Kein Tod auf Golgatha - Johannes Fried - E-Book

Kein Tod auf Golgatha E-Book

Johannes Fried

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Beschreibung

Was wissen wir zuverlässig über Jesus? Dass er gelebt hat und um das Jahr 30 gekreuzigt wurde, gilt als Minimalkonsens. Der renommierte Historiker Johannes Fried geht noch einen Schritt weiter: Medizinische Erkenntnisse legen nahe, dass Jesus die Kreuzigung überlebt hat. Von hier aus begibt sich Fried auf eine höchst spannende Spurensuche nach dem überlebenden Jesus, die von den Evangelien über Fragmente "häretischer" Schriften bis zum Koran führt.
Folgt man dem nüchternen Kreuzigungsbericht des Johannes, erlitt Jesus bei der Folterung eine Lungenverletzung und fiel am Kreuz in eine todesähnliche Kohlendioxidnarkose. Nur eine gezielte Punktion kann das Leben retten, und genau dafür sorgte der Lanzenstich eines römischen Kriegsknechts. Jesus wurde ungewöhnlich früh vom Kreuz abgenommen, ins Grab gelegt und bald darauf lebend gesehen. Johannes Fried beschreibt, wie sich in der Folge im Römischen Reich die Theologie vom auferstandenen Gottessohn verbreitete, während Jesus in Ostsyrien als Mensch und Gesandter Gottes verehrt wurde. Diese Lehre wurde verketzert und ist nur noch in Fragmenten greifbar, aber gerade hier könnten sich Spuren von Jesu weiterem Wirken außerhalb des Zugriffs der römischen Staatsgewalt finden, die bis zur Frühgeschichte des Islams führen.

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Johannes Fried

Kein Tod auf Golgatha

Auf der Suche nach dem überlebenden Jesus

C.H.BECK

Zum Buch

Was wissen wir zuverlässig über Jesus? Dass er gelebt hat und um das Jahr 30 gekreuzigt wurde, gilt als Minimalkonsens. Der renommierte Historiker Johannes Fried geht noch einen Schritt weiter: Medizinische Erkenntnisse legen nahe, dass Jesus die Kreuzigung überlebt hat. Von hier aus begibt sich Fried auf eine höchst spannende Spurensuche nach dem überlebenden Jesus, die von den Evangelien über Fragmente «häretischer» Schriften bis zum Koran führt.

Folgt man dem nüchternen Kreuzigungsbericht des Johannes, erlitt Jesus bei der Folterung eine Lungenverletzung und fiel am Kreuz in eine todesähnliche Kohlendioxidnarkose. Nur eine gezielte Punktion kann das Leben retten, und genau dafür sorgte der Lanzenstich eines römischen Kriegsknechts. Jesus wurde ungewöhnlich früh vom Kreuz abgenommen, ins Grab gelegt und bald darauf lebend gesehen. Johannes Fried beschreibt, wie sich in der Folge im Römischen Reich die Theologie vom auferstandenen Gottessohn verbreitete, während Jesus in Ostsyrien als Mensch und Gesandter Gottes verehrt wurde. Diese Lehre wurde verketzert und ist nur noch in Fragmenten greifbar, aber gerade hier könnten sich Spuren von Jesu weiterem Wirken außerhalb des Zugriffs der römischen Staatsgewalt finden, die bis zur Frühgeschichte des Islams führen. Im Koran heißt es: «Sie haben ihn nicht getötet, … es kam ihnen nur so vor.»

Über den Autor

Johannes Fried ist Professor em. für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Frankfurt und Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Er war Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Historikerpreis (1995) und dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (2006). Bei C.H.Beck erschienen von ihm u.a. «Das Mittelalter» (4. Aufl. 2009) und «Karl der Große» (5. Aufl. 2016).

Inhalt

Vorwort

1. Jesu Tod und Auferstehung durch zweitausend Jahre

Das Ringen der Theologie

Der Jünger, den Jesus liebte

2. Medizinische Beobachtungen und ihre Konsequenzen

Die Zweifel der Chirurgen

Jesu Sterben im Johannesevangelium

Das leere Grab

Paulus und die frühen Glaubensbekenntnisse

Fazit

3. Auferstehung

Kreuzigung

Die Auferstehungsbotschaft

4. Himmelfahrt

Aus Jerusalem verschwinden

Die Helfer

Konkurrierende Geschichten

5. Rettende Emigration

Rückzugsorte 1: Die Dekapolis

Rückzugsorte 2: Ägypten

Noch einmal Jerusalem?

Rückzugsorte 3: Ostsyrien

6. Nachwirkungen

Jesus, der Mensch: «Häresien» im Osten

Der Gesandte Gottes: Auf dem Weg zum Islam

Zusammenfassung und Schluss

Epilog

Anmerkungen

1. Jesu Tod und Auferstehung durch zweitausend Jahre

2. Medizinische Beobachtungen und ihre Konsequenzen

3. Auferstehung

4. Himmelfahrt

5. Rettende Emigration

6. Nachwirkungen

Zusammenfassung und Schluss

Literatur

Bildnachweis

Vorwort

Das folgende Schriftchen besitzt eine Vorgeschichte. Der renommierte Biologe Volker Storch drückte mir eines Tages einen kleinen Artikel in die Hand, der mich aufs Höchste beunruhigte. Die Künstlerin Beate Sellin ermunterte mich: Ich müsse das eigens festhalten und als Ganzes darstellen. Der bedeutende Politologe Klaus von Beyme forderte mich auf, daraus ein Büchlein zu machen, mit vielleicht siebzig bis achtzig Seiten Umfang. Meine Söhne und Frankfurter Mitarbeiter empfahlen, die Geschichte zu einem Kriminalroman auszuspinnen, gleichsam zu einer Art «Jesuskonvolut». Meine Frau warnte, ein Krimi wäre angesichts des Themas nur blasphemisch. So wurde der Text zu dem, was er jetzt ist: eine hypothesenreiche historische Abhandlung, die mir – dessen bin ich mir gewiss – endlosen Widerspruch und Feindschaften einbringen wird. Eine erste Kontrolle verdanke ich meinem Kollegen und Freund Heribert Müller. Bernhard Lang schulde ich sachkundige Hinweise. Meinem Lektor Ulrich Nolte habe ich nachdrücklich für seine kennntis- und hilfreiche Betreuung des Buches zu danken.

Das Stichwort «Kriminalroman» freilich erinnerte mich doch an einen solchen: «Ein Trip zur Hölle» war der Titel; sein Autor hieß Samuel M. Wolffe. Ich hatte ihn vor vielen Jahren gelesen, den Plot aber längst vergessen. Ausgeschnitten hatte ich allerdings die beängstigende Traumvision des Privatdetektivs (sein Name war John Lewis). Der Zettel diente mir fortan zur Mahnung und Warnung und oftmals auch als Buchzeichen. «Wenn ich», so hatte ich exzerpiert, «künftig auffahre und an die Pforte poche und der heilige Petrus öffnet, wird sich seine Miene versteinern: ‹Lewis? John Lewis?›, so wird er fragen. ‹John›, so wird er sagen, ‹John, hinab! Hinab zur Hölle!› Vielleicht würde ich dann aufblicken, ihm in die Augen schauen und antworten: ‹Schimʾon! Wie war das mit dem Hahn? Kephas! Was ist Wahrheit?›»

Die Suche danach, so registriere ich seitdem, die Suche nach Wahrheit ist immer gefährlich. Ich fürchtete mich vor ihr und fürchte sie noch immer.

1. Jesu Tod und Auferstehung durch zweitausend Jahre

Gekreuzigt, begraben, auferstanden – welch ungeheure Botschaft. Für den modernen, heutigen Verstand zu begreifen unmöglich, nahezu undenkbar, kaum glaubhaft und dennoch durch zweitausend Jahre wirksam, von vier Evangelien und einigen apokryphen Texten im Modus der Realität erzählt und überzeugend vertieft. Eine Forderung nach gläubigem Erkennen und Bekennen. Geheimnis über Geheimnis. Gleichwohl: Jesus hat gelebt. Er hat – für wen immer er galt oder noch immer gilt – auf der Erde, in deren Vergänglichkeit, gewirkt. So muss jenseits aller Transzendenz sein Wirken mit irdischem Verstand, mit menschlichen Mitteln, durch historische Forschung zu erfassen sein.

Jesu Tod am Kreuz, seine Auferstehung und Himmelfahrt haben unablässig Theologen und Philosophen der gesamten Christenheit herausgefordert, auch deren Gegner. Sie suchten nach den zugrunde liegenden Vorbildern und Erzählmustern, um die Rätsel zu lösen.[1] Unendlich viel Gelehrsamkeit ist in den vergangenen zweitausend Jahren in dieses Bemühen geflossen. Sie galt dem Kern der christlichen Botschaft, die Hoffnung auf Erlösung aus aller Not und tröstliche Heilsgewissheit weckte. Christi Überwindung des Todes verhieß eine künftige Auferstehung, ewiges Leben. Die frühen Christen deuteten die Auferstehung historisch, buchstäblich als Auferstehung des Fleisches, des ganzen Menschen; sie hatten sie so erlebt und erzählten sie entsprechend. Sie gehörte zu den ältesten, durch den Apostel Paulus bezeugten Glaubensformeln und findet sich noch heute im Glaubensbekenntnis. «Jesus Christus … gekreuzigt, gestorben und begraben, … am dritten Tage auferstanden von den Toten …». Daran gab es nichts zu rütteln. Doch «leiblich»? Wie war das möglich?

Wir alle kennen Geschichten, Themen, Fragen, die uns überfallen; die wir uns nicht aussuchen, denen wir aber auch nicht ausweichen können, wenn sie uns vorgelegt werden, die unvermutet plötzlich auf uns zukommen, uns bedrängen, uns überwältigen und uns in ein unbändiges, auch angsterfülltes Wissen-Wollen hineintreiben. Nicht für jeden von uns sind es die gleichen Fragen, die erschüttern. Jeder schleppt seine eigenen Erinnerungen und Schicksale mit sich, die sein Handeln lenken. So gleichen sich auch nicht die aufwühlenden Inhalte, sondern die Wucht ihres Ansturms, der Unausweichlichkeit, sich ihnen stellen zu müssen, und die Verwandlungsmacht, die von diesem bedrängenden Wissen-Wollen ausgeht.

Ein kurzer Artikel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift war es,[2] der mich erschütterte, der mich zu wissen verlangte: Wie starb Jesus «von Nazareth», der gekreuzigte Gottessohn? Hatten die Evangelisten und andere Christen jener Anfangsjahre der Kirche seinen Tod nicht deutlich beschrieben? Gab es Zweifel? Sein Opfertod leitete das Heil für die Menschheit ein, die folgende Auferstehung gab dem Leben Sinn, verhieß eine beseligende Zukunft, Trost im Leid; er ließ auf das Ende aller Angst hoffen. In der Welt habt ihr Angst, fasset Mut, ich habe die Welt überwunden (Joh 16,33). Wurde es vergebens verkündet?

Das Ringen der Theologie

Zweifel am Wunder der Auferstehung meldeten sich frühzeitig. Zumal Heiden und traditionsbewusste, dem Tempelkult nahestehende Juden fanden sich nicht mit der Auferstehung jenes Mannes ab, den sie verurteilt hatten oder zumindest aufs schärfste bestraft wissen wollten. Solche Skepsis nötigte die christliche Seite alsbald zu Legitimationsstrategien und Klärungen, stürzte sie nur zu bald in dogmatische Kämpfe. Früh warfen ihre Gegner den Jesus-Leuten Betrug vor. Sie hätten den Leichnam aus dem Grab gestohlen, dann auf das leere Grab verwiesen und die Auferstehung des Gekreuzigten behauptet. Der Evangelist Matthäus (28,12–​15) erwähnt diese Anschuldigungen bereits; man habe sogar vorbeugend Wachsoldaten am Grab postiert, die aber nichts gemerkt hätten und anschließend für eine Diebstahlslüge bestochen worden seien. Als glaubhaft gilt es nicht. Der Evangelist Johannes urteilte denn auch viel zurückhaltender und sachlicher als Matthäus (Joh 20,2): «Sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grab, und wir wissen nicht wohin.» Schon gleich nach dem Geschehen und immer wieder danach wurde der Betrugsverdacht kolportiert und als Gerücht verbreitet. Juden und Heiden hätten, so hieß es dann, mit diesem Diebstahl die Feindschaft gegen die neue Religion begründet. Ganz ausräumen ließ sich der Verdacht freilich nicht.[3] Droht damit nicht Glaubensverlust? Dürfen wir derartigen Zweifeln weiter nachgehen? An der Wahrheit des Geglaubten zweifeln?

Der Thesenschöpfung waren keine Grenzen gesetzt. Einige Protagonisten verstanden sich zu der Behauptung, der Gekreuzigte sei gar kein Mensch gewesen, am Kreuz habe bloß ein Scheinleib gehangen (Doketismus). Der gottgleiche Jesus Christus sei also nicht gestorben. Schon die Evangelien und andere frühchristliche Texte bezogen Stellung gegen diese Position: Jesus «ist wahrhaft auferstanden». Immer wieder erneuerten sie diese Botschaft. Gottes Sohn wurde geboren, (…) Gottes Sohn ist gestorben, das ist erst recht glaubwürdig, weil es eine Torheit ist, er wurde begraben und ist auferstanden – das ist sicher, weil es unmöglich ist.[4] So postulierte es der christliche Apologet Tertullian in seiner Auseinandersetzung mit dem «Erzketzer» Markion (um 180). Die Unglaublichkeit der leiblichen Auferstehung beweise mithin die Wahrheit der Botschaft. Man müsse sie glauben. Gilt das nun nicht mehr?

Leibfeindliche, doketistische Vorstellungen verbreiteten sich im früheren zweiten Jahrhundert in gnostischen Kreisen.[5] Markion, selbst vielleicht kein Gnostiker, habe eine solche These vertreten, mithin Tod, fleischliche Auferstehung und Himmelfahrt geleugnet; so wurde behauptet (vor 150).[6] Andere meinten, Simon von Kyrene, der nach dem übereinstimmenden Bericht der synoptischen Evangelien Jesus auf dem Weg zur Richtstätte das Kreuz trug, habe Jesu Leib angenommen und sei für ihn gestorben. Nach seiner Hilfeleistung verschwand Simon aus der Überlieferung. Irenäus von Lyon widmete seine Schrift gegen die Häretiker nicht zuletzt der Auseinandersetzung mit christlichen Gnostikern und dem Doketismus. Sein Schüler Hippolyt von Rom setzte die Abwehr der Ketzer mit seinem Werk Refutatio omnium haeresium fort. Doch so deutlich auch Stellung gegen die Gnosis bezogen wurde, eben dadurch wurde diese nicht vergessen, konnte überdauern und sich weiterverbreiten; ihre Gedanken wurden bis in unsere Gegenwart bewahrt und erneuert.

Irenäus überlieferte Fragmente der häretischen, doketistischen Lehre des Gnostikers Basilides von Alexandria; eines betrifft die Auferstehung: Jesus, Gottes «erstgeborener Geist» (nous), sei in Menschengestalt auf die Erde entsandt worden, habe Wunder vollbracht und den Tod nicht erlitten; er habe vielmehr dem Simon seine eigene Gestalt verliehen und selbst die des Simon angenommen, sodass eben dieser am Kreuz gestorben sei, während Jesus lachend beiseite stand. «Denn er war eine körperlose Macht und Geist (nous) des ungeborenen Vaters; so konnte er sich transfigurieren, wie er wollte.» (Adv. haer. I,24,4) Derartiger Doketismus gefährdete die Heilszuversicht, denn Jesu leibliche Auferstehung – unmöglich – verhieß auch für die Gläubigen eine künftige Auferstehung. Der Doketismus musste zurückgewiesen werden; das gelang nur, indem solche Lehrmeinungen als häretisch abqualifiziert wurden.[7] Häretiker wurden in die Hölle verbannt. Auch das koptische, in seiner Deutung umstrittene Judasevangelium, ein erst 1976 entdeckter Text einer gnostischen Sekte etwa aus der Mitte des zweiten Jahrhunderts und damit nur unwesentlich jünger als die kanonischen Evangelien, sieht in Jesus eher ein Geistwesen als einen Menschen; einer leiblichen Auferstehung scheint der Gnostiker nicht bedürftig gewesen zu sein.

Solcherart Beispiele ließen sich vermehren; wir werden sie hier nicht weiter verfolgen. Nur auf eines sei noch verwiesen. Im fünften und sechsten Jahrhundert führte die Auseinandersetzung um die Christologie zu einer Theologie, die von der trinitarischen Position des Konzils von Nicaea (325) abwich. Sie lehrte die unauflösbare Einheit von Christi göttlicher und menschlicher Natur: Sein Menschsein vereinte sich mit seiner Göttlichkeit wie ein Tropfen Honig im Meer. In den Kreisen dieser «Miaphysiten» (oder Monophysiten) erörterte man auch die Frage nach Tod und Auferstehung Christi. So finden sich in einem bischöflichen Schreiben an den Stratelates von al-Hirah (Zentralirak, heute wüst), das zum Sassanidenreich gehörte, zentrale christologische Fragen: War die Gestalt Jesu am Kreuz pure Einbildung? War ein anderer an seiner Stelle gekreuzigt worden, und waren somit zwei Personen beteiligt? Derartige Fragen sollten ein Jahrhundert später im Koran (4,157) ihren Niederschlag finden.[8]

Alle diese Beispiele zeigen, wie sehr die frühen Christen und ihre Gegner mit dem Komplex von Tod und Auferstehung Jesu rangen, mit dem Menschsein des Gottes, mit der Göttlichkeit des Menschen; wie auch immer die Dogmen formuliert wurden, sie wurden ihnen als Glaubensverpflichtung zugemutet. Die menschlichen Erfahrungen reichten schlechthin nicht aus, das Wunder der Auferstehung zu fassen, welche Erzählmuster auch immer eingesetzt wurden. Die Neuzeit sollte diesen Imaginationen nicht allzu viel hinzuzufügen haben.

Der «Fortschritt» im Gebrauch der Vernunft weckte dann Zweifel, verlangte nach einer ihm gemäßen, vernünftigen Deutung; die Entfaltung der exakten Naturwissenschaften verwies die Auferstehung in das Reich der Visionen, psychisch höchst wirksam, aber sachlich irreal. Die Betrugstheorie, die ja schon im Frühchristentum kursierte, wurde von Hermann Samuel Reimarus wieder aufgegriffen (posthum von Lessing 1778 publiziert). Alsbald folgte die Hypothese eines Scheintods. Ihr Urheber könnte Karl Friedrich Bahrdt gewesen sein, ein protestantischer Theologe und Freimaurer, der Jesus eine Art Illuminatenorden gründen ließ, in den er sich nach seinem Pseudotod zurückgezogen habe.[9]

Die These fand viele Anhänger, unter ihnen auch Schleiermacher oder Goethe, wurde aber frühzeitig von Karl Gottlieb Bretschneider (1832) als unvereinbar mit der (noch relativ unkritisch betrachteten) Überlieferung zurückgewiesen. Nur populistische Darstellungen und reißerische Bestseller verharren bis heute bei ihr.[10] Kein richtiger Tod, nur die Annahme eines solchen, und ein leibliches Weiterleben Jesu nach dem Verlassen seines Grabes: Das widersprach den Evangelien und sonstigen Glaubenszeugnissen, vor allem aber der kirchlichen Dogmatik. Die Aufklärungsthesen konnten sich nicht durchsetzen. Aber waren sie deshalb falsch?

Könnte in derartigen Theorien und Überlegungen nicht doch eine Spur Wahrheit zu finden sein? Könnte Jesus nach Kreuzigung und Grablegung tatsächlich weitergelebt haben? Wo hätten wir ihn dann zu suchen? Gewiss nicht in Jerusalem. Gewiss nicht in den Schriften eines Paulus oder der Evangelisten. Was hätte er dann getan und gelehrt? Und wie verhielten sich dann die Lehren, die Paulus und die kanonischen Evangelien, vielleicht auch einige apokryphe Zeugnisse ohne Wissen um Jesu Überleben von dem auferstandenen Christus verbreiteten, zu dem, was der überlebende Jesus fortan selbst lehrte, der das Kreuz vielleicht nicht verleugnete, aber Tod und Auferstehung schwerlich in die Mitte seiner Botschaft rückte? Musste ein solcher im Verborgenen wirkender Jesus von den «rechtgläubigen» Christen nicht als Häretiker betrachtet werden?

Statt Tod und Auferstehung also ein heimliches Weiterleben? Statt Gottessohnschaft ein Irrglaube? Dürfen wir solcher Aufklärung nachgehen? Derartigen Zweifeln nachgeben?

Der wichtigste Fortschritt in der christlichen Theologie bestand in der Betrachtung der Evangelien als literarische Zeugnisse. Dadurch wurden sie gerade auch mit ihren Darstellungen der Passion einer Untersuchung mit historischen, sprach- und textanalytischen Methoden zugänglich. Die Offenbarungstexte verloren dabei weithin ihre Unmittelbarkeit, ja ihre bislang vermutete Zeitnähe zum Geschehen. Die sich seit dem neunzehnten Jahrhundert herausbildende These zur Entstehung der Evangelien sah im Text des Markus das älteste, um das Jahr 70 entstandene Evangelium, das von den drei anderen Zeugnissen im späten ersten oder beginnenden zweiten Jahrhundert ausgewertet wurde. Bei Matthäus und Lukas erkannte man eine größere Nähe einzelner Episoden und Jesus-Worte (Logien), die auf eine gemeinsame, nicht überlieferte Quelle (Q) zurückgeführt wurde, und dem erst danach verfassten Johannesevangelium wurde eine bemerkenswerte Selbständigkeit bescheinigt.

Andere Zeugnisse galten – von einigen Briefen abgesehen – als weniger aussagekräftig oder als frühzeitig verworfen und damit als apokryph. Allein das Petrusevangelium wurde vor einiger Zeit ausgenommen, auf die Zeit etwa um das Jahr 50 datiert und zu einem Musterevangelium für Jesu Passion, geradezu zu einem «Kreuzevangelium» erklärt. Schließlich trat nach 1945 durch einen glücklichen archäologischen Fund das eigentümliche Thomasevangelium ans Licht.[11]

Erst vor wenigen Jahren wurde die zeitliche und literarische Abfolge der Evangelien neu geordnet, indem durch eindringliche Textanalyse der einschlägigen Fragmente und unter Aufgabe der Vermutung einer Quelle Q das Evangelium des Markion als Grundlage aller vier kanonischen Evangelien erkannt und frühestens um das Jahr 90 datiert wurde; der Kanon der vier Evangelien mit Paulustexten und einigen weiteren frühchristlichen Briefen hat danach etwa um das Jahr 150 vorgelegen.[12] Eine noch etwas jüngere Untersuchung möchte die Apostelgeschichte des Lukas wegen ihres letzten Verses (Apg 28,30–​1, dazu die Verse davor) in die Zeit vor der neronischen Christenverfolgung setzen (also vor das Jahr 64). Denn Paulus habe zwei Jahre ungehindert in Rom missionieren können, was nur zuvor möglich gewesen sei. Das Evangelium sei somit früher anzusetzen; Markus habe dann davor schon zur Feder gegriffen.[13] Doch Lukas erzählte in seiner Apostelgeschichte die Erfolgsstory christlicher Mission; da machte sich Pauli Tod als Ende schlecht, obgleich der Evangelist durchaus um denselben wusste (Apg 20,22–​5; 21,10–​4; vgl. 19,21); sein Paulus-Leben erfüllte sich mit der Botschaft Jesu Christi, nicht mit dem Aposteltod.

Die Zweifel an der Auferstehung ließen sich freilich durch derartige Evangelienkritik nicht beheben. Unabhängig von der Datierung der Evangelien drängen sich Fragen auf, wenn man die Auferstehung von den Toten und die Himmelfahrt in Zweifel zieht: Wohin sollte sich der das Kreuz überlebende Jesus begeben haben? War er, wie manche vermuten, in Qumran untergetaucht? Und wie stand es um die «Himmelfahrt»? Viele Hypothesen also und keine klaren Antworten. Die Frage nach der Realität der Auferstehung ist bis heute nicht erledigt; sie beunruhigt noch immer. Ihr sich abermals zu widmen, lohnt sich freilich nur, wenn neue Argumente, neue Sachverhalte, nicht bloß erneuerte Überzeugungen und Hypothesen in die Debatte einzubringen sind.

Heutige Theologen beharren auf dem Tod Jesu am Kreuz. Noch immer erschafft sich diese Überzeugung den Auferstehungsglauben und dessen Realien, zumal die Akzeptanz der Begegnungen verschiedener Jünger mit dem Auferstandenen und das Postulat des leeren Grabes. Selbst Theologen, die aus dem katholischen oder protestantischen Mainstream ausscheren und an der Auferstehung zweifeln, halten daran fest, dass Jesus am Kreuz gestorben ist. Hören wir den katholischen Professor für Religionswissenschaft und Geschichte des Christentums Karl-Heinz Ohlig: «So ist das ‹Leere Grab› eine Folgerung, die hellenistische Christen aus der Auferstehungsverkündigung zwangsläufig ziehen mussten. Es handelt sich dabei um einen theologischen Topos, der sich durch die Inkulturation des ursprünglich palästinensischen Christentums in die Kultur des Hellenismus ergab. Das ‹Leere Grab› ist keine historische Notiz, sondern eine spätere hellenistische Neudeutung der Vorstellung des Begriffs Auferstehung.»[14]

Ganz anders, doch im Ergebnis nahezu gleich der protestantische Neutestamentler Gerd Lüdemann.[15] Er griff die Visionstheorie von David Friedrich Strauß wieder auf, der Visionen aufgrund mythischer Vorstellungen zur Grundlage des Auferstehungsglaubens der Jünger erklärt hatte. Lüdemann bezweifelt das «leere Grab»; der vom Kreuz abgenommene Tote habe vielmehr für alle Zeit und bis zur Verwesung seines Leibes in seinem Grab gelegen. Wohl aber hatten einige der Jünger und zuerst Kephas-Petrus, so Lüdemann psychologisierend, «Visionen» und schauten den Auferstandenen. Mehr lasse sich nicht erkennen und sagen. Die psychologisch erklärten Visionen des Hingerichteten zogen die Behauptung nach sich, das Grab sei leer gewesen und Jesus auferstanden. Einzelne dieser individuellen Visionen erweiterten sich, geschickt angeheizt, zu Massensuggestionen. Aus ihnen nährte sich der neue Glaube, die neue Religion.

Jesus starb am Kreuz. Das ist die nahezu einhellige Meinung heutiger Exegeten des Neuen Testaments; alles andere wird diesem Wissen untergeordnet oder folgt aus ihm. Die Scheintodhypothese scheint seit über anderthalb Jahrhunderten erledigt zu sein. Nur Außenseiter beharren auf ihr. Der Tod Jesu am Kreuz wird kaum mehr angezweifelt. Die Evangelien haben ihn verkündet, die frühen Christen ihn erst schmerzlich, dann hoffend hingenommen, aufgeklärte Theologen und sonstige Gläubige, die an Scheintod dachten, wurden widerlegt. Traf er aber dennoch in historischem Sinne zu? Entsprach er der Realität?

Gibt es Anhaltspunkte, die die Ablehnung der Scheintodhypothese ins Wanken bringen können, vielleicht sogar wanken lassen müssen? Gibt es Hinweise darauf, dass Jesus am Kreuz tatsächlich nicht starb? Dass er gerettet wurde und unbestimmte Zeit überlebte? In der Tat, es gibt sie. Die Zweifel entspringen medizinischen Beobachtungen, Befunden und Folgerungen. Sie beschränken sich keineswegs auf hypothetische Überlegungen zum realen Sterben am Kreuz, auf ein Ersticken des Gekreuzigten, auf einen tödlichen Infarkt, auf seinen vermutlichen Blutverlust (der so groß nicht gewesen sein kann) und auf andere Überlegungen dieser Art. Nein, die medizinischen Befunde verweisen auf eine einzigartige, insgesamt glaubwürdige Aussage des Johannesevangeliums; sie ermöglicht und verlangt eine medizinische Klarstellung mit überraschendem Ergebnis.[16]

Der Jünger, den Jesus liebte

Ausgerechnet durch «Johannes»! Durch das angeblich jüngste, das problematischste Evangelium, das in nahezu jeder Hinsicht eigene Wege geht und dessen Sonderstellung allseits anerkannt ist? Das im Verdacht steht, der «Gnosis» zu nahe gerückt und damit einer dualistischen geistigen Bewegung erlegen zu sein, die der Häresie verdächtigt wird. [17] Seinem Autor wird immer wieder unterstellt, dass er seinen – wie sich zeigen wird – überaus sachlichen Passionsbericht realitätswidrig und deshalb weithin unglaubwürdig seinen kerygmatischen Ansichten, seinen theologischen Aussagen und Botschaften unterworfen habe, indem gewisse Sprüche der Hebräischen Bibel seinen Bericht lenkten. Er stilisiere Jesus auf diese Weise zum prophezeiten Opferlamm und verkläre die Passion. Der Einsatz biblischer Zitate ist nicht zu bestreiten. Doch verlief der Deutungsprozess umgekehrt: Johannes verzerrte seine Wahrnehmungen nicht durch Bibelsprüche, er entdeckte vielmehr die Übereinstimmung des von ihm wahrgenommenen Geschehens mit jenen Prophezeiungen: kostbare Augenblicke des Erkennens, die keine kerygmatischen Intentionen schmälern.[18]

Die Datierung des Johannesevangeliums ist gänzlich ungesichert. Immerhin: die Zerstörung des Tempels im Jahr 70 wird von der kanonisierten Version vorausgesetzt. Mehr an objektivierbaren Kriterien sind bislang jedoch nicht zu erkennen. Das Evangelium soll nach jüngsten Forschungen älter sein als der kanonische «Lukas», doch (wie neuerlich gezeigt wurde) sollen seine Verfasser jenes älteste Evangelium herangezogen haben, über das der «Ketzer» Markion verfügte (Mcn), ein Gnostiker, wie man annimmt,[19] und das auch die drei anderen Evangelisten ausgiebig benutzten. Dieser Sachverhalt verweist auf eine Entstehung frühestens um das Jahr 90. Die Datierung der kanonisierten Version, in der auch das Markus- und das Lukasevangelium verarbeitet wurden, schwankt zwischen dem frühen zweiten Jahrhundert und der definitiven Redaktion des neutestamentlichen Kanons (zwischen 144 und 155). [20] Umstritten ist, wie viele Autoren diesem «Johannes» die Feder führten. Prolog und Schlusskapitel verweisen auf je unterschiedliche Verfasser; der Passions- oder der Kreuzigungsbericht will dem Augenzeugnis des Jüngers, «den Jesus liebte», folgen; die Abschiedsreden und weitere Episoden verdankten sich vielleicht noch anderen Mitwirkenden. Aber wirklich gewiss, gar gesichert ist hier nichts.