Jenseits der Flut - Eine Liebe in Prag - Hanna Meyer - E-Book

Jenseits der Flut - Eine Liebe in Prag E-Book

Hanna Meyer

4,9

Beschreibung

Ein Roman über Prag und die Liebe - Wenige Wochen nach der Jahrhundertflut des Jahres 2002 reist die Politologin Gesa Jakobsen nach Prag, um sich noch einmal mit ihrem ehemaligen Geliebten, einem dänischen Spitzendiplomaten, zu treffen. Aus verletztem Stolz hat sie ihm bisher verschwiegen, dass er der Vater ihrer vierjährigen Zwillinge ist. Nun, da es einen neuen Mann an ihrer Seite gibt, will sie endlich Ordnung in ihr Leben bringen. Und dann läuft ihr in Prag der junge Journalist und Kafka-Experte Pavel Klima über den Weg, ein Mann, den ein Geheimnis zu umgeben scheint.

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Seitenzahl: 307

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Die Autorin hat Politikwissenschaft und Germanistik studiert und war viele Jahre an einem niedersächsischen Gymnasium tätig, bevor sie sich dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrer Familie in Verden an der Aller in der Nähe von Bremen.

„Jenseits der Flut – Eine Liebe in Prag“ ist ihr erster Roman.

Für meine Mutter

Inhaltsverzeichnis

Montag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Dienstag

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

Mittwoch

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

Donnerstag

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

Freitag

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

Montag

Der Spiegel dieser treuen, braunen Augen

Ist wie von innerm Gold ein Widerschein;

(Eduard Mörike)

1.

Komm zu mir, Gesa, schneide dir einen Haselnusszweig und fahre nach Prag.

Wider alle Vernunft war sie seinem Lockruf gefolgt, nicht einmal die Jahrhundertflut hatte sie davon abbringen können. Einmal noch Gesa, ein allerletztes Mal!

Elf Stunden war sie unterwegs gewesen und hatte fünfmal umsteigen müssen, weil die Eisenbahnstrecke über Dresden wegen der Hochwasserschäden immer noch gesperrt war. Einen Flug hatte sie nicht bekommen können so kurzfristig. Die Fluten des August hatten nicht nur Dresden und die Sächsische Schweiz, sondern auch weite Teile Tschechiens überrollt, sodass die Konferenz über die europäische Minderheitenpolitik, zu der Laursen sie eingeladen hatte, buchstäblich ins Wasser gefallen war.

Praha hlavní nádraží. Da stand sie nun, drei Wochen später als ursprünglich geplant, unter der gläsernen Kuppel des prachtvollen, alten Bahnhofs, doch jegliches Interesse an Jugendstil war erloschen. Ihre neue Uhr, Max` Geschenk zu ihrem neununddreißigsten Geburtstag, war verschwunden. Beschämt und etwas verloren sah sie hinauf zu einer der eleganten Skulpturen, als erwarte sie eine Entschuldigung.

Gleichwohl war die Situation nicht ganz frei von Komik, war sie doch gewissermaßen in geheimer Mission in Prag.

Dilettantin, dachte sie und dann dachte sie an die seltsame Frau aus dem Zug, vermutlich eine Romni, die ihr seit Pilsen gegenübergessen und sie unentwegt gemustert hatte, verwarf diesen Gedanken aber gleich wieder, da die Frau und ihre Söhne das Abteil schon vor Prag verlassen hatten, und danach hatte sie noch einige Male auf ihre Uhr geschaut.

Es konnte nur beim Aussteigen passiert sein.

Der Zug war mit Verspätung angekommen und es war turbulent zugegangen. Viele Reisende mussten hier umsteigen, und auf den schmalen, mit Gepäckstücken übersäten Gängen war es zu einem Gedränge gekommen. Ein besonders ungeduldiger Mann war schließlich über ihren Koffer gestürzt, sie hatte ihm aufgeholfen, doch ohne eine Geste des Dankes war er nach draußen geeilt und in der Masse untergetaucht. Der könnte es gewesen sein.

Die Polizei würde ihr vermutlich nicht weiterhelfen können, aber auf jeden Fall würde sie den Diebstahl anzeigen. Doch das hatte Zeit bis zum nächsten Tag. Vielleicht hatte sie die Uhr ja auch nur verloren und es meldete sich bis dahin ein ehrlicher Finder. Max Conradi jedenfalls brauchte vorerst nichts davon zu erfahren. Er war ohnehin gegen diese Reise gewesen, doch darüber wollte sie sich nicht den Kopf zerbrechen, nun, da sie einmal hier war.

Am besten nahm sie es mit Gelassenheit und machte sich auf den Weg in die Nekázanka. „Dahin kannst du vom Bahnhof aus gut zu Fuß gehen“, hatte Laursen gesagt. „Ein Taxi dürfte in diesen Tagen kaum zu bekommen sein. In Barboras Bar wird man dir weiterhelfen, min elskede.“

Sin elskede, seine Liebste. War sie das jemals gewesen?

2.

Das Bistro war gut besucht, alle Tische besetzt, und um die Theke herum hatte sich eine Traube gebildet.

Sie stellte ihren Regenschirm zu den anderen in den Ständer an der Eingangstür, kämpfte sich zum Tresen durch und erkundigte sich nach Barbora Karlová.

„Die Chefin erwartet Sie schon“, wurde sie von einer jungen Kellnerin auf Englisch begrüßt und ohne Umschweife über einen engen Flur zur Küche gebracht, wo eine kleine, energische Frau mittleren Alters das Regiment führte.

„Schön, dass Sie da sind, Frau Dr. Jaboksen“, rief sie ihr auf Deutsch zu. „Ich setze nur noch die Knödelchen ins Wasser.“ Gesa, die mit ihrem Gepäck in der Küchentür stehen geblieben war, fragte sich, was diese Frau wohl mit Laursen zu tun haben mochte.

Es roch angenehm nach Braten, die Küche war blitzblank und anscheinend genauso gut organisiert wie die Salatküche ihrer Mutter Margarethe in Barkenstedt.

„Entschuldigung, dass ich Ihnen nicht die Hand gebe“, kam Barbora in Kochmontur und Einweghandschuhen auf sie zu.

„Um diese Zeit ist hier der Teufel los.“

Sie warf einen Blick auf Gesas leichten Trench, trat zu ihr hinaus auf den Flur und schloss die Tür zur Küche.

„Hier sind wir ungestört, Frau Jakobsen. Hat Prag Sie also mit Regen begrüßt.“

„In Deutschland schien heute Morgen die Sonne“, sagte Gesa, doch die Köchin schien nicht weiter an Small-Talk interessiert zu sein.

„Sie werden in Prag neun wohnen, im Hotel U lipy, Zur Linde, etwas außerhalb des Zentrums“, setzte sie unvermittelt mit gedämpfter Stimme an und sah ihr dabei fest in die Augen.

Gesa zog die Stirn in Falten, hatte Laursen ihr doch erzählt, dass sie in einem Hotel an der Kleinseite, im Stadtteil Malá Strana, wohnen würde, nicht weit entfernt von der deutschen Botschaft, wo Genscher im September 1989 die Ausreisegenehmigung für tausende DDR-Flüchtlinge verkündet hatte. Das war der Beginn vom Ende der DDR gewesen.

Anscheinend blieben der Frau ihre Bedenken nicht verborgen.

„Es musste kurzfristig umdisponiert werden, weil die Schäden, die das Hochwasser angerichtet hat, schlimmer als befürchtet waren und die Renovierung des Hotels an der Kleinseite noch einige Zeit in Anspruch nehmen wird.“

Gesa nickte ihr zu, aber sie wusste nicht mehr, wohin mit ihren Blicken, denn die Frau starrte ihr immer noch direkt in die Augen, eine Methode, die sie von Laursen und seinen Leuten kannte und die ihr auch dieses Mal einen Schauer über den Rücken jagte. Das war keine harmlose Köchin.

„Der Fahrer, der Sie in Ihr Hotel bringen wird, steckt noch im Stau, dürfte aber in Kürze hier sein. Wir beide, Frau Dr. Jakobsen, kennen uns von gemeinsamen Bekannten aus Hannover. Ich habe dort einige Zeit im Hotel Interconti gearbeitet. Sie besuchen Prag, weil Tschechien die Mitgliedschaft in der EU beantragt hat und Sie als Politologin sich ein Bild von unserem Land machen wollen. Außerdem treffen Sie sich mit alten Studienfreunden. Mehr braucht niemand zu wissen. Der offizielle Anlass Ihres Besuches, die Minderheitenkonferenz, ist ja leider weggefallen.“

Immer noch fixierte die Frau sie mit ihrem Blick.

„Morgen früh besuchen Sie den Markt vor ihrem Hotel und halten Ausschau nach Glasmalereien. Dort werden Sie der betreffenden Person begegnen. Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen.“

Sie solle für eine tschechische Romni, der er sich verpflichtet fühle, in einer Familienangelegenheit vermitteln, hatte Laursen gesagt, als er sich Ende Juli überraschend bei ihr gemeldet hatte. Dieser Auftrag hatte von Anfang an ihr Misstrauen geweckt und jetzt fühlte sie sich darin bestätigt.

„Für diese Aufgabe lassen Sie extra eine Politologin aus Deutschland anreisen? Weshalb hat Laursen mich nach Prag gelockt?“

„Das Schicksal der Frau liegt uns am Herzen. Wir setzen auf

Ihr Einfühlungsvermögen und Ihren sechsten Sinn.“

Das war zwar keine Antwort auf ihre Frage, doch die Worte der Köchin hatten ehrlich geklungen und auch das Lächeln, das Barbora Karlová ihr jetzt zuwarf, wirkte echt. Was sollte sie von dieser Frau halten?

„Sie kennen die Gepflogenheiten. Bleibt es bei unserer Abmachung?“

Gesa nickte, obwohl sie immer noch nicht an die Geschichte mit der Zigeunerin glaubte. Sie vermutete vielmehr, dass Laursen sich im Vorfeld der NATO-Osterweiterung zu geheimen Verhandlungen in Prag aufhielt und sie zur Ablenkung möglicher Beobachter noch einmal die Rolle seiner Geliebten spielen sollte.

Doch deshalb war sie nicht nach Prag gekommen. Für diese Leute würde sie nichts mehr riskieren, jetzt, da sie zwei kleine Kinder hatte. Aber das würde sie der anderen, die hier offenbar die Rolle von Laursens Adjutantin spielte, nicht auf die Nase binden.

Barbora Karlová bedankte sich für die Hilfe und die Situation entspannte sich.

„Nach der langen Reise sollten Sie sich etwas stärken. Vera, das ist die junge Kellnerin, die Sie zu mir gebracht hat, wird sich um Sie kümmern. Ich selbst habe heute keine Zeit, aber vielleicht schauen Sie ja während Ihres Urlaubs noch einmal vorbei. Dass Laursen sich von seiner Frau getrennt hat, wissen Sie?“

„Nein, das habe ich nicht gewusst“, konnte sie gerade noch herausbringen, bevor sie fluchtartig mit ihrem Gepäck den Flur verließ. Fast wäre dieses Mal sie über ihren eigenen Koffer gestolpert.

3.

Als sie in den Gastraum zurückkam, waren ihre Beine immer noch wacklig. Zum Glück hatte Vera bereits einen Platz für sie organisiert, einen kleinen Tisch, noch dazu direkt am Fenster.

Nun hatte Laursen sich doch noch von seiner Frau getrennt!

Nach all den Jahren!

Hatte er sie etwa deshalb nach Prag eingeladen? Nein, das traute sie ihm dann doch nicht zu.

Außerdem käme das alles fünf Jahre zu spät, fünf lange Jahre, die er sie mit allem allein gelassen hatte.

Immer noch verwirrt darüber, dass Barboras Nachricht sie so durcheinandergebracht hatte, kramte sie in ihrer Tasche nach ihrem Reiseführer.

Da war auch schon Vera mit den Getränken zurück.

Der Kaffee schmeckte fast so gut wie in Bremen, die Palmen schützten vor neugierigen Blicken, aber ihre Hände waren immer noch zittrig und sie war froh, dass der Fahrer noch auf sich warten ließ und sie erst einmal in Ruhe ihre Gedanken sammeln und sich auf die neue Situation einstellen konnte.

Sie starrte noch einen Moment ins Leere, dann fand sie in die Gegenwart zurück.

Es war wirklich viel Betrieb in diesem lauten, böhmischen Bistro. Vermutlich handelte es sich nicht um ein Touristenlokal, sondern um einen Ort, wo sich die jungen Angestellten nach Büroschluss trafen, auf einen Kaffee oder ein Bier, und wo sie eine Kleinigkeit aßen, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machten.

Sie selbst hatte noch keinen Hunger. Dafür hatte Natalia gesorgt mit ihren leckeren Sandwiches. Ohnehin hätte sie jetzt, nachdem Barbora ihr von Laursens Trennung erzählt hatte, sowieso keinen Bissen herunterbekommen.

Natalia. Ohne die Hilfe der jungen Russlanddeutschen und die ihrer Mutter Margarethe hätte sie es wohl nicht geschafft in den ersten Monaten nach der Geburt der Zwillinge, wenn beide Babys schrien und Hunger hatten in der Nacht.

Unruhig blätterte sie in ihrem Stadtführer und suchte Prag neun und das Hotel U lipy. Keine Angaben?

Erst auf dem Falkplan ganz oben rechts wurde sie fündig. Prag IX.

So weit außerhalb hatte Laursen sie untergebracht? Noch dazu in der Nähe eines riesigen Industrieareals. ĈKD.

Nach der langen Zugfahrt fühlte sie sich schmutzig und sehnte sich nach einem Bad und etwas Komfort. Sie wäre gern in einem guten Hotel im Zentrum abgestiegen.

In ihrem Reiseführer stieß sie auf klangvolle Namen.

Als schönstes Hotel galt immer noch das Evropa am Wenzelsplatz. Es beherberge das berühmteste Café Prags, doch die Ausstattung der Zimmer lasse zu wünschen übrig, hieß es.

Von dem kleinen, exklusiven Ungelt nah am Altstädter Ring hatte sie schon gehört, aber es hatte nur wenige Zimmer, es war zu wenig anonym.

Wenn sie die Wahl gehabt hätte, hätte sie sich für das Paříž entschieden. Die renovierten Zimmer seien zwar nicht besonders originell in der Gestaltung, dafür aber ausgesprochen komfortabel. Zudem befand es sich ganz in der Nähe der Nekánzanka und des Bahnhofs. U Obecniho domu 1, Náměstí Republiky.

Die Namen und Straßenbezeichnungen mit den ungewohnten Sonderzeichen gingen ihr kaum über die Lippen. Zwar konnte sie Russisch und erkannte einige Wörter wieder - Dom, Dům - doch der Klang des Tschechischen war ihr völlig fremd. Das war ihr schon beim Umsteigen in Cheb aufgefallen.

Cheb, vormals Eger.

Obwohl es sich um einen zentralen Grenzbahnhof handelte, waren die Durchsagen nur auf Tschechisch erfolgt und ein Bahnsteig war nirgendwo angegeben gewesen, sodass sie und die vielen anderen deutschen Reisenden orientierungslos auf dem Bahnhof herumgeirrt waren und den völlig überbuchten Schnellzug nach Prag erst in letzter Minute erreicht hatten.

So ganz war Tschechien wohl noch nicht in der EU angekommen.

Sie horchte noch einmal in den Raum und versuchte einige Brocken der fremden Sprache zu entschlüsseln. Vergebens.

Dann wandte sie sich wieder ihrem Stadtführer zu.

Ja, das Paříž. Dorthin könnte sie mit ihrem Rollkoffer weiter zu Fuß gehen und ihr Glück versuchen. Doch schnell kam sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Es gab sicher einen Grund dafür, dass Laursen sie so weit außerhalb unterbrachte, und das, was sie mit ihm zu klären hatte, könnten sie zur Not auch in der billigsten Absteige regeln. Die entsprechenden Dokumente hatte sie dabei, akribisch vorbereitet von ihrem Anwalt, darunter sogar eine Ausfertigung auf Dänisch, obwohl Laursen perfekt Deutsch sprach.

Mir machst du nichts vor, mein Kind, hatte ihre Mutter vor ihrer Abreise zu bedenken gegeben. Du liebst ihn immer noch.

Welch abwegiger Gedanke!

Längst hatte sie in Max Conradi einen neuen Lebenspartner gefunden!

Fünf Jahre war es her, dass Laursen sie verlassen hatte, damals im Sommer in Kopenhagen. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen. Ab und zu rief er an, aber über Belanglosigkeiten gingen diese Gespräche selten hinaus, und er hatte sie bis zu dieser Einladung nach Prag auch nie wieder gebeten, für ihn zu arbeiten.

Ein Mittel, sie unter Druck zu setzen, besaß er nicht mehr.

Ohnehin hatte er sich während all der Jahre, die sie für ihn tätig gewesen war, nur einmal zu einer Drohung hinreißen lassen. Damals war sie noch wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Leibniz Universität Hannover gewesen und hatte an ihrer Promotion gearbeitet. Ein Gerücht im Fachbereich Politik hätte ausgereicht, das Ende ihrer Karriere zu besiegeln, wusste sie doch, wie skeptisch die meisten ihrer Kollegen und Studenten der NATO gegenüberstanden. Ungesetzliches hatte sie nicht getan, sie hatte ihn nur begleitet auf seinen Reisen, aber in ihrer jugendlichen Naivität hatte sie damals auch eine Geheimhaltungsverpflichtung unterschrieben.

Inzwischen wussten Max und ihre Eltern um ihre Vergangenheit, ihre wissenschaftliche Karriere war ohnehin schon vor der Geburt der Kinder beendet gewesen, und mittlerweile hatte sie sich mit ihrer Buchhandlung in Barkenstedt eine neue Existenz aufgebaut.

Nun wurde sie allmählich doch ungeduldig, dass der Fahrer so lange auf sich warten ließ.

Sie holte ihr Handy aus der Tasche. Keine neue SMS.

Noch immer hatte Laursen ihr nicht mitgeteilt, wann genau und wo sie sich treffen würden am nächsten Tag in Prag.

4.

„Entschuldigen Sie, ist hier noch ein Platz frei?“

Ein junger Mann, der nach Hamburg klang, um die Dreißig und teuer gekleidet, stand vor ihr. Zwar wäre sie lieber allein geblieben, aber die Höflichkeit gebot, ihm einen Platz anzubieten. Also räumte sie ihre Reiseutensilien beiseite. Er dankte ihr, blieb aber stehen.

„Sind Sie auch gerade mit dem Zug aus Deutschland angekommen?“, erkundigte sie sich.

„Nein, ich bin schon länger in Prag. Ich fliege Morgen zurück nach Berlin“. Er lächelte verkrampft. „Bis vor wenigen Minuten war das hier noch mein Tisch. Ich wollte mir nur schnell eine aktuelle, deutsche Zeitung holen. Die Kellnerin wusste Bescheid und trotzdem hat sie meine Getränke weggeräumt.

Ich besorge mir schnell einen neuen Kaffee.“

Sie musterte ihn etwas genauer. „Tut mir leid“, sagte sie nicht ganz wahrheitsgemäß, und da eilte er schon zur Theke hinüber.

Er erinnerte sie an die eilfertigen, jungen Brüsseler Bürokraten. Da würde er hinpassen, meldeten sich ihre Vorurteile, auch nach Berlin Mitte. Freiwillig hätte der seinen Platz nicht geräumt.

Anders als Laursen, der bereit war, seine einflussreiche Brüsseler Position aufzugeben für einen Botschafterposten am anderen Ende der Welt. Er würde in Kürze nach Australien gehen, und nur deshalb war sie seiner Einladung gefolgt. Prag würde vermutlich für Jahre die letzte Möglichkeit sein, sich mit ihm zu treffen, und es gab da tatsächlich eine Familienangelegenheit, die sie zu regeln hatte, das war sie ihren Kindern schuldig und auch sich selbst, damit sie endlich wieder schlafen konnte ohne Tabletten oder die aufwändigen Entspannungsübungen, die der Arzt ihr empfohlen hatte.

Als Laursen sie damals in Kopenhagen so unvermittelt und eiskalt abserviert hatte, war sie schwanger von ihm gewesen, und dann hatte sie ihm aus verletztem Stolz verschwiegen, dass er der Vater ihrer Söhne war.

Ja, Laursen und die Kinder mussten endlich die Wahrheit erfahren. Gerade in letzter Zeit, seitdem die Zwillinge in die Kita gingen, waren ihre Fragen immer bohrender geworden und sie hatte sich zunehmend in Widersprüche verstrickt oder die beiden mit Halbwahrheiten abgespeist, wie noch vor ein paar Tagen.

Euer Vater ist Pilot und muss viel herumreisen in der Welt.

Zwar hatte Laursen gelernt, eine F-16 und auch Helikopter zu steuern, doch seine aktive Zeit bei der dänischen Luftwaffe und der NATO war längst vorbei. Immerhin hatten die Zwillinge etwas anfangen können mit dieser Antwort und ihr nur einen Tag später stolz verkündet, dass keines der anderen Kinder in ihrer Kita-Gruppe einen Vater habe, der Hubschrauberpilot sei.

Höchste Zeit, den Zwillingen nicht länger etwas vorzumachen. Noch hatten die beiden anders als andere Trennungskinder keine Angststörungen und rissen sich auch nicht büschelweise die Haare aus. Doch sie wurden bald fünf, ein Alter, in dem Kinder anfingen, alles auf sich zu beziehen und sich für alles Mögliche die Schuld zu geben, sogar für die Abwesenheit des Vaters.

Auch Max hatte darauf gedrängt, dass sie endlich klar Schiff machte, doch als sie ihm erzählt hatte, dass sie sich in Prag mit Laursen treffen würde, war ihm das gar nicht recht gewesen. Prag ist sein Terrain, hatte er gesagt. Wie konntest du dich nur darauf einlassen!

Da war der Berliner auch schon zurück. Nachdem er seinen Kaffee auf den Tisch gestellt hatte, setzte er sich neben sie und warf einen Blick auf ihren Reiseführer.

„Sind Sie als Touristin in Prag?“

„Ja, ich mache hier ein paar Tage Urlaub.“

„Trotz des Hochwassers?“

„Ich konnte meinen Urlaub nicht verschieben und so schlimm dürfte es jetzt, Wochen nach der Flut, wohl nicht mehr sein.“

„Sie werden sich wundern. Vieles funktioniert nicht, die Verkehrsverhältnisse sind chaotisch, weil die U-Bahn überflutet wurde, und einige wichtige Sehenswürdigkeiten sind immer noch geschlossen. Haben Sie wenigstens ein gutes Hotel gebucht?“

„Ich bin mir noch nicht ganz sicher“, spielte sie die Unentschlossene und deutete auf das Hotelverzeichnis. Was er ihr wohl empfehlen würde?

„Das Ungelt ist ein gutes Haus, zentral gelegen am Altstädter Ring.“

„Ich habe auch schon mit dem Gedanken gespielt.“

Der junge Mann schien es nicht besonders eilig zu haben, doch irgendwie musste sie ihn loswerden, bevor der Fahrer aus Prag IX auftauchte.

Wie spät es wohl war?

„Sind Sie beruflich in Prag?", wollte sie ihm etwas auf den Zahn fühlen.

„Ich habe Freunde besucht“, wich er aus und rührte in seinem Kaffee.

Sie wollte gerade wieder ihr Handy hervorkramen, um nach der Zeit zu sehen, da sprang er völlig unvermittelt auf und starrte in Richtung Theke. Von einem Moment auf den anderen wollte er sich nun von ihr verabschieden. Doch er hatte zu langsam reagiert, denn schon kam ein Mann in seinem Alter, der ein Glas Cola in der Hand hielt, an ihren Tisch.

Und jetzt wurde auch sie unruhig, denn dieser Fremde war ihr irgendwie vertraut, ihr fiel aber nicht ein, woher sie ihn kennen könnte. Ein schlanker, gepflegter Typ, nicht ganz so groß wie der andere und wohl auch etwas jünger, das Haar fiel ihm ins Gesicht und unter seinem modisch zerzausten Pagenkopf blinzelten zwei wache, braune Augen hervor.

Auch er war gut gekleidet, wenn auch vermutlich nicht so teuer wie der junge Deutsche. Dafür besaß er eine natürliche Eleganz und eine Ausstrahlung, die sie sofort an einen Künstler denken ließen, und schon fühlte sie sich in ein anderes Jahrhundert zurückversetzt, in die goldenen Jahre von Prag und Paris, die Zeit Kafkas und Prousts.

Sie ermahnte sich. Ihre Phantasie ging mit ihr durch. Er erinnerte sie an den britischen Schauspieler, der diese beiden Künstler im Film verkörpert hatte.

„Ahoj, Sören. Entschuldige die Verspätung, ich hatte noch in der Redaktion zu tun. Störe ich?", fragte der vermeintliche Schriftsteller freundlich auf Deutsch. Er hatte eine wohlklingende Stimme.

„Du störst nicht", versicherte der andere seinem Bekannten.

„Außerdem wollte ich mich gerade verabschieden."

„Willst du uns nicht bekannt machen?“, hakte der Tscheche mit einem Blick auf Gesa nach.

Der Berliner, der immer noch nach Hamburg klang, reagierte ausgesprochen unruhig.

„Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Sören Reuter. Und das ist mein Freund Pavel Klima aus Prag.“

„Gesa Jakobsen aus Bremen“, stellte sie sich vor.

Mit einem verschmitzten Lächeln sah der Tscheche sie an und da war keine Spur von künstlerischer Unrast auszumachen, er wirkte - auf den ersten Blick - ganz gelassen, ganz so, als habe er anders als sein nervöser Freund längst seinen Weg gefunden.

Nun stand er also vor ihnen mit seinem Glas Cola in der Hand. Wollte der junge Deutsche nicht unhöflich wirken, musste er seinem Freund einen Platz an ihrem Tisch anbieten.

Ein Stuhl war noch frei.

Klima. Ob er wohl etwas mit dem tschechischen Schriftsteller zu tun hatte?

Als sie ihre schwere Umhängetasche vom Stuhl nehmen wollte, um für Pavel Klima Platz zu schaffen, war dieser ihr sofort behilflich und dabei berührten sich kurz ihre Hände. Und plötzlich wusste sie, an wen er sie erinnerte. Er hatte die gleichen Augen wie die geheimnisvolle Frau aus dem Zug. Allerdings war er größer und seine Haare waren nicht so dunkel wie die der Frau. Auch seine Haut war heller. Aber er ähnelte ihr - und ihren Söhnen.

Am liebsten hätte sie ihn sofort gefragt, was er mit der Fremden zu tun habe. - Unsinn! Die Frau war eine Zufallsbekanntschaft gewesen.

Oder sollte Laursen sie doch nicht belogen und bereits seine Hände im Spiel gehabt haben?

Für einen Moment hielt der Tscheche in seiner Bewegung inne und sein Blick suchte ihre Hände. Auch er schien zu überlegen, woher er sie kenne, aber schon im nächsten Augenblick hatte er sich besonnen und stellte ihre Tasche auf den Boden.

„Dr. Jakobsen aus Bremen?“, erkundigte er sich und sie nickte ihm zu.

Sie wusste, was jetzt kommen würde.

„Die Autorin der hochgelobten, neuen Kleist-Biografie?“

„Leider stammt das Buch nicht von mir, sondern von meiner Tante, Professor Dr. Gesine Jakobsen. Sie interessieren sich für deutschsprachige Literatur?“

„Als Journalist interessiert mich fast alles.“

Er musterte sie etwas genauer.

„Als Politologin geht es mir ähnlich“, sagte sie.

Höchste Zeit, das Gespräch auf eine etwas weniger persönliche Ebene zu lenken.

„Von Kollegen aus Magdeburg weiß ich, dass es auch in Prag riesige Plattenbausiedlungen gibt."

Wie kam sie nur auf dieses abseitige Thema?

Doch er ging tatsächlich darauf ein.

„Wir haben noch keine Leerstände wie in Ostdeutschland, weil hier nach der Wende kaum neue Wohnungen entstanden sind. Ein Großteil der Prager, auch die sogenannte Mittelschicht, lebt immer noch dort."

„In der ehemaligen DDR schrumpfen die Städte und die Plattenbauten werden abgerissen, weil niemand mehr darin wohnen will."

„Diese ausrangierten Teile wollte man uns verkaufen, wussten Sie das? Wir haben dankend abgelehnt."

Plötzlich sah er sie, wie ihr schien, etwas abschätzig an und schaute auf ihr silbernes Feuerzeug.

„Unsere Löhne sind noch sehr bescheiden. Daher werden Sie im Zentrum Prags, in den Cafés und Geschäften rund um den Altstädter Ring, anders als in unserer Partnerstadt Hamburg kaum auf einheimische Kundschaft treffen.“

Bevor er sie, nicht ganz zu Unrecht, noch in die Ecke für verwöhnte Westfrauen stellte, wollte sie sich lieber noch etwas zu trinken holen und sich dabei nach dem Fahrer aus Prag IX erkundigen. Es wurde Zeit, dass sie hier rauskam.

5.

Die Spuren der Reise waren ihrem Gesicht anzusehen, etwas Wasser und etwas neue Farbe würden ihr guttun.

Nachdem sie sich in dem kleinen Waschraum zurechtgemacht hatte, musterte sie sich noch einmal in dem barocken Spiegel, den man wegen seiner Größe nicht über dem Waschbecken, sondern an der gegenüberliegenden Wand angebracht hatte, und fuhr sich mit der Bürste einige Male durch ihr schulterlanges, blondes Haar, das nach dem Regen etwas aus der Fasson geraten war.

Die Babypfunde hatte sie schnell wieder verloren, die beiden Jungen und das Geschäft hielten sie auf Trab. Ihr Körper war etwas weicher geworden und sie wirkte nicht mehr ganz so knabenhaft wie vor der Geburt der Zwillinge.

Immer noch fielen ihre im Verhältnis zu ihrer mittleren Größe langen, schlanken Beine auf. Etwas half sie nach, denn wenn sie unterwegs war, trug sie meistens Schuhe mit höheren Absätzen. Fast schon ein kleiner Tick und dafür war Laursen verantwortlich. In Brüssel, kurz nach ihrem Kennenlernen, hatte er ihr erzählt, dass er sie vor allem wegen einer gewissen Alltagseleganz und der braun lackierten Nägel zunächst für eine der belgischen Dolmetscherinnen gehalten habe, aber als sie dann vom Tisch aufgestanden sei und er an der zarten Person die unförmigen, flachen Schuhe entdeckt habe, sei ihm sofort klar gewesen: Die kommt aus dem Norden Europas.

Damals hatte sie keinen Sinn für diese Art von Humor gehabt, jetzt musste sie schmunzeln.

Als sie sich bei Vera nach dem Fahrer erkundigte, wirkte diese überrascht.

„Er sitzt bereits bei Ihnen am Tisch.“

Sie schluckte. Demnach hatte der Tscheche von Anfang an gewusst, wen er vor sich hatte und ihr die ganze Zeit etwas vorgespielt. Vielleicht wollte er aber auch nur die Vertraulichkeit wahren, schließlich saß noch ein Dritter am Tisch.

Sie würde sich nichts anmerken lassen, nahm das Tonic-Wasser und machte sich auf den Weg zurück zu den beiden jungen Männern, die in ein Gespräch vertieft waren. Offensichtlich ein Streitgespräch.

Sie hielt für einen Moment inne, dann räusperte sie sich. Pavel Klima stand auf, und sie bemerkte, dass seine Augen kurz auf ihren Beinen verweilten und dann erst wieder ihr Gesicht fanden. Und dann sah er ihr auf den Mund. Sie schmeckte den teuren Lippenstift und versuchte zu lächeln. Er rückte ihr den Stuhl zurecht, blieb dann aber hinter ihr stehen und plötzlich strich er ihr mit seinen Händen sanft über die Schultern, als wollte er ein paar Fussel von ihrem neuen Blazer entfernen.

Dann berührte er ihren Nacken.

Sie zuckte zusammen. So etwas war ihr noch nie begegnet. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die die Blicke der Männer bewusst herausforderten, und selten war ihr ein Mann unvermittelt zu nahe getreten.

Zum Glück hatte der Berliner sich inzwischen seiner Zeitung gewidmet und von der ganzen Szene vermutlich nichts mitbekommen.

Langsam drehte sie sich zu dem Fremden hin und er lächelte sie an. Es durchfuhr sie. Er lächelte sie an auf eine Weise, wie sie schon einmal ein Mann angelächelt hatte, damals, so unvermutet, vor vielen Jahren.

Was bildete dieser Tscheche sich ein!

Sie sah ihm fest in die Augen und sofort senkte er seinen Blick.

Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, gab er ihr mit einer entwaffnenden Geste zu verstehen, dass er selbst nicht wisse, was da in ihn gefahren sei. Sie glaubte ihm und spürte, dass sich da eine befremdende Nähe zwischen ihnen zeigte. Wieder musste sie, ohne genau zu wissen warum, an die seltsame Frau aus dem Zug denken.

Jetzt kam er direkt zum Thema.

„Wo werden Sie wohnen, Frau Dr. Jakobsen?"

„Ich habe mich für eines der Nobelhotels der Stadt entschieden, für das Paříž“, spielte sie die Unwissende.

„Eine gute Wahl, Madame! Das Haus hat nicht von ungefähr fünf Sterne“, konterte der Tscheche.

Auf dieses Stichwort schien der Deutsche nur gewartet zu haben.

„Es wird Zeit, dass ich mich auf den Weg mache. Ich habe vor meiner Abreise noch einiges zu erledigen.“

Hektisch griff er nach seiner Zeitung, fast hätte er ihr Tonic umgestoßen, und verabschiedete sich von ihnen.

Für einen Moment saßen sie und der Tscheche nun da und schwiegen. Dann atmete Pavel Klima durch.

„Jetzt können wir reden.“

Er trank noch etwas von seiner Cola, bevor er fortfuhr. „Wissen Sie, als ich Sie sah, war mir sofort klar, dass unser Hotel nicht zu Ihnen passt. Das hätte auch Barbora wissen müssen, kennen Sie sich doch aus Hannover. Ich vermute, sie wollte meiner Schwester einen Gefallen tun, denn momentan läuft es nicht besonders gut. Die Touristen meiden Prag noch immer und da zählt jeder Gast. Wir werden die Buchung selbstverständlich kostenlos stornieren.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber Barbora wird sich schon etwas dabei gedacht haben. Vielleicht gibt es bei Ihnen in der Nähe ja sogar Plattenbauten.“

Er grinste. „Reichlich, Frau Dr. Jakobsen. Wenn Sie mich kurz entschuldigen würden. Ich bin gleich zurück.“

Es war die erste längere Reise, die sie allein unternahm seit der Geburt der Kinder, die beiden freuten sich über ihren Anruf, doch sie schienen sie nicht weiter zu vermissen.

„Oma hat heute Pfannkuchen gebacken, mit Bickbeeren.“

Margarethe war gerade dabei, die beiden ins Bett zu bringen.

Aufgeregt erzählten sie Gesa, dass sie am Nachmittag mit dem Großvater eine Fahrradtour unternommen und dabei sogar ein kleines Wettrennen veranstaltet hätten. Auf der Kanalbrücke, immer hin und her.

Gesa seufzte. In letzter Zeit wollte immer einer der Jungen besser sein als der andere, aber das war bei eineiigen Zwillingen wohl nicht anders zu erwarten.

Margarethe wirkte etwas nervös. Sie hatte es eilig und so vereinbarten sie, dass Gesa sich am nächsten Tag aus dem Hotel wieder melden würde.

6.

Immer noch regnete es in Strömen und es war wesentlich kälter als in Barkenstedt, wo Max und sie am letzten Abend noch auf der Terrasse seines Sommerhauses hoch über der Weser gesessen und den Ausklang des milden Spätsommertags genossen hatten - bis es zu einem heftigen Streit gekommen war. Dabei hatte er ihr nur einen Gefallen tun und ihr noch ein paar Tipps für das Gespräch mit Laursen geben wollen. Er hatte ihr sogar einige Kopien von aktuellen Kommentaren zum Sorgerecht zusammengestellt, doch sie hatte verärgert darauf reagiert und ihm vorgeworfen, sie wieder einmal zu bevormunden. So hatte ein Wort das andere ergeben und schließlich hatte sie ihn aufgefordert, sich vorerst nicht weiter in ihre Angelegenheiten einzumischen, sie würde sich melden, sobald sie alles mit Laursen geklärt habe. Daraufhin war er, anders als sonst, schon am Sonntagabend nach Hamburg zurückgefahren.

Nun stand dieser Streit immer noch zwischen ihnen.

Inzwischen wusste sie, dass sie überreagiert hatte. Und jetzt noch das Malheur mit der verschwundenen Uhr!

Höchste Zeit, ihn anzurufen und sich bei ihm zu entschuldigen. Doch das musste warten bis zum nächsten Abend, denn er war für zwei Tage mit Bekker, seiner hochgelobten Juniorpartnerin, auf einem Fachkongress in Berlin, und da wollte sie nicht hinterhertelefonieren. Diese Bekker war ihr ohnehin nicht ganz geheuer.

Es gab kaum Autoverkehr im Zentrum Prags. Obwohl das Hochwasser sich längst zurückgezogen hatte, waren die meisten Brücken noch gesperrt. Pavel Klima erzählte ihr, dass die Behörden in aufwendigen Verfahren überprüften, ob die Statik dem Druck der gewaltigen Wassermassen hatte standhalten können.

Im Radio lief Popmusik. Show me heaven.

Er fuhr einen VW Kombi, ein altes Modell, in dessen hinterem Teil er allerlei gläserne Behältnisse verstaut hatte.

„Darin werden die Utopenci, die Ersoffenen transportiert“, scherzte er und erklärte ihr, dass es sich dabei um Knackwürste handelte, die mit Zwiebeln in Essig und Öl eingelegt wurden und die die Tschechen gerne zum Bier verzehrten.

„Meine Schwester Marie ist bekannt für die Qualität ihrer Würste. Sie beliefert auch Barbora. Es ist ein kleines, steuerfreies Zubrot. Es heißt, Brüssel wolle nach unserem EU-Beitritt die Utopenci verbieten, weil sie im offenen Glas auf dem Tresen angeboten werden.“

Er lachte. „Und unser eigener Rum, der zugegebenermaßen nichts mit Zuckerrohr zu tun hat, gefällt ihnen auch nicht, dabei wirkt er wesentlich schneller als echter Rum und ist auch viel billiger.“

„Ich werde beides probieren“, versprach sie und nun lachten sie gemeinsam.

Aber Barboras Worte gingen ihr nicht aus dem Kopf. Weshalb sie ihr wohl von Laursens Trennung erzählt hatte? Das ergab keinen Sinn.

Plötzlich musste sie daran denken, dass es auch in der ehemaligen Tschechoslowakei eine gut funktionierende Staatssicherheit gegeben hatte.

„Kennen Sie Barbora schon lange?“

„Sie ist eine alte Freundin unserer Familie. Als junges Mädchen hat sie bei meiner Großmutter das Kochen gelernt. Später war sie dann bei der Prager Stadtverwaltung tätig.“

Stadtverwaltung. Dahinter konnte sich vieles verbergen.

„Und dann ist sie nach Deutschland gegangen?“

„Das war gleich nach der Wende. Sie hat zwei Jahre in dem Hotel in Hannover gearbeitet, aber das wissen Sie ja. Anfang der neunziger Jahre hat sie dann das Lokal in der Nekázanka eröffnet.“

Das hörte sich alles ganz harmlos an. Vielleicht hatte sie sich ja auch in der Frau getäuscht.

Je weiter sie sich vom Stadtzentrum entfernten, desto dichter wurde der Verkehr. Von der berühmten Silhouette Prags war wegen der Dunkelheit und des Regens wenig zu erkennen.

Pavel Klima vertröstete sie auf den nächsten Tag, da würde sie die Stadt vom Hradschin aus in ihrer ganzen Pracht bewundern können.

Nun, da sie allein und in gelöster Stimmung waren, traute sie sich auch, ihn auf das Roma-Thema anzusprechen, mit dem Hintergedanken, vielleicht etwas über eine mögliche Verbindung zwischen ihm und der Fremden aus dem Zug zu erfahren.

„Eigentlich wollte ich ein paar Wochen früher nach Prag reisen, um an einer Konferenz über europäische Minderheiten teilzunehmen.“

„Die Tagung ist wegen des Hochwassers ausgefallen.“ Er zögerte. „Nennen wir das Problem beim Namen, Frau Dr.

Jakobsen. Die größte ethnische Minderheit in Europa sind die Roma. Es dürften an die zwölf Millionen sein, das sind mehr als manche Staaten Einwohner haben.“

„In Deutschland sind die Roma, abgesehen von der einen oder anderen Bettlerin in Bahnhofsnähe, nahezu aus dem Straßenbild verschwunden.“

„Das wird sich ändern, sobald die Grenzen offen sind.“

„Im Zug bin ich heute einer seltsamen Familie begegnet, ich vermute, es handelte sich um Roma“, warf sie ihm unvermittelt hin. „Die Frau trug ein, wenn auch etwas zu kurzes, hellgrünes Chanel-Kostüm und an den Füßen rosa Lackstiefeletten, sie war über und über mit Goldschmuck behängt und hielt sich nicht an das Rauchverbot. Es waren teure, britische Zigaretten. Auch die Söhne trugen Markenkleidung. Von Armut keine Spur.“

„Da haben Sie wohl sehr genau hingesehen.“

„Die Frau saß mir seit Pilsen gegenüber.“

Er kurbelte das Fenster herunter, als brauchte er frische Luft, schloss es aber gleich wieder, da es hereinregnete. Dann beugte er sich nach vorne, als müsste er sich stärker auf die Straße konzentrieren.

„Das hört sich weniger nach einer tschechischen Romni an als nach einer Figur der Gebrüder Grimm. Der Schmuck war nicht echt und die Zigaretten dürften unverzollt gewesen sein.“

Gut gekontert. Die Frau aus dem Zug schien er nicht zu kennen.

Nun setzte er zu einer kleinen Belehrung an.

„Den meisten Roma in Osteuropa geht es schlecht. Sie waren die ersten, die nach der Wende ihren Arbeitsplatz verloren haben, da sie oftmals wenig qualifiziert sind, kaum lesen und schreiben können. In den letzten Jahren hat es Übergriffe gegeben, auch in Tschechien, und immer mehr Roma verlassen unser Land, weil sie sich nicht ausreichend vor der Gewalt der Rechtsradikalen geschützt fühlen.“

Er war laut geworden und fast bedauerte sie, dieses Thema angesprochen zu haben.

„Die meisten meiner Landsleute lässt das Schicksal der cikani kalt. Nicht einmal meine Redaktionskollegen interessieren sich dafür und mir geht es inzwischen schon fast genauso.“

Das hatte sie nicht erwartet und beschloss, noch einmal nachzuhaken.

„Haben Sie eigentlich auch Freunde oder Bekannte unter den Roma?“

„Das Thema scheint Sie ja brennend zu interessieren. Privat habe ich vermutlich genauso wenig Kontakt zu diesen Menschen wie Sie.“

Er räusperte sich.

„Früher habe ich regelmäßig über ihre miserablen Lebensbedingungen berichtet, manchmal auch über erfolgreiche Künstler aus ihren Reihen und ich hatte tatsächlich einen Schulfreund, der Rom ist. Allerdings fällt der ebenso aus dem Raster wie Ihre Märchentante aus dem Zug. Er hat das Konservatorium besucht und ist Cellist bei den Wiener Philharmonikern. Aber auch er bekennt sich ungern zu seiner Herkunft und das kann ich gut verstehen.“

Sie dachte an Marianne Rosenberg, die sich auch erst spät dazu bekannt hatte, dass sie eine Sintezza war.

„In Ústí nad Labem haben sie sogar eine Mauer gebaut.“

Der Verkehr stockte.

„Die Mauer ist wieder abgerissen worden, aber allmählich bezweifle ich, dass man den Roma überhaupt helfen kann. Sie fügen sich einfach nicht in unsere Gesellschaft ein, die einzelnen Gruppen sind zerstritten, viele der Clanchefs halten nichts von Demokratie, geschweige denn von Bildung der Kinder oder Emanzipation der Frau. Sie lehnen unsere Werte ab und verlassen sich lieber auf ihre alten, traditionellen Strukturen.“

„Wundert Sie das?“, schaltete sie sich ein. „Vielen deutschen Sinti geht es ähnlich. Sie sind über Jahrhunderte immer wieder verfolgt und ausgegrenzt worden. Von Schlimmerem ganz zu schweigen.“

„Die Juden haben es auch geschafft“, entgegnete er schroff.