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Viele nennen es die Krankheit unserer Zeit: Einsamkeit ist tief in unsere Gesellschaft eingedrungen, unabhängig von Schichten und Altersklassen. Notker Wolf kennt selbst die Einsamkeit und hat viele einsame Menschen getroffen. Aus diesen Begegnungen weiß er, wie Einsamkeit in das Leben schleicht oder plötzlich einbricht, wie sie das Leben lähmt und Menschen kaputt macht. Vor allem aber weiß er: Man kann Einsamkeit bekämpfen und besiegen. Durch die Kunst, einfach da zu sein, für andere, aber auch für sich selbst. Von dieser Kunst erzählt Wolf mit viel Sensibilität und spricht auch von seinen eigenen Ängsten und Einsamkeitsmomenten. Man spürt die Tiefe der Einsamkeit, ob im Alter oder in einer neuen Stadt, und zugleich schöpft man neuen Mut. Wolf reißt mit, raus aus der Lähmung der Einsamkeit, hin zu einem kraftvollen und befreiten Ja zum Leben.
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Seitenzahl: 165
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Notker Wolf
Ich denke an Sie
Inhalt
Ein Gespenst geht um, oder: Das Zeitalter der Einsamkeit
Das Zeitalter der Einsamkeit
Einsamkeit im Kloster
Jesus auf dem Ölberg und die Einsamkeit am Kreuz
Nicht jeder, der allein ist, ist einsam – und wann wir einfach mal Pause brauchen
Geborgenheit klingt irgendwie spießig
Was mir so am Herzen liegt – von der Kunst, einfach da zu sein
Ich denke an Sie
Krank, alt und einsam: Wie wir alle Ärzte sein können
Raten kann jeder. Oder nicht?
Mahlzeit! Vom Tisch, Teilen und dem guten Gast
Die Macht der Berührung
Wer betet, ist nicht allein - egal wie er betet
Achtsam raus aus der Einsamkeit
Geteilte Freude ist …
Ein Gespenst geht um, oder: Das Zeitalter der Einsamkeit
Es war eine kurze Notiz, gelesen Ende 2018, die mich endgültig überzeugte, dieses Buch zu schreiben. Ich las auf Spiegel Online erst »Epidemie im Verborgenen« und dann die Überschrift »Großbritannien hat künftig ein Ministerium für Einsamkeit«. Ein »Ministerium für Einsamkeit«? Ich las weiter über dieses Ministerium, das von Tracey Crouch, der Staatssekretärin für Sport und Ziviles, geleitet werden sollte, um der »zunehmenden Vereinsamung von wachsenden Teilen der Bevölkerung« entgegenzuwirken. Es sei eine »traurige Realität des modernen Lebens«: Mehr als neun Millionen der knapp 66 Millionen Briten fühlten sich laut Rotem Kreuz immer oder häufig einsam, etwa 200 000 ältere Menschen könnten höchstens einmal im Monat ein Gespräch mit einem Freund oder Verwandten führen. Die Vorarbeit hatte die Jo Cox Commission on Loneliness geleistet, benannt nach der ermordeten Helen Joanne Cox, einer britischen Politikerin, die sich sehr mit dem Thema Einsamkeit auseinandergesetzt hatte. Tatsächlich wurde das Thema Einsamkeit danach in der britischen Politik höher gewichtet – endlich! –, auch wenn es nicht wirklich zu einem eigenen »Einsamkeits-Ministerium« kam. Doch das tackling loneliness, der Kampf gegen die Einsamkeit, war nun in aller Munde.
Einige Monate später las ich wieder eine Meldung. Diesmal wurde der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach in der Welt am Sonntag zitiert: »Bisher wurde die Zahl der Krankheiten, die durch Einsamkeit ausgelöst werden, unterschätzt. Neueste Forschungsergebnisse beweisen, dass diese häufig psychische Leiden wie Depressionen, Angststörungen, aber auch starke Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems oder Demenz auslöst.« Und im ZDF legte er nach: »Mich interessiert das Thema schon seit Jahren, aus politischer, aber auch aus wissenschaftlicher und medizinischer Sicht. Ich bin ausgebildeter Vorbeugemediziner, also Epidemiologie, und beschäftige mich mit den Ursachen von Krankheiten – insbesondere Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Demenzerkrankungen, Krebserkrankungen. In Bezug auf die Entstehung von Krankheiten haben wir der Einsamkeit vor zwanzig Jahren noch keinen großen Wert beigemessen. Mittlerweile wissen wir, dass diese Annahme komplett falsch war: Einsamkeit ist ein zusätzlicher Risikofaktor!« Deshalb forderte er einen Regierungsbeauftragten für den Kampf gegen die Einsamkeit, denn: »Als ich den Vorschlag gemacht habe, bin ich zum Teil ausgelacht worden. Einsamkeit wird als etwas dargestellt, für das jeder selbst verantwortlich ist, an dem man selbst Schuld hat. Das stimmt so aber nicht. Es ist sehr schwer, nicht einsam zu sein, wenn Sie arm und krank sind. Arme, behinderte, und auch kranke Menschen werden oft von ihren Freunden, aber auch von ihren Verwandten im Stich gelassen.«
Ob es nun einen Regierungsbeauftragten braucht oder gleich ein ganzes Ministerium, das sei dahingestellt. Doch klar ist, dass die Einsamkeit in unsere Gesellschaft eingedrungen ist, in so viele Seelen, dass sie individuell und auch kollektiv ein großes Problem darstellt. Oft beginnt sie völlig unscheinbar und lässt einen schleichenden Prozess der Vereinsamung in Gang kommen. Jemand zieht sich immer mehr zurück, interessiert sich für nichts und niemanden mehr, geht auf niemanden zu und wundert sich irgendwann, dass er oder sie auf einmal ganz allein in der Welt steht. Dahinter können sich Schicksalsschläge verbergen, traumatische Erlebnisse, aber eben auch ein kontinuierliches Sich-Entziehen. Möglicherweise ist auch eine übersteigerte Selbstbezogenheit ein Grund dafür oder gar eine falsche Glorifizierung von Einsamkeit, wie wir sie aus so vielen Liedern oder aus unzähligen Filmen kennen, denken wir nur an die berühmten lonely wolves der Kinowelt. Und jeder von uns kennt Menschen, die darauf warten, dass alle auf sie zukommen, Menschen, die immer und überall im Mittelpunkt stehen wollen. Wird ihre Erwartung nicht erfüllt, dann verfallen sie nicht selten in die Klage, sie würden gemobbt werden, während es sich in Wirklichkeit oft nur um die eigene Überempfindlichkeit handelt. Papst Franziskus spricht vom modernen Narzissmus nicht nur des Einzelnen, er erkennt diesen als Gefahr für seine ganze Kirche.
Weitaus häufiger aber stecken andere Gründe hinter der Einsamkeit, und die Menschen sehnen sich danach, aus diesem Abgrund herausgeholt zu werden, sie wollen, dass man ihnen die Hand reicht. Das können ganz verschiedene »Hände« sein, und von ihnen will ich in diesem Buch reden.
Das Zeitalter der Einsamkeit
Aber mal Hand aufs Herz: Ist es heute wirklich so schlimm mit der Einsamkeit? Gab es die früher nicht auch? Denken wir doch nur an die vielen Krisen vergangener Zeiten, an die Witwen und Frühwaisen, die Kriege und Seuchen zurückgelassen haben. Denken wir an die verlassenen Ehefrauen, deren Männer über Jahre im Krieg und in der Gefangenschaft waren, wie meine Mutter, die aber treu durchgehalten haben, ebenso wie ihre Ehemänner, wie ich in der Feldpost meines Vaters aus dem Krieg lesen konnte. Oder denken wir an die früheren Jahrhunderte, an die Ausgrenzungen und Stigmatisierungen, an die Gettos. Ist es heute also wirklich so schlimm mit der Einsamkeit?
Nun, zum einen gibt es das leider alles heute auch noch. Und zum anderen existieren in unsrer Zeit neue, durchaus signifikante Vereinsamungen, die gerade angesichts unserer technischen Möglichkeiten besonders schmerzen und absurd anmuten. Matthew Fforde, ein britischer Historiker und Autor, der an der Freien Universität Maria Himmelfahrt in Rom lehrt, geht in seinem gleichnamigen Buch sogar so weit, von einem »Zeitalter der Einsamkeit« zu sprechen. Er stellt fest: »In unserer postmodernen Gesellschaft werden dauerhafte Bindungen immer seltener, gehen spirituelle Werte mehr und mehr verloren.« Zwar verweist der Autor in der Einleitung darauf, dass sich die Beobachtungen und Statistiken, die seinem umfangreichen Buch zugrunde liegen, in erster Linie auf Großbritannien beziehen. Doch viele seiner Untersuchungen, Erfahrungen und Schlussfolgerungen können ohne Zweifel auch auf andere Teile der Welt angewandt werden – wenngleich möglicherweise nicht auf alle, zum Beispiel nicht auf die, in denen Familienzusammenhänge noch eine größere Rolle spielen. Fforde schreibt: »Der Trend geht hin zur Entsozialisierung des heutigen Menschen. Dieser Prozess – eine allgemeingegenwärtige kulturelle Strömung, zuweilen ein alles verschlingender Abgrund – dient jedoch nicht dem Wohl jener, die ihm zum Opfer fallen. Vielmehr beweisen zahlreiche Fakten, dass die Isolation in ihren verschiedenen Formen, die dieser Trend mit sich bringt, Leiden hervorruft. In Anlehnung an einen berühmten Satz von Karl Marx könnte man sagen: Ein Gespenst geht um in England – das Gespenst der Einsamkeit.« Ohne nun darauf einzugehen, ob die Anspielung auf Marx auch andere Dinge impliziert, könnte man durchaus übertragen sagen: Ein Gespenst geht um in vielen Teilen unserer Gesellschaft – das Gespenst der Einsamkeit.
Matthew Fforde analysiert das Phänomen der Einsamkeit auf vielen verschiedenen Ebenen und in diversen Facetten. Einige werden, ausgehend von eigenen Erfahrungen, aber auch unter Einbezug von Statistiken und Beobachtungen, in den folgenden Kapiteln wieder auftauchen. An dieser Stelle aber erscheinen mir drei Formen jenes Bindungsverlusts spannend, der wesentlich für die Einsamkeit ist. Fforde nennt: die persönliche Einsamkeit, Beziehungen ohne echte Inhalte und die allgemeine Schwäche der Institutionen und Mechanismen der Gesellschaft.
Die persönliche Einsamkeit kann früh auftreten oder erst im Alter. Aber sie hat sicher auch mit einer »Versingelisierung« der Gesellschaft zu tun. Nun will ich nicht auf das Leben als Single per se schimpfen, und es geht mir nicht darum, Single-Wurstpäckchen oder Datingportale an sich zu kritisieren. Aber sind letztere nicht gerade ein Ausdruck dafür, dass viele Singles eben doch kein Single sein wollen und sich in solch einem Leben oft einsam fühlen? Sind nicht die unterschiedlichsten Versuche, Kontakte zu finden, auch Hilferufe oder zumindest der Ausdruck eines Unwohlseins in dem Allein-Leben. Sicher – und das werde ich weiter unten noch anreißen –: Nicht jeder, der als Single lebt, lebt auch allein. Und nicht jeder, der als Single oder allein lebt, ist auch einsam. Und doch sind die Statistiken, mit denen solche Portale werben, ein deutlicher Fingerzeig, wenn sie etwa von ca. 16,8 Millionen Singles im Alter von 18 bis 65 Jahren sprechen oder davon, dass diese im Schnitt zwischen fünf und sechs Jahren ohne Partner oder Partnerin leben. Genauso wie eine Statistik auf statista.com, einem Online-Portal für Statistik: »Laut der Verbrauchs- und Medienanalyse waren in Deutschland im Jahr 2018 rund 35,3 Prozent der Singles bis 49 Jahre Frauen. Folglich waren rund 64,7 Prozent der Singles in dieser Altersgruppe männlich.« Die Folgerung aus solchen Zahlen: Das Konzept »Familie« hat sich radikal verändert. Nicht, dass man nicht auch innerhalb einer Familie allein und einsam sein könnte. Das kennen wir nur zu gut. Und doch ist diese »Entfamilisierung« ein Faktor, der wichtig für die Frage nach der Einsamkeit ist.
Die Beziehung ohne echte Inhalte kennen wir ebenfalls gut. Das können bloße Smalltalk-Beziehungen auf dem Weg zur Arbeit sein, die zwar für das Miteinander wichtig sind, aber eben im wahrsten Sinne des Wortes nur zum »guten Ton« gehören und keine wirkliche Beziehung darstellen. Wir kennen diese Beziehungen auch aus den Netzwerken, wo der Begriff »Freundschaft« inflationär gebraucht wird, aber oft wenig mit dem zu tun hat, was Freundschaft wirklich bedeutet. Die Vereinsamung vor den Computern und Smartphones, in den Foren und Chatrooms ist oft genug beschrieben und beklagt worden, sie braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Wobei klar ist, dass die sozialen Netzwerke auch Vorteile haben können und, um nur ein Beispiel zu nennen, Trauerforen vielen Menschen wirklich und substanziell geholfen haben. Doch allgemein ist die Aushöhlung des Beziehungserlebens durch eine gewisse Abstumpfung fraglos ein Phänomen der sozialen Netzwerke. Es gibt dazu eine Studie der Soziologin Sherry Turkle, die sie in ihrem Buch Verloren unter 100 Freunden vorlegt. Für Turkle ist klar: Digitale Medien verhindern echte soziale Bindungen und verstärken die Einsamkeit nicht nur, sondern verursachen sie sogar. Zum Beleg führt sie eine Befragung von knapp 1800 Erwachsenen an, deren Ergebnis lautet, dass alle Teilnehmer, die am Tag mehr als zwei Stunden Onlinemedien nutzen, sich mit einer doppelt so hohen Wahrscheinlichkeit einsam fühlten. Das bestätigt empirisch, was viele von uns intuitiv sagen würden oder auch selbst erfahren haben: Zum Durchbrechen von Einsamkeit, zur Erfahrung von Freundschaft und Geborgenheit gehört nun einmal auch der persönliche Kontakt, die Berührung. Wir sind eben nicht nur Follower, sondern Personen – und die brauchen persönliche Beziehungen, die unsere Personalität, also all unsere Facetten, erfassen und bereichern.
Zuletzt sind, ausgehend von Fforde, noch die Schwäche der Institutionen zu nennen, wozu man, wenn man so will, auch die Familie zählen kann. Doch geht es Fforde vor allem um Institutionen im strengeren Sinne. Und hier glaube ich, dass Fforde nicht im Ganzen recht gegeben werden kann. Gerade im Umgang mit Flüchtlingen erleben wir, dass soziale Organisationen, die ja auch zu den Institutionen zu zählen sind, Großartiges geleistet haben. Zudem gibt es viele, aber immer noch viel zu wenige Organisationen, die sich anderer annehmen und dadurch dezidiert gegen die Einsamkeit kämpfen. Die Welt, wie ich sie kenne, ist noch lange kein Kampfplatz jeder gegen jeder, wir sind noch lange nicht alle zu Gespenstern der Einsamkeit geworden. Und doch stimmt es natürlich, dass das Vertrauen zu staatlichen Behörden oder eben gerade auch zu Institutionen wie der katholischen oder evangelischen Kirche massiv abgenommen hat. Das zeigen die Zahlen Jahr für Jahr erneut, und das ist eine dramatische Entwicklung. Abgeordnete oder Priester haben in unserer Gesellschaft in erschreckendem Maße an Vertrauen und Ansehen eingebüßt, und das, wenn ich vor allem an Kirche denke, in nicht wenigen Punkten völlig zurecht. Dieses mangelnde Vertrauen führt nun auch zu einer schreienden Einsamkeit. »Die hören uns nicht zu«, »Die interessieren sich nicht für uns«, »Die wollen doch eh nichts ändern«: Das alles sind Schreie der Einsamkeit und der Ohnmacht, die aus dieser Einsamkeit resultieren. Wenn Menschen das Gefühl haben, abgehängt zu sein, schotten sie sich ab und werden einsam. Wenn Menschen das Gefühl haben, nichts mehr bestimmen zu können, werden sie zunächst unheimisch in unserer Gesellschaft und dann unheimisch in ihrem eigenen Leben.
Einsamkeit im Kloster
Klöster sind Orte der Gemeinschaft. Wie soll da ein Mensch allein sein, wie kann er dort einsam sein? – Sie glauben gar nicht, wie einsam man im Kloster sein kann; wie man dort neben seinen Mitschwestern oder Mitbrüdern herlebt; wie man das Leben eben nicht teilt, im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern sich existenziell gesehen nur begegnet. Man kann unter einem Dach zusammenleben und nichts miteinander zu tun haben. Vielleicht brennt die Einsamkeit im Kloster sogar noch viel stärker, weil die Gemeinschaft Teil des Charismas, des Auftrags ist, weil sie der Grund ist, weswegen viele von uns überhaupt ins Kloster eingetreten sind.
Ich kenne unzählige und sehr verschiedene Klöster weltweit, ganz unterschiedliche Gemeinschaften, und ich habe immer wieder erlebt: Mönche oder Nonnen leben nebeneinander, aber nicht eigentlich miteinander. Es ist kein Miteinander, sondern ein Nebeneinander, kein gemeinschaftliches Leben. Eine Gemeinschaft muss ein organisches Ganzes bilden, einen lebendigen Körper – der heilige Paulus spricht von dem einen Leib mit den vielen Charismen. Und die Lebendigkeit der Beziehungen untereinander darf nicht durch äußere asketische Anordnungen unterbunden sein, sondern muss im Gegenteil gefördert werden. Vor allem früher gab es die Angst vor den so genannten »Partikularfreundschaften«, mit ganz konkreten Folgen oder Forderungen. So sollte man beispielsweise nicht zu zweit auf einem Zimmer sein, oder wenn, dann wenigstens die Tür offen stehen lassen. Das halte ich für fatal! Wenn ein Bruder sich mit einem andern austauschen oder mit ihm ein Problem besprechen will, dann muss es möglich sein, zu einem persönlichen Gespräch auf das Zimmer des andern zu gehen, ohne dass die Tür offen bleiben muss. Die Angst vor »Partikularfreundschaften« oder vor homosexuellen Beziehungen halte ich für übertrieben und gefährlich.
Sicherlich besteht ein Problem darin, dass Mönche auch in der besten Gemeinschaft ein Stück weit einsam bleiben, insofern sie ihr Verlangen nach Intimität nicht ausleben können, sondern sich disziplinieren müssen. Doch auch in der Ehe bleibt oft ein Stück Einsamkeit vorhanden. Ein guter Bekannter schrieb mir: »Weißt du, ich verstehe mich mit meiner Frau sehr gut; aber eine gewisse Fremdheit bleibt doch.« Ich sehe das keineswegs negativ, es erscheint mir vielmehr eine gesunde Herausforderung zu sein, sich nicht von den Gefühlen beherrschen zu lassen, sondern mehr aufeinander zu achten und zu hören. Wieder einmal lässt sich das geflügelte Wort des heiligen Augustinus zitieren: »Unser Herz kommt nicht eher zur Ruhe, als bis es ruht in dir, mein Gott.« Nur Gott kann uns unsere letzte Einsamkeit nehmen.
Sind Klöster also Horte der Einsamkeit? Nein, das wäre übertrieben. Als ich definitiv von Rom in mein Kloster zurückkehrte, kamen Mitbrüder auf mich zu, wie schön es sei, dass ich wieder hier sei. Sie hätten schon lange darauf gewartet. Mit derselben Freude erwarteten sie mich, als ich aus dem Krankenhaus zurückkehrte. Ich kenne wunderbare Gemeinschaften, die miteinander leben, in denen der Einzelne sowohl Platz für sich als auch für den anderen und das Wir hat. Und: Es gibt Einsamkeit im Kloster, aber durchaus auch Wege, aus der Vereinsamung herauszukommen. In einer klösterlichen Gemeinschaft, die ich einmal besuchte, jammerte jeder Mitbruder, keiner würde sich für ihn interessieren. Meine einfache Gegenfrage »Und für wen interessierst du dich?« klang schon fast wie eine beleidigende Herausforderung. Doch das ist der einzige Weg, und oft müssen wir einander buchstäblich herausfordern, um Menschen aus der Vereinsamung herauszuholen. Wir müssen uns fragen, ob wir denn uns nicht selbst in die Einsamkeit »hineinisolieren«. Und wir müssen andere animieren, aus der Einsamkeit heraus zu wollen, denn das ist der Anfang. Einen alten Sinnspruch abgewandelt genommen: Wer nicht will, der hat, das gilt auch bei der Einsamkeit.
Die Parallelen einer Klostergemeinschaft und einer Familie liegen, auch wenn es Unterschiede gibt, auf der Hand, und auch die Frage nach der Einsamkeit darin. Aber auch bei anderen Formen sehe ich Ähnlichkeiten: Zum Beispiel bei Mitbrüdern oder -schwestern, die in ein anderes Kloster gehen, die Missionar werden, deren Kloster, in dem sie vielleicht Jahrzehnte gelebt haben, plötzlich aufgelöst werden muss. Sie können Einsamkeit verspüren wie Menschen, die aus beruflichen Gründen oder weil sie sich wegen zu hoher Mieten eine bestimmte Lage nicht mehr leisten können, umziehen müssen. Es fehlt die vertraute Umgebung, das, was einem Sicherheit gab, das Gefühl von Geborgenheit und Heimat. Heimatverlust ist sicherlich ein nicht zu unterschätzender Grund für Einsamkeit. Denn nicht nur die gewohnte Umgebung fehlt: Für die meisten der alten Freunde ist man plötzlich vom Horizont verschwunden, und einen neuen Freundeskreis hat man noch nicht gefunden. Es verlangt dann eine zähe Arbeit, Kontakt zu andern zu knüpfen. Wir werden merken, dass wir nicht zu ihnen gehören, ihre Kreise sind oft geschlossen. Frauen haben da eher die Chance, mit Nachbarinnen anzuknüpfen. Und es bedarf einer gewissen Unbefangenheit, einfach auf Menschen zuzugehen und sie anzusprechen. Lernen wir von den kleinen Kindern! Auf Flughäfen konnte ich oft beobachten, wie sie aufeinander zurennen und miteinander spielen, selbst wenn sie die Sprache des andern gar nicht verstehen. Allerdings zeigen nur die kleineren Kinder diese Spontaneität, werden sie älter, kommt auch bei ihnen jene trennende Scheu zum Tragen, die uns Erwachsenen erhalten bleibt. Diese Grenzen müssen wir bewusst durchbrechen. Ich bestaune immer wieder die Wirtsleute. Sie gehen von Tisch zu Tisch, sind offen für ihre Gäste, halten ein kleines Schwätzchen, und manche von ihnen werden dabei anscheinend niemals müde. Offenbar ist auch das ein Charisma, ohne das man den Beruf nicht ergreifen sollte.
Ich denke in diesem Kontext oft an Jesus, der ständig seine gewohnte Umgebung verlassen hat. Der die Leute, und nicht nur seine Jünger, aufgefordert hat, alles zurückzulassen und zu den Menschen, zu fremden Menschen, zu gehen. In der gesamten Lebensgeschichte Jesu zeigt sich etwas Entscheidendes im Bezug auf Einsamkeit: Immer gilt es, den ersten Schritt zu wagen, aus sich herauszugehen, auf andere zuzugehen. Die andern spüren sehr wohl, wenn es sich um echte Zuwendung handelt. Man muss die Menschen mögen, das ist die Voraussetzung. Wer ängstlich nur auf sich bedacht ist, wird sich schwer tun. Er bleibt abgeschottet und einsam. Im Beruf, in der Familie – oder eben im Kloster.
Jesus auf dem Ölberg und die Einsamkeit am Kreuz
Die Figur, das Leben und die Gedanken Jesu sind für eine Beschäftigung mit Einsamkeit unglaublich spannend, und es gibt sehr viele Perspektiven und Facetten. Für den Evangelisten Lukas beispielsweise ist das Gebet Jesu von besonderer Bedeutung. Immer steht es im Zusammenhang mit wichtigen Ereignissen. In Kapitel 3, Vers 21 des Lukasevangeliums betet Jesus bei der Taufe im Jordan. Es öffnet sich der Himmel, der Heilige Geist kommt in Gestalt einer Taube auf ihn herab, und eine Stimme aus dem Himmel bezeugt das Geheimnis Jesu: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.« Ähnlich geschieht es in Kapitel 9, Vers 28–36: Jesus hat sich mit Petrus, Johannes und Jakobus auf einen Berg zurückgezogen, und während er betet, verändert sich das Aussehen seines Gesichts, und sein Gewand wird leuchtend weiß. Aus einer Wolke ruft eine Stimme: »Dies ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören!« Vor der Wahl der zwölf Apostel geht Jesus ebenfalls auf einen Berg, »um zu beten, und er verbrachte die ganze Nacht im Gebet zu Gott. Als es Tag geworden war, rief er seine Jünger herbei und wählte zwölf aus ihnen aus«. (6,12–13) Auch das Messias-Bekenntnis des Petrus ist mit dem Gebet verbunden: »Als er in der Einsamkeit betete, waren die Jünger bei ihm, und er fragte sie: Für wen halten mich die Volksscharen? (…) Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Petrus antwortete: Für den Messias Gottes.« (9,18–20)