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DIE ENTSTEHUNG DES CHRISTENTUMS - EINE HISTORISCHE SPURENSUCHE
Was wir über das frühe Christentum zu wissen meinen, ist bis heute stark von Glaubenstraditionen geprägt. Der preisgekrönte Historiker Johannes Fried befragt die biblischen und außerbiblischen Quellen neu und setzt sie zu einem neuen, kohärenten Bild zusammen: Demnach gab es im entstehenden Christentum einen Grundkonflikt zwischen Anhängern Jesu, die die Worte ihres Meisters und Rabbis im frühesten Kern des Thomas-Evangeliums festhielten, und dem Apostel Paulus, der die Botschaft vom Kreuzestod des Gottessohnes in der heidnischen Welt verkündete. Die Lehre des Paulus setzte sich durch, während die Überlieferung der Jesus-Anhänger verketzert und vergessen wurde. Johannes Fried folgt ihren Spuren und zeigt, dass alles ganz anders gewesen sein könnte, als wir glauben.
«Jesus lebt!» Diese frohe Botschaft konnte nach Jesu Kreuzigung ganz unterschiedlich verstanden werden. Sein engstes Umfeld in Jerusalem wusste, dass er das Kreuz überlebt hatte, und bewahrte die Worte des geflohenen Meisters. Der Apostel Paulus dagegen, der dem Christus Jesus nur in einer Vision begegnet war, verkündete die wundersame Auferstehung des Gottessohnes von den Toten und hatte wenig Interesse am Leben des jüdischen Lehrers. Johannes Fried rekonstruiert den Konflikt auf der Grundlage der verfügbaren biblischen und außerbiblischen Quellen und zeigt, wie die Lehre des Apostels Paulus von Kreuzestod und Auferstehung die kanonischen Evangelien prägte und sich im Römischen Reich durchsetzte, während die Überlieferung der Jesus-Anhänger – festgehalten etwa im Thomas-Evangelium – in Gebiete außerhalb des Römischen Imperiums abgedrängt, verketzert und schließlich vergessen wurde. Johannes Fried folgt den wenigen erhaltenen Spuren mit dem Werkzeug des Historikers und zeigt, dass alles ganz anders gewesen sein könnte, als wir glauben.
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Johannes Fried
Jesus oder Paulus
Der Ursprung des Christentums im Konflikt
Eine historische Spurensuche
C.H.BECK
«Jesus lebt!» Diese frohe Botschaft konnte nach Jesu Kreuzigung ganz unterschiedlich verstanden werden. Sein engstes Umfeld wusste, dass er das Kreuz überlebt hatte, und bewahrte die Worte des geflohenen Meisters. Der Apostel Paulus dagegen verkündete die Auferstehung des Gottessohnes von den Toten und hatte wenig Interesse am Leben des jüdischen Lehrers. Johannes Fried rekonstruiert den Konflikt und zeigt, wie sich am Ende die Lehre des Paulus durchsetzte.
Kreuzestod, Auferstehung, Mission der Apostel bei Juden und Heiden … Was wir über das frühe Christentum zu wissen meinen, ist bis heute stark von Glaubenstraditionen geprägt. Der Historiker Johannes Fried befragt die biblischen und außerbiblischen Quellen neu und setzt sie zu einem neuen, kohärenten Bild zusammen: Demnach gab es im entstehenden Christentum einen Grundkonflikt zwischen Anhängern Jesu in Jerusalem, die um sein Überleben wussten und seine Lehre im frühesten Kern des Thomas-Evangeliums festhielten, und dem Apostel Paulus, der die Botschaft vom stellvertretenden Sühnetod des Gottessohnes in der heidnischen Welt verbreitete. Die Botschaft des Paulus setzte sich im Römischen Reich durch. Die Überlieferung der Jesus-Anhänger dagegen wurde verketzert und ist nur noch in wenigen Spuren erhalten. Johannes Fried folgt ihnen mit dem Werkzeug des Historikers und zeigt, dass alles ganz anders gewesen sein könnte, als wir glauben.
Johannes Fried, ist Professor em. für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt am Main und Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz. Er war Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Historikerpreis (1995) und dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (2006). Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Das Mittelalter» (4. Aufl. 2009), «Karl der Große» (5. Aufl. 2016) sowie zuletzt «Kein Tod auf Golgatha» (3. Aufl. 2019).
Vorwort
1. Hätte die Kirche ohne Auferstehungsglauben entstehen können?
2. Wie alles begann
3. Ein Augenzeugnis ohne theologisches Konstrukt
4. Damals und heute: Quellenkritik
5. Nach dem Grab
6. Paulus
7. Die Spaltung der Jesus-Bewegung
8. Auf dem Weg zu den Evangelien
9. Das Evangelium des Thomas
10. Gegen die Gnosis
11. Bewahrung der Erinnerung
12. Vielfalt der Überlieferung
Schluss
Anhang
Karten
Abkürzungen
Anmerkungen
1. Hätte die Kirche ohne Auferstehungsglauben entstehen können?
2. Wie alles begann
3. Ein Augenzeugnis ohne theologisches Konstrukt
4. Damals und heute: Quellenkritik
5. Nach dem Grab
6. Paulus
7. Die Spaltung der Jesus-Bewegung
8. Auf dem Weg zu den Evangelien
9. Das Evangelium des Thomas
10. Gegen die Gnosis
11. Bewahrung der Erinnerung
12. Vielfalt der Überlieferung
Schluss
Literatur
Personenregister
Dieses Buch hätte auch den Titel tragen können: «Diener Christi und Satansboten». Er hätte Polemik und Diktion des Paulus hervorgehoben, wie sie die Selbststilisierung seiner Briefanfänge und sein wüstester Angriff gegen seine Gegner im Missionsgeschäft (vgl. 2Kor 11,13–14) zum Ausdruck brachten. Freilich hätte dieser Titel die Lektüre des Buches vorausgesetzt, nämlich die Kenntnis der erbitterten Frontstellungen im Konflikt der frühesten Repräsentanten der Jesus-Bewegung, der Radikalität dieser Auseinandersetzung und der Dramatik des bereits in der Frühzeit der Kirchenentwicklung ausgebrochenen Streits.
In meinem Buch Kein Tod auf Golgatha habe ich 2019 dargelegt, warum viel dafür spricht, dass Jesus die Kreuzigung überlebt hat. Das vorliegende Buch schließt daran an. Es rekapituliert und schärft die wichtigsten Argumente, um dann den harten Konflikten innerhalb der frühen Jesus-Bewegung und ihren langfristigen Konsequenzen für die Kirche und das Christentum nachzugehen. Zur Rettung der traditionellen dogmatischen Position müsste der Tod am Kreuz bewiesen werden; die glückliche Grabflucht preisen indessen schon die Evangelien. Wie aber bewältigte die zerspaltene Anhängerschaft Jesu die widersprüchliche Botschaft vom Überleben des Grabes hier und von der öffentlich verkündeten Auferstehung dort? Wie verlief der Weg von den uneinigen Anfängen zu den verpflichtenden Glaubensbotschaften der kanonischen Evangelien? Wie setzte sich die Erzählung von dem auferstandenen Gottessohn gegen das Wissen der Jünger in Jerusalem vom Überleben Jesu durch? Musste sie nicht die Glaubwürdigkeit der Auferstehungsrede gefährden? Bescherte die Kanonisierung keine Verluste? Eine sachliche Auseinandersetzung auf historischer Grundlage ist zur Klärung derartiger Fragen unerlässlich und dringend erforderlich.
Mein Dank gilt vielen Gesprächspartnern. Genannt seien Hartwig Drude, Hans Gutbrod, Deborah und Johannes Heil, Fernande und Tonio Hölscher, meine Frankfurter Kolleginnen und Kollegen von der Mittwochsrunde für ihre mitunter recht skeptischen Kommentare zu meinem früheren Buch und nicht zuletzt meine Frau, die mich immer wieder zu Verbesserungen mahnte. Nicht alle Genannten waren einer Meinung mit mir, alle aber gaben wertvolle Ratschläge und Hinweise, die ich aufgreifen durfte. Die Fehler des Buches sind indessen allein mir anzulasten. Bei den beiden Lektoren Ulrich Nolte und Detlef Felken bedanke ich mich herzlich für ihre vielen Ratschläge und ihre unendliche Geduld mit meinem Manuskript. Jonathan Beck bin ich dankbar für den Mut, auch dieses Buch in seinen Verlag aufzunehmen.
Heidelberg, im Juli 2020
Johannes Fried
Am Anfang herrschte Streit. Wirklich Streit? Wurde nicht Frieden gepredigt? Friede sei mit euch! (Joh 14,26 f.) So lautet Jesu Pfingstbotschaft nach dem Johannes-Evangelium. Stattdessen Streit, schöpferischer, gar weltbewegender Streit? Wer war Jesus, jener Nazoräer, der König der Juden, wie ihn die Inschrift titulierte, die sein römischer Richter, Pontius Pilatus, ans Kreuz nageln ließ? Wer war er, dass solche Wirkung von ihm ausging? Friedensbotschaft und Streitbereitschaft. Was lehrte er? Wie starb er? Fragen über Fragen. Sie lenken die Blicke auf die Entstehung und allerersten Anfänge des Christentums und damit auf die Frühgeschichte einer Weltreligion, die tatsächlich strittige Deutungen und offener Streit prägten.[1] Nur historische Forschung kann, wenn überhaupt, diese Anfänge erhellen. Jesus war freilich kein Christ, er war beschnitten und hing am Kreuz, eben weil er seinem Judentum, wie er es verstand, bis zum letzten Atemzug verbunden blieb.
Es geht um ein erkennendes Eindringen in Jesu unter strittigen Zeugnissen verborgenes Wirken, somit, wenn auch nicht nur, um jenes Bemühen um Erkenntnis, das Jesus für die Schriftgelehrten verlangt haben soll. Sie hatten aber deren Tore verschlossen, wie er in seiner großen «Weherede» schalt, die das älteste Evangelium und auch Lukas überlieferten: Wehe ihr Gesetzeslehrer, denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis versteckt. Ihr selbst geht nicht hinein, aber die hineingehen wollten, habt ihr gehindert (Mcn 11,52 = Lk 11,52), die Tore nämlich zu den Geheimnissen des Glaubens, des Wirkens und der Persönlichkeit Jesu.[2]
Ein junger Heros, ein theologischer Außenseiter, trat mit ihm in Erscheinung, der Koryphäen vor den Kopf stieß und dessen mythische Biographie uralte religiöse Normen der antiken Welt aufgriff, dann zahllose Helden erweckte, erfolgreiche Glaubensritter, endlich Hoffnung und Trost spendete, die aber auch ob des angedrohten Gerichts und der verheißenen Torturen in Verzweiflung stürzen konnte. Kann sich die Geschichtswissenschaft einem solchen Helden nähern, ohne mit den heutigen Gesetzes- und Schriftgelehrten aneinanderzugeraten? Sie muss, soll sie Aussicht auf Erfolg haben, den Streit von Anfang an verfolgen.
Alles sei möglich geworden, weil dieser Heros, so glaubte man seit dem ersten Jahrhundert und glaubt es auch heute noch, durch die Römer den Tod am Kreuz erlitten habe, nach seiner Grablegung auferstanden, anschließend in den Himmel aufgefahren sei und von dort herab sich um das Heil der Menschen sorge. Die erhaltenen Zeugnisse verraten freilich, dass nicht alle Zeitgenossen von einst diesem Glauben erlagen, und schon gar nicht alle, die es taten, folgten ihm gleichermaßen. Vielmehr trieben schon in den ersten Jahren nach dem wahrhaft wunderbaren Geschehen die Erinnerungen und Mutmaßungen über dasselbe auseinander und folgten umgehend Differenzen und erbitterter Streit, auch traurige Untergänge der eben entstandenen Jesus-Gemeinden. Wortgewaltige Prediger, die den Tod nicht fürchteten, sorgten – uneinig, wie sie über das Erlebte dachten – hier für einen vielfältigen Triumph, während dort stille Verkünder bald einschneidende Verwandlungen hinnehmen mussten und ihre Martyrien keine Siege erfochten. Diesen Kontroversen und Konflikten will die vorliegende Schrift nachgehen.
Fragen nach Jesus, nach dem realen, historischen Hintergrund jenes Heroen-Mythos, fordern seit langem die Geschichtswissenschaft und nicht nur sie heraus. In ihnen lauern, bedingt durch ihre überwältigende Vielfalt, erhebliche Gefahren. Denn die Antworten, wie immer sie ausfallen mögen, bedrohen den Glauben und mit ihm die Grundlagen der Kirche. Der Boden aber, auf dem sie gründen soll, darf nicht schwanken; er muss halten und tragfähig sein und kann nicht oft genug auf seine Statik überprüft werden. Ich habe mich ohne jeglichen Rekurs auf das Glaubensbekenntnis als Historiker an die damit verbundenen Fragen herangewagt, vor allem aber aufgrund fachmedizinischer Erkenntnisse, die mir zugespielt wurden, ein erstes Urteil begründet. Spekulation war hier nichts. Mit solcher Hilfe habe ich eine Analyse der fraglichen Berichte in den Evangelien von Jesu Sterben durchgeführt mit dem Ergebnis: Jesus hat die Kreuzigung überlebt, er ist nicht auferstanden.[3]
Es geht um den geheimnisumwitterten Glaubensgrund der Christenheit. Wie hätte ohne ihn die Kirche erwachen können? Die Frage führt tief in die Geschichte hinein. Wie wurde – ohne Auferstehung – aus Jesus der Christus, der eingeborene Gottessohn, der Heiland, der Todbesieger, und wie entstand seine Kirche? Wie konnten später alle diese ergreifenden Auferstehungsbilder der großen Maler, eines Raffael, eines Grünewald, der zahllosen ingeniösen Imaginationen noch glaubwürdig vor Augen treten? Schmückten die Evangelien bloß dramatische Fiktionen aus, wiesen sie nur Glaubenswege ohne feste Trasse? Die Hoffnung der Erlösungs-, der Trostbedürftigen, der Armen und Verzweifelten, die Aussicht auf ewiges Leben, die Jesus verkündet und durch seine Auferstehung bestätigt haben soll: alles nur eitel? Entstanden das Christentum und seine Kirchen aus einem eitlen Trugbild, aus einer Fiktion?
Wie tragfähig ist die medizinisch geleitete Erkenntnis, die für dermaßen folgenreiche Urteile verantwortlich zeichnet, und wie berechtigt ist es, die Antwort auf derartige Fragen dem für sie maßgeblichen Sterbensbericht des Johannes-Evangeliums abzugewinnen? Die Antwort führt nicht nur ans Kreuz zurück; sie verlangt vor allem zweifelsfrei geklärte, objektive Sachverhalte, die unverstellte Einblicke in Jesu Geschick und in die durch dasselbe begründete Entfaltung der Urkirche gewähren. Wie hätten das Christentum und seine Kirchen ohne den Stimulus realer Todüberwindung ihres Herrn neben den zahlreichen messianischen jüdischen Glaubensangeboten oder den vielen heidnischen Einweihungskulten entstehen, sich unter deren Druck behaupten und gegen sie verbreiten können? Wie ohne göttliche Heilsbotschaft Überzeugungskraft gewinnen können?
Die Antwort, die mein Buch Kein Tod auf Golgatha nahelegte, gefiel den meisten Theologen, vermutlich auch manchem Historiker nicht. Nonsens! So lautete denn auch kurz und bündig ein rasch hingeworfenes Urteil. Doch wem galt es? Der von mir aufgegriffenen Leben-Jesu-Forschung? Dem Einsatz medizinischer Erkenntnisse für die Wirkungen und Folgen einer Kreuzigung mit dem Pleuraerguss? Dem Zusammenspiel beider? Der theologischen Grundlage jener Antwort? Gar den ekklesiologischen Konsequenzen derselben?
Wie auch immer, Schadenfreude verdeckte die Brisanz der Suche nach dem frühchristlichen Umgang mit Kreuzigung, Grab, Auferstehungsrede und ihrer Bedeutung für die entstehende Kirche. Welche sachliche Realität stand hinter ihnen? Offenbar besteht noch immer Klärungsbedarf über das historische Geschehen. Schadenfreude aber ist keine Erkenntnismaxime. Die Historie wird nicht in Segmente unterteilt, die nur ein Fachspezialist berühren darf. Die Religions- und Kirchengeschichte verlangt den offenen, weiten, Jahrhunderte überschauenden Blick. Disziplinär konditionierte Nabelschau würde die gesamte Kirchengeschichte in die Irre führen. Da hallte aus der Ferne noch immer jener «Weheruf» herüber.
Hat die Medizin zum langsamen Sterben am Kreuz nichts zu sagen? Darf der Laie nicht erfassen, was ein Pleuraerguss ist, wie ein solcher wirkt und geheilt werden kann? Um ihn ging es bei meinen Ausflügen in die Medizin. Ich ging dabei anhand des Passionsberichts im Johannes-Evangelium, den ich für vertrauenswürdig halte, der Möglichkeit nach, dass Jesus infolge der Geißelung einen Pleuraerguss an einem Lungenflügel erlitt, am Kreuz in ein Koma fiel und durch den Lanzenstich eines Soldaten – medizinisch die Punktierung der mit Wasser gefüllten Pleurahöhle – und durch die frühe Abnahme vom Kreuz gerettet wurde. War Jesus kein Mensch? Hatten die überlebte Kreuzigung und die glückliche, von den Evangelisten bezeugte Grabflucht keine Folgen für die entstehende Kirche? Noch immer treffen Kritiken und Zuschriften ein, die das medizinische Argument nicht würdigen können, seine Konsequenzen kategorisch bestreiten und mir Hypothesensequenzen attestieren. Ich muss also zurückblenden, um plausiblere Erkenntnisse zur Geltung zu bringen und um die Erforschung der kirchlichen Urgeschichte auf einen tragfähigen, methodisch gesicherten Boden zu stellen.
Vorurteilsgesättigte Skepsis gegen die medizinische Analyse der Passionserzählung im Johannes-Evangelium erklärte deren relevante Kapitel für bloße Erzählung und nicht für das Ergebnis realer Wahrnehmung; sie misstraute dem medizinischen Befund im Kontext der Passionsdarstellung und betonte stattdessen, dass dieses Evangelium im Gegensatz zu den synoptischen Evangelien, zumal zu deren angeblich ältestem, jenem des Markus, von Anfang bis Ende die leibliche Gottessohnschaft Jesu vertrete, also rein theologisch operiere und eben deshalb in historischem Sinn weniger brauchbar sei als jene. Zudem verhießen tatsächlich die sich abzeichnenden Konsequenzen eines Weiterlebens Jesu für das frühe Christentum und die Urkirche Gefahr über Gefahr.
Man will, obwohl allein der Sterbensbericht des vierten Evangeliums zur Diskussion stand, die Theologie des gesamten Johannes-Evangeliums gegen die sachliche Zuverlässigkeit seiner Passionsdarstellung ausspielen. Biblische Weissagungen und Prophetenzitate würden seine Version nicht bloß ausschmücken, sondern als leitendes Darstellungsmotiv in ihrer Sachlichkeit erschüttern. Das sind Missdeutungen. Sie fordern eine strenge Untersuchung, die unmissverständlich die sachliche Zuverlässigkeit der Johannes-Passion herauszustellen vermag. Sie verlangt die Bereitschaft, sachlicher historischer Argumentation zu folgen. Es geht schließlich um nichts weniger als um die Glaubwürdigkeit der Kirche und um ihre Frühgeschichte.
Paulus kontert derartige Sorgen. Denn die älteste Bekenntnisformel, die bis heute gilt, die er, diese urchristliche Autorität, überliefert, weist den Weg. Der bibelfeste Pharisäer beschrieb mit ihr ein reales Geschehen, eben gerade Jesu Tod, mit Verweis auf die Bibel: Jesus Christus sei gestorben nach den Schriften, begraben und am dritten Tage aufgewacht nach den Schriften (1Kor 15,3–4). Durften sich die ersten Christen erlauben, was heutige Theologen dem Evangelisten Johannes verbieten? Oder erschüttert der Schriftbeweis die Glaubensformel? Waltet zweierlei Maß, exegetische Willkür? Oder erlaubt der Verweis auf Schriftzitate noch eine andere Deutungsmöglichkeit jener Schriftworte?[4]
Ich muss für die folgende Untersuchung einiges aus meinem früheren Buch in Erinnerung rufen, vieles ergänzen, viel mehr noch hinzufügen. Im Mittelpunkt stehen nach wie vor geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse zu jenen Texten, die uns Informationen zu den ersten Anfängen des Christentums geben können; sie erfordern historische Argumentation und Methoden historischer Textanalyse im Kontext religiöser Zeugnisse. Das Aufbrechen hermetischer, geschlossener Zirkel theologischer Exegesen ist dabei nicht intendiert, ergibt sich vielleicht aber als Folge.
Die Theologie bewegt sich zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, das sei für die frühere und die vorliegende Untersuchung betont, in einem anderen Referenzrahmen als die Geschichtswissenschaft; sie folgt neben methodischen Voraussetzungen ihrem Bekenntnis, erkennt unvermeidlich normative und dogmatische Vorgaben an. Beider Wissenschaftssprachen unterscheiden sich zudem, beider Grundprämissen lassen ihr Erkennen je andere Wege beschreiten, selbst wenn sie sich demselben Geschehen zuwenden und ähnliche Ziele verfolgen.
Ich will die Ursachen jenes Geschehens erforschen, dem ich mich zuwende; ich will seine Wirkungen beobachten und verfolgen und klären, warum sie so eintraten, wie sie eintraten. Die irdischen, die säkularen Bedingungen jenes Geschehens sollen erfasst werden, aus dem die christliche Religion und ihre Kirchen hervorgingen. Täter und Opfer sollen benannt werden. Das alles muss freilich für die Argumentation den religiösen Glauben ausklammern, muss ihn bewusst ausschalten. Doch lässt sich nicht vermeiden, dass das schlichte, unreflektierte Nachbeten von Autoritäten, die uns einst in die eigenen Glaubenswelten eingeführt haben, seien es Vormünder, Lehrer oder moralische Vorbilder, infrage gestellt wird. Das Eindringen in Herkunft und Entstehung der Glaubensmaximen lässt im Gegenzug die Gläubigen frei werden, lässt sie eigenständig über ihren Geist verfügen.
Zu all dem muss weiter ausgeholt, ausführlicher als bislang der Frage nach dem traditionellen, konfessionell vorgegebenen, unreflektierten Wissen nachgegangen werden, das der Erforschung von Entfaltung und Fundierung des frühen Christentums zugrunde liegt. Das Überleben des Nazoräers Jesus stand in meinem früheren Buch im Zentrum; jetzt rücken dessen Wirkung und die frühe Entfaltung der Christenheit in den Fokus. Dabei treten mehr und mehr Paulus und die Entstehung der Evangelien hervor.
Die Quellenlage zur Ur- und Frühgeschichte des Christentums ist bekanntermaßen katastrophal. Sie verlangt wieder und wieder nach vorurteilsloser Prüfung der wenigen verfügbaren Zeugnisse. Umso stärker fordert sie kritische historische Forschung. Wer aufklären muss, darf nicht immer wieder dieselben Texte umbetten wollen, muss ungewohnte Fragen stellen, mitunter auch von ungewohnten Disziplinen Rat erbitten und ungewohnte Ergebnisse in Kauf nehmen, vielleicht sogar den Mut zu Antworten finden, die sich vom theologischen und kirchenhistorischen Mainstream nicht irritieren lassen.
Noch einmal: Jesus war ein gläubiger Jude, kein Christ. Doch das Judentum seiner Zeit bildete keine Einheit; es zerfiel in unterschiedliche, einander nicht immer freundlich gesinnte Gruppen. Der Geschichtsschreiber Josephus beschrieb ihrer drei: Sadduzäer, Pharisäer und Essener (b. J. 2,119–61), ohne dass diese Dreiteilung die Zersplitterung der Judenheit im früheren ersten Jahrhundert schon vollends erfasste. Daneben gab es unterschiedliche kleinere Gruppierungen wie etwa die Leute in Qumran, deren Lehren fragmentarisch durch apokryphe Texte überliefert sind und unter denen die «binitarische» Vorstellung zweier göttlicher Wesen im Himmel verbreitet war. Die Sadduzäer stellten den Hohepriester, leiteten den Tempelkult und führten den Sanhedrin, den Hohen Rat, der an den Tempel gebunden war und als politisches Führungsorgan gerade auch im Kontakt mit der römischen Besatzungsmacht wirkte. Die Pharisäer waren ihre schärfsten Konkurrenten in der theologischen Formung des Volkes. Jesus stand, wie viele seiner echten Logien (Worte) bezeugen, gerade ihnen nahe.
Der Einfluss dieser Priesterschaft aber zerbrach mit der Zerstörung des Tempels im Jahr 70 und damit lange vor der Abfassungszeit der ersten Evangelien. Fortan fiel die geistige Führung der Judenschaft allein den Pharisäern zu und ihren Rabbinen, während die Sadduzäer im Urteil der Evangelisten als die Gegner Christi und seiner Jünger verurteilt wurden. Was diese Autoren indessen über «die Juden» der Jesus-Zeit boten, war tatsächlich durch mehrere Brüche im Geschehen und in der Weitergabe von Überlieferungen deformiert. Sie, hellenisierte Christen, wussten wenig Genaues über die religiösen Verhältnisse der Jesus-Zeit und kolportierten zumal feindselige Gegenwartsmeinungen.
Was sie ausführten, war durch die Katastrophen gefiltert, die der jüdische Aufstand, die Tempelzerstörung und der Krieg für die Judenheit bedeuteten. Verdammt wurde von den Evangelisten nicht das siegreiche Rom, sondern die unterlegene Tempelpriesterschaft der Sadduzäer, die als «die Juden» zu Christi Feinden schlechthin stilisiert wurde. Verdammt wurden zugleich auch die Pharisäer, die zur Zeit der Abfassung der Evangelien das durch den Schock der Tempelzerstörung irritierte Judentum geistig erneuerten und somit in den Fokus der antijüdischen Perspektiven der frühen Christen gerieten. In ihren Reihen entstand aber der erste, der Jerusalemer Talmud.
Die Essener entziehen sich genauerer historischer Erfassung; sie schwiegen über sich. Sie wirkten fast wie ein Orden. Frauen traten unter ihnen nicht hervor. Ihre Lehren orientierten sich an strengen Maßstäben, ähnlich Asketen. Auch die Pharisäer hinterließen keine historischen Schriften. Doch folgten sie streng der Tora, hielten die Festtage ein, gehorchten den Geboten. Das freilich trennte sie kaum grundsätzlich von anderen jüdischen Gemeinschaften.
Paulus kam aus ihren Reihen. Seine Theologie gründete nicht in den Lehren des Nazoräers Jesus, sondern in den Traditionen der Bibel mit Tora, Propheten, Psalmen und den weiteren kleineren Büchern; vor allem folgte er den Geboten des Gesetzes, der Halacha. In diesen Schriften fand Paulus die Prophetien, die Normen, die er seinen Gläubigen zuwies, auch Verweise auf den Messias, den er mit dem Christus seiner Vision identifizierte.[5] Genaueres über seine theologische Vorbildung ist freilich nicht bekannt. Der Messias jüdischer Erwartung ist indessen kein vorgeburtlich existentes Gotteswesen, sondern ein vom Herrn erwählter, gesegneter, berufener Mensch.
Paulus dürfte seine pharisäische Grundhaltung auch als Verkünder des Christus Jesus beibehalten haben. Ein Jesus-Mann wurde er nie. Blieb er auch nach seiner Vision im Herzen ein Pharisäer? Wer könnte schon seine maßgebliche geistige Formung durch eine noch so überwältigende seelische Erschütterung vollkommen umkrempeln oder über Bord werfen! Verbergen sich also in Paulus’ Lehre und zumal in seiner Ethik pharisäische Überzeugungen? Der schlichte Historiker vermag auf diese gewiss ketzerische, doch dringliche Frage keine Antwort zu geben.
Wie weit Paulus sich damit von dem historischen Jesus entfernte, ist nicht überzeugend zu klären. Doch den Tempelkult propagierte er, der einstige Pharisäer aus der Provinz, nach Ausweis seiner Briefe nie. Dieser Kult aber bildete die Mitte der Religion und ihrer Praxis in Jerusalem. Jenes prachtvolle Bauwerk, das Herodes der Große hatte errichten und zu dessen Vollendung er 300 Ochsen hatte opfern lassen,[6] zog Jahr für Jahr Tausende Gläubige von nah und fern aus der gesamten jüdischen Diaspora nach der Heiligen Stadt, um dort ihre Gaben darzubringen. Aus ihm wollte Jesus die Geldwechsler vertreiben. Nur hier durften die religiösen Opfer vollzogen werden. Daneben gab es diasporaweit Synagogen, die für Lehre und Gebet die Sorge trugen. Jesus nahm an beiden Stätten am Kult teil.
Die Zeugnisse zum Urchristentum selbst sind mehr als rar.[7] Paulus als ältester namentlich genannter Zeuge schweigt und spricht nur von sich; der von ihm zitierte Philipperhymnus (Phil 2,5–11) verrät zu wenig; die Didache, die Lehre der zwölf Apostel, ist zwar spät (um 100), liefert aber doch einige Hinweise;[8] entsprechend der Barnabasbrief. Der Bericht des nach Überlieferungen schürfenden Bischofs Papias (vor 115) bietet einige kostbare Einzelheiten, ist aber nur fragmentarisch erhalten; das Thomas-Evangelium darf trotz seiner problematischen Gestalt und Überlieferung keinesfalls ausgeklammert werden. Die vier Evangelien endlich sind so spät und durch so gravierende Umbrüche in der frühchristlichen Umwelt geformt, dass kaum mit einwandfreien historisch belastbaren Informationen gerechnet werden darf, auch wenn einzelne ältere schriftliche Vorlagen wie etwa die Semeia-Schrift und ein Passionsbericht für das Johannes-Evangelium erschlossen wurden.
Die eben aufgelisteten frühesten Zeugnisse zum Christentum sind ihrem historischen (nicht ihrem theologischen) Inhalt nach und quellenkritisch betrachtet überaus dürftig. Sie sind randseitig, offerieren nur ein gerüchtereiches, extrem selektiertes Material, sind bruchstückhaft, umstritten, oftmals von frühchristlichen Zeitgenossen schon abgelehnt. Die theologische Evangelienkritik der letzten zwei Jahrhunderte konnte die Defekte keineswegs umfassend heilen; sie hat trotz aller Fortschritte doch keine Gewissheit über das Geschehen auf Golgatha und dessen unmittelbare Folgen gewinnen können. Außertheologische Disziplinen – im vorliegenden Fall die Unfallmedizin – haben freilich den Erkenntnisrahmen erweitert. Doch ihr Einsatz findet keineswegs nur Freunde. Im Gegenteil: Die Berufung auf sie gab Anlass zur Disqualifikation der Ergebnisse.
Wer von diesen eiligen Richtern aber dürfte für sich in Anspruch nehmen, die historische Wahrheit in Händen zu halten? Wer dürfte es wagen, jüdische Kritik an diesem Glauben oder muslimische Gegnerschaft gegen Christi Auferstehung Nonsens zu nennen? Selbst atheistische Zweifel am Dogma sind nicht schlechthin Unsinn. Wer freilich im Wissen um den Glauben und in Kenntnis der Kirchen- und Konfessionsgeschichte die Lehrmeinung irgendwelcher kirchlicher Obrigkeiten nicht fraglos hinnimmt, wird geächtet, diskriminiert und ausgestoßen. Kritische Auseinandersetzungen sind in diesem Milieu offenbar noch immer nicht erwünscht. Seit vielen Jahrhunderten ist das so. Berühmte Professoren der Universitäten in Tübingen, Göttingen oder Mailand können auch heute noch entsprechende Auskünfte erteilen. Gefordert ist dennoch angesichts allseits wachsender Zweifel an der Dogmatik und bei einem glaubwürdigen Johannes-Evangelium ein Nachdenken über Religion, über deren Grundlagen und die Triebkräfte ihrer frühesten Entfaltung bis zur ersten Kirchenbildung.
Das Ergebnis verlangt ohne Zweifel ein radikales Umdenken im Hinblick auf die frühe Kirchengeschichte und ihre Glaubenshorizonte. Derartiges schmeckt selten gut. Doch wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen. Wer aber folgt schon gerne in so beschwerlichem Tun? Es ist allemal gemütlicher, sich vom Strom treiben zu lassen. Unbequem ist allein schon die Frage nach der Bewältigung von Kreuz und Grab durch die Jünger und Jesu nächste Freunde. Wie verarbeiteten sie das eben Erlebte? Alles, was man zu wissen glaubt, ist den späten Evangelien entnommen, nämlich höchst problematischen, da von diesem und jenem Gedächtnis modulierten, einander widersprechenden Quellen.[9]
Paulus mied die Information durch die Jünger eher, als dass er sich an ihren Erfahrungen und an ihrem Wissen orientierte; eigene Forschungen zum Jesus-Komplex oder zu den Berichten ihrer unmittelbaren Zeitgenossen verfolgte er nicht. Sein Konflikt mit der konservativen, judaisierenden Gruppe von Jüngern in Jerusalem, die sich um den Herrenbruder Jakobus gebildet hatte, verrät Diskrepanzen, die bis tief in das frühe Christentum hineinwirkten und zu dauernden Spaltungen führten. Elf Jünger (ohne Judas Iskariot) produzierten elf verschiedene Erinnerungen und keine einheitliche Darstellung von Jesu Leben und Lehre und deren Verkündung. Damit gilt es sich auseinanderzusetzen.
Betroffen von dieser Untersuchung sind, das dürfte deutlich geworden sein, die grundlegenden Dogmen des christlichen Glaubens, nämlich Jesu Tod am Kreuz und seine leibliche Auferstehung, betroffen sind zumal die Lehren des Apostels Paulus und weitere Hinweise auf frühchristliche Traditionen. Auch Juden und Muslime können dabei auf einiges für sie Glaubenswidrige stoßen. Sollte alles, was einst verkündet wurde und noch heute gilt, bloß Erfindung, nur ein Produkt schöpferischer religiöser Phantasie gewesen sein? Vielleicht tröstet jene, die nach dem historischen Jesus forschen, über die sachlichen Schwierigkeiten und persönlichen Anfeindungen Joh 8,32 gleichermaßen hinweg: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Freiheit durch Wahrheit, nicht durch gebotene Dogmatik, die den Glauben für Wahrheit hält.