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Der Tod des eigenen Kindes ist das Schlimmste, das einem Menschen passieren kann. Es ist unvorstellbar und löst einen seelischen Schmerz aus, der mit Worten nicht beschreibbar ist. Mit diesem Buch möchte Michael Greven erreichen, dass andere Eltern besser als er auf mögliche Warnsignale für schwere psychische Probleme ihrer Kinder vorbereitet und informiert sind, als er es bei seinem war. Der Tod seines Kindes führte den Autor auf die Suche nach dem Warum. Im Abschiedsbrief und den Tagebüchern fand er erste konkrete Hinweise. Von diesen ausgehend führten ihn seine Recherchen zu zahlreichen internationalen Studien und Presseartikeln. Der Leser erfährt von den Herausforderung, zwischen Loslassen und Lenken entscheiden zu müssen, dem Eltern speziell in der Pubertät begegnen, und von den Gefahren und Widersprüchen, denen Jugendliche in der heutigen Zeit ausgesetzt sind. In den folgenden Artikeln beschäftigt sich der Autor mit den Themenkreisen sexuelle Identität und Feminismus, psychische Erkrankungen sowie soziale Medien und deren mögliche Auswirkungen auf den Selbstwert und auf das Essverhalten der Kinder. Er beleuchtet weiterhin die Herausforderungen der Pubertät im Allgemeinen sowie die spezifischen nachhaltigen Folgen der Schulschließungen für Kinder und Jugendliche während der Zeit der Corona-Pandemie. Anhand eigener Erfahrungen und Beobachtungen sowie unter Bezugnahme auf die in Studien gewonnenen Erkenntnisse zeigt er auf, welche Folgen die heutzutage zu beobachtende bei manchen ins Extreme abgleitende Auslegung und Ideologisierung in den vorgenannten Bereichen auf die Psyche, das Verhalten und die Entwicklungschancen der Jugendlichen haben kann, und warum dies sein Kind in den Tod getrieben hat. Zum Abschluss gibt er Beispiele dafür, welche Defizite aus seiner Erfahrung heraus staatliche und öffentliche Institutionen beim Umgang mit diesen Problematiken aufzeigen. Zu jedem Themenbereich gibt er hilfreiche Ratschläge für betroffene Eltern. Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, eine wissenschaftliche Abhandlung zu sein, auch wenn viele Verweise auf wissenschaftliche Studien mit Quellenangaben enthalten sind. Der Autor möchte sein Werk als subjektiven Erfahrungsbericht eines Vaters für andere Eltern verstanden wissen, der hoffentlich ein wenig dazu beiträgt, die Situation von wenigstens einigen Jugendlichen zu verbessern. Es ist ein Aufruf an jede Person, einmal über den eigenen Tellerrand zu blicken - sozusagen die eigene Filterblase zu verlassen, und Entscheidungen erst zu treffen, wenn ihre Wirkung und Konsequenzen von allen Seiten beleuchtet und gründlich durchdacht wurden.
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Seitenzahl: 125
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Vorwort (Schwarzes Loch)
Es ist der 17. Juni 2023. Heute ist die Verabschiedung des Abitur-Jahrgangs meines Kindes. Seit der fünften Klasse war ich Klassenpflegschaftsvorsitzender, in der Oberstufe dann Stufenpflegschaftsvorsitzender. Ein Jahr nach Antritt dieses Amtes übernahm ich auch den Vorsitz der Schulpflegschaft. Beide Ämter empfand ich als eine gute Möglichkeit, mich gleichzeitig gesellschaftlich in meiner Stadt einzubringen und mich für mein Kind und seinen Jahrgang an der Schule einzusetzen. Im Laufe der Zeit habe ich so durch die Ausübung dieser Ämter ein gewisses Maß an Bekanntheit in der Schule erlangt. Als Folge daraus geschah es in der Vergangenheit gelegentlich, dass mich jemand auf der Straße erkannte, den ich vorher nie gesehen hatte. Zumindest nicht bewusst, denn womöglich hatten diese Personen zuvor eine der Veranstaltungen, bei denen ich vorne auf dem Podium stand und über die Arbeit der Schulpflegschaft an der Schule referierte, besucht; oder sie waren einfach Eltern in der Klasse meines Kindes, die nicht regelmäßig auf den Elternabenden erschienen und mir darum in diesem Moment unbekannt erschienen.
Zum Amt des Schulpflegschaftsvorsitzenden gehörte es an dieser Schule, stellvertretend für alle Eltern eine kleine Rede während der Verabschiedung der Abiturientia, der Abiturentlassfeier, zu halten. Vor Antritt des Amtes war mir das gar nicht bewusst, und die Kenntnis dessen hätte sicherlich meine Entscheidung für dieses Amt beeinflusst. Denn ich bin eine eher introvertierte Person, die früher sogar Hemmungen hatte, im Mittelpunkt zu stehen. Übrigens eine Eigenschaft von vielen, die ich offenbar an mein Kind vererbt hatte. Im Laufe des Lebens habe ich aber gelernt, damit umzugehen, und obwohl ich vor diesen Reden immer schrecklich nervös war, schaffte ich es schließlich immer, irgendetwas einigermaßen Gescheites zu sagen und mich nicht komplett zu blamieren. Zumindest waren die Reaktionen des Publikums aus meiner Sicht eher positiv.
Grundsätzlich hat mich das Amt des Schulpflegschaftsvorsitzenden immer erfüllt. Ich konnte gute Beziehungen zu Schulleitung, Lehrkräften und anderen Eltern aufbauen und Gutes für die Kinder bewirken. Insbesondere während der Corona-Lockdowns in den drei Jahren zuvor gab es diesbezüglich einiges zu tun, denn insbesondere die Landesregierung zeichnete sich aus meiner Sicht bei der Frage, wie trotz der Lockdowns noch ein Mindestmaß an Bildung und Struktur an die Kinder vermittelt werden sollten, durch besondere Zurückhaltung aus. Als Reaktion darauf organisierten wir an unserer Schule Online-Stundenpläne und Prozesse für das “Homeschooling” selbst. Ich beschaffte außerdem CO²-Melder für alle Klassenräume, deren Finanzierung der Förderverein übernahm, da auch in diesem Bereich für die Zeiten zwischen den Lockdowns wenig bis gar keine Unterstützung von Politik und Stadt kam.
Wenn ich mich wieder einmal auf eine meiner Reden auf der Abiturentlassfeier vorbereitete und meine Nervosität bekämpfte, motivierte mich stets, dass ich irgendwann selbst im Publikum sitzen und der Rede meiner Nachfolgerin lauschen würde, wie ich dachte, während ich stolz mein Kind am Tag der Ausgabe des Abschlusszeugnisses begleiten würde. Diese Aussicht erfüllte mich stets mit Vorfreude und half mir, meine Nervosität ein wenig zu bekämpfen.
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Nun sitze ich also hier zusammen mit meiner Frau in der Aula der Schule. Es ist jedoch alles ganz anders, als ich mir das jemals vorgestellt hätte. Keine Freude, kein Stolz, kein Kind. Denn heute vor acht Monaten hat sich mein Kind das Leben genommen. Ihm wird heute gedacht, indem eine Freundin und Mitschülerin eine kurze Rede zu ihrem Gedenken hält. Darum hat man uns auch eingeladen, obwohl wir eigentlich gar nicht mehr zur Elternschaft gehören.
Seit seinem Tod fühle ich mich, als sei ich von einem schwarzen Loch verschlungen worden. Alles ist dunkel, und kaum jemand scheint mich mehr wahrzunehmen. So ist es nun auch hier. Fast alle schauen an meiner Frau und mir vorbei, kaum jemand grüßt oder nickt uns wenigstens zu. Auf eine gewisse Weise bin ich allerdings auch froh darum, denn Beileidsbekundungen hätten mich sehr belastet.
Gleichzeitig ist die festliche Stimmung im Auditorium für alle greifbar, auch wenn für mich alles anders erscheint. Schwarze Löcher haben einen sogenannten Ereignishorizont. Wenn man in eines hineingezogen wird, ist das der “Point of no Return”. Hinter diesem Punkt gibt es kein Zurück mehr, und darum ist es für Materie entscheidend, den Ereignishorizont nicht zu überschreiten. Das Leben spielt sich außerhalb ab. Innerhalb, das ist eine ganz eigene Welt. Voller Dunkelheit und Schmerz, in der alles aufgrund der extrem hohen Schwerkraft miteinander verschmilzt - sogar Zeit und Raum. Die Zeit bleibt stehen, wenn man dort ist. Die Welt draußen dreht sich jedoch weiter und bekommt von den Geschehnissen im schwarzen Loch überhaupt nichts mit.
In unserem Falle liegt die Distanz vieler Menschen selbstverständlich daran, dass sie nicht wissen, wie sie mit uns umgehen sollen. Ich bin sicher, dass uns niemand absichtlich ignoriert. Immerhin sind alle Anwesenden selbst Eltern, und unser Verlust erinnert sie folglich an ihre eigene Verletzbarkeit. Um im Bild des Schwarzen Lochs zu bleiben, sind sie einfach nicht in der Lage, in diese Singularität hineinzuschauen. Ich finde das tatsächlich auch besser so, denn niemand sollte sich vorstellen müssen, wie es ist, ohne sein Kind zu leben.
Auf der anderen Seite fühle ich mich selbst zu sehr verletzt, gelähmt und traumatisiert, um mit diesem normalen Leben außerhalb des Ereignishorizonts mitzuhalten. Seit dem Tod unseres Kindes haben wir bereits vor diesem Tag den Kontakt zu einigen Menschen verloren. Wir bringen kaum noch die Kraft auf, die Dinge des alltäglichen Lebens zu erledigen. Wir brauchen auch viel mehr Ruhe als früher. Dabei waren wir früher aktive Menschen. Uns zog es zu Feiern, Straßenfesten, Konzerten und ähnlichen sozialen Anlässen, oder wir begaben uns einfach nur nach draußen in die Natur, wenn das Wetter schön war, um nicht zuhause herumzuhocken. Das hat uns stets viel Freude bereitet und bewirkt, dass wir uns lebendig fühlten. Die Veränderung in unserem Verhalten ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum Kontakte einschlafen, da viele unserer Mitmenschen, auch aus eigener Überforderung heraus, nicht wissen, wie sie mit uns umgehen sollen, und uns darum nicht mehr ansprechen.
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Jetzt in diesem Moment spricht die Freundin unseres Kindes und erinnert an Finn. Unser Kind identifizierte sich seit eineinhalb Jahren als non-binary, also ungeschlechtlich. Vor allen anderen hat es erst meine Frau und mich gebeten, nicht mehr den "Deadname" Anna, sondern den neuen Namen “Jiji” - sozusagen als Spitznamen - zu verwenden. Als Pronomen hat es sowohl “er” als auch “es” akzeptiert. Das Pronomen “sie”, gelegentlich aus alter Gewohnheit heraus verwendet, wurde in der Folge von ihm immer mit einem Stirnrunzeln oder sogar Protest begleitet.
Da ich mich grundsätzlich als tolerant und liberal betrachte und auch immer versucht habe, unser Kind ebenso zu erziehen, haben wir das nicht nur widerspruchslos akzeptiert, sondern unserem Kind sogar den Rücken gestärkt. Nachdem es sich uns gegenüber geoutet hatte, wurde der Wunsch geäußert, dass es auch in der Schule von den Lehrkräften nicht mehr mit dem alten Namen angesprochen werden wollte. Also bin ich dann mit meinem Kind zusammen zur Oberstufenkoordinatorin gegangen, denn alleine traute es sich das nicht zu. Von den Lehrkräften wünschte es sich "Finn" genannt zu werden. “Jiji” sei ein Spitzname, so sagte es, und es sei in Ordnung, wenn wir ihn als Eltern weiter verwenden.
Der Mut meines Kindes zu diesem Outing hat mich auch stolz gemacht. Für mich war es ein Zeichen des Erwachsenwerdens, auch wenn ich selbst ein bisschen mit dem neuen Namen und Pronomen überfordert war. Meine Grundüberzeugung ist jedoch, dass die geschlechtliche Identität eines jeden Menschen seine eigene Angelegenheit ist, in die sich niemand einzumischen und die niemand zu kritisieren hat. Darum war ich uneingeschränkt bereit, diese Entscheidung meines Kindes mitzutragen und zu unterstützen. Schließlich wollte ich nichts mehr, als dass mein Kind ein glücklicher Mensch wird und mit sich und der Welt so weit wie möglich im Reinen ist.
Trotz der oben geschilderten Grundüberzeugung stehe ich der aktuellen Entwicklung im Bereich Identitätspolitik in der Generation meines Kindes allerdings kritisch gegenüber. Nach meiner Auffassung gibt es in den sozialen Medien einen Trend, Jugendliche, die sich ihrer Identität nicht sicher sind, geradezu einzureden, dass sie nicht-binär, also in diesem Sinne transsexuell sind, sobald sie von der vermeintlichen Geschlechternorm abweichen. Womöglich “trans” zu sein, spielte eine große Rolle bei der Entscheidung meines Kindes, diese Welt zu verlassen. Der Umstand führte bei ihm zu großer Verwirrung und Unsicherheit. Es war sich selbst noch nicht einmal ganz sicher, ob es wirklich non-binary ist, wie es in seinem Abschiedsbrief schrieb, was seine Unsicherheit wahrscheinlich weiter steigerte.
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Dieses Buch wird zeigen, dass seine Identifizierung als ungeschlechtliche Person wesentlich durch einen Trend in den sozialen Medien, und ebenfalls die im viel zu großen Überfluss vorhandene Zeit durch die Schul-Lockdowns getrieben wurde. Mein Kind wollte sich einer Gruppe zugehörig fühlen, und da es nicht in die klassischen Gruppen passte und diese es mit seiner anderen Art ablehnten, entschied es sich für die LGBTQ+-Community. Die eigene Verunsicherung, kombiniert mit einer Depression und autistischen Zügen sowie das in der Zeit vor seinem Tod durch Medien und Regierungen meiner Meinung nach hervorgerufene allgemeine Klima der Angst (Coronapandemie, Klimawandel, Ukraine-Krieg), haben letztlich meinem Kind das Leben gekostet.
Mein eigenes Leben wurde durch den Tod meines Kindes nachhaltig beeinflusst. Mit dem Weitergeben meiner Erfahrungen habe ich die Hoffnung, anderen Eltern eine Hilfestellung zur Einordnung von ähnlichen Symptomen und Lebensumständen bei ihren jugendlichen Kindern geben zu können. Vielleicht rette ich damit das ein oder andere Leben eines Kindes und seine Chance auf Glück. Zu diesem Zweck habe ich Studien und Fakten zusammengetragen und, mit meinen eigenen Erlebnissen kombiniert, Schlussfolgerungen daraus gezogen.
Identitätskrise
Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern, wann sich unser Kind uns gegenüber geoutet hat. Es muss irgendwann Anfang 2021 gewesen sein, als es sich in seinem Zimmer aufhielt und wir von dort eine SMS bekamen mit dem Inhalt, dass es sich als non-binary identifiziere und fortan “Jiji” genannt werden wolle. Den alten Namen, Anna, in der Queer-Szene auch “Deadname” genannt, sollten wir nicht mehr verwenden.
Jiji war charakterlich introvertiert und etwas schüchtern, und entsprechend zurückhaltend, was das Mitteilen von selbst betreffenden Nachrichten und Ereignissen betraf. Es war aus diesem Grund nicht das erste Mal, dass wir eine Mitteilung mit einer großen Tragweite auf diese Weise erhielten. Aus irgendeinem Grund fiel es ihm selbst uns gegenüber schwer, sich uns mitzuteilen. Vielleicht lag es auch daran, dass es in seiner Clique ein paar Freunde gab, deren Eltern allem “Queeren” gegenüber sehr kritisch eingestellt waren. Sie wurden von Jiji oft als “homophob” bezeichnet, und ich muss zugeben, dass die zitierten Äußerungen auch in meinen Augen nicht gerade von großer Toleranz zeugten. Meine Frau und ich sind hingegen diesbezüglich wie gesagt sehr liberal. Darum haben wir Jiji ebenfalls so erzogen. In der Vergangenheit erklärte ich ihm häufiger bei bestimmten Anlässen, warum ich der Meinung bin, dass jeder so sein Leben leben können sollte, wie es ihm gefällt, und dass sexuelle Orientierung und Identifikation niemand anderen etwas angeht als die betroffene Person selbst. Dazu stehe ich auch heute noch. Nach dem Suizid unseres Kindes und durch meine Recherchen rund um dessen Gründe bin ich allerdings nun deutlich kritischer, was die Motive einiger Akteure der LGBTQ+-Szene betrifft.
Die letzte Nachricht von Jiji war eine Aufzählung der Gründe für seinen Suizid. Demnach schien das Trans-Sein ein wichtiger Grund für seinen Suizid gewesen zu sein.
Von uns als Eltern erfuhr Jiji volle Unterstützung und Verständnis. Diese hatten wir bereits nach seinem Outing signalisiert, und unser Kind zeigte sich in der Folge sichtlich beruhigt. Wie sich nach dem Suizid zeigte, wäre der richtige Zeitpunkt, seine Überzeugung non-binary zu sein zu hinterfragen, ohnehin schon viel früher gewesen. Auch heute würde ich zu diesem Zeitpunkt, als das Outing stattfand, nichts anders machen. Ich finde, eine solche Entscheidung zu unterstützen, nachdem sie bereits gefallen ist, ist ein Zeichen von Respekt der betroffenen Person gegenüber; einer Person, die, wie in Jijis Fall, ja auch schon fast erwachsen war.
Was uns in der Folge schwerer fiel, und darauf bezog sich unser Kind schließlich auch in seiner Abschiedsnachricht, war die Verwendung der neuen Pronomen und des neuen Namens. Ursprünglich sollten wir neben dem Namen “Jiji”, den es aus einem Film übernommen hatte, die Pronomen “they/them” oder “er/ihm” verwenden. Man kann sich vielleicht vorstellen, dass wenn man als Eltern sechzehn Jahre lang gewohnt ist, von “Anna” und “sie/ihr” zu sprechen, es eine gewisse Zeit dauern kann, bis man sich umgestellt hat. In dieser Übergangszeit gab es deswegen öfter Spannungen. Nach einer gewissen Zeit verinnerlichten wir aber dann den neuen Namen - allerdings, trotz allem guten Willens, nicht die Pronomen. Der Kompromiss lautete letztlich, die Pronomen “es/ihm” zu verwenden, was uns des Öfteren auch gelang. Die “alten” Pronomen rutschten uns aber immer mal wieder heraus, insbesondere wenn meine Frau und ich uns über unser Kind unterhielten. Unter anderem war es vermutlich auch das, was es zu einer Bemerkung in seiner Abschiedsnotiz zum Thema Trans-Sein meinte, denn es sprach davon, dass es auch in Zukunft sicherlich ständig “misgegendert” werden und niemals als das angesehen würde, als was es sich identifiziere.
Ein Nebensatz im Abschnitt “Trans-Sein” der Abschiedsbotschaft, in Verbindung mit meinen eigenen Recherchen zu diesem Thema, ließ mich allerdings ein wenig an seiner neuen Identität zweifeln. In der Botschaft beklagt unser Kind, dass selbst jene, die es respektieren, es niemals so sehen werden wie Jiji es möchte, und dass es ihnen das nicht einmal übel nimmt, weil es selbst ebenfalls so denkt. Hier schienen also zumindest ansatzweise Selbstzweifel bezüglich seiner neuen Identität vorhanden gewesen zu sein. Meine Recherchen im Internet zum Thema LGBTQ+-Szene, insbesondere auf den Seiten der Influencer in den sozialen Medien, aber auch in Artikeln über die Szene, haben mir in der Folge zu denken gegeben. Es gibt offenbar Influencer, deren teilweise polemische und nicht faktenbasierte Aussagen aus meiner Sicht an Manipulation, geradezu schon Gehirnwäsche, grenzen, und deren Zielgruppe offenbar Jugendliche wie Jiji sind. Gerade bei Heranwachsenden, in einer Phase der Findung der eigenen Identität und Persönlichkeit, wirken solche Aussagen besonders nach. Dazu werde ich in diesem Kapitel weiter unten einige Belege abliefern.
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Schon als ich aufwuchs, waren Jugendliche dem Risiko ausgesetzt, aufgrund des Einflusses bestimmter Altersgenossen auf Abwege zu geraten. Veränderungen im Gehirn, gepaart mit dem Wunsch, die eigene Identität zu finden und sich von der Erwachsenenwelt abzugrenzen, sowie ein herabgesetztes Risikobewusstsein, ergeben manchmal einen brisanten Cocktail. Gerät man in dieser Zeit an die Falschen, wird man möglicherweise in eine gefährliche Richtung gelenkt. Das führte bereits bei einigen betroffenen Menschen meiner Generation zu Drogenmissbrauch, Kriminalität, extremen politischen oder religiösen Meinungen oder zumindest, im besten Fall, zu auffälligen äußerlichen Veränderungen durch Mode und Haarschnitt. Später, als junge Erwachsene, fanden viele dieser Menschen dann wieder zurück in die Gesellschaft und auf einen gemäßigteren Weg. Heutzutage scheint mittlerweile das Thema “Gender”, also die sexuelle Identität, als neue Möglichkeit der Abgrenzung dazu gekommen zu sein, so dass sich viele Jugendliche nun auch damit auseinandersetzen.
Das angesprochene Phänomen, das selbstverständlich schon viele Jahre existiert, ist erst in den letzten Jahren besonders in den Fokus der Öffentlichkeit geraten. Die Zahl der sich als queer oder trans bezeichnenden Menschen ist sprunghaft angestiegen.