0,99 €
Jens Larsen von Elisabeth Goedicke ist ein Hintergrundroman zum Deutsch-Dänischen Krieg von 1864. Jens Larsen ist ein Anhänger der Dänen und muss zusehen, wie diese seinen Hof verbrennen, um den Preussen die Existenzgrundlage zu nehmen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Elisabeth Goedicke
Jens Larsen, Roman
Mit einer Kurzbiografie der Autorin
und
Hintergrundinformationen (illustriert)
zum Deutsch-Dänischen Krieg
Bibliothek der Trouvaillen, Band 7
»Vater!« rief Gesine Larsen laut über den Hof. Sie bekam keine Antwort.
Einen Augenblick blieb sie noch in der Tür stehen, die vom Hause nach dem Hof führte, und sah sich nach allen Seiten um, da aber nirgends etwas zu hören oder zu sehen war, ging sie nach dem Kuhstall hinüber.
Es war Melkzeit. Line, das Jungmädchen, lachte natürlich gerade und versetzte der ›Schwarzlotte‹ einen Schlag, weil sie nicht stillstehen wollte. Die beiden wurden immer nicht so recht miteinander fertig. Sie waren wohl beide noch nicht gesetzt und bedächtig genug.
»Hest Vater nich' 'sehn?« rief Gesine ihr zu.
»Nee!«
Sie ging nun weiter, den Mittelgang entlang bis zum Jungvieh, wo sie jemand herumhantieren hörte. Es war der Kuhknecht, der beim Füttern war. Nun wiederholte sie ihre Frage und bekam die gleiche Antwort. Jens Larsen war nicht da und war auch nicht dagewesen. Sie hatte es nicht sehr eilig und blieb noch bei den Kälbern stehen.
»De von de Bleß hett sick ober rutmakt,« meinte sie.
»Jawoll, dat's nu unser Best,« sagte der Knecht.
»Na, komm!« Sie wollte dem kleinen, rotbraunen Kalbe den Kopf krauen, aber es nahm die Liebkosung ungnädig auf, stemmte sich mit seinen steifen, dünnen, ungeschickten Beinen fest gegen den Boden und schob den ganzen Oberkörper so weit zurück, wie es ihm möglich war.
»Lütt Dummerjahn!« lachte Gesine und wandte sich wieder zum Gehen.
Wenn der Vater um diese Zeit nicht im Kuhstall war, dann wußte sie, wo sie ihn zu suchen hatte, und sie wunderte sich jetzt selbst, daß sie nicht zuerst dorthin gegangen war.
Jens Larsen stand wirklich auf der Hohen Koppel hinter seinem Gehöft und schaute ins Land. In fast übermenschlicher Größe zeichnete sich seine hohe, kräftige Gestalt gegen den hellen Winterhimmel ab, wie er so unbeweglich, mit der Linken die Augen beschattend, dastand, trotzdem der Wind kalt vom Wasser heraufkam und ihn ungeschützt traf. Aber Jens Larsen kannte diesen Wind von Kindheit an – das waren nun fast fünfzig Jahre – und hatte sich noch nie vor ihm verkrochen.
Vor ihm lag das Sundewitt und weiterhin die See, die mit weißen Wellen gegen das Ufer brandete. Er hörte das donnernde Getose bis hier oben. Das Land war mit Schnee bedeckt. In der Nacht war er gefallen in leichten, großen Flocken, die sich lose und weich in die Furchen der Äcker und Felder gelegt hatten, so daß die hartgefrorene braune Erde doch noch überall hindurchsah.
Zu seinen Füßen unterhalb der Hohen Koppel lag der Larsenhof mit seinem alten, behaglichen Wohnhaus und den großen, weiten Scheunen und Ställen. Auch ringsherum die Wiesen, Felder und Äcker waren alle sein. Deshalb stand Jens Larsen so gern hier oben. Die stolze Freude des Besitzes schwellte dann seine Brust, und er hätte mit keinem Könige getauscht.
Er hatte die Sonne im Rücken. Jetzt war sie wohl hinter dem Stenderuper Gehölz versunken, ihr glühender Widerschein färbte plötzlich den Himmel rot, der Schnee fing an zu leuchten, in allen Gehöften ringsum funkelten die Fensterscheiben, – es sah aus, als stände das Sundewitt in Flammen. Jens Larsen hatte schon oft um diese Zeit hier gestanden und hatte den Himmel sich rot färben sehen, aber so wie heute, meinte er, wär's noch nie gewesen. Er ließ die Hand sinken und schloß einen Augenblick die Augen. All dies Funkeln, Blitzen, Leuchten und Flammen blendete ihn. Doch es hörte nicht auf, als er die Lider schloß, es wurde fast schlimmer. Er sah nun nichts Einzelnes mehr, nur ein einziges, großes, flammendes Feuer, und seine Ohren vernahmen nichts als die gewaltigen Stimmen der Natur, das Pfeifen des Windes und das donnernde Branden der See. Da atmete er tief auf, und sein Körper reckte sich höher empor. So liebte er seine Heimat am meisten, wenn er hier oben einsam stand und sie mit mächtigen Stimmen zu ihm redete. Dann kam ein Königsgefühl über ihn, und er grub den Fuß fester in die Erde, die ihm gehörte.
Als er wieder aufsah, war Gesine eben durch die kleine Pforte, die vom Garten aufs Feld führte, getreten und kam den schmalen Fußweg zu ihm hinan.
»Ich hab' dich gesucht,« rief sie ihm entgegen, aber als sie neben ihm stand, sagte sie ihm nicht gleich, weshalb sie ihn gesucht hatte, sondern sah, wie er, ins Land.
»Wie schön!« Es kam fast andächtig von ihren Lippen, und ein Seufzer hob ihre Brust.
Jens nickte stolz. »Nicht wahr? Das soll mal einer suchen! Solchen Blick gibt's in der ganzen Welt nicht noch mal.«
Sie standen still nebeneinander. Der Wind spielte in Gesines blondem Haar und zerrte an ihrem Rock. Aber sie achtete so wenig auf ihn wie ihr Vater; wie er war sie versunken im Schauen, erfüllt von der Schönheit und Größe ihrer Heimat. Endlich sagte sie, ohne den Kopf zu ihm zu wenden: »Thies ist gekommen.«
»So!« rief Jens interessiert, und seine Augen suchten ihr Gesicht jetzt mit einem prüfenden Blick.
War sie vielleicht hierher geflüchtet, um mit sich ins klare zu kommen, um einen Entschluß zu fassen, der für ihr ganzes Leben entscheidend sein sollte?
Aber in ihrem Gesicht lag nichts von Kampf oder Zweifel, es war ruhig und klar, als ob keine stürmenden Gefühle und Gedanken sie beschäftigt hätten.
»Sie hat sich schon entschieden,« dachte Jens, »Thies muß die Gelegenheit heute benutzen, dann können wir wohl im Larsenhof Verlöbnis feiern.«
Daß sie dann gerade jetzt hierher kam, auf die Hohe Koppel, allein, das verstand er gut; dafür war sie seine Tochter. Ihn hatte es ja auch immer, immer hierher getrieben, wenn ihn ein Leid bedrückte oder eine große, übermächtige Freude sein Herz erfüllte. Hier hatte er es in die Winde geschrien, nicht mit Stimmen, wie die Menschen sie hören, aber aus dem Herzen heraus, und ihm war gewesen, als hätten der Wind und das Meer da hinten diese Sprache verstanden, als wüßten sie alles, alles, was er durchgekämpft hatte in den langen Jahren seines Lebens. Nun kam auch sein Kind hierher. Es tat ihm fast leid, daß er hier war und sie störte; deshalb sagte er: »Ich geh' jetzt 'rein. Bleibst du noch hier?«
Sie schüttelte den Kopf und sah ihn mit einem klaren, ungetrübten Blick an. »Nein, ich komme mit. Ich wollte dich ja nur rufen.«
Während sie nun hintereinander den schmalen Weg hinunterschritten, fragte Jens: »Bleibt Thies hier?«
Gesine nickte. »Bis morgen.« Plötzlich wandte sie sich nach ihm um und rief lebhaft: »Weißt du, was er meint? Es gibt Krieg. Sie rüsten schon.«
Jens antwortete nicht gleich, aber unwillkürlich flog sein Blick wieder über das Land. Er stand noch hoch genug, um es bis an die Küste übersehen zu können, und was vorher sein Herz als Naturschönheit entzückt hatte, erschien ihm plötzlich wie eine Vorahnung. Das Sundewitt stand in Flammen. Aber er gab seinen Gedanken keine Worte, sondern wies sie zurück als etwas Ungeheuerliches. Dann nickte er, als hätte er sich schon gedacht, daß es so kommen würde.
Im Hause war es fast dunkel, aber man hatte noch nirgends Licht angezündet. Sie gingen den Flur entlang, der das Haus in seiner ganzen Tiefe durchschnitt, und traten in das große, dreifenstrige Wohnzimmer, das rechts von der Haustür lag. Es war hier sehr warm und duftete nach den Bratäpfeln, die in der Ofenröhre lagen. Frau Larsen saß in dem großen Lehnstuhl am Ofen und strickte, trotzdem sie bei der Dunkelheit fast nichts mehr sehen konnte, und Thies Matthiessen, ihr Pflegesohn, hatte sich mitten in der Stube rittlings auf einen Stuhl gesetzt und anscheinend lebhaft gesprochen. Er war ein mittelgroßer, breitschultriger Mann von siebenundzwanzig Jahren. Sein ausdrucksvolles Gesicht war um das Kinn herum von einem dünnen, dunkelblonden Vollbart eingerahmt, und in seinen Augen glühte heute ein verhaltenes Feuer. Als Jens und Gesine eintraten, sprang er auf, und die beiden Männer begrüßten sich mit einem Händedruck.
»Na, Jung, was bringst du?« fragte Jens.
Thies zuckte die Achseln. »Ja, es sieht so aus, als ob es Krieg gäbe. Sie rüsten schon mächtig in Jütland.«
Sie sprachen dänisch.
»Gehst du mit?« fragte Jens.
Thies nickte. »Natürlich, wenn's losgeht. Wir wollen den Preußen mal zeigen, was es heißt, mit uns anzubinden. Ha! Wenn die sich einbilden, sie brauchten bloß hierherzukommen, um Schleswig so mir nichts dir nichts in die Tasche zu stecken, dann haben sie sich mächtig geirrt.«
»Das werden sie sich wohl auch nicht einbilden,« sagte Gesine von der Kommode her, wo sie eine Lampe anzündete. Sie trug sie jetzt durchs Zimmer auf den Mitteltisch, und der helle Schein beleuchtete ihr schönes, junges Gesicht. »Sie werden doch wissen, daß sie einem starken Feind gegenüberstehen.«
Thies antwortete nicht, denn er hatte gar nicht gehört, was sie sagte. Er sah nur das blühende, frische Gesicht, die zarten, knospenden Formen, wie sie so im hellen Schein der Lampe durch das Zimmer ging, und da verlor er einen Augenblick die Gewalt über sich selbst. Sein Blick umfaßte sie ganz und senkte sich dann in ihre Augen mit einer solchen Leidenschaft, daß sie davor erschrak. Eine dunkle Blutwelle ging ihr langsam über das Gesicht, und sie stellte die Lampe mit leisem Klirren nieder, wandte sich gleich ab und machte sich an dem Seitentisch zu schaffen, auf dem schon das Vesper bereitstand.
Jens hatte das alles nicht beobachtet, und während Gesine nun den Tisch deckte, sprach er lebhaft mit Thies über Politik. Sie waren beide dänisch gesinnt, obgleich sie deutscher Abkunft waren, und vor allen Dingen war es ein fanatischer Preußenhaß, der sie erfüllte.
Die Frauen beteiligten sich nicht an dem Gespräch. Gesine ging hin und her und besorgte das Vesper, und Frau Larsen strickte weiter. Sie war eine kleine, zarte, unscheinbare Frau, deren Interessen und Gedanken über das Nächstliegende nie hinausgingen. Die Politik und der drohende Krieg beunruhigten sie auch jetzt nicht. Jens und Thies sagten ja beide, daß die Preußen gegen die Dänen nichts ausrichten könnten, weil sie vor allen Dingen viel zu feige wären, ihnen standzuhalten. Hunderte würden vor einem einzigen Dänen davonlaufen. Wozu sollte man sich da also fürchten? Etwas anderes beschäftigte sie jetzt mehr, etwas, das ihr viel näher lag: ob Thies und Gesine heute einig werden würden?
Er war heute nur gekommen, um die Sache in Ordnung zu bringen, das hatte er ihr vorhin gesagt. Daß Jens einverstanden war, wußte sie auch, es brauchte also nur noch das entscheidende Wort gesprochen zu werden. Ihr gingen nun schon allerlei Brautmuttersorgen durch den Kopf. Gesines Leinenaussteuer war längst fertig und lag sorgsam verpackt in Kisten und Truhen. Aber Möbel mußten nun gekauft werden, und für die Brautzeit brauchte sie ein neues Kleid. Das sollte jedoch nicht in Sonderburg gemacht werden, sondern bei einer teuren Schneiderin in Flensburg. Es sollte ordentlich nach was aussehen; die vom Larsenhof konnten es ja.
Frau Larsen war in erster Ehe mit einem Onkel von Thies verheiratet gewesen, und da sie damals keine eigenen Kinder gehabt hatte, nahm ihr Mann den kleinen, elternlosen Thies ins Haus. Dann wurde sie bald Witwe und heiratete Jens Larsen, der Thies wie seinen eigenen Sohn aufwachsen ließ. Es blieb auch alles beim alten, als die kleine Gesine kam, die das einzige Kind der Larsenschen Eheleute blieb. Sie war acht Jahre jünger als Thies. Er war bald nach der Einsegnung auf Alsen auf einem Hof gewesen und war jetzt in Jütland, aber er sprach schon davon, daß er sich nun bald einen eigenen Besitz kaufen wollte, denn er hatte ein ganz schönes Vermögen. Jedesmal, wenn er in der letzten Zeit nach Hause gekommen war, war ihm Gesine schöner und begehrenswerter erschienen, und es war längst wie ein stummes Einverständnis zwischen den Leuten auf dem Larsenhof, daß sie seine Frau werden sollte.
Nun saßen sie um den Tisch und vesperten. Dann stand Gesine auf und ging hinaus, weil sie noch in der Wirtschaft zu tun hatte. Aber als Thies ihr nach kurzer Zeit folgte und sie suchte, fand er sie nicht. Er hatte gedacht, sie wäre nur hinausgegangen, um ihm Gelegenheit zu einem Alleinsein mit ihr zu geben, denn sie mußte ja wissen, warum er gekommen war. Aber dann hätte sie sich doch von ihm finden lassen.
Mißmutig kehrte er ins Wohnzimmer zurück und schimpfte weiter mit Larsen über die Preußen bis zum Abendbrot. Da wurde er still. Ihn interessierte jetzt nichts mehr, keine Politik, kein Preußenhaß und keine Kriegsaussichten; ihn erfüllte nur noch ein Verlangen: Gesine in den Armen zu halten, fest, fest, daß sie sich nicht rühren konnte, und das schöne, junge, blühende Gesicht zu küssen.
Gesine vermied es, ihn anzusehen. Sie sorgte für die andern und sprach mehr als sonst, aber in ihrer Stimme lag etwas Gebrochenes.
Bis heute nachmittag war sie ruhig gewesen und hatte sorglos in die Zukunft gesehen. Es hatte als etwas ganz Natürliches und Unabwendbares vor ihr gestanden, daß sie und Thies ein Paar werden würden. Die Eltern wünschten es, sie kannten sich und hatten sich gern – also, warum sollten sie sich nicht heiraten? Aber nun hatte sie heute nachmittag den Blick von ihm aufgefangen, und da hatte ein namenloser Schreck sie befallen: als wäre etwas Fremdes trennend zwischen sie und ihn getreten. Sie wußte sich nun nicht zurecht zu finden. Als das Abendessen beendet war, trug sie ein paar Schüsseln in die Küche, und dann kehrte sie nicht ins Wohnzimmer zurück, sondern stahl sich leise aus der Hintertür in den Garten. Sie mußte auf die Hohe Koppel, auf die Anhöhe, wo der Wind blies und sie das Meer brausen hörte. Jetzt trieb es sie dorthin, jetzt war sie ganz Jens Larsens Tochter. Im Hause war ihr alles eng und drückend, dort oben würde es frei und klar in ihr werden.
Schimmernder Mondschein lag über dem Schnee. Sie ging durch den Garten, öffnete die Pforte und trat auf den Fußweg hinaus, den sie heute schon einmal hinangeschritten war. Aber ehe sie die Anhöhe halb erstiegen hatte, hörte sie die Pforte wieder knarren. Sie wandte sich um und sah Thies. Mit ein paar Sätzen war er neben ihr.
»Du!« stieß er hervor, weiter nichts, dann hielt er sie in den Armen, so fest, daß sie sich nicht rühren konnte, und seine heißen Lippen ruhten auf den ihren.
Gesine war zumute, als wenn langsam etwas in ihr erstarrte. Noch nie vorher war sie so vollständig in der Macht eines anderen Menschen gewesen. Sie konnte sich nicht bewegen, sie konnte nicht schreien oder sprechen, fast schien es ihr, als könnte sie auch nicht denken. Ewigkeiten schienen ihr hinzugehen. Eine bebende Angst überkam sie. Das war ja kein Kuß, wie sie ihn von Vater, Mutter oder Anverwandten sonst bekommen hatte, es war etwas ganz anderes, wie ein Besitzergreifen ihres ganzen Seins, ihres Körpers und ihrer Seele, wie ein Zusammenschmelzen von zwei Menschen zu einem Ganzen.
Endlich, endlich ließ er sie frei, nicht ganz, aber doch so, daß sie wieder sprechen konnte und atmen und den Kopf bewegen.
»Thies, nein,« stieß sie zitternd hervor, während sie vergebliche Anstrengungen machte, aus seinen Armen loszukommen, »das mußt du nicht. Warum tust du das?«
Er lachte und zog sie wieder an sich. »Du – du!« rief er übermütig. »Warum? Ja, warum wohl? Du! Weißt du's nicht? Weil ich dich lieb habe und du meine Frau werden sollst –«
Nun schüttelte sie den Kopf. »Nein, Thies, laß man,« rief sie ängstlich. »Wir wollen das nicht. Nicht heiraten. Wozu? Laß es doch so bleiben, wie es jetzt ist. Es ist ja so sehr schön.«
»Aber es wird noch viel, viel schöner, paß mal auf. Ich kauf einen Hof in Jütland oder hier im Schleswigschen, und du wirst meine kleine Frau. Wir arbeiten zusammen, ich auf dem Felde und du im Hause, du weißt ja, wie es ist. Und wir haben uns furchtbar lieb – so lieb –« Er küßte sie wieder, lange und stürmisch. Sie stemmte die Hände gegen seine Brust und versuchte ihn abzuwehren. »Nicht doch, Thies, nicht doch! Jetzt kommt ja auch der Krieg, dann hast du keine Zeit mehr, an mich zu denken.« Wie erlöst klangen ihre Worte, als hätte sie ihm einen unanfechtbaren Grund gesagt, weshalb sie nicht seine Frau werden könnte. »Dann wird alles ganz anders.«
Er warf ungeduldig den Kopf zurück. »Der Krieg hat nichts zu sagen, der soll uns nicht trennen. Wenn er vorbei ist, heiraten wir gleich. Vater und Mutter werden sich freuen, die wünschen es schon lange. Du kennst doch auch keinen so gut wie mich, und keiner hat dich so lieb.«
Sie sah auf einmal ganz nachdenklich aus. »Nein, lieb hat mich keiner,« sagte sie langsam.
»Siehst du. Bloß ich, Thies Matthiessen, der aber ganz toll.«
Er nahm alle Kraft zusammen, sich zu beherrschen, und ward auch wirklich ruhiger. Er fühlte, daß er sie vorhin erschreckt hatte, deshalb hielt er sie nicht mehr so fest und strich ihr nur mit der Hand über das Haar.
»Nu sei man ruhig, Gesine,« sagte er weich, »du hast vorhin 'en Schreck vor mir gekriegt, nicht? Ich war toll, aber ich bin nun ganz vernünftig. Wir haben uns ja so lange nicht gesehen, und den ganzen Nachmittag konnte ich dich nicht allein sprechen. Ich war schon so ungeduldig, und da ist die Freude über mich gekommen. Nun hast du keine Angst mehr vor mir, nicht wahr?« Sie schüttelte langsam den Kopf.
»Komm,« sagte er und zeigte auf die Anhöhe, »wollen wir da nach oben gehen?«
Er legte leicht den Arm um ihre Schultern und führte sie hinauf. Gesine atmete auf. Ja, nun war er wieder der alte Thies, den sie kannte und gern hatte, aber vorhin – das war ja ganz schrecklich gewesen.
Als sie oben waren, dachte sie, er würde sie nun loslassen, aber das tat er nicht, sondern zog sie nur noch fester an sich und bog den Kopf zu ihr, ohne etwas zu sagen.
Sie sah ins Land, das jetzt im fahlen, matten Mondlicht vor ihnen lag. Durch die große, feierliche Stille drang nur das Tosen der See, auf der sich die zitternden Strahlen des Mondes brachen.
»Hier ist es immer schön,« sagte sie endlich, »heute nachmittag hättest du es sehen sollen, als die Sonne unterging. Alles glühte, der Schnee, der Himmel, die See, alle Häuser, alles.«
»Ja,« sagte er, »es ist schön. Und wenn du nun wieder hier oben stehst, dann denkst du an mich, nicht wahr?«
Jetzt küßte er sie doch, wieder und wieder, und flüsterte ihr zärtliche Liebesworte ins Ohr, und sie hielt still, halb erstaunt und halb ergeben. Im Grunde kam es ihr seltsam vor, daß Thies so zärtlich war und sie nun immer an ihn denken sollte. Aber sie war ja wohl nun verlobt mit ihm, und das alles gehörte so dazu, daran mußte man sich wohl immer erst gewöhnen. »Nun ist es aber genug, Thies,« sagte sie endlich etwas ungeduldig. »Komm, wir müssen wieder ins Haus gehen. Die Eltern wissen nicht, wo wir sind, und es ist auch kalt.«
Sie waren vorher beide so hinausgegangen, wie sie in der warmen Stube gesessen hatten, ohne noch etwas umzunehmen, deshalb machte die Kälte sich ihnen doch empfindlich bemerkbar, selbst Thies konnte es nicht leugnen, so gern er es getan hätte.
Als sie ins Wohnzimmer zurückkamen, saßen die Eltern beide auf dem Sofa, Jens hinter dem dampfenden Grogglas in seine Zeitung vertieft, Frau Larsen mit ihrem Strickzeug. Sie blickten nun mit fragenden, gespannten Gesichtern auf. Da faßte Thies Gesines Hand und führte sie den Eltern zu.
»Sie hat sich mir versprochen,« sagte er und hielt ihre Hand so fest, daß ihr zumute war, als wäre sie gefangen.
Und plötzlich fiel ihr ein: es war eigentlich gar nicht wahr, was er da sagte. Sie hatte sich ihm nicht versprochen; sie hatte sich gegen seine leidenschaftliche Zärtlichkeit gewehrt, und als er ruhiger wurde, hatte sie sie geduldet. Aber nun konnte sie nichts mehr dagegen tun: sie war seine Braut. Thies sagte noch einiges zu ihrem Vater, und seine Stimme klang anders als sonst, erregt und etwas atemlos. Dann schlossen die Eltern sie in die Arme und sagten, daß sie sich freuten. Sie fand, daß eine Verlobung etwas Merkwürdiges wäre, und fühlte eine Art Neugier, zu erfahren, was nun noch Seltsames kommen würde. Nun sie in der warmen Stube war, schien sie erst die Kälte, die draußen geherrscht hatte, zu empfinden, denn sie zitterte am ganzen Körper. Sie mußte Grog zur Erwärmung trinken, und Thies setzte sich neben sie, legte den Arm um ihre Schultern und hielt ihre Hand.
So ward Gesine Larsen Braut. Aber ihr Herz schlief noch, und es lag nicht in Thies Matthiessens Macht, es zu wecken.
Am nächsten Morgen gingen Jens und Thies durch die Ställe. Thies war ziemlich lange nicht auf dem Larsenhof gewesen und sollte nun die neuen »Jüten« besehen und den Schweinestall bewundern, der im Sommer umgebaut worden war. Er kannte ja jeden Stein und jeden Balken auf dem Larsenhof, aber heute sah er alles mit andern Augen an als sonst, wie etwas ganz Neues. Später, wenn die Alten einmal nicht mehr waren, dann war das alles sein, dieser stattliche Hof mit den festen Scheunen und Ställen und den Äckern und Wiesen ringsumher. Er reckte sich unwillkürlich höher auf, und ein Gefühl von Kraft und Stolz rann ihm durch alle Glieder. Thies Matthiessen der Herr vom Larsenhof und die schöne Gesine seine Frau! Das war Wohl eine Zukunft, die einem das Herz höher schlagen machen konnte. Als er jetzt neben Jens auf dem Hof stand und seine Augen langsam von einem zum andern gingen, da lag in seinem Blick etwas Besitzergreifendes.
Gesine stand zufällig am Fenster der Vorratskammer und sah ihn, ohne daß er sie bemerkte, und dasselbe erstarrende Gefühl kam über sie, das gestern in ihr aufgetaucht war, als er sie ohne zu fragen in die Arme genommen und geküßt hatte. Es wallte etwas in ihr auf, was sie noch nie vorher empfunden hatte, eine Empörung gegen ihn, eine Auflehnung ihres ganzen Inneren gegen diese Art, zu nehmen, was ihm gefiel, ohne ein anderes Recht darauf zu haben als dieses stolze Herrenrecht: es gefällt mir, darum nehme ich es.
Als sie wieder in die Küche zurückkam, lag ein fremder Zug in ihrem Gesicht, ein fester, trotziger, entschlossener Zug, und sie hatte das Gefühl, daß es jetzt etwas auf der Welt gäbe, gegen das sie ankämpfen müßte.
Thies mußte gleich nach dem Mittagessen fort, und als er nach einem zärtlichen Abschied den Hof verließ, kam ein Gefühl der Befreiung über sie. Er ging weit fort, nach Jütland, der Krieg kam – es würde eine lange Zeit vergehen, ehe sie sich wiedersahen. Ihr war, als würde alles ganz anders sein, wenn es endlich zu diesem Wiedersehen kam.
In der Dämmerstunde saß Frau Larsen wieder mit ihrem Strickzeug am Ofen. Jens war fortgegangen. Gesine stand am Fenster und sah in die Schneelandschaft hinaus. Es war eine große Unruhe in ihr, die sie fast mehr körperlich als seelisch empfand. Sie fühlte das Blut in allen Adern kreisen, ihr Herz schlug unruhig, und ihre Hände spielten unaufhörlich mit dem Schürzenband. Selbst auf der Hohen Koppel war sie heute nicht zur Ruhe gekommen. Ihr war, als müßte sie sich aussprechen, als hätte sie furchtbar viel erlebt, was sie erzählen müßte; aber wenn sie anfangen wollte, merkte sie, daß sie nichts zu erzählen hatte. Sie war mit Thies auf der Hohen Koppel gewesen, er hatte sie geküßt und sie dann den Eltern als seine Braut vorgestellt, und die hatten sich gefreut und waren nicht einmal erstaunt gewesen. Was sollte sie da erzählen?
Aber sie verließ nun doch ihren Fensterplatz, lehnte sich gegen den Ofen, neben dem die Mutter in ihrem Lehnstuhl saß, und kam stockend und zögernd mit allerlei heraus, was sie beschäftigte und beunruhigte. Daß Thies sie eigentlich gar nicht gefragt hätte, ob sie seine Braut sein wollte. Er hätte sie einfach in die Arme genommen und geküßt und es dann als selbstverständlich angenommen, daß sie nun verlobt wären. Frau Larsen strickte ruhig weiter und lächelte ein bißchen.
»Ja, Kind,« sagte sie, »so machen es die Männer immer.«
Daß sich in Gesine etwas dagegen auflehnte, weil sie den Mann, der ihr so begegnet war, nicht liebte, fühlte sie nicht. Sie verstand überhaupt nicht, daß ihr Kind eben, sich selbst fast unbewußt, in Angst und Herzensnot zu ihr gekommen war und Rat und Hilfe haben wollte in all dem Fremden und Neuen, das sie jetzt bestürmte. Sie selbst hatte sich zweimal verheiratet, und es hatten sie keine inneren Kämpfe und großen Erregungen dabei beunruhigt. Deshalb lag ihr der Gedanke, daß es auch einmal anders sein könnte, ganz fern. Gesine fühlte sich durch die Antwort der Mutter weder erleichtert noch beruhigt, aber sie sagte nichts weiter. Vorhin hatte ihr Herz sich leise, leise geöffnet, und wenn die Mutter ihr mit zartem, innigem Verständnis entgegengekommen wäre, so wäre diese Stunde eine heilige geworden, die Mutter und Kind zu Freundinnen gemacht hätte. So aber schloß sich ihr Herz wieder zu, sie stand wieder im Dunkeln, das wie von einem schwachen Lichtstrahl durch den Gedanken erhellt wurde, daß nun ja der Krieg käme und daß noch alles anders werden könnte.
Es war ein heller Abend; der Schnee leuchtete, und der Halbmond stand matt und ein bißchen verschwommen am Himmel. Man konnte weit sehen von der Chaussee aus, die durch das Sundewitt nach Sonderburg hinüberführte, aber es war ein Bild ohne Licht und Farben, das fern am Horizont in unbestimmten, grauen Tönen zusammenfloß. Nur da, wo der kleine Krug am Wege lag, fielen durch die niedrigen, unverhüllten Fenster warme Lichtstrahlen in die graue Dämmerung und zeichneten leuchtend helle Vierecke in den Schnee. Auch Stimmengewirr drang in das große Schweigen hinaus, und Jens Larsen sah schon von außen, daß fast jeder Platz drinnen besetzt war.
Er bückte sich unwillkürlich, als er durch die niedrige Tür in den Raum trat, in dem die Decke mit den schweren Querbalken so tief über den Köpfen hing. Aus dem dicken Tabaksqualm drang ihm nun das Stimmengewirr entgegen, über das er sich schon draußen auf der Straße gewundert hatte. Meistens saßen die Sundewitter still und ein wenig einsilbig hinter ihren dampfenden Groggläsern. Aber heute waren alle in großer Erregung. Die Zeitungen hatten schwerwiegende, wichtige Nachrichten gebracht: die Preußen waren in Holstein eingerückt, und der Krieg schien unvermeidlich.
Nun war ein lebhafter Wortstreit im Gange für und wider die Befreier. Es gab im Sundewitt, so nahe der dänischen Grenze, viele Leute, die mit ihren Sympathien auf dänischer Seite waren und durch Verwandtschaft und Geschäftsinteressen dort hinüber gezogen wurden. Auch Jens Larsen war aus allen möglichen, wenig stichhaltigen Gründen, die er selbst kaum hätte angeben können, zum Dänenfreund und glühenden Preußenhasser geworden, trotzdem er einer deutschen Familie entstammte.