Jerusalem & Im heiligen Lande - Historische Romane aus wahrem Leben - Selma Lagerlöf - E-Book
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Selma Lagerlöf

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Beschreibung

Selma Lagerlöfs großartige Werke 'Jerusalem' und 'Im heiligen Lande - Historische Romane aus wahrem Leben' entführen den Leser in die faszinierende Welt des Nahen Ostens und enthalten eine Mischung aus historischer Genauigkeit und fesselnder Fiktion. Lagerlöf's charakteristischer Erzählstil zieht den Leser sofort in die Handlung, die von Intrigen, Liebe und heroischen Taten inmitten der historischen Konflikte geprägt ist. Der Autor schafft es geschickt, die historischen Ereignisse in eine mitreißende und emotionale Erzählung zu verweben, die den Leser in ihren Bann zieht. Ihre Werke werden oft als Meisterwerke des nordischen Realismus und der historischen Fiktion angesehen. Selma Lagerlöf, die erste Frau, die jemals den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, nutzte ihre tiefe Verbundenheit mit der skandinavischen Geschichte und ihrer Reiselust, um diese faszinierenden Romane zu schreiben. Durch ihr umfangreiches Wissen und ihre lebhafte Vorstellungskraft gelingt es ihr, eine Welt zu schaffen, die sowohl kenntnisreich als auch emotional berührend ist. 'Jerusalem' und 'Im heiligen Lande' sind ein Muss für Liebhaber historischer Romane und Leser, die nach einer tiefgründigen und mitreißenden Lektüre suchen, die sie auf eine faszinierende Reise in die Vergangenheit mitnimmt.

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Selma Lagerlöf

Jerusalem & Im heiligen Lande - Historische Romane aus wahrem Leben

Das Schicksal der Bauern aus dem schwedischen Dalarna (Historische Romane)

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-0743-5

Inhaltsverzeichnis

Jerusalem
Im Heiligen Lande

Jerusalem

Inhaltsverzeichnis
Geleit
Die Ingmarssöhne
1. Buch
Beim Schulmeister
»Sie sahen den Himmel offen«
Karin, Ingmars Tochter
In Zion
Die wilde Jagd
Hellgum
Der neue Weg
2. Buch
Der Untergang »L’Univers«
Hellgums Brief
Der große Baumstamm
Auf dem Ingmarshofe
Hök Matts Eriksson
Die Auktion
Gertrud
Die alte Pröpstin
Die Abreise

Geleit

Inhaltsverzeichnis

Es ist fraglos, daß unter den dichtenden Frauen aller Zeiten Selma Lagerlöf den allerersten Rang einnimmt. Das ist vielleicht kühn gesagt – aber es ist darum nicht weniger richtig. Von Sappho angefangen, deren Ruhm bis in unsre Tage stets mehr der Person als ihrem Werke galt, finden wir nicht eine Frau, die in solcher Weise reiche und große Kunst schuf, wie die geniale Tochter Upsalas. Von allen Dichterinnen bis zum neunzehnten Jahrhundert wird heute überhaupt keine mehr gelesen, und die schreibenden Damen dieses Jahrhunderts sind auch zum größten Teile längst, und mit Recht, vergessen. Die Frau de Staël verdankt ihren Ruf viel mehr ihren Abenteuern als ihren Werken, dasselbe gilt von der romantischen Gräfin Hahn-Hahn und der schönen und geistreichen Freundin Mussets, Georges Sand. Der Ruf der Beecher-Stowe, der Verfasserin von »Onkel Toms Hütte«, beruht auf dem Zufallswerte, daß ihr sentimentaler Roman zeitlich mit der Sklavenemanzipation der Südstaaten und dem zum Teil sich darum drehenden nordamerikanischen Bürgerkriege zusammenfiel. So bleiben am Ende nur Elisabeth-Barrett-Browning und – vielleicht – die Droste-Hülshoff, deren dichterische Schöpfungen einen bleibenden Wert haben.

Seltsam, daß gerade in unsrer Zeit, in der die schreibende Frau mehr wie je den Markt beherrscht, so unendlich wenig Talente darunter zu finden sind. Es ist geradezu erstaunlich, wie oberflächlich und banal die Produktion des weiblichen Geschlechtes unsrer Tage ist, schlimm bei uns, noch viel schlimmer freilich in England. Freilich haben wir unter dem unendlichen Heer blutiger Dilettantinnen auch solch geistreiche Plauderinnen wie die Gyp oder Colette Willy, solch kräftige Naturen wie die Skram und die Viebig, solch geschickte Erzählerinnen wie die Serao oder die Wohlbrück und solch kluge, weitblickende Frauen wie die Lily Braun. Aber sie alle werden neidlos den Kranz der Lagerlöf zuerkennen, werden mit mir darin übereinstimmen, daß diese merkwürdige Frau alle anderen ihres Geschlechtes weit hinter sich läßt.

Man hat, und nicht mit Unrecht, der künstlerisch schaffenden Frau nachgesagt, daß sie stets viel mehr nachempfindend als selbst schöpferisch sei. Und gewiß ist, daß neben einer jeden Künstlerin eine Reihe Männer stehen, die künstlerisch ihrem Schaffen sehr viel Verwandtes, Gleichwertiges, oft sehr Ähnliches schufen. Die Literaturgeschichte, die Kunstgeschichte, die Musikgeschichte verlieren in der Tat nichts, wenn überhaupt kein weiblicher Name in ihnen erwähnt würde: alles das, was je Frauen schufen, wurde zumindest ebenso vollendet auch von Männern geboten, nie war eine Frau die »Erste« und nie die »Beste«. Selma Lagerlöf ist die erste und einzige Frau, die eine durchaus neue, völlig originelle Note fand. Sie, und nur sie, suchte ihre eigenen Wege, sie allein ging einen bisher unbeschrittenen Weg.

Das ist um so verblüffender, als das Zeitalter der 1854 geborenen Dichterin gerade in ihrem engeren Vaterlande, in Skandinavien, eine solche erstaunliche Fülle ureigenster Dichter hervorbrachte. Bei den beiden norwegischen Dioskuren Ibsen und Björnson steht der mächtige Schwede Strindberg und der prächtige Däne Jakobsen, alles Namen von internationalem und von so starkem Klang, daß er weit über ihr Jahrhundert hinaus tönen wird. Und zur Seite dieser ganz Großen gibt uns das Skandinavien der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts noch eine überreiche Fülle starker Talente, die fast alle auf durchaus eigenem Boden pflügen. Was wäre natürlicher, als daß eine schreibende Frau, mag ihr Talent auch noch so groß sein, die von dem einen oder dem anderen gebahnten Wege weiterginge, so wie es die Skram, die Michaelis und so manche andere taten?

Selma Lagerlöf ließ sich von keinem beeinflussen. Sie fand, gleich in ihrem ersten Werke, ihr ureigenes Land und ist ihm treu geblieben die Jahre hindurch. »Gösta Berlings Saga« ist eines der herrlichsten Kunstwerke der Weltliteratur, ihren »Christuslegenden« ist kaum etwas Stimmungsvolleres an die Seite zu stellen. Und daran schließen sich die farbenreichen »Königinnen von Kungahälla«, die »Herrenhofsage« und vor allem »Jerusalem« mit seinen zwei Teilen »In Dalarne« und »Im heiligen Lande«.

Ruhig, fast feierlich ist der Fluß ihrer Sprache, scheinbar ganz anspruchslos die Art ihres Vortrages, mit der sie die tiefsten Dinge und die größten Gedanken zu geben weiß. Wirklichkeit und Wunderwelt sind mit einem innigen Zauberbande aneinander gekettet und in eine Sphäre höchster, künstlerischer Abgeklärtheit gerückt. So sind ihre Gestalten immer Menschen und wachsen dennoch zu einem merkwürdigen Übermenschlichen hinaus. Es ist eine neue Kultur der Romantik, welche nirgends in der Literatur ihresgleichen hat, die uns einhüllt in einen eigenen Hauch buntfarbigen Nebels, und in unsern Ohren ein seltsam tönendes Rauschen erklingen läßt. Die Zeiten verschieben sich: Menschen unsrer Tage scheinen fernab gerückt, Längstvergangenes wieder wird uns wie Alltägliches vertraut. Das Reich der Selma Lagerlöf liegt irgendwo in der Träume Reich, und wer in ihm wandelt, vergißt seines Alltags Nöte. Es ist gut für den Menschen, wohl zu wissen, daß es noch etwas anderes gibt, als seines kleinen Lebens Freuden und Sorgen, daß es – irgendwo! – noch ein Fleckchen gibt, wohin sich die Seele flüchten will, die vergessen will. Und sie findet solcher Fleckchen viele, in den Büchern der Lagerlöf.

Düsseldorf, Dezember 1912.

Hanns Heinz Ewers.

Die Ingmarssöhne

Inhaltsverzeichnis

I.

Es ging ein junger Mann und pflügte sein Brachfeld an einem Sommermorgen. Die Sonne schien warm, das Gras war feucht vom Tau und die Luft war so frisch, daß Worte es nicht aussagen können. Die Pferde waren ganz wild von der Morgenluft und zogen den Pflug, als sei es ein Spielzeug. Es war ein ganz anderer Trab als der gewöhnliche; der Mann am Pfluge mußte fast laufen, um mitzukommen.

Wenn die Erde von dem Pflug gewendet wurde, lag sie schwarzbraun und schimmernd von Feuchtigkeit und Fruchtbarkeit da, und er, der pflügte, freute sich darauf, bald seinen Roggen säen zu können. Er dachte bei sich: »Was kann es nur sein, daß ich mir zuweilen so viele Sorgen mache und meine, daß es so schwer ist, zu leben? Braucht man etwas anderes als Sonnenschein und gutes Wetter, um glücklich zu sein wie ein Kind Gottes im Himmel?«

Es war ein langes und ziemlich breites Tal, das von einer Menge gelber und gelbgrüner Kornfelder durchquert war und außerdem von gemähten Kleewiesen; von blühenden Kartoffeläckern und von kleinen blaublühenden Flecken mit Flachs, worüber gleichsam eine Wolke von kleinen weißen Schmetterlingen schwebte. Und wie, um das Ganze vollkommen zu machen, erhob sich in der Mitte des Tales ein machtiger alter Bauernhof mit vielen grauen Wirtschaftsgebäuden und einem großen rotgestrichenen Wohnhause. Am Giebel standen zwei große verwachsene Birnbäume, an der Haustür ein paar junge Birken, auf dem Hofplatze ein paar große Holzstapel und hinter der Scheune einige mächtige Kornmieten. Dies Gehöft mitten in den ebenen Feldern aufragen zu sehen, war ein ebenso schöner Anblick, wie wenn man ein Fahrzeug mit Segeln und Masten über der weißen Meeresfläche sich erheben sieht.

»Und was für ein Gehöft ich habe!« dachte er, der ging und pflügte. »Gute, tüchtig gezimmerte Gebäude und einen guten Viehbestand und flinke Pferde und Gesinde, das treu ist wie Gold. Ich bin so reich wie nur einer in der Harde und ich brauche mich nie davor zu fürchten, arm zu werden.«

»Ja, vor der Armut bin ich auch gerade nicht bange,« sagte er als Antwort auf seine eigenen Gedanken. »Ich würde zufrieden sein, wenn ich ein ebenso guter Mann wäre, wie mein Vater und Großvater.«

»Es war dumm, daß ich in die Gedanken hineingeriet,« sagte er, »denn nun war ich gerade so froh. Aber wenn ich nur an das eine denke: zu meines Vaters Zeiten richteten sich alle Bauern in allen Dingen nach ihm; an dem Morgen, wo er anfing zu ernten, fingen auch sie an, und an dem Tag, wo wir dann begannen, das Brachfeld hier auf dem Ingmarshof umzupflügen, setzten sie den Pflug in dem ganzen Tal in die Erde.«

»Aber nun bin ich hier schon ein paar Stunden gegangen und habe gepflügt, ohne daß auch nur einer die Pflugschar gewetzt hätte. Ich glaube doch, daß ich den Hof so gut verwaltet habe wie nur einer, der Ingmar Ingmarsson geheißen hat,« sagte er. »Ich habe mehr für mein Heu bekommen als mein Vater bekam, und ich habe all’ die kleinen sauren Gräben abgeschafft, die hier zu seiner Zeit waren. Und das steht doch auch fest, daß ich nicht schlechter mit dem Wald umgehe wie Vater.«

»Das ist oft schwer genug zu denken,« sagte der junge Mann, »nicht immer kann ich es so leicht nehmen wie heute. Als mein Vater und Großvater noch lebten, hieß es, die Ingmarssöhne hatten so lange in der Welt gelebt, daß sie wüßten, wie der liebe Gott es haben wollte, und die Leute flehten sie förmlich an, im Kirchspiel zu herrschen. Sie wählten sowohl Pfarrer als Küster und bestimmten, wann der Flußlauf gereinigt werden und wohin die neue Schule gebaut werden sollte. Aber nach meiner Meinung fragt niemand und ich habe über nichts zu bestimmen.«

»Trotzdem ist es doch merkwürdig, wie leicht die Sorgen in einer solchen Morgenstunde zu tragen sind. Jetzt ist mir fast, als könnte ich über das alles lachen. Und doch fürchte ich, daß es zum Herbst schlimmer für mich werden wird denn je zuvor. Tue ich das, woran ich jetzt denke, so werden mir weder der Pfarrer noch der Hardesvogt die Hand mehr geben, wenn wir uns des Sonntags vor der Kirche begegnen, und das haben sie doch sonst noch bis heute getan. Ich werde nicht in die Armenverwaltung gewählt und ich kann niemals daran denken, Kirchenältester zu werden.«

»Niemals geht es so leicht zu denken, als wenn man so hinter dem Pflug hergeht, Furche hinauf und Furche hinab. Allein ist man und nichts ist da, was einen stören könnte, außer den Krähen, die in den Ackerfurchen hüpfen und Würmer picken.« Der Mann am Pfluge fand, daß die Gedanken in seinen Kopf so leicht hineinkamen, als sei da jemand, der sie ihm zuflüsterte. Und da er sonst nie so leicht und klar denken konnte wie heute, ward er ganz froh und aufgeräumt. Dadurch fing er an zu meinen, daß er sich unnötige Sorgen mache; er sagte zu sich selbst, niemand verlange ja von ihm, daß er sich selbst ins Unglück stürzen solle.

Er dachte, daß, wenn sein Vater gelebt hätte, er ihn hiernach gefragt haben würde, so wie er ihn in allen schwierigen Sachen um Rat zu fragen pflegte. Er wurde ganz ungeduldig, daß der Vater nicht zur Hand war, so daß er ihn fragen konnte.

»Wüßte ich nur den Weg,« dachte er und fing an, sich an dem Gedanken zu ergötzen, »dann würde ich geradeswegs zu ihm hinaufgehen. Ich möchte wohl wissen, was der große Ingmar sagen würde, wenn ich eines schönen Tages dahergegangen käme. Ich denke mir, er sitzt auf einem großen Gehöft mit vielen Äckern und Wiesen und großen Kornmieten und einer Menge roter Kühe, es sind keine schwarzen und auch keine bunten darunter, so wie er es immer hier unten haben wollte. Wenn ich dann in die gute Stube hineinkomme ….«

Der Mann am Pfluge hielt plötzlich mitten auf dem Felde an und lachte. Das war doch ein höchst ergötzlicher Gedanke, der fuhr mit ihm davon, so daß er kaum wußte, ob er noch auf Erden wanderte. Es war ihm, als sei er geradeswegs zu seinem alten Vater in den Himmel hinaufgekommen.

»Wenn ich dann in die gute Stube hineinkomme,« fuhr er fort, dann sitzt es da an den Wänden entlang ganz voll von Bauersleuten, und alle haben sie rotgraues Haar und weiße Augenbrauen und eine große Unterlippe und gleichen Vater wie ein Tropfen Wasser dem anderen. Wenn ich sehe, daß da so viele Leute anwesend sind, werde ich verlegen und bleibe unten an der Tür stehen. Aber Vater sitzt ganz oben an dem oberen Tischende, und sobald er mich sieht, sagt er: »Willkommen, kleiner Ingmar Ingmarsson.« Und dann steht er auf und kommt zu mir hin. – »Ich möchte gern ein paar Worte mit Euch reden, Vater,« sage ich; »aber hier sind so viele Fremde.« – »Ach, das ist nur die Familie,« sagt Vater. »Diese alten Bauersleute haben alle zusammen auf dem Ingmarshofe gewohnt, und der Älteste von ihnen stammt ganz aus der heidnischen Zeit her.« –

»Ja, aber ich möchte gern ein paar Worte mit Euch allein reden.«

Dann sieht sich Vater um und überlegt, ob er in die kleine Stube gehen soll, aber da ich es nur bin, geht er in die Küche hinaus. Dort setzt sich Vater auf den Feuerherd und ich setze mich auf den Haublock. »Das ist ein guter Hof, den Ihr hier habt, Vater,« sage ich.

– »Ja, der ist ganz gut,« sagt Vater. »Wie steht es denn daheim auf dem Ingmarshof?« – »Da steht alles gut,« sage ich. »Voriges Jahr bekam ich zwölf Taler für ein Schiffspfund Heu.« – »Ist das wahr?« sagt Vater. »Du bist doch wohl nicht hier hinaufgekommen, um mich zum besten zu haben, kleiner Ingmar?«

»Aber mit mir steht es schlecht!« sage ich. »Immer muß ich hören, daß Ihr, Vater, so klug gewesen seid, wie der liebe Gott selbst, aber nach mir fragt kein Mensch!«

– »Bist du denn nicht in den Gemeinderat gewählt?« fragt dann der Alte. – »Weder in den Gemeinderat, noch in den Schulrat oder in die Armenverwaltung.«

– »Was hast du denn Unrechtes getan, kleiner Ingmar?«

– »Ach, sie sagen, daß der, der die Sachen anderer verwalten soll, erst zeigen muß, daß er seine eigenen ordentlich verwalten kann.«

»Dann, denk’ ich mir,« schlägt der Alte die Augen nieder und sitzt eine kleine Weile da und denkt nach. – »Du mußt dafür sorgen, daß du eine tüchtige Frau bekommst, Ingmar,« sagt er endlich. – »Aber das ist ja gerade, was ich nicht kann, Vater,« sage ich. »Da ist kein noch so armer Bauer in der Gemeinde, der mir seine Tochter geben würde.« – »Erzähle jetzt ordentlich, wie das alles zusammenhängt, kleiner Ingmar,« sagt Vater und dann sieht er mich ganz gütig an.

»Ja, siehst du, Vater, vor vier Jahren, im selben Jahr, als ich den Hof übernahm, freite ich um Brita aus Bergskog.« – »Laß mich einmal sehen,« sagt Vater, »wohnt jemand von unserer Familie auf Bergskog?

» Er kann sich nicht recht zwischen den Dingen hier unten auf Erden zurechtfinden. – »Nein, aber es sind wohlhabende Leute, und Ihr erinnert Euch wohl noch, Vater, daß Britas Vater Reichstagsabgeordneter ist?«

– »Jawohl, jawohl, aber du hättest dich lieber mit einer aus unserer Familie verheiraten sollen, die alte Sitten und Gebräuche kennt!« – »Darin habt Ihr recht, Vater. Das hätte ich auch fühlen müssen.«

Dann sitzen Vater und ich beide da und sagen nichts; aber dann fängt Vater wieder an: »Es war wohl eine, die gut aussah?« – »Ja,« sage ich, »sie hatte dunkles Haar und klare Augen und Rosen auf den Wangen. Aber sie war auch tüchtig, so daß Mutter sehr zufrieden damit war, daß ich sie haben wollte. Es wäre auch alles gut gegangen, aber das Unglück war, daß sie mich nicht haben wollte.« – »Danach fragt doch wohl niemand, was so ein Mädel will?« – »Nein, die Eltern zwangen sie ja auch, ja zu sagen.« – »Und woher weißt du, daß sie gezwungen wurde? Sie mußte doch froh sein, einen so reichen Mann wie du zu bekommen, kleiner Ingmarsson.«

»Ach nein, froh war sie nicht, aber wir wurden ja aufgeboten und der Hochzeitstag wurde bestimmt, und Brita zog vor der Hochzeit auf den Ingmarshof, um Mutter zu helfen. Denn Mutter fängt so bei kleinem an, alt zu werden.« – »Alles das ist doch nichts schlimmes, kleiner Ingmar,« sagt Vater, um mich zu ermutigen.

»Aber es sah in diesem Jahr ganz schlimm aus mit der Ernte. Die Kartoffeln schlugen fehl und die Kühe wurden krank, und da fanden Mutter und ich beide, daß wir die Hochzeit ein Jahr aufschieben müßten. Ich meinte nun, wir brauchten es mit der Trauung nicht so genau zu nehmen, denn wir waren ja aufgeboten. Aber es war vielleicht ein wenig altmodisch, so zu denken.« – »Hättest du eine aus unserer Familie genommen, so hätte sie sich dabei wohl beruhigt,« sagt Vater. – »Ach ja,« sage ich, »ich merkte wohl, daß Brita dieser Aufschub nicht gefiel, aber seht Ihr – ich fand, ich hätte die Mittel nicht zur Hochzeit. Wir hatten ja im Frühjahr das Begräbnis gehabt, und Geld aus der Sparkasse nehmen wollte ich nicht.« – »Nein, das war ganz recht, daß du wartest,« sagt Vater. – »Aber ich war ja bange, daß es Brita nicht gefallen würde, Kindtaufe vor der Hochzeit zu halten.« – »Aber erst muß man doch daran denken, ob man die Mittel dazu hat,« sagt Vater.

»Aber mit jedem Tag, der ging, wurde Brita stiller und wunderlicher, und ich konnte gar nicht begreifen, was mit ihr vorging. Ich dachte, sie sehnte sich wohl nach Hause zu den Ihren. Denn sie hatte immer sehr an dem Heim und den Eltern gehangen. Das gibt sich schon, wenn sie sich nur erst daran gewöhnt, dachte ich. Sie wird den Ingmarshof schon lieb gewinnen. Dabei beruhigte ich mich eine Weile, aber dann fragte ich Mutter, warum Brita so blaß geworden war und so verstört aus den Augen schaute. Mutter sagte, das wäre, weil sie ein Kind haben solle, und sie würde sich schon wieder besinnen, wenn das erst überstanden wäre. Ich machte mir nun ja freilich meine eigenen Gedanken darüber, daß sie unzufrieden damit war, daß ich die Hochzeit hinausgeschoben hatte, aber ich fürchtete mich davor, mit ihr darüber zu reden. Ihr erinnert Euch wohl noch, Vater, daß Ihr immer gesagt habt, daß in dem Jahr, wo ich Hochzeit hielt, das Wohnhaus angestrichen werden sollte. Und dazu fehlte mir in dem Jahr wahrhaftig das Geld. Das findet sich schon alles im nächsten Jahr, dachte ich.«

Der Mann am Pfluge ging und bewegte die Lippen. Er war so ganz in seine eigenen Gedanken versunken, daß er meinte, er könne das Gesicht seines Vaters vor sich sehen. »Ich werde ihm wohl alles klar auseinandersetzen müssen,« dachte er, »damit er mir einen guten Rat erteilen kann. So verging der ganze Winter, und ich dachte oft, daß, wenn Brita andauernd so unglücklich wäre, ich sie lieber wieder nach Hause nach Bergskog senden wolle, aber nun war es ja zu spät. Und so ging es denn bis zum Mai weiter. Da merkten wir eines Abends, daß sie sich weggeschlichen hatte. Wir suchten die ganze Nacht nach ihr und gegen Morgen fand eine der Mägde sie.«

»Jetzt schweige ich still, denn es wird mir schwer, mehr zu sagen; aber da fragt Vater: »In Gottes Namen, sie war doch wohl nicht tot?« – »Nein – sie nicht,« sage ich, und Vater kann hören, daß meine Stimme zittert. – »War das Kind geboren?« sagt Vater. – »Ja,« sage ich, »und sie hatte es erstickt, und es lag tot neben ihr.« – »Sie war wohl nicht ganz bei Sinnen?« – »Ja, bei Sinnen war sie,« sage ich. »Sie tat das alles, um sich an mir zu rächen, weil ich sie gezwungen hatte. Sie würde es nicht getan haben, wenn ich mich mit ihr verheiratet hätte. Aber jetzt, sagte sie, hätte sie gedacht, daß, wenn ich kein Kind in Ehren haben wolle, sollte ich gar keines haben.« – Vater wird ganz stumm vor Betrübnis. »Hattest du dich auf das Kind gefreut, kleiner Ingmar?« fragt er endlich. – »Ja,« sage ich. – »Es ist schade um dich, daß du mit einem solchen Frauenzimmer zusammenkommen mußtest.«

»Sie sitzt nun wohl im Zuchthaus?« sagt Vater. – »Ja, sie bekam drei Jahre.« – »Und das ist der Grund, weshalb dir niemand seine Tochter geben will?« – »Ja, aber ich habe auch keinen gefragt.« – »Und darum hast du kein Ansehen in der Gemeinde?« – »Sie finden, es hätte mit Brita nicht so gehen sollen. Sie sagen, wenn ich nur ein kluger Mann gewesen wäre, so wie Ihr, dann hätte ich mit ihr geredet und zu wissen bekommen, worüber sie sich grämte.« – »Es ist nicht leicht für einen Mann, sich auf ein schlechtes Frauenzimmer zu verstehen!«

»Nein, Vater,« sage ich, »Brita war nicht schlecht. Aber sie war stolz.« – »Ja, das kommt ja auf eins heraus,« sagt Vater.

»Als ich merke, daß Vater im Grunde meine Partei nehmen will, sage ich: »Da sind viele, die meinen, ich hätte es so machen sollen, daß niemand etwas anderes erfahren hätte, als daß das Kind tot geboren war.« – »Warum sollte sie ihre Strafe nicht abbüßen?« sagt Vater. – »Sie sagen, wenn es zu Eurer Zeit gewesen wäre, dann hättet Ihr das Mädchen, das sie fand, dazu gebracht, zu schweigen, so daß nichts davon herausgekommen wäre.« – »Und hättest du dich dann mit ihr verheiratet?« – »Nein, dann hätte ich mich wohl nicht mit ihr zu verheiraten brauchen. Ich hätte sie ja ein paar Wochen nachher nach Hause schicken und das Aufgebot aufheben lassen können, weil sie sich nicht wohl bei uns fühlte.« – »Das hättest du ja auch tun können; aber sie können doch nicht verlangen, daß du, der du so jung bist, ebenso klug sein sollst wie ein Alter.«

»Die ganze Gemeinde findet, daß ich schlecht gegen Brita gehandelt habe.« – »Sie hat doch schlechter gehandelt, sie, die Schande über ordentliche Leute gebracht hat.« – »Ja, aber ich, ich habe sie zur Ehe gezwungen.« – »Ja, darüber konnte sie sich doch nur freuen.«

»Findet Ihr denn nicht, daß es meine Schuld ist, daß sie ins Zuchthaus gekommen ist?« – »Ich finde, sie sitzt, wo sie sich selbst hingesetzt hat.«

»Da stehe ich auf und sage langsam: »Ihr meint also nicht, Vater, daß ich etwas für sie zu tun brauche, wenn sie jetzt zum Herbst herauskommt?« – »Was solltest du tun? Dich mit ihr verheiraten?« – »Ja, das müßte ich wohl tun!« – Vater sieht mich eine Weile an und fragt dann: »Hast du sie lieb?« – »Nein, sie hat die Liebe in mir getötet.« Da schlägt Vater die Augen nieder und sagt nichts, fängt aber an nachzudenken.

»Siehst du, Vater,« sage ich, »ich kann nicht darüber hinwegkommen, daß ich das Unglück angerichtet habe.« Der Alte sitzt still und erwidert nichts. »Zuletzt habe ich sie im Tinggebäude gesehen, da war sie so unglücklich und weinte so darüber, daß sie das Kind nicht hatte. Gegen mich hat sie nicht ein böses Wort ausgesagt. Sie nahm alles auf sich. Da waren viele, die weinten, Vater, und der Richter hatte auch beinahe Tränen in den Augen. Er hat ihr ja auch nicht mehr als drei Jahre gegeben.«

Aber Vater sagt kein Wort.

»Es wird schwer für sie jetzt zum Herbst, wenn sie zu Hause sitzen muß,« sage ich. »Daheim auf Bergskog werden sie sich nicht über sie freuen. Sie finden, daß sie Schande über sie gebracht hat, und sie gehören nicht zu den Leuten, die sich besinnen, sie das hören zu lassen. Und sie muß ja immer zu Hause sitzen, denn sie kann sich wohl kaum in der Kirche sehen lassen. Es wird schwer für sie nach jeder Richtung hin.«

Aber Vater antwortet nicht.

»Aber es ist nicht so leicht für mich, mich mit ihr zu verheiraten,« sage ich. »Es ist nicht angenehm für einen, der einen großen Hof hat, eine Frau zu bekommen, auf die Knechte und Mägde herabsehen. Mutter wird es auch nicht gefallen. Wir könnten ja auch niemals Gäste zu uns einladen, weder zur Hochzeit noch zum Begräbnis.« Vater schweigt noch immer.

»Seht Ihr, vor dem Gericht versuchte ich ihr zu helfen, so gut ich konnte; ich sagte zu dem Richter: ich trüge die ganze Schuld, denn ich hätte sie zur Ehe gezwungen. Ich sagte auch, ich halte sie für so unschuldig, daß ich, wenn sie nur ihren Sinn gegen mich ändern könnte, mich mit ihr verheiraten wolle, so wie sie ging und stand. Das sagte ich, damit sie ein milderes Urteil bekommen sollte. Aber obwohl sie zwei Briefe an mich geschrieben hat, deutet nichts darauf hin, daß sie ihren Sinn gegen mich geändert hat. Da versteht Ihr wohl, Vater, daß ich nicht gezwungen bin, mich um dieses Wortes willen mit ihr zu verheiraten.«

Und nun sitzt Vater da und denkt nach und schweigt ganz still.

»Ich weiß wohl, daß dies die Sache auf menschliche Weise auffassen heißt, und wir Ingmars haben uns immer mit dem lieben Gott gut stehen wollen. Aber manchmal denke ich, daß es dem lieben Gott nicht gefällt, daß eine Mörderin zu solcher Ehre kommen soll.«

Aber Vater schweigt.

»Ihr müßt auch daran denken, Vater, wie hart es für jemand ist, der einen anderen Menschen leiden läßt, ohne zu versuchen, ihm zu helfen. Ich glaube, alle in der Gemeinde werden finden, daß es verkehrt ist. Aber ich habe zu schwer darunter gelitten in diesen Jahren, um nicht zu versuchen, etwas für sie zu tun, wenn sie nun freikommt.« Vater rührt sich nicht.

Da steigt mir fast das Weinen in den Hals und ich sage: »Seht Ihr, ich bin ja ein junger Mann und ich verliere viel, wenn ich sie nehme. Sie finden, daß ich mich früher schlecht benommen habe; tue ich dies, so werden sie finden, daß es noch ärger ist.«

Aber ich kann Vater nicht bewegen ein Wort zu sagen.

»Aber dann habe ich auch gedacht, Vater, daß es wunderlich ist, daß wir Ingmars viele Hunderte von Jahren auf dem Hof geblieben sind, während alle anderen Höfe die Besitzer gewechselt haben. Und da denke ich, das ist, weil die Ingmars versucht haben, Gottes Wege zu gehen. Wir Ingmars brauchen die Menschen nicht zu fürchten; wir müssen nur Gottes Wege gehen.«

Da erhebt der Alte die Augen und dann sagt er: »Dies ist eine schwierige Frage, Ingmar. Ich glaube, ich gehe hinein und frage die anderen Ingmarssöhne.«

Und dann geht Vater in die gute Stube, und ich bleibe sitzen. Und dann muß ich sitzen und warten und warten, und Vater kommt nicht zurück. Schließlich, als ich viele Stunden gewartet habe, werde ich der Sache überdrüssig und gehe zum Vater hinein. »Gedulde du dich da draußen, kleiner Ingmar,« sagt Vater, »dies ist eine schwierige Frage.« Und ich sehe alle die Alten mit geschlossenen Augen dasitzen und grübeln, und ich warte und warte und ich warte wohl noch – –.«

Er ging lächelnd hinter dem Pfluge her, der jetzt ganz langsam ging, da die Pferde der Ruhe bedurften. Als er an den Grabenrand kam, zog er an den Zügeln und hielt. Er war ganz ernsthaft geworden.

»Es ist wunderlich, sobald man jemand um Rat fragt, merkt man selbst was richtig ist, noch während man fragt; da sieht man auf einmal, was man ganze drei Jahre lang nicht hat ausfindig machen können. Nun mag es gehen, wie Gott will.«

Er fühlte, daß er es tun müsse, und gleichzeitig meinte er, daß es so schwer sei, daß er ganz den Mut verlor, wenn er daran dachte. »Gott steh’ mir bei,« sagte er. – – –

Ingmar Ingmarsson war indessen nicht der einzige, der in der frühen Morgenstunde draußen war. Unten auf einem Steig, der sich durch die Kornfelder schlängelte, kam ein alter Mann gegangen. Es war nicht schwer zu sehen, was sein Gewerbe war, denn er hatte einen langen Malerpinsel über der Schulter, und von der Mütze bis zu den Schuhsohlen war er mit roter Farbe bespritzt. Er sah sich oft um, wie es herumwandernde Maler zu tun pflegen, um einen unangestrichenen Hof zu finden oder einen, wo die Farbe verblaßt oder abgeregnet war. Er meinte bald hier einen, bald da einen zu sehen, der ihm paßte, aber es wurde ihm schwer, sich zu entschließen. Endlich kam er auf einen kleinen Hügel und erblickte den Ingmarshof, der groß und mächtig unten im Tal dalag. »Ach, lieber Gott,« sagte er laut und blieb in seiner Freude stehen. »Das Wohnhaus ist seit hundert Jahren nicht gemalt, es ist ja schwarz vom Alter, und die Wirtschaftsgebäude haben nie Farbe gesehen. Und so eine Menge Häuser!« rief er aus. »Hier habe ich ja Arbeit bis in den Herbst hinein!«

Er war noch nicht lange gegangen, da gewahrte er einen Mann, der ging und pflügte. »Ei, da ist ein Bauer, der hier zu Hause ist und der die Gegend kennt,« dachte der Maler, »von ihm kann ich Bescheid erhalten, was ich über den Hof da unten zu wissen brauche.« Er bog vom Weg ab, ging auf das Brachfeld und fragte Ingmar, was das für ein großer Hof sei, und ob er glaube, daß sie ihn anstreichen lassen wollten.

Ingmar Ingmarsson zuckte zusammen, und er starrte den Mann an, als sei er ein Gespenst. »Ich glaube wahrhaftig, es ist ein Maler,« dachte er, »und der kommt gerade jetzt!« Er war ganz überwältigt und konnte sich nicht soweit fassen, daß er zu antworten vermochte.

Er entsann sich so deutlich, daß jedesmal, wenn jemand zu dem Vater gesagt hatte: »Ihr solltet doch Euer großes, häßliches Haus anstreichen lassen,« Vater Ingmar, »der Alte«, regelmäßig geantwortet hatte, das wolle er in dem Jahre tun, wo Ingmar Hochzeit machte.

Der Maler fragte noch einmal und noch einmal. Aber Ingmar stand ganz still, als habe er es nicht verstanden.

»Sind Sie nun da oben im Himmel mit der Antwort fertig geworden?« dachte er. »Ist dies eine Botschaft vom Vater, daß er will, daß ich in diesem Jahr Hochzeit machen soll?«

Er fühlte sich so betroffen von diesem Gedanken, daß er ohne weiteres dem Mann versprach, daß er Arbeit bei ihm haben solle. Dann ging er sehr bewegt und fast glücklich hinter dem Pflug her. »Du sollst sehen, es wird gar nicht so schwer, es jetzt zu tun, wo du so sicher bist, daß Vater es haben will,« sagte er.

II.

Einige Wochen später stand Ingmar und putzte das Wagengeschirr. Er sah aus, als sei er schlechter Laune und die Arbeit ging langsam vonstatten. »Wenn ich der liebe Gott wäre,« dachte er, rieb wieder ein wenig und begann von neuem: »Wenn ich nur der liebe Gott wäre, dann wollte ich schon dafür sorgen, daß alles gleich im selben Augenblick getan würde, wo es beschlossen wird. Ich würde den Leuten nicht so lange Zeit lassen, wieder und wieder nachzudenken, und über alles zu straucheln, was im Wege liegt. Ich würde mich nicht daran kehren, ihnen Zeit zu lassen, das Geschirr zu putzen und den Wagen anzustreichen; ich würde sie geradeswegs vom Pfluge wegholen.«

Er hörte einen Wagen auf der Straße daherrollen, sah hinaus und erkannte sogleich das Pferd und das Fuhrwerk. »Jetzt kommt der Reichstagsabgeordnete von Bergskog!« rief er in die Küche hinein, wo seine Mutter an der Arbeit war. Gleich darauf hörte er sie Holz auf das Feuer legen, und die Kaffeemühle wurde in Gang gesetzt. – Der Reichstagsabgeordnete fuhr in den Hof, wo er hielt, ohne abzusteigen. »Nein, danke, ich will nicht hinein,« sagte er, »ich wollte nur ein paar Worte mit dir reden, Ingmar. Ich habe nur wenig Zeit, ich muß in die Gemeinderatssitzung.« – »Mutter hat den Kaffee wohl gleich fertig,« sagte Ingmar. – »Danke, aber meine Zeit ist knapp.« – »Es ist lange her, daß der Herr Reichstagsmann hier gewesen ist,« sagte Ingmar.

Seine Mutter kam jetzt in die Tür hinaus und nötigte auch. »Der Herr Reichstagsmann wird doch nicht fahren, ohne hereinzukommen und eine Tasse Kaffee zu trinken.« Ingmar knüpfte das Spritzleder auf, und der Reichstagsabgeordnete erhob sich. »Ja, wenn Mutter Märta mich selbst einladet, muß ich wohl gehorchen,« sagte er.

Er war ein großer, schöner Mann mit leichten Bewegungen, wie von einem ganz anderen Menschenschlag als Ingmar und seine Mutter, die häßlich waren mit schläfrigen Gesichtern und schweren Körpern. Aber er hatte große Ehrfurcht vor der alten Familie auf dem Ingmarshof, und hätte gern sein schönes Äußere hingegeben, um auszusehen wie Ingmar und einer von den Ingmarssöhnen zu sein. Er hatte seiner Tochter gegenüber immer Ingmars Partei genommen, und ihm wurde ganz leicht ums Herz, als er sich so gut aufgenommen sah.

Als Mutter Märta nach einer Weile mit dem Kaffee hereinkam, trat er mit seinem Anliegen vor.

»Ich möchte gern,« sagte er und räusperte sich, »ich möchte gern erzählen, was wir mit Brita zu tun beabsichtigen.« Die Tasse, die Mutter Märta in der Hand hielt, zitterte ein wenig, so daß der Teelöffel auf der Untertasse klirrte. Darauf trat eine drückende Stille ein.

»Wir meinen, es ist am besten, wenn sie nach Amerika reist.« Er hielt noch einmal inne, es entstand dieselbe Stille. Er seufzte über die unbeweglichen Menschen. »Wir haben schon die Fahrkarte für sie genommen.«

»Sie kommt wohl vorher nach Hause?« sagte Ingmar. – »Nein, was sollte sie wohl zu Hause?«

Ingmar schwieg wieder. Seine Augenlider waren fast geschlossen. Er saß ganz still da als schliefe er. An seiner Stelle begann nun Mutter Märta zu fragen. »Sie muß doch wohl Kleider haben?« – »Das ist alles in Ordnung, bei Kaufmann Löfberg, bei dem wir immer einkehren, wenn wir in der Stadt sind, steht eine Kiste gepackt.« – »Soll ihre Mutter sie nicht in Empfang nehmen?« – »Ja, sie will es gern, aber ich sage, es ist besser, wenn sie sich nicht sehen.« – »Ja, das mag ja sein.« – »Bei Löfberg liegt die Fahrkarte und Geld für sie, sie bekommt also alles, was sie nötig hat.«

»Ich meinte, Ingmar sollte das wissen, damit er sich die Sache aus dem Kopf schlagen kann,« sagte der Reichstagsabgeordnete.

Jetzt schwieg auch Mutter Märta. Ihr Kopftuch war in den Nacken geglitten und sie saß da und sah in ihre Schürze hinab. »Jetzt sollte Ingmar bald daran denken, sich wieder zu verheiraten.« Sie schwiegen alle beide gleich tapfer. »Mutter Märta bedarf der Hilfe in dem großen Haushalt. Ingmar muß dafür sorgen, daß sie ein ruhiges Alter bekommt.«

Der Reichstagsabgeordnete schwieg und dachte, ob sie wohl hörten, was er sagte? »Ich und meine Frau wollen es ja so gern alles wieder gutmachen,« sagte er schließlich.

Währenddes saß Ingmar da und ließ sich von einer großen Freude durchschauern. Brita sollte nach Amerika, und er brauchte sich nicht mit ihr zu verheiraten. Eine Mörderin sollte nicht Hausfrau auf dem alten Ingmarshofe werden. Er saß schweigend da, weil er es nicht passend fand, gleich zu zeigen, wie froh er war. Aber jetzt fand er es an der Zeit, etwas zu sagen.

Der Reichstagsabgeordnete saß nun auch ganz stumm da; er wußte, daß er den Ingmars Zeit geben mußte, sich zu besinnen. Schließlich sagte Ingmars Mutter: »Ja, jetzt hat Brita ihre Strafe gesühnt, nun kommt die Reihe an uns andere.« Die Alte meinte, daß, wenn der Reichstagsabgeordnete Hilfe von den Ingmars wünsche, als Lohn dafür, daß er ihnen den Weg geebnet hätte, so würden sie sich nicht weigern. Aber Ingmar faßte die Worte anders auf. Er zuckte zusammen, und es war, als erwache er aus einem Schlaf. »Was würde Vater hierzu sagen?« dachte er. »Wenn ich ihm diese Sache nun vorlege, was wird er dann sagen?« – »Du mußt nicht glauben, daß du Gottes Gerechtigkeit zum Narren haben kannst,« sagt Vater dann. »Du mußt nicht glauben, daß er es ungestraft läßt, falls du Brita die ganze Schuld allein auflädst. Selbst wenn ihr Vater sie verstoßen und sich bei dir einschmeicheln will und Geld von dir leihen will, so sollst du dennoch Gottes Wege gehen, kleiner Ingmar Ingmarsson!«

»Ich glaube wohl, daß der alte Vater in dieser Sache über mir wacht,« dachte er; »er hat gewiß Britas Vater hierher gesandt, um mir zu zeigen, wie häßlich es ist, alle Schuld auf sie zu wälzen, die Ärmste! Er hat wohl gesehen, daß ich in diesen letzten Tagen nicht große Lust gehabt habe, mich auf die Reise zu begeben.«

Ingmar stand auf, goß Kognak in den Kaffee und erhob die Tasse. »Nun danke ich schön, Herr Reichstagsabgeordneter, daß Sie heute hier eingesehen haben,« sagte er und stieß mit ihm an.

III.

Den ganzen Vormittag hatte Ingmar mit den Birken an der Haustür zu schaffen gehabt. Zuerst hatte er ein Gerüst errichtet, dann nahm er die Birkenwipfel und bog sie so zusammen, daß sie einen Bogen bildeten. Die Bäume ließen sich ungern biegen, sie rissen sich einmal über das andere Mal los und richteten sich kerzengerade auf. »Was machst du da?« fragte Mutter Märta. – »Ach, ich finde, sie können jetzt eine Weile so wachsen,« sagte Ingmar.

Es wurde Mittag, und als die Mahlzeit vorüber war, ging das Gesinde auf den Hofplatz hinaus und legte sich schlafen. Ingmar Ingmarsson schlief auch, aber er lag in einem breiten Bett in der Kammer hinter der guten Stube. Die einzige, die nicht schlief, war die Hausfrau, sie saß in der guten Stube und strickte.

Die Tür von der Diele tat sich leise auf, und hinein kam eine alte Frau mit zwei großen Körben an einer Tracht über dem Nacken. Sie sagte leise guten Tag, setzte sich auf einen Stuhl an der Tür und nahm, ohne etwas zu sagen, den Deckel vom Korbe. Der eine war voll von Zwieback und Kringel, der andere von frischem schimmernden Weißbrot. Die Hausfrau ging gleich hin und fing an einzukaufen. Sonst war sie sehr auf den Schilling, aber etwas gutem Gebäck zum Kaffee konnte sie schwer widerstehen.

Während sie das Weißbrot aussuchte, begann sie eine Unterhaltung mit der Frau, die, wie die meisten, die von einem Hof zum andern gehen und viele Menschen kennen, sehr geschwätzig war. »Ihr seid ja eine vernünftige Frau Kajsa, auf die man sich verlassen kann,« sagte Mutter Märta. – »Ja,« sagte die andere, »hätte ich nicht den Verstand, vieles zu verschweigen, was ich höre, so würden sich manche in die Haare geraten.« – »Aber zuweilen schweigt Ihr zuviel, Kajsa.« Die Alte sah auf und begriff, was sie meinte. »Ja, Gott sei mir gnädig,« sagte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich sprach mit der Frau des Reichstagsabgeordneten auf Bergskog, aber ich hätte zu Euch gehen sollen.« – »Nun, Ihr habt also mit der Frau des Reichstagsabgeordneten gesprochen!« Es lag eine unendliche Verachtung in dem Ton, mit dem sie das lange Wort aussprach.

Ingmar Ingmarsson fuhr aus dem Schlaf auf, als sich die Tür von der großen Stube leise öffnete. Es kam niemand herein, aber die Tür blieb angelehnt. Er wußte nicht, ob sie von selbst aufgesprungen war oder ob jemand sie geöffnet hatte. Schläfrig, wie er war, blieb er ruhig liegen und hörte daher alles, was in der äußeren Stube gesprochen wurde.

»Sagt mir jetzt, Kajsa, wie Ihr dahinter gekommen seid, daß Brita Ingmar nicht lieb hatte,« sagte die Mutter. – »Ja, gleich von Anfang an sagten die Leute ja, die Eltern hätten sie gezwungen.« – »Sprecht nur gerade heraus, Kajsa. Wenn ich frage, braucht Ihr keine Komplimente zu machen, um die Wahrheit zu sagen; ich werde wohl ertragen können, zu hören, was Ihr sagen könnt.«

»Es war ja so, daß ich jedesmal, wenn ich in der Zeit nach Bergskog kam, fand, daß sie verweint aussah. Einmal, als sie und ich allein in der Küche auf Bergskog waren, sagte ich zu ihr: ›Es ist ein schöner Mann, den du bekommst, Brita.‹ Sie sah mich an, als glaube sie, daß ich sie zum Narren haben wolle. Und dann sagte sie: ›Ja, das kannst du wohl sagen, Kajsa, schön ist er.‹ Sie sagte das auf eine Weise, daß mir war, als sähe ich Ingmar Ingmarsson vor mir, und er ist ja nicht schön, aber darüber hatte ich bisher nie nachgedacht; denn ich habe immer große Ehrfurcht vor den Ingmars gehabt. Aber nun konnte ich ja nicht lassen, ein wenig zu lächeln. Da sah mich Brita an und sagte noch einmal: ›Ja, schön ist er,‹ wandte sich von mir ab und stürzte in die Kammer, und ich hörte, daß sie zu weinen anfing.

Aber als ich ging, dachte ich bei mir selbst: Es wird schon gehen, denn den Ingmars geht ja alles gut. Ich wunderte mich nicht über die Eltern, denn hätte ich eine Tochter gehabt, und hätte Ingmar Ingmarsson um sie geworben, dann hätte ich mir auch keine Ruhe gegönnt, ehe sie ja gesagt hätte.«

Ingmar lag auf dem Bett und hörte es. »Das tut Mutter absichtlich,« dachte er. »Sie denkt sich das ihre bei dem Anstreichen und der Ehrenpforte und der Fahrt in die Stadt morgen. Mutter glaubt, daß ich die Absicht habe, hinzufahren und Brita zu holen; Mutter weiß nicht, daß ich ein Lump bin, daß ich es nicht kann.«

»Das nächste Mal, als ich Brita sah,« fuhr die Alte fort, »war sie schon hierher auf den Ingmarshof gezogen. Ich konnte sie nicht gleich fragen, wie es ihr gehe, denn da waren so viele Leute in der Stube; aber als ich eine Strecke auf das Gehölz zugegangen war, kam sie hinter mir hergelaufen. ›Kajsa,‹ sagte sie, ›bist du kürzlich in Bergskog gewesen?‹ – ›Ich war vorgestern da,‹ sagte ich. – ›Ach, lieber Gott, bist du vorgestern dagewesen, und mir ist, als sei ich schon viele Jahre von Hause fort.‹ Ich wußte nicht recht, was ich zu ihr sagen sollte; sie sah so aus, als könne sie nichts vertragen, sondern würde gleich anfangen zu weinen, was ich auch sagte. ›Du kannst doch nach Hause gehen und dich nach ihnen umsehen,‹ sagte ich. – ›Nein, ich glaube, daß ich nie im Leben wieder nach Hause komme.‹ – ›Geh doch nur nach Hause,‹ sagte ich zu ihr, ›es ist schön dort oben, der ganze Wald ist voller Beeren, bei den Brandstellen ist es rot von Preißelbeeren.‹ – ›Du lieber Gott,‹ sagte sie, und ihre Augen wurden so groß. ›Sind da schon Preißelbeeren?‹ – ›Ja, du kannst dich doch wohl einen Tag freimachen, so daß du nach Hause gehen und so viele Beeren essen kannst, wie du nur magst.‹ – ›Nein, ich glaube nicht, daß ich das tun werde,‹ sagte sie. ›Gehe ich nach Hause, so ist es nur, um hierher nie wieder zurückzukehren.‹ ›Ich habe immer gehört, daß man es auf dem Ingmarshofe gut habe,‹ sagte ich. ›Sie sind rechtschaffene Leute.‹ – ›Ja,‹ antwortete sie, ›sie sind rechtschaffene Leute.‹ – ›Es sind die besten Leute in der Gemeinde,‹ sagte ich. ›Ja, sie sind rechtschaffen.‹ – ›Ja, sie halten es ja nicht für ein Unrecht, sich eine Frau zu erzwingen.‹ – ›Es sind auch kluge Leute.‹ – ›Ja, aber sie verschweigen, was sie wissen.‹ – ›Sagen Sie nie etwas?‹ – ›Nicht einer sagt mehr als das Allernotwendigste.‹

Nun mußte ich gehen, aber da fiel es mir ein zu sagen: ›Soll die Hochzeit hier oder daheim bei dir gefeiert werden? – ›Sie soll hier auf dem Hof stattfinden. Hier ist mehr Platz.‹ – ›Nun mußt du dafür sorgen, daß sie die Hochzeit nicht zu lange hinausschieben,‹ sagte ich. – ›Sie soll in einem Monat sein,‹ sagte sie.

Aber als ich im Begriff war, von Brita fortzugehen, fiel mir ein, daß die Ingmars eine schlechte Ernte gehabt hatten, und ich sagte, offen gestanden, glaube ich nicht, daß sie die Hochzeit in diesem Jahr ausrichten würden. – ›Ja, dann muß ich ins Wasser gehen,‹ sagte Brita.

Einen Monat spater hörte ich, daß die Hochzeit hinausgeschoben sei, und ich fürchtete, daß es nicht gut gehen würde. Da ging ich denn nach Bergskog und sprach mit der Frau des Reichstagsabgeordneten. ›Da unten bei den Ingmars stellen sie es auch, glaube ich, ganz verkehrt an,‹ sagte ich. – ›Ja, wir müssen zufrieden damit sein, wie sie es auch anstellen,‹ sagten sie. ›Wir danken Gott jeden Tag, daß wir unsere Tochter so gut verheiratet haben.‹«

»Mutter braucht sich wirklich nicht so viel Mühe zu machen,« dachte Ingmar Ingmarsson, »denn hier vom Hofe fährt keiner hin, um Brita zu holen. Sie braucht sich wegen der Ehrenpforte nicht so zu ängstigen; so was tut ein Mann nur, um zum lieben Gott sagen zu können: Ich wollte es ja tun. Du konntest doch sehen, daß ich die Absicht hatte. Aber es allen Ernstes zu tun, das ist eine andere Sache.«

»Das letztemal, als mich Brita sah,« fuhr Kajsa fort, »da war es mitten im Winter, als hoher Schnee lag. Ich kam einen schmalen Steig mitten durch den wilden Wald gegangen, und es war schwer zu gehen, denn es hatte angefangen zu tauen, und die Füße glitten einem im Schneeschlamm aus. Da gewahrte ich eine, die im Schnee saß und sich ausruhte, und als ich näherkam, sah ich, daß es Brita war. ›Gehst du allein hier oben im Walde?‹ sagte ich zu ihr. – ›Ja, ich gehe ein wenig spazieren.‹ – Da blieb ich stehen und sah sie an, ich konnte nicht begreifen, was sie da zu tun hatte. – ›Ich bin hier draußen, um zu sehen, ob ich nicht eine steile Felsklippe finden kann,‹ sagte Brita dann. – ›Herr meines Lebens, du willst dich doch wohl nicht da hinabstürzen?‹ sagte ich, denn sie sah aus, als wolle sie nicht länger leben.

›Ja,‹ sagte sie, ›falls ich nur eine Felsklippe finden kann, die hoch und steil genug wäre, so würde ich mich hinabstürzen.‹ – ›Du solltest dich schämen, du, die du es so gut hast.‹ – ›Ja, siehst du, Kajsa, ich bin schlecht.‹ – ›Freilich, das scheint so.‹ – ›Ich bin fest überzeugt, daß ich etwas Schlechtes tue, da wäre es besser, ich stürbe.‹ – ›Was ist das für ein Unsinn, Kind?‹ – ›Ja, ich wurde schlecht, als ich nach dem Ingmarshof hinabzog.‹ Da trat sie ganz nahe an mich heran und sah ganz wild aus den Augen, und dann sagte sie: ›Sie denken nur daran, wie sie mich quälen sollen, und ich denke nur daran, wie ich sie wieder quälen kann.‹ – ›Unsinn, Brita, es sind gute Menschen.‹ – ›Nein, sie denken nur daran, wie sie Schande über mich bringen können.‹ – ›Hast du ihnen denn das nicht gesagt?‹ – ›Ich spreche niemals mit ihnen. Ich denke nur daran, wie ich ihnen Böses zufügen kann. Ich denke daran, ob ich nicht den Hof anzünden soll; ich weiß, er hängt sehr daran. Ich denke auch daran, den Kühen Gift zu geben, sie sind so alt und häßlich und weiß um die Augen, als wenn sie aus seiner Familie stammten.‹ – ›Der Hund, der bellt, beißt nicht,‹ sagte ich. – ›Etwas Böses muß ich ihm antun,‹ sagte sie, ›eher findet meine Seele keinen Frieden.‹ – ›Du weißt selbst nicht, was du sagst,‹ sagte ich. ›Ich glaube, du denkst eher daran, deinem Seelenfrieden ein Ende zu machen.‹

Da fing sie auf einmal an zu weinen. Sie wurde ganz weich und sagte, es sei so schwer für sie mit den bösen Gedanken, die so plötzlich über sie kämen. Da begleitete ich sie nach Hause, und als wir uns trennten, versprach sie, daß sie nichts Böses tun wolle, wenn ich nur meinen Mund halten wollte.

Da dachte ich viel darüber nach, mit wem ich sprechen könnte,« sagte Kajsa. »Es kam mir so schwierig vor, zu so großen Leuten zu gehen wie Ihr …«

In demselben Augenblick läutete die Essensglocke auf dem Stalldach, die Mittagsruhe war vorüber. Mutter Märta unterbrach Kajsa geschäftig. »Sagt mir doch, Kajsa, glaubt Ihr, daß es jemals zwischen Ingmar und Brita wieder gut werden kann?« – »Was?« sagte die Alte ganz erstaunt. – »Ich meine, wenn sie nun nicht nach Amerika führe, glaubt Ihr dann, daß sie ihn nehmen würde?« – »Wie kann ich das wissen. Nein, das würde sie wohl nicht tun.« – »Sie sagte wohl nein?« – »Ja, das würde sie wohl tun.«

Ingmar saß dadrinnen auf dem Bett, die Beine hingen über dem Bettrande. »So, da hast du bekommen, was du nötig hast, Ingmar, nun glaube ich doch, daß du morgen hinfährst,« sagte er und schlug mit der geballten Faust auf die Bettstelle. »Daß Mutter nur glauben kann, daß sie mich dazu kriegen könne, zu Hause zu bleiben, wenn sie mir zeigt, daß Brita mich nicht lieb hat.«

Er schlug einmal über das andere Mal auf die Bettstelle, als ob er in Gedanken etwas Hartes niederschlage, das ihm Widerstand leistete. »Nun will ich die Sache doch noch einmal versuchen. Wir Ingmars fangen wieder von vorne an, wenn etwas schief gegangen ist. Kein richtiger Mann kann sich darein finden, daß ein Frauenzimmer aus Groll über ihn verrückt wird.«

Nie hatte er so tief empfunden, was für eine Niederlage er erlitten hatte. Er brannte vor Sehnsucht nach Genugtuung auf irgendeine Weise.

»Es müßte doch verteufelt zugehen, wenn ich Brita nicht lehren könnte, glücklich auf dem Ingmarshofe zu werden,« sagte er.

Noch einmal schlug er auf die Bettstelle, indem er aufstand, um an seine Arbeit zu gehen.

»Ich bin fest überzeugt, daß der große Ingmar Kajsa hierher geschickt hat, um mich zu der Fahrt nach der Stadt zu veranlassen.«

IV.

Ingmar Ingmarsson war in die Stadt gekommen und ging langsam den Weg nach dem großen Amtsgefängnis hinauf, das stolz auf einem kleinen Hügel über den städtischen Anlagen aufragte. Er sah sich nicht um, sondern schleppte sich, die schweren Augenlider gesenkt, mühselig dahin, als sei er ein uralter Mann. Er hatte in Veranlassung des Tages die schöne Tracht seiner Gegend abgelegt und einen schwarzen Tuchanzug und ein Manschettenhemd angezogen, das er schon ganz zerknittert hatte. Ihm war sehr feierlich zumute, aber doch noch ängstlich und widerwillig.

Ingmar kam auf den kiesbestreuten Platz vor dem Gefängnis, da sah er einen Schutzmann, der die Wache hatte und fragte ihn, ob Brita Erikstochter heute entlassen werden sollte. – »Ja, ich glaube wohl, daß da heute eine freikommt,« sagte der Schutzmann. – »Es ist eine, die wegen Kindesmord gesessen hat,« klärte ihn Ingmar auf. – »Jawohl, ja, die kommt heute vormittag heraus.«

Ingmar ging nicht weiter, sondern stellte sich an einem Baum auf und schickte sich an zu warten. Auch nicht eine Minute wandte er den Blick von dem Eingang ab. »Durch dieses Tor sind wohl manche hineingegangen, die es nicht allzu gut gehabt haben,« dachte er. »Ich will keine großen Worte machen,« sagte er weiter, »aber vielleicht hat es mancher, der da hineingegangen ist, kaum so schwer gehabt wie ich, der ich hier draußen stehe.«

»Ja, ja, nun hat der große Ingmar mich doch hierher gebracht, um mir die Braut aus dem Gefängnis zu holen,« sagte er dann; »aber ich kann nicht sagen, daß der kleine Ingmar froh ist; ich hätte es gern gesehen, wenn sie durch eine Ehrenpforte geschritten käme, und wenn ihre Mutter an ihrer Seite gestanden und sie dem Bräutigam zugeführt hätte. Und dann hätte sie mit großem Gefolge zur Kirche fahren müssen. Und sie hätte neben ihm wie eine Braut geschmückt sitzen müssen und unter der Brautkrone lächeln sollen.«

Das Tor tat sich mehrmals auf; es kam ein Pfarrer, und es kamen die Frau und die Mägde des Gefängnisdirektors und gingen in die Stadt hinab. Endlich kam Brita. Als das Tor aufging, stand Ingmar das Herz still. »Jetzt kommt sie,« dachte er. Seine Augenlider fielen zu, er war wie gelähmt und rührte sich nicht. Als er Mut gefaßt hatte und aufsah, stand sie vor dem Tor auf der Treppe.

Er sah sie dort einen Augenblick stehen bleiben. Sie schob das Kopftuch zurück und sah mit klaren Augen auf die Landschaft hinaus. Das Gefängnis lag hoch, und über die Stadt und die großen Wälder hinweg konnte sie bis an die Berge ihrer Heimat sehen.

Nun sah Ingmar, wie sie gleichsam von einer unsichtbaren Macht geschüttelt und gebeugt wurde. Sie hielt die Hände vor das Gesicht und setzte sich auf die Steintreppe nieder. Er konnte sie bis zu der Stelle, wo er stand, schluchzen hören.

Da ging er über den Kiesplatz, stellte sich neben sie und wartete. Sie weinte so heftig, daß sie nichts hörte; er mußte lange dastehen. »Du mußt nicht so weinen, Brita,« sagte er schließlich. Sie sah auf. »Ach, Gott im Himmel, bist du hier?« sagte sie. Und im selben Augenblick stand alles das, was sie ihm angetan hatte, deutlich vor ihr, und auch das, was es ihn gekostet haben mußte, hierher zu kommen. Sie stieß einen lauten Freudenschrei aus, warf sich ihm um den Hals und schluchzte von neuem.

»Ach, wie ich mich danach gesehnt habe, daß du hier sein solltest,« sagte sie. Ingmars Herz begann zu pochen, weil sie sich so zu ihm freute. »Was sagst du, Brita, hast du dich gesehnt?« sagte er und wurde gerührt. – »Ich mußte dich doch um Verzeihung bitten.«

Ingmar richtete sich in seiner ganzen Höhe auf und wurde so kalt wie ein Steinbild. »Dazu ist immer noch Zeit,« sagte er, »ich meine, wir sollten nicht länger hier stehen bleiben.«

»Nein, das ist ja kein Ort zum Stehenbleiben,« sagte sie demütig. – »Ich bin bei Kaufmann Löfberg eingekehrt,« sagte Ingmar, wahrend sie den Weg entlang gingen. – »Ja, da habe ich auch meine Kiste stehen.« – »Ich habe sie da gesehen,« sagte Ingmar, »sie ist zu groß, um hinten auf der Karre zu stehen, wir müssen sie da lassen, bis wir sie abholen lassen können.« Brita blieb stehen und sah zu Ingmar auf. Es war das erstemal, daß er erwähnte, daß er sie mit nach Hause nehmen wollte. »Ich habe heute einen Brief von Vater bekommen; er sagte, du meintest auch, daß ich nach Amerika reisen sollte.« – »Ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn du die Auswahl hättest. Es war ja nicht sicher, daß du mit mir nach Hause kommen wolltest.« – Sie beachtete wohl, daß er nicht sagte, daß er es wünsche, aber das konnte wohl auch daher kommen, daß er sich ihr nicht aufzwingen wollte. Sie wurde sehr unschlüssig. Es war ja nicht beneidenswert, eine wie sie nach dem Ingmarshofe heimzubringen. – »Sag’ ihm, daß du nach Amerika reist, das ist das einzige, was du tun kannst,« sagte sie zu sich selbst. »Sag’ ihm das, sag’ ihm das,« spornte sie sich an. Während sie so dachte, hörte sie jemand sagen: »Ich fürchte, ich bin nicht stark genug, um nach Amerika zu reisen; sie sagen, man muß da drüben so hart arbeiten.« – »Es kam mir vor, als sei es jemand anderes, der antwortete und nicht sie selbst.« – »Ja, so sagt man,« sagte Ingmar leise. – Sie schämte sich über sich selbst, dachte daran, daß sie noch heute morgen zu dem Pfarrer gesagt hatte, sie ginge als ein neuer und besserer Mensch in die Welt hinaus. Sie war unzufrieden mit sich selbst, ging lange schweigend einher und dachte daran, wie sie es anstellen sollte, ihr Wort zurückzunehmen. Aber sobald sie etwas derartiges sagen wollte, hielt der Gedanke sie zurück, daß, falls er sie noch liebe, es schwarzer Undank sein würde, ihn von sich zu weisen. »Könnte ich nur seine Gedanken lesen,« dachte sie.

Da sah Ingmar, daß sie stehen blieb und sich gegen eine Mauer lehnte. »Ich werde ganz verwirrt von all dem Geräusch und den vielen Menschen.« Er reichte ihr eine Hand und sie nahm sie, und Hand in Hand gingen sie nun die Straße hinab. »Jetzt sehen wir aus wie ein Brautpaar,« dachte Ingmar. Aber während der ganzen Zeit grübelte er darüber nach, wie es gehen würde, wenn er nach Hause käme, wie er mit seiner Mutter und allen den anderen zurechtkommen sollte.

Als sie zu dem Kaufmann kamen, sagte Ingmar, sein Pferd sei ausgeruht, falls sie nichts dagegen habe, könnten sie die ersten Wegestrecken noch heute zurücklegen. Da dachte sie: »Jetzt ist der Augenblick gekommen; zu sagen, daß du nicht willst. Danke ihm jetzt und sage, daß du nicht willst.« Sie stand da und flehte zu Gott, daß sie sich doch klar darüber werden möge, ob er nur aus Barmherzigkeit gekommen sei. Währenddes zog Ingmar den Wagen aus dem Schuppen heraus. Er war frisch gestrichen, das Spritzleder glänzte, und die Sitze hatten einen neuen Bezug bekommen. Vorn am Wagenleder steckte ein kleiner, halbverwelkter Strauß aus Feldblumen. Als sie den sah, blieb sie stehen und besann sich, und währenddes ging Ingmar in den Stall, schirrte das Pferd an und zog es heraus. Da, als sie ein ebensolches kleines halbverwelktes Bukett an dem Zaumwerk sah, fing sie wieder an zu glauben, daß er sie wirklich lieb habe und dachte, es sei am besten zu schweigen. Sonst würde er vielleicht finden, daß sie undankbar sei und nicht verstünde, wie groß das Anerbieten war, das er ihr machte.

Sie fuhren des Weges dahin, und um das Schweigen zu unterbrechen, fing sie an, nach diesem und jenem daheim zu fragen. Bei jeder Frage erinnerte sie ihn an irgend einen, vor dessen Urteil er sich fürchtete. »Wie der und der sich wundern wird,« dachte er, »und wie der und der sich lustig über mich machen wird.« Seine Antworten waren einsilbig, und wieder und wieder meinte sie, sie müsse ihn bitten, umzukehren. Er will mich nicht haben, er hat mich nicht lieb, er tut es nur aus Barmherzigkeit.

Bald hörte sie auf zu fragen; in tiefem Schweigen fuhren sie Meile auf Meile. Aber als sie in ein Gehöft kamen, stand da Kaffee mit frischem Gebäck für sie bereit, und auf dem Kaffeetisch lagen gleichfalls Blumen. Sie begriff, daß er es bestellt haben müßte, als er am gestrigen Tage vorbeigefahren war. War auch das nichts weiter als Güte und Barmherzigkeit? War er gestern froh gewesen? War es ihm erst heute leid geworden, nachdem er sie aus dem Gefängnis hatte kommen sehen? Aber morgen, wenn sie es vergessen hatte, würde schon alles wieder gut werden.

Brita war weich geworden vor Reue und Demut. Sie wollte ihm keinen Kummer bereiten. Vielleicht, daß er doch wirklich – –

Die Nacht über blieben sie in einem Gasthof, brachen aber frühzeitig auf und waren nun so weit gekommen, daß sie um zehn Uhr ihre eigene Kirche sehen konnten. Als sie vorüberfuhren, wimmelte es auf dem Kirchweg von Leuten, und die Glocken läuteten. »Lieber Gott, es ist Sonntag,« sagte Brita und faltete die Hände unwillkürlich. Sie vergaß alles andere über dem Gedanken, daß sie zur Kirche fahren und Gott danken wolle. Das neue Leben, das sie jetzt leben sollte, wollte sie mit einem Gottesdienst in der alten Kirche einweihen.

»Ich möchte gern in die Kirche,« sagte sie zu Ingmar. In diesem Augenblick dachte sie gar nicht daran, daß es schwer für ihn sein müsse, sich dort blicken zu lassen. Sie war voller Andacht und Dankbarkeit. Ingmar war kurz davor, geradeswegs nein zu sagen. Er meinte, er habe nicht den Mut, den scharfen Blicken und den geschwätzigen Zungen zu begegnen. »Aber einmal muß es ja doch sein,« dachte er und bog in den Kirchenweg ein. »Es wird gleich schlimm, wann es auch sein mag.«

Als sie den Kirchenhügel hinauffuhren, saßen auf der Steinmauer eine Menge Menschen und warteten darauf, daß der Gottesdienst beginnen sollte, und sie sahen alle die an, die kamen. Als sie Ingmar und Brita daherfahren sahen, fingen sie an zu flüstern und einer den anderen anzustoßen und auf sie zu zeigen. Ingmar sah Brita an; sie saß mit gefalteten Händen da und sah aus, als wisse sie nicht, wo sie war. Sie sah die Menschen nicht, aber Ingmar sah sie um so besser; einige kamen hinter dem Wagen dreingelaufen. Er wunderte sich nicht darüber, daß sie liefen und daß sie guckten. Sie wußten wohl nicht, ob sie recht gesehen hatten. Sie konnten sich natürlich nicht denken, daß er mit der, die ihr Kind erstickt hatte, zum Gotteshause gefahren käme. »Das ist zu viel,« dachte er, »ich halte es nicht aus.«

»Ich meine, es wird am besten sein, wenn du gleich in die Kirche hineingehst, Brita,« sagte er, als er ihr vom Wagen herabhalf. – »Ja,« sagte sie, sie wollte nur zur Kirche; sie war nicht gekommen, um Leute zu treffen. Ingmar ließ sich Zeit, das Pferd abzuschirren und zu füttern. Viele Blicke waren auf Ingmar gerichtet, aber niemand sprach mit ihm. Als er fertig war und in die Kirche ging, saßen die meisten schon an ihren Plätzen und der Gesang hatte bereits begonnen.

Während Ingmar den breiten Gang hinaufging, sah er nach der Frauenseite hinüber; alle Stühle waren besetzt, ausgenommen einer, und darauf saß nur eine einzige. Er sah sogleich, daß es Brita war und dachte, daß niemand neben ihr sitzen wollte. Ingmar tat noch einige Schritte, dann bog er nach der Frauenseite um und setzte sich neben Brita. Als er zu ihr in den Stuhl kam, sah Brita auf und machte große Augen. Sie hatte bisher auf nichts geachtet; jetzt begriff sie, daß die anderen nicht neben ihr sitzen wollten. Da schwand das tiefe, feierliche Gefühl, das sie eben noch erfüllt hatte und machte einer großen Betrübnis Platz. Was sollte hieraus werden, was sollte hieraus werden? Sie hätte ja niemals mit ihm zurückkehren sollen!

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und um nicht zu weinen, nahm sie ein altes Gesangbuch, das vor ihr auf dem Brett lag, und fing an, darin zu lesen. Sie durchblätterte die Evangelien und Episteln, ohne ein Wort zu sehen vor lauter Tränen, die sie nicht zurückzuhalten vermochte. Da leuchtete plötzlich etwas Dunkelrotes vor ihren Augen auf, es war ein Lesezeichen mit einem roten Herzen, das zwischen den Blättern lag. Sie nahm es und schob es Ingmar hin.

Sie sah, daß er es in seiner großen Hand barg und es verstohlen betrachtete. Gleich darauf lag es an der Erde. »Was soll aus uns werden, was soll aus uns werden?« dachte Brita und weinte über dem Gesangbuch.