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Lebensmittelskandale, Naturkatastrophen, Börsenabstürze. Notker Wolf sagt, warum es so nicht weitergeht und wie wir die Umkehr schaffen. Wir müssen unser Leben nachhaltig verändern. Nachhaltigkeit ist mehr als eine ökonomisch-ökologische Balance. Es ist eine ethische Grundhaltung, eine Lebensweise. Der Abtprimas beschreibt spirituelle und praktische Wege zur Lösung der drängendsten Herausforderungen. Sein Prinzip für ein gerechteres und glücklicheres Leben: Freiheit durch Verantwortung, Verantwortung aus Freiheit.
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Seitenzahl: 193
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Abtprimas Notker Wolf
mit Alfons Kifmann
JETZT ist die Zeit für den Wandel
Nachhaltig leben - für eine gute Zukunft
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
ISBN (E-Book): 978-3-451-33925-7
ISBN (Buch): 978-3-451-32454-3
Vorwort
1 Darum geht es
Der „Club of Rome“ und seine Impulse
Nachhaltig leben heißt verantwortlich handeln
Wir haben die Freiheit der Verantwortung für das Paradies oder die Hölle auf Erden
Soziale Gerechtigkeit? Wir leben gut – auf Kosten der Armen
2 Woran unsere Welt leidet
Armut und Hunger, die Schande unserer Zeit
Sie sind unsere Schwestern und Brüder!
Wem gehört das Land?
Sind Megacities unsere Zukunft?
3 Es gibt kein „Weiter so“
Der Abgrund, vor dem wir stehen
Der Edelmüll eines krankhaften Konsumzwangs
Mobil sein – ohne Reue
Energie sparen und intelligenter nutzen
In die Zukunft bauen
Recycling im Kleinen wie im Großen – jeder kann mitmachen
4 Freie Menschen oder Konsumsklaven?
Wollen wir wirklich wie die Lemminge sein?
Wenn Medienkonsum lebensfeindlich wird
Antreiber oder Getriebene? Was brauchen wir wirklich zu einem guten Leben?
Essen wir unseren Planeten auf?
Veränderung und Widerstand: Wenn die Bedürfnisse sich verselbständigen
5 Unsere Verantwortung aus Freiheit
Zeitenwandel: Vom schnellen zum nachhaltigen Konsum
In den dauerhaftesten Beziehungen wachsen beide Partner
Sucht und Umkehr – wir können uns überwinden
Woran unser Gesundheitssystem krankt
Sport, Spiel und Musik – gesund für Leib und Seele
Unsere Verantwortung: Was wir der folgenden Generation schuldig sind
6 Forderungen an eine neue Gesellschaft
Unser Bildungssystem bedarf dringend einer Reform
Gebraucht werden – oder Gutes tun?
Nachhaltig leben im Alter
7 Was die Wirtschaft leisten muss
Die Finanzkrise ist eine Krise des Vertrauens auf unser Wirtschaftssystem
Freiheit, Würde und Verantwortung: Wie viel Ethik braucht unser Wirtschaftssystem?
Unternehmen mit Fundament
Führen oder managen – eine ethische Betrachtung
8 Wie wir die Umkehr schaffen können
Formeln für Nachhaltigkeit
Los-lassen und Los-gelassen sein
Ruhe statt Stress: Wie wir ein inneres Tempolimit finden
9 Wege in eine nachhaltige Zukunft
Ökosozial oder marktradikal? Wege in eine nachhaltige Zukunft
Der persönliche Ansatz: Einfacher leben – Ballast abwerfen
Der spirituelle Ansatz: Wir werden lernen müssen, zu teilen
Zufriedensein macht glücklich
Nachhaltigkeit als Lebenskunst
Quellennachweis
Wir selbst haben es in der Hand…
Wir leben in Frieden. Wir leben in Wohlstand. Und wir stehen an einem Scheideweg.
Wir stehen vor der Entscheidung, ob wir, bildhaft gesprochen, auf einer Autobahn weiterrasen, die zur Zerstörung unserer Lebensgrundlagen führt, oder an der nächsten Ausfahrt rechts abbiegen, umkehren und unseren Lebensstil gründlich überdenken und wieder ins Lot bringen.
Ich möchte weder schwarzmalen noch eine Weltuntergangsstimmung erzeugen, aber wir können nicht mehr von den Problemen einer zweigeteilten, ungerechten Welt, des reichen Nordens und des armen Südens wegsehen. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass wir selbst einen Großteil der Probleme geschaffen haben, vor denen wir jetzt stehen. Dass wir selbst die Ursache der Zerstörung sind.
Wir haben in einer Generation von fünfzig, sechzig Jahren, einer minimalen Zeitspanne für unseren Planeten, diese Welt in eine Schieflage geführt. Durch einen maßlosen Lebensstil, der rücksichtslos die Ressourcen ausbeutet, der handelt, als gäbe es kein Morgen.
Wir, die reichen Industrienationen der nördlichen Hemisphäre, haben uns in dieser Zeit in einer unvorstellbaren Weise verschuldet, Wechsel auf die Zukunft ausgestellt, die wir selbst nicht mehr verantworten müssen. Viele Nationen, auch die USA, auch wir Deutsche, leben seit Jahren am Rande des Staatsbankrotts, und wir feiern dabei. Wir hinterlassen der nächsten Generation eine Schuldenlast, die sie nicht tragen kann. Wie soll es nach uns weitergehen?
Nein, wir können nichts mehr einfach an die Zukunft delegieren. Wir müssen die Verantwortung jetzt selbst übernehmen. Wir, unsere jetzige Generation, muss jetzt aufstehen und dafür einstehen. Es ist wie ein Gesetz: Wir müssen selbst und freiwillig handeln, bevor uns die Möglichkeit selbstbestimmten Handelns genommen wird und wir nur noch reagieren können auf das, was wir angerichtet bzw. nicht verhindert haben. Die chinesische Regierung, so war neulich zu lesen, plane ernsthaft, den Individualverkehr in den Städten radikal zu regulieren. Große Autos mit Verbrennungsmotoren sollen aus den Städten verbannt und durch Kleinwagen mit Elektromotoren ersetzt werden. In einem dirigistischen Staat wie in China wäre das möglich, aber auch bei uns?
Dieses Buch will dazu beitragen, das Bewusstsein für solche Fragen zu schärfen. Mit einer Beschreibung und Analyse unseres Status quo, des Jetzt-Zustandes, aber auch mit Denkmodellen für unseren weiteren Weg. Ich bin kein Pessimist und will kein Menetekel an die Wand malen, aber ich bin auch sicher: Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.
Wir treffen die Entscheidungen über unsere Zukunft jetzt, heute.
Beim Vorbereiten und Schreiben dieses Buches ist mir immer deutlicher geworden, wie vielschichtig der Themenkreis Nachhaltigkeit ist. Nachhaltigkeit ist inzwischen eine ethische Dimension, die sämtliche Bereiche unseres Lebens umfasst. Nachhaltigkeit betrifft unser privates Leben, und sie betrifft das Gemeinwesen, die soziale Dimension. Und sie ist dynamisch: Beim Schreiben hat mich immer wieder die Tagesaktualität überholt: Lebensmittelskandale, Fukushima, Börsen-Kursstürze…
Ideologien helfen nicht weiter. Die Wirklichkeit ist zu komplex, und daher gibt es auch keine einfachen Lösungen.
Auf der Suche nach den tieferen Ursachen dieser Krisen, nach einem gemeinsamen Nenner, landete ich immer wieder beim Menschen: Wir selbst haben unser Schicksal, unsere Zukunft in der Hand. Wir sind die Handelnden. Wir haben die Freiheit, jeden Tag richtige oder falsche Entscheidungen über unsere Zukunft zu treffen.
Und wir sind es, die letztlich in der Verantwortung für diese Entscheidungen stehen.
Es ist die gleiche Freiheit, die uns von Gott geschenkt ist, die Freiheit des Glaubens und die der Entscheidung für oder gegen etwas. Und es geht um die gleiche Verantwortung für die Folgen unseres Handelns. Wie nachhaltig wir handeln, wie wir künftig mit den Ressourcen unseres Planeten umgehen, vor allem mit Wasser, wird das Klima auf dieser Welt, und damit meine ich vor allem das soziale Klima, entscheidend beeinflussen.
In einer offenen Mediengesellschaft wie der unseren werden wir täglich mit den Folgen unsers Handelns, unserer Lebensweise konfrontiert, mit den kleinen und den großen Katastrophen. Dabei wird vieles überzeichnet, dramatisiert. Wir werden hin- und hergerissen zwischen Weltuntergangs-Szenarien und Fortschrittsgläubigkeit. Woran können wir, gerade die Christen, uns orientieren, woraus Hoffnung schöpfen?
Dieses Buch wendet sich an ganz unterschiedliche Leser, die sich als aufgeklärte Bürger verstehen, aber in ganz verschiedenen Lebenssituationen stehen. Und es bezieht sich auf eine Fülle von Quellen. Je nach Alter und Betroffenheit, nach Erfahrung und Lebenssituation nehmen wir ganz unterschiedlich wahr, was wir für uns selber aus den Informationen herausfiltern: Bildung, Energie, Finanzen, Gesundheit, Gewohnheiten, Verhaltensweisen. Dieses Buch will möglichst viele Leser ansprechen, objektiv informieren und gleichzeitig die komplexe Thematik unter spirituellem Gesichtspunkt angehen. Der rote Faden, der uns dabei begleitet, heißt: „Freiheit durch Verantwortung, Verantwortung aus Freiheit“.
In den folgenden neun Kapiteln will ich versuchen, der Vielschichtigkeit des Zukunftsthemas Nachhaltigkeit gerecht zu werden. Ich hoffe, Denkanstöße für kritisches Hinterfragen unserer Verantwortung zu geben, Denkanstöße für den kritischen Diskurs.
Der Begriff der Nachhaltigkeit ist keine Wortschöpfung unserer Zeit. Er lässt sich zurückführen auf eine Publikation des kursächsischen Forstrates Hans Carl von Carlowitz aus dem Jahr 1713, in der er von der „nachhaltenden Nutzung“ der Wälder schrieb, ohne aber weiter auszuführen, wie sie zu erreichen sei. Einer seiner Nachfolger, Georg Ludwig Hartig, hat 1795 ausformuliert, was Nachhaltigkeit bedeutet: „Nachhaltigkeit der Nutzung“ bezeichnet zunächst die Art der Bewirtschaftung eines Waldes: Es wird immer nur so viel Holz entnommen, wie nachwachsen kann, so dass der Wald nie zur Gänze abgeholzt wird, sondern sich immer wieder regenerieren kann. Der Begriff wurde schließlich als sustained yield ins Englische übertragen und fand Eingang in die internationale Forstwissenschaft.
Seit der 1968 gegründete „Club of Rome“, eine internationale, interdisziplinäre Vereinigung von Wissenschaftlern, den Begriff der Nachhaltigen Entwicklung prägte und ihn 1972 mit der Studie „Die Grenzen des Wachstums“1 mit ganz konkreten Forderungen und Vorschlägen inhaltlich ausfüllte, hat sich ein weltweites Bewusstsein für diese entscheidende Zukunftsfrage entwickelt. Ein zentrales Anliegen und Thema des „Club of Rome“ war damals die Abkehr von den fossilen Brennstoffen, die, wie damals bereits erkennbar war, die Hauptursache für die Klimaveränderung durch CO2 sind. Diese Frage ist nach wie vor aktuell.
Wenn wir heute über den Begriff der Nachhaltigkeit diskutieren, können wir das Thema aber nicht mehr nur auf eine ökonomisch-ökologische Sichtweise verengen. Es geht um eine umfassende, also eine ethische Grundhaltung, eine Lebensweise. Nachhaltiges Denken und Handeln wächst immer mehr aus der Enklave des Umwelt- und Klimaschutzes heraus und hinein in die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, und zwar weltweit. Dieses ökosoziale Denken und Handeln betrifft damit unser gesamtes Leben, und es beginnt bei der Bildung.
Nachhaltigkeit bedeutet vor allem verantwortliches Denken und Tun, das stets die Konsequenzen im Blick behält. Alles, was wir tun, hat Auswirkungen und Konsequenzen. „Respice finem – denk an das Ende“. Kurzfristiges Handeln, Egoismus und Profitgier fallen in der Konsequenz mit schwerwiegenden moralischen Folgen auf uns zurück. Langfristige Wertschöpfung dagegen schafft Stabilität und Wachstum.
Da ich in diesem Buch bewusst auch aus der Erfahrung der benediktinischen Tradition spreche, kann ich hinzufügen: Eine solche, auf Langfristigkeit bedachte Wertschöpfung entspricht auch unserer benediktinischen Lebensweise, die wiederum auf uralten Weisheiten beruht. Wir bauen für Jahrhunderte, leben weitgehend autark von unserer Arbeit als Land- und Forstwirte, Handwerker, Lehrer und Seelsorger, und sorgen in unserem Wirkungskreis für Arbeit und Bildung. Selbst die humanistische Bildung, die wir vermitteln, stellt eine vorzügliche Grundlage für ein nachhaltiges Lebensmodell dar.
Humanistische Bildung befähigt uns, die eigentlichen Werte zu entdecken und zu pflegen, die unserem Leben Sinn geben: Verantwortung für Familie und Partnerschaft, Hinwendung zum Nächsten, aber auch Bescheidenheit, Demut und Dankbarkeit für alles, was uns geschenkt ist und was wir weitergeben dürfen. In Afrika gibt es ein Sprichwort, das sinngemäß besagt: „Man pflanzt keine Bäume, von denen man nicht selbst erntet.“ Wir sind aufgerufen, Bäume zu pflanzen und zu pflegen, von denen wir nicht nur selbst, sondern auch unsere Nachkommen ernten.
Es gibt einen roten Faden durch sämtliche Kapitel dieses Buches: Nachhaltiges Leben kann sich nur in der Gestaltungsfreiheit, die uns Gott in seiner Schöpfung geschenkt hat, frei entfalten. Diese Freiheit ist ein großartiges Geschenk, ein hohes Gut, aber sie ist untrennbar verbunden mit unserer Verantwortung, diese Schöpfung auch zu bewahren und für künftige Generationen zu erhalten. Wenn wir in dieser Verantwortung versagen, fällt sie auf uns zurück, spätestens in den folgenden Generationen.
Im Schöpfungsbericht der Bibel steht lapidar am Ende des Sechs-Tage-Werks:
Gott sah alles an, was er gemacht hatte: Es war sehr gut. Es wurde Abend und es wurde Morgen: der sechste Tag (Gen 1,31).
Natürlich wurde die Welt von Gott nach dem modernen christlichen Verständnis nicht in sechs Tagen geschaffen. In der Bildersprache der Bibel wird die Herkunft der Welt von Gott betont und damit ihr positiver Charakter. Wir wissen heute, dass die Welt in einem sehr komplizierten Evolutionsprozess entstanden ist und erkennen im Glauben, dass sie im Tiefsten eben doch von vernünftiger Hand geschaffen wurde und weiter gehalten wird. Die Schöpfung der Welt war nicht ein einmaliger Akt. Unser Glaube an das „Ja“ Gottes zum Leben ist für uns Christen das stärkste Motiv, Gottes Werk zu achten.
Ebenso symbolisch ist der folgende Text zu verstehen:
Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte (Gen 2,15).
Das heißt: Gott gab uns die Aufgabe, seine Schöpfung, den Garten Eden, zu pflegen. Er gab uns das Paradies, nahm uns aber auch in die Pflicht. Die Bibel erzählt dann weiter in ihrer Bildersprache, dass wir (Adam und Eva) dieser Aufgabe und dem Gebot Gottes, nicht vom Baum der Erkenntnis zu essen, nicht gerecht wurden.
Diese biblische Geschichte vom Sündenfall bedeutet aber nicht, dass wir angesichts der Wunder der Natur nicht staunen und Gott danken dürfen, so wie es im Psalm 104,1 geschieht: „Mein Gott, wie groß bist Du!“
Wenn ich an einem Frühlingstag an blühenden Wiesen vorbeiwandere, kommt mir manchmal das Wessobrunner Gebet in den Sinn, das älteste Zeugnis der deutschen Sprache aus dem 9.Jahrhundert.1
Das erfuhr ich unter den Menschen
als der Wunder größtes,
dass Erde nicht war, noch oben der Himmel,
nicht Baum, noch Berg nicht war,
noch irgendetwas,
noch die Sonne nicht schien,
noch der Mond nicht leuchtete,
noch das herrliche Meer.
Als da nicht war an Enden und Wenden,
da war der eine allmächtige Gott, der Wesen gnädigstes,
und da waren mit ihm auch viele herrliche Geister.
Und Gott der heilige…
Gott Allmächtiger, der du Himmel und Erde wirktest
und der du den Menschen so mannigfach
Gutes gegeben,
gib mir in deiner Gnade
rechten Glauben
und guten Willen,
Weisheit und Klugheit und Kraft,
den Teufeln zu widerstehen,
und das Böse zurückzuweisen
und deinen Willen zu wirken.
Das ist eine Sichtweise, die noch ganz auf dem biblischen Weltbild beruht.
Kehren wir nach diesem Ausflug in die Welt der Bibel und der Spiritualität des frühen Mittelalters zurück in die Realität des 21.Jahrhunderts, die von einem komplexen Bündel von früher unbekannten, bislang ungelösten Problemen geprägt ist:
Umweltschäden in Wasser, Land und Luft in enormem Ausmaß,
Überexponentielles Wachstum der Weltbevölkerung,
Armut und Hunger bei jedem fünften Menschen,
Bildungsdefizite in den meisten Ländern,
Gefährliche, gefährdete Energieversorgung.
Angesichts dieser Tatsachen und bekannten Herausforderungen, deren Folgen von den Medien fast täglich vorgeführt werden, finde ich es erstaunlich, mit welcher Nonchalance wir mit diesen Problemen umgehen und sie in die Zukunft projizieren – als wären sie in weiter Ferne. Statt konsequent zu handeln, üben wir uns in der Kunst des Verdrängens. Wir – das sind beispielsweise wir hier in Deutschland, denen es im Grunde an nichts mangelt, die aber immer mehr fordern: Billige Lebensmittel, billigen Sprit, billiges Essen.
Wir blicken nur ungern über unseren Tellerrand hinaus, dorthin, wo die Not am größten ist. Wir machen die Politik verantwortlich für die steigenden Kosten, erregen uns über die Ölmultis, die uns regelmäßig vor dem Urlaubsbeginn eine noch höhere Spritrechnung stellen. Wir kaufen dennoch lieber eine teure Geländelimousine mit hohem CO2-Ausstoß, und wir fliegen, wie gewohnt, jährlich in den Urlaub, diesmal aber in die sichere Türkei, statt in das krisengebeutelte Tunesien, weil wir dort Gefahr laufen, bettelnden Libyern zu begegnen. Dafür lassen wir im Supermarkt dann das teure Bio-Landei aus Freilandhaltung doch lieber liegen und nehmen das Billigei vom Käfighuhn. Aufgeschreckt sind wir dann allerdings, wenn das fünf Cent billigere Massenhaltungsprodukt Spuren von Dioxin aufweist. Wir wollen reinste Atemluft, naturklares Wasser ohne Chlorzusatz und einen unverbauten Ausblick. Kraftwerke wollen wir in unserer Umgebung ebenso wenig sehen, wie Windräder. Gegen Stromausfall würden wir dagegen umgehend demonstrieren.
Wir sind eine Gesellschaft mündiger Wutbürger, die ihre hart erarbeiteten Privilegien in Wagenburgmanier gegen den Rest der Welt verteidigt. Aber: wir leben nicht auf einer Insel. Wir sind nur ein kleines Land auf dieser Erde. Wir leben gern in einem arrondierten Paradies, und nehmen die Probleme um uns herum am liebsten nicht wahr. Dadurch werden wir uns aber unserer Verantwortung nicht bewusst.
Diese weitverbreitete gespaltene Haltung in unserer Gesellschaft hat der Medienforscher und Soziologe Norbert Bolz1 folgendermaßen beschrieben: „Die moderne Gesellschaft gleicht einem Blindflug: Das Flugziel ist unbekannt, aber das Flugzeug technologisch der letzte Schrei.“ Hinzu kommt: Die meisten von uns haben keinen unmittelbaren Zugang mehr zur Wirklichkeit – nur noch über die Medien. So stellt sich die Frage: Sind wir wirklich mündige Bürger, die auch einmal Nachteile in Kauf nehmen, wenn das Gemeinwohl, oder – christlich gesprochen – unsere Schwestern und Brüder „da draußen“ es erfordern?
Der zweite rote Faden in meinen Betrachtungen um eine nachhaltige Zukunft ist die soziale Gerechtigkeit. Auf das nach wie vor dramatische Nord-Süd-Gefälle gehe ich in den Kapiteln „Ökosozial oder marktradikal? Wege in die Zukunft“ und „Armut und Hunger – die Schande unserer Zeit“ noch ausführlicher ein – ich erlebe diese Probleme auf meinen Reisen nach Afrika und Südamerika immer wieder hautnah. Mit dem viel stärkeren Bevölkerungswachstum in der südlichen Hemisphäre – 2050 werden unter den jetzigen Vorzeichen vier von fünf Menschen südlich des Äquators leben – wird dieses Wachstum eine der großen Herausforderungen an die Wirtschaft, aber auch an die Friedenspolitik sein.
Nach wie vor muss man von Ausbeutung sprechen, wenn wir über die Vermarktung der Rohstoffe aus der Dritten Welt sprechen: Kaffee, Kakao und Baumwolle – um nur drei Rohstoffe aus unserem täglichen Leben zu nennen–, aber auch Edelhölzer werden vor der Weiterverarbeitung in Europa oder Nordamerika oft nur zu einem Zwanzigstel bis Dreißigstel ihres Wertes gehandelt – dazwischen liegen gewaltige Gewinnspannen, die nur zu einem sehr kleinen Teil durch Fair-Handel-Organisationen aufgefangen werden. Ähnlich ungleichgewichtig ist das Nord-Süd-Gefälle bei der Luftverschmutzung, einer Ursache der Weltklimaveränderung: Eben die etwa 20Prozent der Menschheit, die über 80Prozent des Welteinkommens verfügen und fast ausschließlich auf der nördlichen Erdhalbkugel leben, produzieren etwa zwei Drittel der CO2-Belastung. Leidtragende durch Dürre und Versteppung sind jedoch überwiegend die Menschen, die auf der südlichen Erdhalbkugel leben.
Unser Überleben wird einerseits von unserer Fähigkeit, uns wieder mit unserer Umwelt zu versöhnen, andererseits vom sozialen Ausgleich zwischen Arm und Reich, zwischen Nord und Süd abhängen: von einer gerechten Weltordnung.
In der Süddeutschen Zeitung vom 31.August 2011 fand sich ein Beitrag über ein neu erschienenes Buch mit dem Titel „Die Essensvernichter“. Darin weist der Umweltjournalist Stefan Kreutzberger1 nach, dass die Hälfte unserer Lebensmittel in den Mülleimer geworfen wird. Ein großer Teil dieser Lebensmittel ist nicht verdorben. Handel und Verbraucher sind gleichermaßen an dieser Vernichtung beteiligt. Einer der Gründe sei, dass die Hersteller das Mindesthaltbarkeitsdatum bewusst zu niedrig ansetzen, damit die Regale schneller leergeräumt und neue Waren verkauft werden können.
Werden Lebensmittel in unserer Gesellschaft wirklich so gering geschätzt? Sicher nicht bei jenen, die einmal Hunger erfahren haben, denn das prägt fürs Leben.
Wenn wir das Vaterunser beten, denken wir dann bei der Bitte „unser tägliches Brot gib uns heute“ noch an deren existenzielle Bedeutung? Uns erscheint diese Bitte vielleicht eher symbolisch – für eine Milliarde Menschen ist sie jedoch nach wie vor wortwörtlich und ernst gemeint. Unsere Beziehung zum Hunger in der Welt hat heute eher den folkloristischen Charakter, den wir auch dem Erntedankfest heute zubilligen. Für Stadtmenschen ist dieses Fest in ebenso weite Ferne gerückt, wie für viele von uns die hungernden Menschen in Darfur oder in Bangladesch.
Der Markt regelt alles, sagen viele Wirtschaftstheoretiker und berufen sich dabei auf den Sieg der freien Marktwirtschaft westlicher Prägung über die Planwirtschaft in den früheren sozialistischen und kommunistischen Ländern des Ostens. Die besondere chinesische Variante der staatlichen Wirtschaftslenkung, die durchaus freies Unternehmertum zulässt, ziehen sie dabei nicht in Betracht.
Wenn der Markt aber ungeregelt aus dem Ruder läuft, wenn Ungerechtigkeit herrscht, wenn 80Prozent der Menschen auf dieser Welt nur über knapp 20Prozent des von allen erwirtschafteten Einkommens verfügen können, wenn nur 10Prozent der jungen Menschen eine höhere Schulbildung offensteht und wenn täglich 24000Menschen verhungern, dann hat der Markt versagt: Er dient nur noch einer Minderheit der Menschen und muss deshalb reguliert werden. Wirtschaftssysteme folgen in ihrer Logik eben nicht nur dem Wettbewerbsgedanken, um die bestmöglichen Lösungen für das Gemeinwohl zu finden. Sie brauchen auch gewisse Regeln und Rahmenbedingungen, die sicherstellen sollen, dass die Marktteilnehmer sich richtig verhalten. Das hat uns nicht zuletzt die Weltfinanzkrise der Jahre 2008 und 2009 gelehrt. Die Occupy-Bewegung hält die Erinnerung daran aufrecht und fordert Konsequenzen.
Zwar ist – Gott sei Dank – der Hunger in der Welt nach dem weltweiten Welthungerindex (WHI) aus dem Jahr 2010 im Vergleich zum WHI des Jahres 1990 um fast ein Viertel von 19,8 auf 15,1Prozent der Weltbevölkerung zurückgegangen. Das ist an sich eine gute Nachricht, jedoch ist damit das Ziel der Vereinten Nationen, den Anteil der hungernden Menschen von 1990 bis 2015 zu halbieren, noch lange nicht erreicht. In den verbleibenden fünf Jahren sind daher verstärkte Anstrengungen notwendig, um den weltweiten Hunger zu bekämpfen. Dank unserer Hilfe und Unterstützung für Aktionen wie Misereor, Brot für die Welt und die Welthungerhilfe ist viel Hunger und Krankheit gelindert worden. Und doch reicht diese Solidarität bei weitem noch nicht aus. Uns wird die Tragödie von Hunger und dessen Folgen schlaglichtartig immer erst bewusst, wenn die Medien darüber berichten: wenn, wie in Somalia, Kenia und Äthiopien jahrelange Dürre zu Missernten und Viehsterben geführt haben und das Leben von Millionen Menschen dadurch gefährdet ist.
Bei weltweit stagnierenden Getreideerträgen und gleichzeitigem Bevölkerungszuwachs von täglich mehr als 200000Menschen geraten wir überdies in eine gefährliche Spirale bei den Nahrungsmittelpreisen. Sie trifft wiederum vor allem die Armen und die Kinder. Um deren Hunger zu stillen, müsste die weltweite Nahrungsmittelproduktion bis zur Jahrhundertmitte um 70Prozent gesteigert werden. Eine gewaltige Herausforderung, nicht zuletzt angesichts des Klimawandels, der eher weniger Ertrag bewirkt. Jeder siebte leidet Hunger, vor allem die Kinder.
Der Anteil der untergewichtigen Kinder unter fünf Jahren ging zwischen 1990 und 2010 lediglich um 2,6Prozent zurück. Auch die Sterblichkeitsrate der Kinder unter fünf Jahren und der Anteil der Unterernährten sank nur wenig. Insgesamt gibt es also wenig Grund zur Freude, denn das Niveau des WHI ist weiterhin besorgniserregend hoch, es ist eine Schande unserer Zeit. Denn diese anonymen Zahlen stehen für eine Milliarde Schicksale (jeden siebten auf dieser Erde!), eine Milliarde Menschen, die Hunger leiden, und sie stehen für viele Millionen Kinder, die Hoffnung der Welt, die nur wenige Jahre leben.
Armut und Hunger sind kein unabänderliches Schicksal, in das man hineingeboren wird, sie sind erst recht nicht, wie manche zuweilen zynisch behaupten, „Gottes Wille“ – sie sind durch uns selbst verursacht. Und damit meine ich nicht durch die Menschen, die in diesem Mangel leben müssen, sondern auch durch uns, die wir deren Not auch noch mit Niedrigstlöhnen ausnützen und durch Spekulation die Nahrungsmittelpreise in die Höhe treiben.
Armut und Hunger gab es früher auch bei uns
Armut und Hunger gab es auch bei uns, vor gar nicht allzu langer Zeit, noch in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Der Dorflehrer Martin Meier2 aus St. Georgen bei Dießen am Ammersee hat diese Zeit eindrücklich in seinen Erinnerungen „Das war Armut“ beschrieben. Es ist mehr als ein Zeitzeugnis, es ist eine Anleitung zur Bescheidenheit.
In dem Buch „Das war Armut“ geht es um die zwanziger und dreißiger Jahre im Raum Weilheimer/Starnberger See – heute eine der bevorzugtesten und wohlhabendsten Gegenden in Bayern. An der Tagesordnung war ein karges Frühstück, kein warmes Mittagessen, lange Arbeitszeiten, anstrengende Arbeit und hohe Preise für Grundnahrungsmittel. Sozialversicherung, Altersrente und Krankenversicherung waren noch nicht gesetzlich eingeführt. Man könnte auch sagen:
Heute heißt Armut, dass man weniger Geld als der Durchschnitt der Menschen im Land zur Verfügung hat. Daher ist der Lebensstandard in „Armut“ in den letzten Jahrzehnten natürlich gestiegen.
Früher hieß Armut, dass man aus eigenen Mitteln seine Grundversorgung (Essen, eine warme Wohnung und warme Kleidung) nicht aufbringen konnte. Und das war in der beschriebenen Zeit nicht außergewöhnlich, sondern oft genug an der Tagesordnung.
Wir haben diese Armut zwar überwunden, aber allein die bei manchen noch lebendige Erinnerung daran sollte uns die Augen dafür offenhalten, dass in großen Teilen dieser Welt heute noch bittere Armut herrscht. Spenden allein, so wertvoll jeder einzelne bescheidene Beitrag in der Summe auch ist, können nur punktuell helfen.
Vier von fünf Menschen werden auf der Südhalbkugel leben