere Sorgen haben, als dem Unterricht zu folgen. Sie kommen nicht zurecht mit sich und dem Leben ihrer Eltern. Aber sie sind noch bereit, sich begeistern zu lassen, dann, wenn sie merken, dass es einer ernst meint mit ihnen. In diesen Schulen also lernen die selbst ernannten und erfolgsverwöhnten »Young Leaders« fürs Leben. Ihr Job ist es, Kindern und Jugendlichen, die ihre Lust am Lernen verloren haben, eine neue Perspektive zu schaffen. Teams zu bilden. Mut zu machen. Tatendrang zu wecken. Und nach Rückschlägen nicht aufzugeben. »Teach first« heißt das Programm, und es baut auf Erfahrungen und nicht auf Noten.

Auch die »Studienstiftung des Deutschen Volkes«, die Kaderschmiede für hoch begabte Nachwuchskräfte, hat inzwischen bemerkt, dass hervorragende Schulzensuren keine Topleistungen in Wissenschaft und Technik garantieren. Deshalb vergibt sie ihre begehrten Stipendien immer häufiger an Bewerber, die eher durchschnittliche Schulnoten vorweisen, dafür aber, zum Beispiel, einen Preis beim Wettbewerb »Jugend forscht« gewonnen haben. Und, man ahnt es schon, diese engagierten kleinen Forscher und Tüftler entwickeln sich deutlich besser als die Streber mit besten Schulzensuren. Immer mehr Unternehmer achten auf soziale Kompetenzen.

Wir haben also ein Problem, das es in dieser Weise bisher noch nicht gab. Unser Bildungssystem bietet nicht nur »Minderbegabten« immer weniger Chancen. Es hat auch zunehmend Schwierigkeiten mit den vermeintlich »Mehrbegabten«. Es klappt nicht nur »unten« nicht; auch kommt »oben« nicht mehr das heraus, was heute gebraucht wird. Einige Bildungsexperten wissen darum und manche Wirtschaftsführer sind besorgt. Auch immer mehr Politiker erkennen die Schwierigkeiten. Aber sie haben keinen Plan, wie das System zu reformieren wäre. Es ist schwer, historisch gewachsene Strukturen wie unser Schul- und Ausbildungssystem mit all seinen Richtlinien, Vorschriften und Verwaltungsverordnungen zu verändern. Es nützt nichts, wütend dagegen anzurennen. Lieber sollten wir Fragen stellen, die richtigen Fragen, und uns nicht mit bequemen Antworten begnügen. Vor allem sollten wir hinterfragen, was bisher selbstverständlich schien und sich als Vorurteil in den Köpfen festgesetzt hat: dass es mehr oder weniger »begabte« Kinder und Jugendliche gibt und es daher notwendig sei, diese voneinander zu trennen, um sie ihrer Begabung entsprechend »optimal« fördern zu können.

Also: Was ist dran an unserem jahrhundertealten Begabungskonzept? Was davon ist heute noch sinnvoll und was dient nur noch dazu, alte Selektionskriterien und Organisationsstrukturen eines überkommenen Bildungssystems aufrechtzuerhalten?

Wie lange wollen wir noch an der diesem System zugrunde liegenden Begabungsideologie festhalten? Und können wir uns das überhaupt noch leisten?

Das sind die Fragen, die wir in diesem Buch stellen. Und wir wollen nach Wegen suchen, wie wir aus dieser Sackgasse, in die uns unser bisheriges Begabungskonzept geführt hat, wieder herauskommen.

Wenn man etwas von einer anderen Seite betrachtet, sieht man meist auch etwas anderes. Also Vorsicht, denn es könnte sein, dass Sie sich hier ein Buch besorgt haben, in dem Sie etwas finden, das Ihr bisheriges Bild von dem, was Kinder brauchen, um ihre besonderen Begabungen entfalten zu können, und was wir als Eltern oder Pädagogen bislang unter Erziehung und Bildung verstanden haben, zunichte macht.

Deshalb lehnen Sie sich bitte zurück, atmen Sie tief durch und versuchen Sie alles zu vergessen, was Ihnen zum Thema Förderung der Begabungen von Kindern bisher eingeredet worden ist. Oder welche Vorstellungen Sie selbst davon haben. Vielleicht gelingt es Ihnen sogar, sich einen Moment lang in die Zeit zurückzuversetzen, als Sie selbst noch ein Kind waren. Vielleicht können Sie sich erinnern, was Sie damals gefühlt, gedacht, gespürt haben. Dass sie mal Prinz werden wollten oder eine Fee und sich im Moment verloren, nur im Augenblick lebten, in einem Zustand, nach dem wir Erwachsene, die Vergangenheit und Zukunft immer mitdenken, eine solch große Sehnsucht haben. Pablo Casals, der große spanische Cellist, hat einmal gesagt: »Jede Sekunde, die wir leben, ist ein neuer und einzigartiger Augenblick im Universum, ein Augenblick, der nie wieder sein wird…Und was lehren wir unsere Kinder? Wir lehren sie, dass zwei und zwei vier ergibt und dass Paris die Hauptstadt von Frankreich ist. Wann werden wir sie lehren, was sie sind? Wir sollten zu jedem von ihnen sagen: Weißt du, was du bist? Du bist ein Wunder. Du bist einzigartig. In all den Jahren, die vergangen sind, hat es nie ein Kind wie dich gegeben. Deine Beine, deine Arme, deine geschickten Finger, die Art, wie du dich bewegst. Aus dir könnte ein Shakespeare werden, ein Michelangelo, ein Beethoven. Du hast die Fähigkeit zu allem. Ja, du bist ein Wunder. Und wenn du dann aufwächst, kannst du jemandem Schaden zufügen, der wie du ein Wunder ist? Du musst daran arbeiten– wir alle müssen daran arbeiten–, damit die Welt ihrer Kinder würdig wird.«