Jena-Paradies - Peter Wensierski - E-Book
SONDERANGEBOT

Jena-Paradies E-Book

Peter Wensierski

0,0
18,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Peter Wensierski erzählt von einer Generation Jugendlicher auf der Suche nach einem freien, selbstbestimmten Leben.

Freitag, 10. April 1981: In Jena steigt der 23-jährige Matthias Domaschk in den Schnellzug nach Berlin. Er will zu einer Geburtstagsfeier. Doch er kommt nie an, denn der vollbesetzte Zug wird in Jüterbog gestoppt, Matthias und drei weitere Jenaer festgesetzt. Zwei Tage später liegt er in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Gera tot im Besucherzimmer. Was ist damals geschehen?

Fesselnd erzählt Peter Wensierski anhand der letzten Tage im Leben von Matthias Domaschk die Geschichte einer unangepassten Jugend und ihrer Widersacher in einem totalitären Staat. Wie für die Jenaer Szene der Polizeiüberfall auf eine Wohngemeinschaft, der Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns, zu Wendepunkten werden. Und er zeichnet das Bild einer zunehmend politisierten Generation, die sich in Widerspruch zu ihren angepassten Eltern und intoleranten Bürgern begab, die sich politisch und kulturell schon in den 70er Jahren über Grenzen hinweg verständigte – auf der Suche nach einem aufrechten und selbstbestimmten Leben.

»Namenlos sind auf Dauer fast alle Rebellen und Widerstandskämpfer im ewigen Freiheitskriege der Menschheit. Ganz gleich, ob eines tapferen Menschen Name für kurz in aller Munde war oder nur noch auf einer Liste steht, neben all den Ermordeten. Matthias Domaschk ist ein guter Name, den immerhin wir nicht vergessen werden.« Wolf Biermann, September 2022.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 503

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Wensierski

Jena-Paradies

Peter Wensierski

JENA-PARADIES

Die letzte Reise des Matthias Domaschk

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Aufbau Digital, veröffentlicht in der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin

© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2023

Die Originalausgabe erschien 2022 im Ch. Links Verlag, einer Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG.

www.christoph-links-verlag.de

Prinzenstraße 85, 10969 Berlin

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung von Fotos von Hans-Helmut Kurz (oben) und Robert-Havemann-Gesellschaft/Manfred Hildebrandt/RHG_Fo_HAB_11254 (unten)

ISBN 978-3-96289-186-2

eISBN 978-3-8412-3215-1

Inhalt

Prolog

Freitag, 10. April 1981

Samstag, 11. April 1981

Sonntag, 12. April 1981

Die Tage danach

Die Jahre danach

Fotos und Dokumente

Nachwort

Dank

Abkürzungen

Vornamen und Spitznamen

Ausschnitt aus dem Stadtplan Jena, VEB Tourist Verlag, 1979

Vorbemerkung

Dieses Buch erzählt vom Leben des Jugendlichen Matthias Domaschk und basiert auf Gesprächen mit mehr als 160 Zeitzeugen, zumeist Verwandte, Freunde und Freundinnen, die ihn Matz nannten. Ferner 30 ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit, darunter diejenigen, die mit Matthias Domaschk bei seiner letzten Reise zu tun hatten. Darüber hinaus wurden für dieses Buch etwa 60.000 Seiten teils erstmals aufgefundene MfS- und andere Akten in mehreren Archiven durchgesehen und ausgewertet.

Alle authentischen Äußerungen und Begriffe jener Zeit sind kursiv gesetzt. Sie entstammen in lesbar gemachter Form Briefen, Vernehmungen, Tonbandaufzeichnungen, Vermerken, Zetteln, Abhör- und sonstigen Protokollen oder Tagebüchern sowie dazugehörigen Zeitzeugengesprächen. Dieser Fundus, auf dem das Buch basiert, wird im Thüringer Archiv für Zeitgeschichte »Matthias Domaschk« zugänglich gemacht. Schriftliche Überlieferungen wurden in der ursprünglichen Rechtschreibung belassen, auch die Kleinschreibung in den Briefen von Matz wurde beibehalten. Rekonstruierte wörtliche Rede wird ohne Anführungszeichen wiedergegeben.

Prolog

Herbst 1976. Matz sitzt an der Felskante des alten Steinbruchs. Sein Blick geht weit über die Stadt. Von hier aus kann er alles sehen, die Ruine der Lobdeburg direkt gegenüber, daneben die Hochhäuser von Neulobeda, wo seine Eltern wohnen – aber er nicht mehr. Gleich dahinter Drackendorf, wo Goethe eine Geliebte hatte und Matz eine Schülerband.

Unten im Tal, am Fußweg nach Jena, die Teufelslöcher, wo er vor Jahren mit einem wildfremden Mädchen in der Höhle Schutz fand, als ein Platzregen niederging. Die Kreuzung an der Landstraße, von der aus sie lostrampen, zu Freunden in Leipzig, Zeitz oder Apolda, zu Blueskonzerten nach Wandersleben, nach Polen … Hauptsache weit weg.

Zu seinen Füßen die Berufsschule in Göschwitz, auf der er im nächsten Jahr sein Abitur machen wird, um dann studieren zu können. Hier und da zwischen den Häusern funkelt die Saale auf ihrem Weg zwischen Wiesen und Auen im Volkspark Paradies.

Matz schaut nach rechts, zur alten Autobahnbrücke mit den geheimen Räumen direkt unter der Fahrbahn. An diesem sonnigen Herbsttag sind nur wenige Pkws zu sehen.

Da nähert sich ein Auto. Ein VW Käfer mit West-Berliner Kennzeichen, der jetzt am Steinbruch anhält, den Motor abstellt. Es ist still, keiner ist dem Wagen gefolgt, das Gelände kilometerweit zu überblicken. Niedrige Büsche, ein paar Pionierpflanzen, kleine Tümpel und Teiche mit Schachtelhalm, eine riesige Felswand, in der sich Birken unterschiedlicher Größe angesiedelt haben.

Wie im Italowestern, meint Uwe beim Aussteigen zu Matz, ein toller Treffpunkt!

Seine Freundin Brigitte ist mitgekommen und in einem Korb auf der Rückbank ihr Baby Lara. Sie wollen reden – über die notwendige Revolution in Ost wie West. Erfahrungen austauschen. Uwe hat einen Schulstreik organisiert und kämpft gegen Immobilienspekulanten am Klausenerplatz, ein Sponti, linksradikal und gewaltbereit. Brigitte hat vor ein paar Tagen Flugblätter der Roten Hilfe vor dem Moabiter Frauenknast verteilt und eines davon mitgebracht.

In den nächsten Stunden geht es bei dem heimlichen Treffen im Steinbruch um Frauenbewegung, Männergruppen, Umweltinitiativen, Makrobiotik, um Hippies und Blumenkinder, die zum Mystizismus abdriften, um den Wunsch, natürliche Lebensmittel herzustellen. Sie reden sich die Köpfe heiß über die Zentralisierung oder Dezentralisierung des politischen Kampfes, die alte KPD und die neuen Bewegungen, Straßenfeste und Jugendzentren, Erich Honecker, die Stasi und das Leben in der DDR. Es geht um eine gemeinsame Strategie, um die Frage, wie Veränderungen schon heute bewirkt werden können – und nicht erst für die Enkel.

Warum sollen wir sonst eine Revolution machen?, fragt Uwe und berichtet von überall im Westen entstehenden Handwerkskollektiven, Biobäckereien, Landkommunen, Selbsterfahrungsgruppen.

Am späten Nachmittag müssen Uwe und Brigitte wieder los, sie wollen ins Wendland fahren.

Vielleicht habt ihr davon gehört? In Brokdorf soll ein Atomkraftwerk errichtet werden. Zur nächsten Demo werden Tausende Leute kommen. Drückt uns die Daumen, damit es nicht wieder so eine brutale Prügelei wird! Lotta continua!

Nachdem die West-Berliner losgefahren sind, steckt sich Matz eine Karo an, seine Lieblingszigarette ohne Filter. Er hockt sich noch einmal auf die Kante des Steinbruchs, die steil abfällt, gefährlich tief nach unten. Sein Blick geht wieder in die Ferne.

In Hunderten Fenstern der Wohnblocks von Neulobeda spiegelt sich die Abendsonne. Das Stadtzentrum dagegen liegt schon im Schatten der Berge.

Irgendwo müsste die alte Tonnenmühle zu sehen sein, Am Rähmen, direkt gegenüber die Wohnung von Renate und Matz.

Was der Abend wohl noch bringen wird?

Vielleicht zu den Freunden in die Gartenstraße gehen, zu Hauser, in den Hirsch oder zu Walli im Steinweg?

Es wird kalt hier oben.

Matz greift neben sich, da liegt der Beutel mit Zeitungen und Büchern, die ihm Uwe und Brigitte mitgebracht haben. Er nimmt einen Band mit Gedichten von Peter-Paul Zahl in die Hand, schlägt ihn auf und liest die Zeilen:

rücken an rücken

kämpft es sich besser

da hat man mehr mut

Freitag, 10. April 1981

nach liebe fragen kann ich nicht nach schönheit fragen will ich nicht aber nach unserem leben denn es ist liebe und schönheit

Gedicht von Matthias Domaschk in einem Brief an seinen Freund Heppe, 4. Juni 1978

Freitag, 19.15 Uhr – MfS-Kreisdienststelle Jena

Acht relevante Personen haben Jena verlassen und fahren mit dem D-Zug 506 Richtung Berlin. Diese Personen dürfen nicht in die Hauptstadt einreisen!

Major Herbert Würbach legt den Telefonhörer auf und blickt auf seine Armbanduhr. Viertel acht. Der Befehl von Oberst Werner Weigelt aus der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit in Gera kommt über den Operativstab kurz nach Dienstschluss. Und erklärt mir mal, habe der Oberst noch geblafft, was da wieder los ist bei euch!

Würbach, der stellvertretende Leiter der Kreisdienststelle Jena, ist schon seit acht Uhr morgens im Haus. Damit hat er jetzt nicht mehr gerechnet. Die meisten Mitarbeiter haben ihre Schreibtische schon leergeräumt, die Akten in die Stahlschränke gelegt, deren Türen verschlossen und versiegelt, die persönliche Petschaft ins weiche Plastilin gedrückt. Endlich Wochenende, viel zu viele Stunden im Objekt, es ist April – endlich wärmer! Zu Hause gemütlich machen oder raus auf die Datsche.

Und jetzt das! Von wegen Dienstschluss. Hoffentlich sind die noch nicht alle raus … Würbach selbst hat noch bis acht Uhr morgens einen 24-Stunden-Bereitschaftsdienst.

Erster Gedanke: Wer ist zuständig? Er wählt die Nummern der Mitarbeiter im Referat XX: Urbansky 313.68, Mähler 344.02 … Niemand geht ran. Würbach wird ungeduldig, dann eben die Nummer des Offiziers vom Dienst. Der kontrolliert im Erdgeschoss den Ein- und Ausgang des Gebäudes. Alle Mitarbeiter müssen an ihm vorbei, selbst wenn sie den Hinterausgang nehmen, in den vor Blicken geschützten Hof, wo einige in den Fertigteilgaragen neben dem Benzinbunker ihre Ladas und Wartburgs parken, zwischen Objekt Gerbergasse und Objekt Anger.

Ist Köhler schon raus? Urbansky und Mähler? Rössel? Die Antwort des OvD wartet Würbach gar nicht erst ab: Egal – schaffen Sie mir jeden von der Truppe ran! Sofort! Würbach legt auf, um erneut zu wählen.

Doch sein Apparat kommt ihm zuvor, es klingelt schon wieder. Neue Information aus Gera: Das Beobachterkollektiv am Saalbahnhof hat zwei der Jugendlichen, die in den Zug gestiegen sind, identifiziert: Bei dem mit der Afrofrisur handele es sich um Rösch, Peter, Spitzname Blase. Der andere sei ein gewisser Domaschk, Matthias, genannt Matz. Beides relevante Personen des politischen Untergrunds von Jena.

Ach du grüne Neune, durchfährt es Würbach. Ausgerechnet diese beiden!

Noch vor drei Tagen hat er mit Oberleutnant Roland Mähler und dem Referatsleiter der XX Hauptmann Peter Urbansky besprochen, dass während des X. Parteitages der SED dieser Domaschk unbedingt in Jena gebunden werden müsse. Dafür sollte ein inoffizieller Mitarbeiter sorgen und einen stabilen Kontakt zu Domaschk aufbauen, um seine Absichten und Ziele, Mittel und Methoden aufzuklären.

Sie hatten sich dafür einen guten Plan ausgedacht: Ein junger Bildhauer, Bassist in der Rockband Casua mit dem Decknamen »Steiner« sollte das übernehmen und Domaschk um Hilfe beim Renovieren seines Ateliers bitten. Von anderen Informanten wussten sie, dass Matz sehr hilfsbereit ist, besonders, wenn es ums Renovieren geht.

»Steiner« war ein besonderer Fang der Kreisdienststelle. Kind eines amerikanischen G. I., in Worms geboren. Die Mutter verließ den Vater und ging im Jahr des Mauerbaus zurück zu ihren Verwandten nach Thüringen. Der Junge wurde wegen seiner Hautfarbe und der krausen Haare im Kindergarten und in der Schule gehänselt. Bei der Armee gab es ständig Beleidigungen durch Kameraden. Wenn er in Uniform in die Kneipe kam, schallte ihm entgegen: Jetzt ziehen sie schon N... ein. Als er in der Schlange vor einem Taxistand mal drängelte, beschimpften ihn Bürger als N...schwein und Dreckiger N..., es kam zur Schlägerei. Er sollte vor Gericht. Eine gute Gelegenheit für die Kreisdienststelle: Anwerbung statt Strafe.

Das war vor einem Jahr. Mit dem Kontakt zu Domaschk bekam »Steiner« jetzt seinen ersten wirklich wichtigen Auftrag. Er sollte sich täglich telefonisch bei seinem Führungsoffizier Mähler melden und über Domaschk berichten.

Na, hat ja prima geklappt, denkt Würbach. Keine einzige Meldung von »Steiner« lag bis gestern vor! Und nun verlässt Domaschk Jena mit dem Zug in Richtung Berlin.

Dabei gab es gestern erst eine weitere Lagebesprechung zu Domaschk und Rösch. Wie sich herausgestellt hat, liegen zu beiden seit Wochen brisante Informationen vor, denen nicht konsequent nachgegangen worden ist. Bei der Besprechung ging es hoch her. Jeder Anfangsverdacht, hieß es, muss verfolgt werden. Nichts darf zu leicht genommen werden. Oberleutnant Mähler musste sich den Vorwurf gefallen lassen, eine wichtige Information über Domaschk viel zu lange zurückgehalten zu haben.

Hauptmann Köhler, der wegen Krankheit im März wochenlang ausgefallen und erst seit wenigen Tagen wieder im Dienst war, nutzte das geschickt für sich aus. Er kehrte mal wieder den Eifrigen hervor. Am Ende nahm er Mähler die Sache komplett aus der Hand und verpflichtete sich, alle längst notwendigen Maßnahmen zu Domaschk und Rösch einzuleiten. Deshalb ist Köhler als stellvertretender Referatsleiter XX jetzt mit dafür verantwortlich, beide potenziellen Störenfriede von Berlin fernzuhalten.

Immerhin, das mit dem Einsatz der Beobachtergruppe hat geklappt, sonst würden die beiden unentdeckt im Zug gen Berlin fahren, ohne dass wir davon wüssten! Was haben sie bloß vor?

Moment mal. Mähler wollte doch heute Vormittag einen Kurztreff organisieren, um den IM endlich gegen Domaschk in die Spur zu schicken. »Steiner« sollte heute zu Domaschk gehen und ihn bitten, am Wochenende mitzuhelfen.

Das war der Plan: Sollte Domaschk mit diesem Vorschlag einverstanden sein, wäre eine Bindung über die gesamte darauffolgende Woche nach Feierabend möglich. Nach Eintreten der Dunkelheit könnte Steiner zusammen mit Domaschk ein Bierchen trinken und so das Zusammengehörigkeitsgefühl weiter ausbauen.

Sollte Domaschk nicht mitmauern, hätte »Steiner« wenigstens mit ihm saufen gehen können. Relevante Typen wie Domaschk und Rösch, die wir seit Jahren bearbeiten, dürfen momentan nicht in die Hauptstadt gelangen! An diesem Wochenende kommen immerhin 2700 in- und ausländische Genossen als Gäste und Delegierte zum X. Parteitag der SED, und die sollen eine Hauptstadt der Sauberkeit und Ordnung erleben, ohne dekadent aussehende, langhaarige Paradiesvögel. Der Parteitag soll in hoher Ordnung und Sicherheit verlaufen. Und wer weiß, vielleicht haben die ja noch was Schlimmeres vor? Eine öffentlichkeitswirksame Störaktion? Den beiden ist doch alles zuzutrauen.

Vielleicht weiß Köhler mehr darüber, was die beiden Typen planen? Nur, wo bleibt er denn jetzt bloß? Köhler gibt doch gern an, dass er immer der Letzte ist, der geht, und der Erste, der kommt. Warum nimmt er sein Telefon nicht ab?

Freitag, 16.30 Uhr – Jena, Am Rähmen 3

Matz stürmt das dunkle Treppenhaus hoch, nimmt immer zwei der ausgetretenen Stufen auf einmal, im dritten Stock geht er zur Tür mit dem bunten Blumenplakat, die wie immer unverschlossen ist, drückt die Klinke herunter, wirft seinen Stoffbeutel in die Ecke, macht ein paar Schritte durch den Raum zum Plattenspieler. Das Lied geht ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf. Er greift nach dem kleinen Stapel Schallplatten. Jimi Hendrix, Janis Joplin, Bayon, Breakout, The Doors … Die Scheibe, die er sucht, hat eine Hülle aus einfachem Karton. Es ist der vorletzte Song auf der LP. Die Nadel absenken, schon knistert es in der Rille. Den Verstärker noch etwas aufdrehen, dann legen Ton Steine Scherben los:

Ich bin nicht frei und ich kann nur wählen

Welche Diebe mich bestehlen, welche Mörder mir befehlen

Ich bin tausendmal verblutet und sie haben mich vergessen …

Matz sieht sich um, greift nach dem Rest Rotwein in der Flasche auf dem Tisch, trinkt einen Schluck, stellt die Flasche ab und geht in die Küche, auf der Suche nach etwas Essbarem. Kühlschrank und Schranktüren leuchten ihm knallrot entgegen.

Er muss plötzlich an Kerstin denken. Sie hat in der Wohnung einiges verändert. Kerstin, in die er sich vor einem Jahr Hals über Kopf verknallt hat. Sie ist zu ihm gezogen, hat den Fußboden mit Bastmatten ausgelegt, Zeichnungen aufgehängt und alles Mögliche rot gestrichen. Aber Kerstin ist nicht hier. Sie wird heute auch nicht kommen.

Seit einem halben Jahr ist sie in Weimar, im Gefängnis. Bestraft als asozial und arbeitsscheu. 249 – diesen Paragrafen des DDR-Strafgesetzbuchs kennt jeder Jugendliche in der Szene. Matz ist über Kerstins Verurteilung durch das Kreisgericht Jena wegen Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten immer noch empört. Zehn Monate Gefängnis für seine Freundin, die ihren 20. Geburtstag hinter Gittern verbringen musste, weil sie öfter unentschuldigt nicht bei der Arbeit erschien oder zu spät kam und Aussprachen mit der Abteilung Inneres nicht wahrnahm. Er war oft morgens mit ihr aufgestanden und hatte sie wie ein Bewährungshelfer zu Fuß bis zu ihrer zugewiesenen Arbeitsstelle, der Kinderklinik Jena, begleitet. Vergebens.

Als Ehefrau hätte sie nicht mehr arbeiten müssen. Beim Standesamt Jena hatte Matz deshalb bereits einen Heiratstermin festgemacht: am 2. Oktober 1980 um 8.30 Uhr. Essen und Trinken für die Feier waren schon eingekauft. Zwei Tage vorher kam sie ins Gefängnis.

Auf dem Küchenschrank liegt Kerstins letzter Brief aus dem Knast. Den hat er schon drei Mal gelesen.

Mein lieber Matz! Du schläfst bestimmt noch und ich nutze diese freie Stunde wieder mal an Dich zu schreiben. Es ist 5:30 Uhr! Es wird auch höchste Zeit, ich hatte noch bis gestern auf Post von dir gewartet, aber nichts. Todmüde bin ich ins Bett gefallen, aber jetzt nehme ich mir Zeit für Dich, mein Spatz! Was soll ich Dir berichten? Daß ich mich auf den Sprecher freue, bald wahnsinnig werde vor Sehnsucht, denn jetzt, wo es dem Ende zugeht, kriechen die Tage nur so dahin. Noch 52!

Ach Matz, kann nicht endlich dieser letzte Abschnitt vorbei sein? Dieses schmerzende, zermürbende Warten. Aber wir haben uns beide lieb und werden es schon schaffen. Übrigens habe ich meine Haare ein ganzes Stück abgeschnitten. Ich bin so wahnsinnig müde und ausgepumpt. In der Hoffnung nächste Woche nun endlich Post zu bekommen, höre ich auf. Wenn was ist, schreibe! Sei nun ganz lieb umarmt, ich glaube an Dich!

Beim letzten Sprecher, als er sie im Gefängnis besuchte, sah sie ziemlich mitgenommen aus, bleich und zerbrechlich.

Sein Blick fällt auf zwei Äpfel. Davon könnte es nächste Woche in der HO Vitamine mehr geben, dann würde er sie beim nächsten Sprecher mitnehmen. Kerstin bekommt ja dort kaum Obst. Einen nimmt er sich, beißt hinein. Wieder raus aus der Küche. Vom Schreibtisch greift er einen Zettel, wirft sich auf etwas, das aussieht wie eine Couch, es sind aber nur mehrere übereinandergestapelte Matratzen. Jetzt noch eine Karo anzünden! Der erste Zug geht tief in die Lunge, und er liest:

Hallo Matz! Die Fete ist vom 10. – 12. April. Du mußt in Schönefeld aussteigenmit der S-Bahn Richtung Oranienburg fahren. Dann S-Bahnhof Greifswalder Str. aussteigen. Ab da mußt Du Dich durchfragen nach der Storkower Str. 72. Dann klingelst Du bei Waldorf/Piatek. Bis dann, mach’s gut. Ede

Matz versucht, sich alles einzuprägen. Die Anschrift bei einer Kontrolle im Zug dabeihaben? Besser nicht! Schönefeld, Greifswalder, Storkower … Er wird das schon finden. In Berlin war er ja schon oft.

Ede wird seinen Geburtstag gemeinsam mit Henry in dessen Wohnung feiern. Matz hat die beiden auf einer Geburtstagsfete von Sylvia in Weimar kennengelernt. Mit Ede konnte er gut über Musik und Bücher reden. Henry sprach an jenem Abend wenig, aber wenn, dann nicht drumherum, sondern offen und ehrlich, was ihn bewegt. Und Henry hat genauso wie Matz Bakunin gelesen. Einmal miteinander gesprochen, und es war beiden klar, wie der andere tickt. Grund genug, sich auf das Wiedersehen zu freuen.

Matz mag die ganze Clique in Weimar, zu der auch einige Verrückte aus Apolda und Zeitz gehören. Jedes Wochenende hat er in letzter Zeit mit ihnen verbracht, kaum noch eins in Jena. Sylvia lebt in der Mozartstraße 19 in einer großen Wohnung, das ist aber nur die erste Anlaufstelle, denn in Weimar ist immer was los, im Studentenkeller, im »Jakob« oder im Café Resi. Irgendein wildes Blues- oder Rockkonzert von Knuff oder Frachthof, irgendeine Fete mit selbstgemachtem Apfelschnaps oder den Olympischen Ringen – fünf bunt gefüllte Schnapsgläser übereinandergestapelt, drei unten, zwei darüber … Pfeffi grün, Erdbeer rot, Goldbrand gelb, Eismint blau, Mocca-Likör aus Meerane schwarz. Eine Erfindung von Blase und Matz – dazu stets ein Trinkspruch: Auf Europa! Auf Frankreich! Auf Italien! Blase aber setzte noch eins drauf: Auf die ganze Welt! Sie lachten und tranken.

Nach einer durchzechten Nacht am Sonntagmorgen mit zwanzig Leuten ins Resi, den Kellner bestechen, damit er die Meute platziert. Rühreifrühstück gibt es sonst kaum. Gefeiert wurde viel, wenn nicht bei Sylvia, dann bei Menzi gleich um die Ecke. Matz findet dort das gute alte, warme Gefühl, alle gehören zusammen, alle verstehen sich ohne große Mühe, haben Spaß und genießen es, einfach so sein zu können, wie man ist.

Blase kommt meist mit, dem gefällt das auch. Matz kann stundenlang mit Sylvia und Menzi über Beziehungen und Liebe reden, über Kerstin im Weimarer Gefängnis und das Dauergefühl in ihrem Leben, immer wieder bedroht zu sein. Freitags nach der Arbeit der kurze Weg von Jena zu den langen Nächten von Weimar. Bis zum Morgengrauen gemeinsam Musik hören, trinken, quatschen, rauchen, trinken … Toll, dass sie sich heute Abend in Berlin alle wiedertreffen, auch die Leute aus Zeitz! Die sind schon seit einem Jahr das andere Lieblingsziel von Matz und Blase. Hubert, Fidel, Albrecht, Ohms, Heike … Dort das ganze Wochenende bei Hubert und Fidel in der Naumburger Straße abhängen, ins Haus der Jugend oder in die Grüne Aue gehen. Bei Albrecht Rumtopf mit Grubenfusel trinken. Er bekommt als Sprenghauer bei der Wismut den Sprit fast geschenkt. Zwei Tage lang Frank-Zappa-Platten hören, rumspinnen … Was wäre, wenn … Was sind wieder für bekloppte Sachen passiert?

Ein besonderer Ort in Zeitz, den Matz liebt, ist auf einem parkähnlichen Grund die alte Näther-Villa mit der Gaststätte Weltfrieden. Dort werden sie ungeachtet ihrer langen Haare und Parkas von Kellnern in schwarzweißen Uniformen bedient. Zur Villa des Fabrikanten, der bis zu seiner Enteignung Europas größte Kinderwagenfabrik in Zeitz führte, gehören Marmorkamine, ein Jagdzimmer, breite, mondäne Treppenaufgänge, überall Holzvertäfelungen. Eine andere Welt. Ein Fluchtpunkt.

Es ist wie immer kalt in Matz’ Bude. Am Rähmen 3 ist ein heruntergekommener uralter Bau, vor Jahrhunderten mal eine Mühle gewesen, dicke Steinmauern, kleine Fenster, feuchtes Fundament. Kein fließendes Wasser in der Wohnung, nur ein Hahn draußen im Treppenhaus, über einem Metallausguss. Für die vier Mieter je Stockwerk gibt es ein gemeinschaftliches Plumpsklo. Daneben ein Eimer, nicht immer mit Wasser gefüllt, um nachzuspülen.

Matz erhebt sich, dreht den Verstärker noch etwas lauter, rutscht rüber zum Ofen. Wenigstens der fühlt sich noch lauwarm an.

In jeder Stadt und in jedem Land

Heißt die Parole von unserem Kampf

Keine Macht …

Er weiß, wie die Parole heißt, tausend Mal hat er die Platte schon gehört. Er kennt Leute und Geschichten aus dem besetzten Kreuzberger Georg-von-Rauch-Haus. Matz schreit mit Rio Reiser: … für Niemand!

Noch ein Schluck Rosenthaler Kadarka aus der Flasche. Was hat Henry gesagt? Einen Grund zum Feiern gibt es immer – trotz alledem! Darum wird es gut in Berlin heute Abend, den ganzen Samstag und Sonntag. Ein vergnügtes Wochenende. Montag früh erst wieder Maschinendienst.

Er muss bald los, will aber noch einen anderen Lieblingssong hören und senkt die Nadel des Plattenspielers auf das siebte Lied der Scheibe:

Ich bin aufgewacht und hab gesehen

Woher wir kommen, wohin wir gehen

Und der lange Weg, der vor uns liegt

Führt Schritt für Schritt ins Paradies

Matz’ Blick wandert zum Fenster. Draußen scheint die Sonne, blauer Himmel über Jena. Was für ein Wanderwetter! Zum Landgrafen rauf oder zur Lutherkanzel, über die Kernberge, vielleicht ins Pennickental oder nach Cospeda ins Wirtshaus »Der grüne Baum zur Nachtigall«. Wie früher, mit allen. Mit dreißig, fünfzig oder hundert Leuten. Eigentlich egal, wie das Wetter war. Manchmal, wenn sie so loszogen, sah es aus wie ein Massenaufbruch aus der Stadt, die Berge hoch, alles zurücklassen.

Schritt für Schritt ins Paradies.

Aber Jena ist leer, es sind nur noch wenige Freunde da. Die Orte, an denen sie gemeinsam unbeschwert feierten und Pläne schmiedeten, gibt es nicht mehr. Also auf nach Berlin heute.

Vor ein paar Tagen schrieb sich Matz seinen Frust von der Seele, in einem Brief an Renate, seine erste große Liebe. Sie kämpften gemeinsam damals, aber vor knapp einem Jahr hat sie resigniert die DDR gen Westen verlassen. Ist fortgegangen mit Julia, dem gemeinsamen Kind, und schwanger von ihrem neuen Freund, einem angehenden Pfarrer im Westen. Das tat Matz weh, war für Renate aber wohl das Beste. Die Stasi hatte ihr arg zugesetzt, unerklärliche Einbrüche in ihre Wohnung, ein seltsamer Motorradunfall, vieles machte ihr Angst.

Matz selbst hat es sich verboten, einen Ausreiseantrag zu stellen: Weg will und kann ich hier nicht. Wir müssen hier etwas ändern! Die Ausreise, der letzte Notausgang für so viele, kommt für ihn nicht infrage. Immer noch nicht. Bleibe im Lande und wehre dich täglich! Dieser Spruch gefällt Matz, er hat ihn von Uwe aus dem Westen aufgeschnappt, vor Jahren schon auf einen Zettel geschrieben und an die Wand geheftet. Direkt neben einem Schild, das er mal auf einer Bahnhofstoilette entdeckt hatte: Benehmen Sie sich auch hier bitte als Mensch.

Aber mit wem soll er sich noch gemeinsam wehren? So viele andere sind weg, es macht ihm nicht einmal etwas aus, wenn er wegen seines Bereitschaftsdienstes den ganzen Abend zu Hause bleiben muss:

Die Frage für mich ist ja auch: wohin in Jena? Die einzigen, die ich öfters sehe, sind wohl Tarzan und Blase und dann ist aber auch schon fast Ruhe. Das soll aber nicht nur Geunke sein, denn ich glaube ich muß akzeptieren, daß Leute neue, andere Wege gehen, abbrechen, umdrehen, aufsteigen oder was weiß ich. Vielleicht bin ich auch beim Stand vom Herbst 77 stehen geblieben und weine nur noch »alten« Zeiten nach. Wer weiß, ich habe aber auch keine Lust den Sumpf umzugraben, um dann total bedreckt rauszufinden, warum es so ist. Dazu kommt noch, daß wir allesamt seit Ende 76 immer wieder versucht haben zu kitten, neu zusammenzufügen, was so in die Brüche gegangen ist, daß man’s gar nicht mehr kitten kann. Das Hoffen auf’s Besserwerden haben wir ja alle in den letzten vier bis fünf Jahren gehabt, die Frage ist bloß, was dabei rausgekommen ist?

Ich will eigentlich nur Ehrlichkeit von den Leuten, mehr nicht, aber die kann ich in Jena kaum noch finden – also weg!

Weg nach Berlin jetzt! Dort steht heute die Geburtstagsfete mit den Leuten aus Weimar und Zeitz an. Henry ist 25 und Ede 23 Jahre alt geworden, und die Fahrt wird sich doppelt lohnen: Kathrin, die er von den großen Treffen in Braunsdorf bei ihrem Vater, Pfarrer Walter Schilling, kennt, hat ebenfalls nach Berlin eingeladen, zur Einweihung ihrer neuen Wohnung. Trotz Zuzugssperre konnte sie eine Zweiraumwohnung ergattern. Hinterhof, Metzer Straße, Prenzlauer Berg. Das wird ein gutes Wochenende in der Hauptstadt der DDR!

Der lauwarme Ofen wärmt nicht wirklich. Matz blickt auf seine Uhr, die er an einem Band aus der Jeanstasche gezogen hat. Kurz vor fünf. Es wird Zeit. Der Zug fährt in gut einer Stunde, und er hat versprochen, vorher Blase abzuholen. Unterwegs will er noch kurz bei der Thomas-Mann-Buchhandlung reinschauen. Ob Ute, die Buchhändlerin, das bestellte Buch zurückgelegt hat? Auf der langen Zugfahrt hat er Zeit zu lesen. Und was ist eigentlich mit einem Geschenk für Henry und Ede?

Matz nimmt seinen Beutel vom Fußboden hoch, schaut kurz hinein. Zahnpasta, Seife, Handtuch, ein Paar Wollsocken, Geld, Stift und Papier. Das meiste ist eigentlich immer drin, damit er irgendwo bei irgendwem spontan übernachten kann.

Das letzte seiner Lieblingslieder von Ton Steine Scherben lässt er noch bis zum Ende laufen.

Wir sind geboren, um frei zu sein

Wir sind zwei von Millionen, wir sind nicht allein

Und wir werden es schaffen

Matz springt auf, stellt die Platte zurück, lässt alles andere stehen und liegen, schnappt sich Parka und Beutel, schmeißt die Tür zu und springt die Treppen hinunter – mit locker sitzenden Jesuslatschen nicht ganz ungefährlich. Bloß raus aus dem Loch!

Wir sind geboren, um frei zu sein, dröhnt es in seinem Kopf.

Draußen auf der Straße blendet die Sonne, raus in die Stadt!

Freitag, 19.20 Uhr – MfS-Kreisdienststelle Jena

Herbert Würbach schaut kurz auf, sein Blick geht zum Fenster. Schon Abend, aber dennoch hell. Das Wochenende könnte so schön werden. Aber immer halten die einen auf Trab. Und Oberst Weigelt gibt uns in der KD mal wieder das Gefühl, versagt zu haben.

Würbach ärgert sich nicht zum ersten Mal über den Geraer Leitungskader, der an diesem Wochenende Generalmajor Dieter Lehmann, den Chef der Bezirksverwaltung, vertritt, denn der ist beim Parteitag in Berlin im Palast der Republik.

Weigelt, dieser alte antifaschistische Kämpfer mit seinen acht Klassen Volksschulbildung, zeigt den jüngeren Genossen ganz gern, wo der Hammer hängt, besonders, wenn sie wie Würbach studiert haben. Prolet gegen Intellektuellen. Schwielige Arbeiterfaust gegen zu viel Gerede. So ist das nun mal in der Hierarchie der Arbeit-und-Bauern-Macht. Das MfS ist strikt militärisch organisiert. Gera befiehlt, Jena gehorcht. 15 Bezirksverwaltungen stehen über 209 Kreisdienststellen.

Und ehrlich: Wir haben es ja auch verbockt. Die Zentrale in Berlin hat es sicher auch schon erfahren. Jetzt bin ich es mal wieder, der die Kartoffeln aus dem Feuer holen muss. Egal, mein Dienst geht noch bis acht Uhr morgens. Bis dahin haben wir die Sache gelöst. Vor allem mit Köhlers Hilfe.

Würbach kennt den jungen Hauptmann gut und hält große Stücke auf ihn. Schließlich hat er ihn vor zehn Jahren in der Kreisdienststelle zum Hauptamtlichen vorgeschlagen. Würbach ist so etwas wie Köhlers Ziehvater und der in seinen Augen ein vielversprechender Kader mit Perspektive. Ehrgeizig.

Köhler hat Lehrgänge, Fortbildungen, Schulungen absolviert. Er könnte womöglich den Laden in Jena einmal mit leiten. Köhler schont sich und andere nicht. Ein überzeugter Sozialist, der den von ihm geführten Inoffiziellen Mitarbeitern ein klares Feindbild vermittelt, der zudem als Parteisekretär der Kreisdienststelle für die Durchsetzung der korrekten politischen Linie unter den 92 Mitarbeitern sorgt.

Erst vergangene Woche haben alle Genossen auf der Sitzung der Parteigrundorganisation in ihre Arbeitsmappen wörtlich mitgeschrieben, was Köhler ihnen vortrug zum Thema menschengerechte Gesellschaft: Die Rolle der Partei im MfS und das Absterben des Staates: Der Staat wird erst dann völlig absterben können, wenn die Gesellschaft das Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« verwirklicht hat. Bis diese höhere Phase des Kommunismus eingetreten ist, ist eine strenge Kontrolle der Gesellschaft notwendig.

Strenge Kontrolle der Gesellschaft – seine Leidenschaft. Köhler weiß, was Feinde des Sozialismus sind und wie man sie findet. Ersticken jeglicher Opposition bereits im Keim – so wichtig. Kaum war er 1972 hauptamtlicher Mitarbeiter geworden, half er seinem Referat und der Vorgangsgruppe, den staatsfeindlichen Lyrikkreis im Kulturzentrum Neulobeda zu zerschlagen.

Das war seine erste Bewährungsprobe, bei der er durch ausgezeichnete Arbeit am Feind entscheidend zum Erfolg beitrug. Weitere Lorbeeren verdiente er sich, als im November 1976 der Liedermacher Wolf Biermann ausgebürgert wurde und sich eine Solidaritätswelle unter dessen Anhängern in Jena ausbreitete.

Nirgendwo sonst in der DDR kam es zu solch einer großen Gruppenaktivität von jungen Leuten. Die Unterschriftensammlungen mit der Bitte an die Partei- und Staatsführung, die Ausbürgerung von Biermann zu überdenken, mussten gestoppt, die Rädelsführer festgestellt werden. Da war Köhler mit seinen inoffiziellen Mitarbeitern Tag und Nacht dabei.

Rösch, Domaschk und dessen Freundin Groß hat er jahrelang intensiv beobachtet und operativ bearbeitet, gut informiert durch die von ihm geführten inoffiziellen Mitarbeiter.

In den Augen der Kreisdienststelle entwickelte sich die Theologiestudentin Renate Groß schon bald nach ihrem Umzug 1974 von Berlin nach Jena zu einer Person, die immer wieder Leute aufgewiegelt hat, weil sie eine ausgeprägte feindliche Haltung zur Gesellschaftsordnung der DDR besitzt. Die versucht hat, durch feindlich-negative Handlungen eine Führungsposition im Jenaer Untergrund einzunehmen und lediglich auf Grund ihrer Schwangerschaft 1976 nicht wie acht andere Rädelsführer inhaftiert wurde.

Köhler kennt sie und ihren Freund Domaschk gut. Sehr gut sogar. Fünf Aktenordner mit jeweils bis zu 300 Seiten füllt der Operativvorgang »Kanzel« über ihre Aktivitäten. Drei davon über Renate hat er ins Archiv gegeben. Denn um die kümmern sich jetzt im Westen andere Abteilungen des MfS, das hat die Zentrale in Berlin im Griff. Die anderen beiden »Kanzel«-Bände enthielten auch Material zu Domaschk, der auf dem Vorgang mit erfasst war.

In Köhlers Stahlschrank hat sich in fünf Jahren so einiges angesammelt, wobei noch offen ist, worauf es am Ende mit Domaschk hinauslaufen wird. Ein Ermittlungsverfahren? Oder kann man ihn – wie so viele andere – sogar anwerben?

Damals nach der Biermann-Sache hatten sie in Jena und Gera genau überlegt, wen man inhaftiert und wen nicht. Domaschk und sechs andere wurden zwar verhört, doch bewusst nicht eingesperrt, um den Rest der Szene ins Grübeln zu bringen, ob man den Laufengelassenen überhaupt noch trauen kann. Die Leute sollten sich gegenseitig verdächtigen und Vorwürfe machen. Wir haben einige auf Scheinkontakt genommen, sie deutlich erkennbar in ihrem Betrieb getroffen oder in die Kreisdienststelle bestellt, so dass ihre Kumpel es mitbekommen. Unsere IMs haben das Misstrauen untereinander zusätzlich geschürt. Besonders wirksam: die hier und da eingestreuten Unterstellungen, bei unserer Befragung zu viel erzählt zu haben. Differenzierte Verunsicherung wurde das beim Fernstudium an unserer Hochschule in Potsdam-Eiche im Kurs über Zersetzung genannt.

Im September 1977 haben wir Uwe Behr, als Einzigen der acht Inhaftierten, nicht in den Westen abgeschoben, sondern ohne weitere Erklärung nach Jena zurück entlassen, damit ihm gegenüber – und somit untereinander – Misstrauen entsteht. Dieser Kerl – Bärchen wird er genannt – hat es noch immer schwer. Wird er eigentlich Bärchen geschrieben oder Behrchen? Egal, dafür haben wir unsere Spitznamenkartei.

Über Domaschks engen Freund Rösch hat Köhler vor elf Monaten einen eigenen Vorgang angelegt, um ihm strafbare Handlungen nachzuweisen, weil er feindliche Kontakte unterhält und feindliche Konzeptionen diskutiert. Auf den Aktendeckel schrieb er im Mai 1980 »Qualle« als interne Bezeichnung für den Vorgang. Das fanden er und seine Vorgesetzten witzig für den beleibten Rösch. Da dieser und Domaschk in letzter Zeit öfter im In- und Ausland gemeinsam reisen – ob nach Weimar, Halle, Zeitz, Apolda, Berlin oder nach Warschau, Danzig und in die ČSSR –, sammelt Köhler Material zu Domaschk ebenfalls im Vorgang »Qualle«. Das Beobachterkollektiv am Saalbahnhof hat den beiden in seinem Bericht die Namen »Qualle I« und »Qualle II« gegeben.

Köhler interessieren besonders die Rückverbindungen der beiden zu allen möglichen Konterrevolutionären und Feinden in West-Berlin.

Vor ein paar Wochen erst gab es dazu ein Vorkommnis mit Rösch und Domaschk, das für ihn und die Kreisdienststelle besonders peinlich war.

Köhler hat es mit nur ein paar Sätzen nach oben gemeldet:

Am 20. Januar wurde die Sendung »Radio DDR-Hitparade« im Volkshaus Jena aufgezeichnet. Die Rundfunkmitarbeiter waren dabei von den beiden gezielt getäuscht worden, indem sie scheinheilig Grüße an Freundeausrichten ließen. So hieß es in der Sendung vom 9. Februar: »Nun die Grüße aus Jena – von Hanne, Blase und Matz aus Jena«. In der Folge wurden 14 aus der DDR ausgewiesene Personen gegrüßt.

Blöd gelaufen. Natürlich hagelte es deswegen wieder Vorwürfe aus Gera: Wie konnte das nur passieren?

Köhler bekommt jetzt einen knappen Lagebericht. Er ist überrascht, aber verzieht keine Miene. Das kriegen wir schon hin. Wie war das mit der neuen Information über Domaschk, die Mähler verpennt hat? Die ist wirklich bedeutsam, findet Köhler. Vor allem, wenn man weiß, in welchem Zusammenhang Domaschk und Rösch insgesamt zu sehen sind. Köhlers Referat hat das operative Material über Domaschk erstellt, und die jüngsten Informationen liegen auf Würbachs Tisch. Entscheidende Stellen sind markiert. Würbach beugt sich vor, liest und runzelt die Stirn. Na, da sind ja die Richtigen unterwegs! Wir müssen Dampf machen.

Freitag, 17 Uhr – Jena, Platz der Kosmonauten

Matz hat es eilig, aber die Buchhandlung muss noch sein. Regelmäßig schaut er dort rein, immer in der Hoffnung, etwas zu entdecken, was es wert ist, gelesen zu werden. Und er liest viel. Seit Jahren. Die spannendsten Bücher besorgt er sich allerdings anders, die gibt es hier nicht. Heute hat er Pech. Es ist überhaupt nichts Interessantes eingetroffen, da nützt ihm auch seine gute Beziehung zu Ute, der Buchhändlerin, nicht. Die legt ihm sonst schnell vergriffene Bücher zurück. Er schaut noch einmal die Auslagen durch, greift schließlich nach einem Buch von Lion Feuchtwanger, ein Autor, von dem er schon immer mal etwas lesen wollte. In »Der falsche Nero«, sagt Ute, gehe es in satirischer Weise um die Täuschung und Verblendung eines Volkes und den Aufstieg der Nazis. Interessant, findet Matz. Es kommt in seinen Stoffbeutel, mit auf die Fahrt nach Berlin.

Die Wege in der Innenstadt sind kurz, und man trifft eigentlich immer Bekannte. Seltsam, heute nicht. Dann doch. Er hätte sie im Gewühl der Menschen fast übersehen, aber Maria ruft laut seinen Namen. Sie stehen kurz zusammen. Er spricht von seiner Vorfreude auf Berlin, Maria fragt, ob er am Dienstagabend Zeit hat: Ich würde mich freuen, wenn du auf einen Besuch bei mir vorbeikommst.

Mach ich, antwortet Matz.

Wir könnten auch mal wieder zusammen auf ein Konzert gehen, sagt Maria.

Ja klar, Maria, machen wir. Ich muss jetzt los.

Sie sehen sich in die Augen, Maria umarmt ihn, gibt Matz einen Kuss auf die Wange. Nach ein paar Schritten dreht sie sich noch einmal um.

Bis dann, Matz! Viel Spaß in Berlin!

Matz hat die Zwätzengasse hinter sich gelassen, schon ist er in der Saalbahnhofstraße. Fast hätte er vergessen, die Postkarte einzuwerfen, die er heute bei der Arbeit im Heizungskeller geschrieben hat. Eine Geburtstagskarte an seine Ex-Freundin Renate, die nun in Frankfurt am Main lebt:

liebe renate! ich wünsche dir alles echt gute zum geburtstag. und hoffe, daß es dir langsam aber sicher leichter fällt da zu leben, wo du nun mal lebst. (scheiß grenze!) alles liebe bis bald! matz

Im Spitzweidenweg Nummer 11 klingelt er bei seinem Freund. Irgendwie ist es Blase gelungen, in diesem Wohnhaus für Zeiss-Arbeiter und Krankenschwestern eine kleine Einraumwohnung zu ergattern, die er allerdings nur zum Schlafen und Klamottenwechseln aufsucht. 9 Quadratmeter, mein sozialistisches Wohnklo, 3,02 Meter mal 3,04 Meter, aber eine deftige Monatsmiete: 50 Mark. Darum trifft man Blase meist als Besucher in irgendeiner der offenen Wohnungen seiner Freunde an. Am Markt 24 etwa, da liegt der Schlüssel auf dem Elektrozähler. Nach Feierabend setzt sich Blase dort oft in die Küche, kocht sich einen Tee und wartet, wer so alles eintrifft. Nach und nach ist der Küchentisch voller Leute. Das findet er angenehmer, als allein in seiner Absteige zu sein.

Matz klingelt ein zweites Mal und wartet. Er sieht sich in der Straße um, erblickt gegenüber das Gebäude des Wehrkreiskommandos. Die haben ihn vor vier Jahren zur NVA geschickt.

Endlich kommt sein Freund aus dem vierten Stock herunter, in der Hand einen gar nicht so kleinen Koffer.

Wozu nimmst du so ein großes Ding mit?, fragt Matz.

Für Schallplatten, antwortet Blase, Westschallplatten! Ich hab da was organisiert, mit Ria. Die bringt mir einiges mit, vorausgesetzt, an der Grenze geht’s gut.

Ria gehört zu den vielen, die schon längst drüben sind. Zumeist unfreiwillig oder zermürbt von den Verhältnissen. Sie lebt jetzt in West-Berlin wie die meisten ihrer Freunde aus Jena, die nicht nach Westdeutschland wollten, sondern nach West-Berlin und wenn möglich Kreuzberg, mit billigen Mieten und einer spannenden Mischung aus Alten und Studenten, Türken, Wehrdienstverweigerern und politisch aktiven Jugendlichen.

Matz und Blase gehen schweigend nebeneinander auf den Saalbahnhof zu. Obwohl es noch recht hell ist, leuchtet die Mitropa-Reklame schon. Ein Blick auf die Zeiger der Uhr über dem Eingang: 17.40 Uhr. Genug Zeit, um vor der Abfahrt noch ein Bier zu trinken. Die bis an die Decke geflieste Bahnhofshalle ist voller Leute, doch einer der drei Schalter rechts ist gerade frei. Rasch hin! Jeder kauft seine Fahrkarte für den Schnellzug nach Berlin. Der kommt aus Saalfeld, fährt um 18.19 Uhr vom Saalbahnhof ab, über Naumburg, Weißenfels und Leipzig und wird nach Halt in Schönefeld und Lichtenberg um 22.14 Uhr in Berlin-Ostbahnhof sein.

Matz legt 22,60 Mark passend auf die bewegliche Schublade, die die Fahrkartenverkäuferin hinter der Glasscheibe – ritsch, ratsch – mit einem kleinen Billett darauf zurückbefördert. Ganz schön teuer, aber eben auch ganz schön schnell. Trampen, wie sonst oft, würde heute nicht funktionieren. Mit dem Schnellzug und der S-Bahn in Berlin sind sie bestimmt noch weit vor Mitternacht bei Ede, Henry und den anderen.

Zur Mitropa geht es über eine breite Treppe nach oben. Fast alle Tische sind besetzt. Da entdecken sie Behrchen und seine schwangere Freundin Ute, weiter hinten im Raum noch ein paar andere Bekannte. Blase ist auch von weitem leicht zu erkennen, nicht nur weil er ziemlich beleibt ist, sondern vor allem an seinen in alle Richtungen abstehenden Haaren: ein Wuschelkopf mit fein gekräuselter, üppiger Lockenpracht. Matz erscheint neben ihm noch schmaler, als er ohnehin ist, mit seinen eng anliegenden Jeans, dem tief herunterhängenden Tramperbeutel und den dünnen, schulterlangen Haaren.

Blase ist hungrig und geht zur Vitrine. Doch da liegen nur noch zwei traurige Brötchen, deren Wurst- und Käsescheiben sich verschwitzt nach oben biegen.

Unappetitlich wie Sau!, entfährt es ihm. Matz lacht und bestellt ein Bier. Blase versucht die Buffetkraft zu überreden, sich auf die Suche nach etwas Essbarem zu machen. Vergeblich. Am Ende sitzen beide mit Bier am Tisch von Behrchen.

Ach, nach Hiddensee wollt ihr eine Woche? Wie habt ihr das geschafft?

Sie plaudern eine Weile mit den angehenden Eltern. Matz erzählt von seinem vergangenen Wochenende, an dem er mit Freunden in Zeitz abgehangen hat.

Behrchen fragt Blase, wie die Beerdigung seines Vaters vor drei Wochen in Rostock war. Blase winkt ab, er mag nicht darüber reden. Es ist auch nicht mehr viel Zeit.

Sie verlassen die Mitropa, die Treppe hinunter, durch den Tunnel unter den Gleisen, zum Bahnsteig, der voller Fahrgäste ist. Der Schnellzug D 506 fährt ein. Die Leute drängeln, aber Matz und Blase haben ja Platzkarten. Am hinteren Ende des Zuges, im Wagen 8, können sie sich direkt am Fenster niederlassen. Blase verstaut seinen Koffer auf dem Gitter über seinem Kopf. Er ist müde, streckt die Beine aus und will erst mal eine Runde schlafen. Behrchen und seine Freundin nehmen die Sitzbank im Gang direkt gegenüber.

Es ruckelt kurz, die Diesellok zieht an, und der Zug verlässt Jena.

Freitag, 19.30 Uhr – MfS-Kreisdienststelle Jena

Würbach ist wieder allein in seinem Zimmer. Er starrt auf die vor ihm liegenden Blätter mit den markierten Stellen.

Domaschk sprach offen über Terrorismus und von »Roten Brigaden«, zu denen er sich bekannte. Seinen Äußerungen war zu entnehmen, daß sich Domaschk sehr viel mit dieser Problematik auseinandersetzt und bereit wäre, sich selbst an solchen Aktivitäten zu beteiligen. Die Meinung des »Matz«ist dahin zu konkretisieren, daß er solche terroristischen Handlungen, bzw. die Handlungen solcher »Roter Brigaden« mit Gewalt für den einzigsten Lösungsweg in unserer Gesellschaft bei der Beseitigung der herrschenden Mißstände sieht.

Auf der nächsten Seite dann die zugespitzte Schlussfolgerung, daß es sich bei Domaschk um eine existierende Gruppe mit terroristischen Zielstellungen/Vorhaben handelt.

Das passt ja zu den anderen vorliegenden Erkenntnissen. Die beiden fahren doch nicht ohne Grund von Jena nach Berlin! Ein Anschlag auf den Parteitag? Vielleicht sind sie schneller, als wir dachten? Wir müssen vom Schlimmsten ausgehen. Unser Plan war im Prinzip gut.

Sollte der IM »Steiner« direkt hinsichtlich seiner Mitarbeit in einer terroristischen Gruppierung angesprochen werden, lehnt er diese nicht sofort und direkt ab.

Würbach weiß: Das Beobachterkollektiv unter Leitung des Genossen Sigurd Schneider hat am Saalbahnhof nicht verhindern können, dass das Gespann Rösch/Domaschk und die anderen Typen aus Jena in den Zug einsteigen. Das hätte Köhler doch voraussehen und sich anders kümmern müssen!

Die Beobachter waren eine HIM-Gruppe und mussten unerkannt bleiben. Nur wenn man jemanden einschüchtern will, wird offen observiert, auffällig vor Wohnungen oder Versammlungsorten herumgestanden. Rösch und Domaschk haben nicht einmal im Ansatz bemerkt, dass sie heute begleitet wurden. Die weitere Überwachung der beiden durch die Genossen der Abteilung VIII ist noch für die ganze nächste Woche beantragt worden, wenn sie zurück in Jena sind. Erst dann endet der Kampfkurs X und damit die erhöhte Wachsamkeit.

Kontrolle ist nun mal gut. Kontrolle macht die Dinge beherrschbar.

Aber jetzt liegt der schwarze Peter erst mal bei Würbach.

Sein Problem ist ein Schnellzug, der mit gut hundert Stundenkilometern in den Abend fährt, mit staatsfeindlichen Elementen an Bord, immer weiter auf die Hauptstadt zu …

Würbach überlegt. Oberstleutnant Walter Nowack, der Kreisdienststellenleiter, ist schon zu Hause, wahrscheinlich gemütlich beim Abendessen. Der alte Nowack ist oft krank, seine Ausfälle belasten die Arbeit der Kreisdienststelle schon seit längerem. Den anzurufen hat noch einen Moment Zeit. Vielleicht hat ihm Gera an mir vorbei sowieso schon Bescheid gegeben.

Würbach muss alle Hebel in Gang setzen, um einen Eklat zu verhindern, die peinliche Panne wiedergutzumachen. Acht Leute aus dem politischen Untergrund Jenas im Zug nach Berlin! Na klar, wird es selbst in der Berliner Zentrale beim Minister heißen, typisch KD Jena! Nicht gut für den Ruf, nicht gut für die Auszeichnungen und die Prämien.

Also los jetzt: Anrufe, Fernschreiben, Anrufe. Operativer Einsatzstab, Abteilung XX, Zentraler Operativstab, Bezirksverwaltung Berlin. Die Volkspolizei muss ran. Ist denn Transportpolizei im Zug? Ein Zugbegleitkommando? Welche Zwischenhalte gibt es? Wann kommt der Zug in Berlin genau an? In drei oder vier Stunden? Nicht mehr viel Zeit.

An den Zentralen Operativstab in Berlin geht die Order, im Bahnhof Lichtenberg vorsorglich Posten aufziehen zu lassen, um die Jugendlichen abzufangen, bevor sie ins Stadtzentrum und damit in die Nähe des dort gerade beginnenden X. Parteitages der SED gelangen könnten.

Dann schießt es Würbach siedend heiß durch den Kopf: Halle! Der Zug müsste doch bald in Halle einen Zwischenhalt machen! Dort haben die beiden Gesinnungsgenossen, die sich ihnen womöglich anschließen oder etwas übergeben könnten. Wir holen sie einfach dort schon aus dem Zug oder setzen sie in Halle beim Treffen mit ihren Kumpanen fest!

Würbach schickt über die Funk- und Chiffrierstelle ein Fernschreiben zur Bezirksverwaltung Halle:

Entsprechend bisheriger operativer Erkenntnisse besteht die Möglichkeit, dass 8 Personen den operativ bekannten Jugenddiakon Rochau, Lothar in Halle-Neustadt aufsuchen. Wir bitten um Kenntnisnahme und sofortige Information bei Feststellung der Personen in Halle. Leiter der KD, in Vertretung Würbach.

In Halle, Gera und Jena weiß man genau Bescheid über die Kontakte der Untergrundkreise beider Städte, auch über die speziellen Beziehungen von Rösch und Domaschk zu einer Gruppe um den Jugenddiakon Lothar Rochau, die das MfS kürzlich ziemlich aufgeschreckt hat. Seit Dezember hat die Bezirksverwaltung Halle die Treffen dieser Fünfergruppe verfolgt, die ihrer Einschätzung nach eine anarchistische Terrorgruppe nach dem Vorbild der Stadtguerilla im Westen aufbauen könnte. Die fünf haben sich Decknamen gegeben, konspirative Quartiere organisiert, Kontakt zu Palästinensern gesucht, einen Aufruf für ihr erstes Flugblatt vorbereitet, persönliches Kampftraining begonnen – und sie wollten sich Sprengstoff und Waffen besorgen, um Anschläge in der ganzen DDR zu verüben … Im Prinzip geht es, glauben die zuständigen MfS-Abteilungen, um den Aufbau einer DDR-RAF, einer linksextremistischen Rote Armee Fraktion, mit Unterstützergruppen im ganzen Land. Erst vor wenigen Tagen wurden zwei der in ihren Augen angehenden Terroristen in Halle festgenommen. Deren Befragung ist in vollem Gange.

In den komplett abgehörten Gesprächen der Gruppe ist auch von Sympathisanten in Jena die Rede, ausdrücklich von Blase und seinen Leuten. Der Verdacht besteht, Rösch und Domaschk könnten die nächste Basis in Jena bilden. Das ist auch Köhler, Würbach und Nowack bekannt. Vor drei Wochen, im jüngsten Lagebericht zu »Qualle«, hat Leutnant Hans Georg Schütz sie auf die möglichen Folgen der engen Verbindung von Rösch zur Gruppe in Halle deutlich hingewiesen. Allerdings hat Schütz zur Absicherung des Parteitages Jena vor Tagen schon verlassen. Den kann Würbach jetzt nicht dazu befragen. Dabei eilt es, so oder so.

Die beiden, die da Richtung Berlin fahren, sind eine explosive Mischung!

Nicht umsonst hat ein Kollege aus Halle, der den Fall bearbeitet, in einer Liste neben dem Namen Rösch mit Kugelschreiber den Vermerk gemacht: Gewaltbereit.

Freitag, 18.40 Uhr – Schnellzug D 506 zwischen Jena und Naumburg

Matz schaut aus dem Zugfenster. Sein Buch hat er aus dem Beutel genommen, aber noch nicht begonnen zu lesen. Blase liegt ihm gegenüber auf der Sitzbank und schnarcht. Er ist sofort eingeschlafen, als das gleichmäßige Fahrgeräusch des Zuges mit dem ewigen Tacktack der Gleise einsetzte. Der Waggon ist überheizt, das langärmelige Hemd, das Matz über dem T-Shirt trägt, überflüssig.

Draußen breitet sich die Abendsonne über der Landschaft aus. Sie sind jetzt kurz vor Naumburg. Die Bäume zeigen noch keine frischen Blätter, aber das Gestrüpp entlang der Saale leuchtet schon frühlingsgrün. Der Winter ist vorbei.

Was das Jahr wohl bringen wird? Matz könnte im Sommer nach Prag oder Budapest reisen, um dort seine Tochter wiederzusehen, die bald schon ein Jahr im Westen lebt.

Die kleine Julia, sie wird in diesem Jahr immerhin fünf! Ob er sie noch wiedererkennt? Und Julia ihn?

Aber ob das klappt? In diesem Winter wurde er schon einmal ohne Begründung am Grenzübergang nach Polen auf DDR-Seite abgewiesen.

Er war noch 18, als Renate feststellte, dass sie schwanger war. Sie bereits 26.

Was für ein Theater sein Vater gemacht hat! Du verbaust dir doch dein ganzes Leben! Gerhard Domaschk weigerte sich lange Zeit, das Baby überhaupt zu sehen. Er kam nicht ein einziges Mal zu Besuch Am Rähmen vorbei. In dieses Loch. Im Gegensatz zu seiner Mutter Ruth, die ihre Besuche dem Vater jedoch verschwieg.

Erst zu Julias drittem Geburtstag, der im Dezember 1979 im Pfarrhaus von Renate gefeiert wurde, kam sein Vater, brachte ein Stofftier als Geschenk und feierte mit, zur großen Freude von Matz.

Und Renates Eltern? Rigoros evangelikal, mit streng konservativen Auffassungen: ein nichteheliches Kind, ein Bastard. Immerhin kamen sie nach der Geburt gleich zu Besuch.

Auch von ihrem Arbeitgeber, der evangelischen Kirche, bekam Renate Druck. Ihr Vorgesetzter war entsetzt. Für den Superintendenten war eine unverheiratete Pfarrerin mit illegitimem Kind eine Katastrophe.

Für sie war er wiederum ein verknöcherter Reaktionär, von denen es viel zu viele in der Kirche gab.

Renate und Matz hatten es nicht leicht. Zu dritt lebten sie nur gut ein halbes Jahr zusammen. Im Sommer 1977 musste Renate Jena verlassen, denn die Kirche hatte der angehenden Pfarrerin zum Abschluss ihrer Ausbildung eine Stelle in Ostthüringen zugewiesen.

Aber da hatten sich die beiden eh schon getrennt, zu anstrengend, zu einengend, zu kompliziert, zu viel Druck von außen. Sie blieben eng befreundet. Renate wolle Matz bei seiner Entwicklung nicht länger im Wege stehen, schrieb sie ihm.

Er besuchte Renate und seine Tochter Julia immer wieder an ihrer ersten Pfarrstelle in Nöbdenitz, half ihr mit seinem Freund Tarzan beim Kohlen-in-den-Schuppen-Schaufeln und Renovieren, freute sich an Esel und Hund, die sie dort für Julia zulegte. Aber nicht einmal elf Monate nach Julias Geburt wurde er im November 1977 für eineinhalb Jahre zur Armee eingezogen.

Als Matz im Mai 1979 zurückkam, fand er nicht mehr das Jena vor, das er verlassen hatte. Renate hatte sich in einen neuen Mann verliebt, einen Vikar aus dem Westen. Zunächst prüften sie, ob nicht die Möglichkeit bestünde, dass er zu ihr in die DDR käme, zumindest zeitweise von seiner Kirche überstellt. Viele Pfarrer waren schließlich in den fünfziger Jahren von West nach Ost übergesiedelt und geblieben. Sie schalteten die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin ein, doch nach eineinhalb Jahren Verhandlungen mit DDR-Behörden kam vom dortigen Leiter Günter Gaus ein enttäuschender Brief. Das Staatssekretariat für Kirchenfragen unter Leitung von Klaus Gysi war der Ansicht, es gebe schon genug Ärger mit evangelischen Pfarrern in der DDR, und da werde man sich nicht noch einen Westpfarrer dazuholen.

Wir regeln das kirchlich, hieß es, als Renate das Landeskirchenamt Eisenach um Hilfe bat. Dort drängte Oberkirchenrat Wolfram Johannes auf Übersiedlung als Familienzusammenführung.

So verließen Renate und Julia im Sommer 1980 ihre Heimat – für immer.

Matz musste Abschied von seiner inzwischen dreieinhalbjährigen Tochter nehmen. Renate traf ihn in der Wohnung seiner Eltern in Neulobeda, denn die waren verreist. Sie ließ Matz mit Julia einen ganzen Tag allein. Ein letztes Mal.

Matz macht das alles immer noch zu schaffen. Am vergangenen Wochenende bei Fidel und Hubert in Zeitz hat er sich wieder mal ziemlich betrunken.

Dabei hatte alles so unbeschwert und schön angefangen im Juni 1975, als er sie abends besucht hatte, um ihr den geliehenen Kassettenrekorder zurückzubringen. Der hatte für Musik gesorgt, als er seinen 18. Geburtstag in der Gartenlaube seines Vaters feierte. Sie redeten lange, über ihre Eltern, über Bücher, Berlin und Jena, ihre Lebenspläne, und irgendwann fuhr kein Bus mehr, der Matz zurück nach Neulobeda hätte bringen können.

Komm, bleib bei mir, sagte Renate. Sie schliefen in einem Bett.

Am darauffolgenden Wochenende nahm Matz sie mit auf das Wochenendgrundstück seines Vaters. Dort lagen sie bei Kerze und Rotwein in der kleinen Schlafkammer unter dem Dach der Gartenlaube. Sie schwiegen und blickten durch das Fenster in den Sternenhimmel.

Erst als sie am nächsten Tag die Wärme der Mittagssonne spürten, wachten beide auf. Renate zeigte ihm später, was sie damals in ihr Tagebuch notierte:

Ich werde mit Matz immer jünger. Er ist so unschuldig, gradlinig und ehrlich. Seine innere Sicherheit gibt auch mir diese Kraft, die wir alle so sehr brauchen. Ich möchte in dieser Beziehung schwimmen, genauso wie er.

Lange vorbei.

Matz sieht durch das Zugfenster, wie es zu dämmern beginnt, wie die Wiesen von frischem Grün allmählich in dunkles Schwarz wechseln. Wie oft er schon wild gezeltet hat auf solchen Wiesen, im Wald, an einem Fluss!

Der lange Sommer mit seiner ersten Liebe war total verregnet. Tagelang hatte er in Masuren mit Renate im Zelt gelegen, mitten in der Wildnis in Polen. Sie hatten sich aneinander gewärmt, die Kälte nicht bemerkt, die Nässe nicht, die über Nacht in ihr Zelt, in ihre Schlafsäcke hineingekrochen kam. Morgens den Reißverschluss herunterziehen, kurz in den Nebel hinausschauen, zurück ins Zelt, eng aneinanderschmiegen, über die Natur philosophieren und Zukunftspläne spinnen. Renate war im vierten Monat schwanger. Er legte seine Hände auf ihren Bauch, unser Kind. Wie nennen wir es? Gaja ist ein schöner Name – wenn es ein Mädchen wird. Oder besser Julia? Ja, das gefällt mir, dann wird es mein Julchen …

Wenn wir hier einfach abtauchen, was wäre dann? Es weiß doch niemand, wo wir sind! Das stimmte. Damals, im Sommer 1976, waren ihre Ausweise bei der Einreise nach Polen nicht kontrolliert worden. Einfach verschwinden. Lass uns überlegen, wie wir hier überleben können.

Masuren hat doch ein gutes Klima, vieles wird früher reif als bei uns, im Juni gibt es schon Gurken auf den Feldern – es ist ganz anders als in Thüringen. Die Wälder sind groß, die Bäume stehen dicht zusammen und beschützen uns. Wir könnten uns tief hinein zurückziehen, wo uns niemand mehr findet. Ich würde mich ab und an zu einem einsamen Bauerngehöft schleichen, um Milch und Eier zu holen, vielleicht als Tagelöhner bei einem Bauern arbeiten, der keine Fragen stellt. Gegen Brot und Speck. So könnte unser Kind in völliger Freiheit aufwachsen, wir würden es nicht an den Staat verlieren … Keine Kinderkrippe, kein Kindergarten mit Soldatenliedern, keine Schule mit Fahnenappell.

Meine Güte, was haben wir da rumfantasiert, lächelt Matz. Einfach mal gut, sich aus der DDR rauszuträumen.

Das Licht im Waggon ist knallhell angegangen. Matz blinzelt, sein Gesicht spiegelt sich jetzt vor der Landschaft in der Scheibe des Zugfensters.

Freitag, 20 Uhr – MfS-Kreisdienststelle Jena

Bei Würbach klingelt das Telefon. Genosse Unger von der Bezirksverwaltung Halle ist dran.

Könnt ihr alles vergessen. Wir wissen nichts von einem Treffen Jena – Halle. Jedenfalls nicht heute Abend. Der Zug fährt übrigens nicht über Halle, der fährt über Weißenfels und kommt gleich in Leipzig an.

Würbach legt auf und haut mit der Faust auf den Schreibtisch. Verdammt! Warum meldet sich die Trapo nicht? Leipzig ist jetzt nicht mehr zu schaffen. Wo ist der nächste Halt? Die dürfen uns nicht entwischen!

Was haben wir nicht alles in den vergangenen Wochen unternommen, um die Lage unter Kontrolle zu halten, Schild und Schwert der Partei – das gilt es doch zu beweisen, genau jetzt vor dem Parteitag! Kampfkurs X lautet unser Auftrag seit Monaten schon, ein dreißig Seiten langer Befehl, auf den alle Diensteinheiten verpflichtet worden sind. Erich Mielke, der Genosse Minister, hat ultimativ verlangt: Keinerlei Zwischenfall während des Parteitags! Alle Ausreiseantragsteller, alle potenziell Verdächtigen, alle dekadenten, feindlich-negativen Jugendlichen sind von der Hauptstadt fernzuhalten! Personen mit pessimistischen und skeptischen Äußerungen sind zu identifizieren!

Ein heimlicher Ausnahmezustand. Jeder Genosse an seinem Platz! Tschekistische Höchstleistungen! Der Apparat dazu steht bereit. In allen Bezirken und in der Zentrale gibt es eigens eingerichtete Operative Einsatzstäbe, die rund um die Uhr arbeiten, täglich Bericht erstatten und jedem, auch dem geringsten Zwischenfall nachgehen. Die Tagesberichte der Einsatzstäbe sind seit Wochen voll mit Vorkommnissen, die erfolgreich liquidiert werden konnten: Liquidieren bedeutet abschließen. Ob ein Schüler einer Schule in Cottbus auf einer Wandzeitung im Klassenraum zum X. Parteitag einen kleinen Kommentar gekritzelt hat, ob es einen Fahnenabriß gab oder irgendeine Schmiererei. Jedes Vorkommnis wiegt umso schwerer während dieses Zeitraums.

Die Postzollfahndung legte noch mehr Tempo vor als gewöhnlich und bearbeitete 82.868 Kleingutsendungen innerhalb der DDR fahndungsmäßig binnen einer Woche durch intensive röntgentechnische Kontrollen. Zu 11.473 möglichen Störenfrieden in der ganzen DDR sind Kontrollmaßnahmen eingeleitet, mit 6323 Personen vorbeugende Gespräche zur unerwünschten Einreise in die Hauptstadt der DDR geführt worden. Sie mussten eine Erklärung unterschreiben oder versprechen, auf keinen Fall nach Berlin zu fahren.

Aber man weiß nie, was noch kommt.

Wir haben für alle Diensteinheiten ab heute Morgen acht Uhr erhöhte Einsatzbereitschaft festgelegt, unser Dienstgebäude mit Doppelposten und Einsatzkräften der Volkspolizei verstärkt gesichert und die Überwachung der gesamten Stadt durch zugewiesene Planquadrate gewährleistet. Wir haben 30 Sicht-Stützpunkte in Jena, vom Volkshaus über das Zeiss-Hauptwerk, Universität, Urania, Textilia bis zum Bekleidungshaus am Markt, die eine flächendeckende Kontrolle von Innen- und Außenring ermöglichen.

Viele Jugendliche sind in diesen Tagen unterwegs wegen des Schwarzbierfestes in Prag. Deshalb hat die Volkspolizei in Gera gemeinsam mit den Genossen von der Abteilung Inneres des Rates des Bezirkes Fahrzeuge und Turnhallen für mögliche Masseninhaftierungen während des X. Parteitages vorbereitet. Allerdings konnten dreiviertel der geplanten Reisen negativ-dekadenter Jugendlicher nach Prag vorbeugend verhindert werden.

Auch in Jena haben die Genossen von der Kreisdienststelle mit etlichen Feinden der DDR aus dem Umfeld von Domaschk und Rösch vorbeugende Gespräche geführt. Für fast ein Dutzend Biermann-Anhänger hat unser Chef Nowack mit Unterstützung des Leiters der Bezirksverwaltung Gera Mitte März Sonderanträge auf beschleunigte Ausreise gestellt. Unbedingt bis zum Beginn des X. Parteitages realisieren!, hatte Nowack gedrängt und davor gewarnt, daß Leute des politischen Untergrunds die gesellschaftliche Bedeutung des X. Parteitages nutzen, um durch politisch-kriminelle Demonstrativtaten oder andere spontane und wirkungsvolle Aktivitäten ihrer Antragstellung Nachdruck zu verleihen. Einer von denen, Spitzname Jagger, ist objektiv in der Lage, verbrecherische Anschläge zu realisieren! Der soll schon mal geäußert haben, daß er den Kanal voll habe und als Terrorist auftreten werde.

Die Abteilung Inneres hat uns den Gefallen getan und alle Ausreiseanträge schnellstens genehmigt. Die meisten potenziellen Störenfriede konnten noch vor diesem Wochenende von Jena aus in den Westen abgeschoben werden. Sollen sie uns doch dankbar sein! Von zwei anderen, bei denen dies nicht so schnell zu organisieren war, haben wir ultimativ verlangt, sich zurückzuhalten, um ihre anstehende Ausreise nicht zu gefährden.

So hat unsere Kreisdienststelle Druck aus dem Kessel abgelassen, ganz im Sinne des Kampfkurses X, und den politischen Untergrund in Jena vor dem SED-Parteitag erheblich geschwächt. Das könnten die in Gera ruhig mal anerkennen, statt uns immer wieder als halbe Versager darzustellen! Das ist ungerecht! Ja, ja, ein paar dekadente Typen sind uns heute entwischt, aber wieso haben wir eigentlich kein Vorbeugungsgespräch mit Rösch und Domaschk hinbekommen, keine Verpflichtung von ihnen verlangt, Berlin zu meiden? Den Auftrag dazu hatte Köhler doch schon Ende Januar bekommen. Aber nichts!

Weil er wieder mal wochenlang ausgefallen ist und die Leitung aufgrund von Mählers IM-»Steiner«-Bericht einem anderen Plan nachging. Ja, wir haben einen gesundheitlich angeschlagenen Leiter, zu wenig vorzeigbare Erfolge, Disziplinarverstöße einiger Mitarbeiter, und die IM-Anwerbungen sind auch weit hinter dem Plan zurück. Die Kontrollgruppe hat das hart kritisiert in ihrem Bericht vor ein paar Wochen. Also bitte jetzt bloß nicht die nächste Pleite!

Wieder klingelt Würbachs Telefon, eine neue Information aus Gera: Die haben einen größeren Koffer dabei. Wir müssen wissen, was da drin ist … Flugblätter? Sprengstoff? Ein Transparent?

Freitag, 20 Uhr – Schnellzug D 506 zwischen Leipzig und Berlin

Matz liest in seinem Buch, die Fahrkartenkontrolle ist vorbei, Blase gleich wieder eingeschlafen. Behrchen und seine Freundin schräg gegenüber dösen aneinandergelehnt vor sich hin. Der Zug ist gut gefüllt. Ein paar Abteile weiter das laute Lachen einer Gruppe junger Leute, offensichtlich froh, dem Grundwehrdienst für ein Wochenende zu entkommen. Auf den anderen Plätzen schweigen die Fahrgäste vor sich hin. Die Woche ist um, jeder hängt seinen Gedanken nach.

Tack. Tack. Tack. Matz schließt die Augen. Das gleichmäßige Fahrgeräusch ruft eine Melodie in seinem Kopf in Erinnerung. Ein Lied von den Doors. Hello, I love you, won’t you tell me your name? Der Song hat ihn beim ersten Mal, als er ihn im Radio hörte, regelrecht umgehauen. Gänsehautmusik. Wie hat er sich dann bemüht, an das Album mit dem Lied zu kommen! Eine Freundin überraschte ihn schließlich damit, die es aus Budapest mitbrachte. Seitdem begleitet ihn die Musik der Doors, er empfindet sie immer noch wie einen Sog, dem man sich kaum entziehen kann. Dieser düster-melancholische Gesang von Jim Morrison, über Ideale und Träume, aufwühlend, verletzlich, so ganz anders als all die Songs von anderen Bands.

Musik entspannt Matz, sie beflügelt ihn, weckt Sehnsüchte, macht ihn glücklich und traurig. Lässt ihn durchhalten.

Er sieht sich, wie er auf einer kleinen Bühne alles aufbaut, die Lautsprecher hin und her rückt, den Verstärker bis zum Anschlag aufdreht, die Gitarren verkabelt, das Schlagzeug, die Mikrofone, das Mischpult. Der Dorfsaal ist rappelvoll. Die Besucher, egal ob Männer oder Frauen, rauchen, was das Zeug hält. Sie blicken durch den Dunst erwartungsvoll Richtung Bühne. Gleich geht es los. Die meisten der um die 20-Jährigen haben sich an der Theke am anderen Ende des Saals schon ihr zweites Bier geholt, einige sind beim dritten oder vierten. Die Jungs mit den Schlaghosen halten ihre Freundinnen mit den engsitzenden Strickpullis fest im Arm, die begehrlichen Blicke der Jungs ohne weibliche Begleitung sind unübersehbar. Es wird gerufen, geschwatzt, geflirtet, getrunken, gequalmt, und gleich wollen sie endlich lostanzen. So viel Zeit bleibt nicht mehr. Um halb zwölf ist Schluss, dann müssen alle raus.

Wer kein Moped hat, um halb besoffen nach Hause zu fahren, oder sonst nicht mehr heimkommt, wird vielleicht in der nächsten Scheune schlafen.

Matz hockt am Rand der Bühne auf einer Holzkiste, ein Bier in der Hand, eine Karo im Mundwinkel. Lässig. Die Blicke der Mädchen sind ihm sicher.

Links und rechts vor der Wand zwei DDR-Fahnen im Ständer. Pflichterfüllung. Direkt über der Theke am anderen Ende des Saals ein Stoffbanner mit der Losung So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben! Direkt darunter holen sich die Leute ihr Bier nach. Matz muss grinsen. So wie wir heute trinken …

Wo sind sie heute nochmal? Im Dorfsaal, nur in welchem? Mellingen? Kahla? Stadtroda? Egal. Ein wilder Sommer 1977, in dem er mit der Band Uller über die Dörfer zieht, von Thüringen bis ins Erzgebirge. Nächste Woche fahren sie an die Ostsee, mit Billy, Jens, Jochen, Moses, Ekki. Matz spielt in der Band nicht mit, ist aber seit deren Gründung eng mit ihr verbunden und als Roadie oft und gern dabei.

Er liebt dieses Rumtouren, »On the road – Unterwegs«. Sie haben es alle gelesen in Jena, dieses Buch von Jack Kerouac. Matz hat sich darin etwas angestrichen: