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Michelin und Angela sind seit einem Jahr ein glückliches Paar. Der Altersunterschied zwischen ihnen störte bisher niemanden - doch das ändert sich, als Michelin offenbart, was ihr in ihrem Leben noch fehlt: ein Baby! Angela, bereits mit einer erwachsenen Tochter geschlagen, sträubt sich mit Händen und Füßen gegen diesen Plan. Auch die Freundinnen aus der Szene begegnen dem Kinderwunsch mit sehr gemischten Gefühlen. Und schließlich stellt sich ja auch die Frage: Wie soll das gehen, mit dem Kind - wenn kein Mann im Spiel ist?
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Seitenzahl: 326
Mirjam Müntefering, geboren 1969 im Sauerland, studierte Theater- und Filmwissenschaften sowie Germanistik und arbeitete als Fernsehredakteurin. Seit dem Jahr 2000 schreibt sie Jugendbücher und Romane für Erwachsene. Nachdem sie mehrere Jahre lang eine eigene Hundeschule betrieb, konzentriert sie sich inzwischen ganz aufs Schreiben. Sie lebt mit ihrer Partnerin und ihren zwei Hunden Maggie und Holly im Ruhrgebiet.
Mirjam Müntefering
Jetzt zu dritt
Roman
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2013/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Umschlaggestaltung: Bettina Reubelt
Titelillustration: getty-images/David Lees
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-8387-4885-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meine Mama Renate,
die sich damals für mich entschieden hat
und damit volles Brett recht hatte
Dies ist nicht meine Alm.
Mein ruhiger beseelter Ort, an dem liebliches Vogelgezwitscher Sonnenauf- und untergang begleitet. An dem das innere Gleichgewicht sich wie von selbst einfindet. Zu dem – auch wenn es dort keinen Zaun gibt – niemand Zugang findet, den nicht ich selbst dorthin eingeladen habe.
Dies ist ganz sicher nicht der Platz für intime Gespräche unter eng Vertrauten, die sich mitteilen, was sonst nur schwer über die Lippen kommt.
Nein, so etwas wie diesen gewissen verzauberten Ort, den ich so liebe und den meine Freundinnen als so typisch für mich bezeichnen, ist hier ganz sicher nicht zu finden.
Trotzdem: Es ist einfach nur geil, hier zu sein!
Man stelle sich vor: Zehntausend Lesben und Schwule stürmen an einem strahlend sonnigen Sommertag das Phantasialand bei Köln. Sie lassen es sich nicht nehmen, auf Stöckelschuhen um die Wette zu rennen, und sie grölen denjenigen zu, die vom Rücken des mechanischen Bullens in pinkfarbene Kissenberge geschleudert werden. Sämtliche Eis-Pizza-Hamburger-Läden sind von ihnen genauso belagert wie die bunten Varieté-Theater. Überall, wohin man schaut: Frauen, die Hand in Hand gehen und Männer, die sich Kusshändchen zuwerfen. Sie flanieren. Sie präsentieren. Sie schauen mit strahlenden Augen um sich. Und sie kreischen in den Attraktionen, in denen sie kopfüber in den Sicherheitsbügeln hängen und sich bemühen, sich nicht auf die verschreckten heterosexuellen Schaulustigen unten am Boden zu übergeben.
Hin und wieder bin sogar ich für solch schrille Unternehmungen zu haben. Besonders wenn ich umgeben bin von Menschen, die mir so am Herzen liegen wie meine Freundinnenschar.
Es ist schon selten genug, dass sich drei Lesben-Paare so einig sind wie wir es waren: Zum Fantasy-Pride müssen wir dieses Jahr unbedingt hin!
Jetzt schlendern wir seit etwa fünfzehn Minuten herum und sind bereits bestens dabei, unsere sowieso schon gute Laune an die hier herrschende, aufgedrehte Partystimmung anzupassen.
Aber das, was Jackie uns gerade vorgeschlagen hat, geht natürlich zu weit.
»Bist du sicher?«, hake ich noch einmal nach. »Ich meine, gerade jetzt, wo du eine harmonische Beziehung hast, wo eine Glückssträhne im Job die nächste jagt … ausgerechnet jetzt willst du Selbstmord begehen?« Sie ist neben meiner Exfreundin Ellen meine allerbeste Freundin. Und der Gedanken, sie auf solch eine grausame Weise zu verlieren, ist mir unerträglich.
Jackie grinst breit. Aus ihrem schokoladenfarbigen Gesicht leuchten die weißen Zähne.
»Stell dich nicht so an, Michelin. Das ist nur eine Achterbahn, weiter nichts«, antwortet an ihrer Stelle Frauke.
»Mit drei Loopings«, ergänze ich.
»Der dritte ist immer der beste«, meldet sich Angela. Meine Angela! Die Frau, die ich liebe und die ich bisher bis auf den Grund ihrer blütenreinen Seele zu kennen glaubte. Ellen, die neben meiner Liebsten steht, steckt sich bereits das hüftlange, lockige Haar zusammen, damit es im Fahrgeschäft nicht durcheinandergewirbelt wird. Jackie ist ihrer Partnerin sofort behilflich. Bei so viel Konkurrenz um uns herum gibt sie sich heute besonders viel Mühe, zuvorkommend zu unserem blonden Engel zu sein.
Leider habe ich keine Muße, über dieses hübsche Paar zu schmunzeln.
Ich starre Angela an. »Du willst doch nicht etwa mit da rein?« Der Zeigefinger am Ende meines ausgestreckten Armes deutet leicht zitternd auf das Stahlgerüst, vor dem wir Position bezogen haben.
»Natürlich!«, schmettert Angela und sieht so aus, als könne sie es gar nicht erwarten, in dieses Höllengefährt zu steigen.
In diesem Augenblick donnern die aneinandergereihten Wagen auf den summenden Schienen an uns vorbei. Darin sitzen zwei Dutzend weit aufgerissene Münder und doppelt so viele gen Himmel verdrehte Augen.
Meine Freundinnen kreischen solidarisch auf.
»Ich weiß nicht!«, brülle ich und warte dann lieber ab, bis ich mein eigenes Wort wieder verstehen kann. »Ich weiß nicht«, beginne ich dann noch mal. »Ich dachte, wir fahren hierher, um ganz viel Community zu erleben. Um die Shows zu sehen. Meinetwegen auch um Leute zu treffen. Eben um Spaß zu haben.«
»Ganz richtig!«, strahlt Angela mich an.
Ich wende mich Hilfe suchend an meine liebe Arbeitskollegin Frauke und deren Partnerin Antonie. Frauke ist ein Verstandesmensch. Sie denkt logisch wie keine Zweite. Und Antonie, als examinierte Medizinerin, wenn auch für Tiere, wird sicher bestätigen, dass dieses Vorhaben absolut ungesund, schädlich und daher vollkommen indiskutabel ist.
Doch bevor ich den Mund aufmachen kann, um sie um eine hilfreiche Stellungnahme zu den Themen ›Halswirbeltrauma‹, ›spontaner Tinitus‹ oder einfach ›Menschen-sind-fehlbar-und-daher-kann-jederzeit-so-eine-Bahnaus-ihren-Schienen-springen‹ bitten kann, schwingt Antonie ihren Rucksack vom Rücken und hält ihn mir hin.
»Wenn du nicht mitkommst, kannst du vielleicht kurz meine Sachen halten?«
Mechanisch greife ich nach dem Rucksack.
»Oh, cool. Meine auch, bitte. Aber pass auf, da ist meine Lesebrille drin«, schließt sich ihr Ellen an.
Innerhalb kürzester Zeit sehe ich aus wie ein Muli. Bestimmt gucke ich auch genauso.
»Wenn du willst, mach doch ein Foto, wenn wir vorbeikommen. Du kannst dich ja da vorne auf die Bank setzen. Dann musst du nicht mit den ganzen Sachen hier rumstehen«, verabschiedet sich die große Liebe meines Lebens. Dann hakt Angela sich bei meinen Freundinnen ein und schreitet ihrem grausamen Schicksal mit erhobenem Kopf lachend entgegen.
Wie schön, dass sie so an mich denkt!
Ich starre der kleinen Gruppe der mir liebsten Menschen hinterher. Vielleicht sind ihre Hinterköpfe, ihre irritierend wippenden Schritte das Letzte, was ich von ihnen in heilem Zustand in Erinnerung behalten werde.
Als sie um die Ecke biegen, um sich in die Schlange der Wartenden einzureihen, muss ich schlucken.
Dann drehe ich mich mit einem tiefen Seufzer um.
Die Bank, auf die Angela mich hingewiesen hat, ist immer noch leer und scheint geradezu auf eine verzweifelte Zurückgelassene zu warten.
Ich schleppe die zig Taschen und Rucksäcke, vielleicht die letzte Hinterlassenschaft meiner Freundinnen, dorthin und lasse mich ächzend auf dem blanken Holz nieder.
Vor mich hin sinnend sitze ich dort und zucke jedes Mal zusammen, wenn wieder eine Bahn mit um Hilfe schreienden Insassen vorbeigedonnert kommt.
Dass Jackie und Ellen vom Wahnsinn nicht weit entfernt sind, war mir schon immer klar.
Wie sonst hätte es geschehen können, dass sich die beiden nach etlichen Jahren, in denen Ellen meine Partnerin und Jackie meine beste Freundin gewesen ist und in denen keine an der anderen ein gutes Haar lassen konnte, plötzlich ineinander verlieben?
Nun sind sie also seit mehr als zwei Jahren ein Paar. Genauso wie meine liebste Angela und ich.
Als ich Angela kennenlernte, lebte sie gerade in Scheidung von ihrem Mann. Dass sie sich mit ihren vierzig Jahren in eine Dreißigjährige – eben mich – verliebte, die ihre erwachsene, lesbische Tochter Lena angeschleppt hatte, kam für sie damals einem Weltuntergang gleich.
Umso erschreckender finde ich, dass sie jetzt zu einem viel größeren Risiko bereit ist – ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Zwei Jahre Lebensgemeinschaft mit mir müssen sie tatsächlich auf links gekrempelt haben.
»Hallo«, sagt da eine sehr hohe Stimme mitten in meine tiefschürfenden Gedanken hinein.
Ich blicke auf und sehe rechts neben der Bank ein kleines Mädchen von vielleicht fünf oder sechs Jahren.
Sie trägt kurze Hosen und ein pinkfarbenes T-Shirt mit einem Pokemon-Aufdruck.
Um den Hals baumelt ihr ein Brustbeutel.
Die Hände hat sie verlegen hinter dem Rücken verschränkt, und ihr Blick ist begehrlich auf die freie Stelle neben mir auf der Bank gerichtet.
»Hallo«, antworte ich freundlich. »Wer bist du denn?«
»Jule«, sagt die Kleine. »Und du?«
»Michelin«, erwidere ich.
Jule kichert hinter vorgehaltener Hand. »Das ist aber ein komischer Name!«
Ich seufze übertrieben. »Ja, das sagen mir viele Leute. Aber irgendwann gewöhnt man sich daran, weißt du.«
Jule schielt wieder auf den freien Platz neben mir.
»Willst du dich zu mir setzen?«, frage ich sie.
Sie nickt. »Ich muss hier warten.«
»Ich warte auch. Na, dann komm mal rauf«, sage ich. »So dick sind wir zwei ja nicht. Wir passen schon beide auf die Bank.«
Die Kleine kichert erneut und setzt sich mit ein wenig Mühe auf die Bank.
Ihre Beine sind so kurz, dass sie den Boden nicht berühren und vor und zurück baumeln.
»Auf wen musst du denn warten?«, frage ich. »Sind deine Eltern etwa auch in der Achterbahn?«
Wieder nickt sie. Und ich wundere mich darüber, wie ein gutes, deutsches Ehepaar auf die Idee kommen kann, ein kleines Mädchen unten vor einer Loopingbahn stehen zu lassen, während es selbst sich diesem zweifelhaften Vergnügen hingibt.
»Mama wollte mit mir warten, aber ich bin doch kein Baby mehr«, erzählt Jule jetzt, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Ich komm bald in die Schule.«
Zum ersten Mal sieht sie mich richtig an. In ihren runden, haselnussbraunen Augen liegt die unausgesprochene Aufforderung um gebührende Anerkennung ihres weit fortgeschrittenen Alters.
»Oh, cool!«, erwidere ich mit einem langsamen Kopfnicken. »Das wird dir gefallen. Ich bin auch gerne zur Schule gegangen.«
»Jannis sagt, Schule macht nur den I-Männchen Spaß. Aber ich bin ja auch erst mal ein I-Männchen.«
»So ein Unsinn!«, ereifere ich mich. »Schule macht auch später noch Spaß. Man muss halt nur ein bisschen fleißig sein und genug lernen und die Hausaufgaben immer machen. Außerdem geht es ja in der Schule nicht nur um Rechnen und Schreiben. Du lernst auch eine Menge netter Kinder kennen.«
Kurz, ganz kurz nur, blitzt vor meinem inneren Auge eine Erinnerung an Stefanie und Gudrun auf, die in meiner Grundschulklasse waren und mit denen ich im vierten Schuljahr Nachmittage lang im Gymnastikraum von Gudruns Mutter geknutscht habe. Ich schüttele leicht den Kopf.
»Jannis sagt, die anderen Kinder werden mich bestimmt hänseln, weil ich demnächst eine Zahnspange tragen muss«, weiß Jule zu berichten.
»Quatsch mit Soße!«, kommentiere ich, und sie kichert wieder los. »Wer ist denn eigentlich dieser Jannis, der solche Dummheiten erzählt?«
Jetzt seufzt Jule und schlägt sich mit der flachen Hand auf den dünnen Oberschenkel. »Mein Bruder. Und der tut immer sooo schlau. Weil er älter ist und schon viel mehr darf als ich.«
Bevor ich etwas antworten kann, jagt auf der anderen Seite des Kiesweges eine Bahn vorüber, die einen Schwanz aus lautem Gekreisch hinter sich herzieht.
Die Wagen sind so schnell, dass ich unmöglich erkennen kann, ob Angela und meine Freundinnen drinnen sitzen.
»Die spinnen, oder?«, sagt Jule und sieht mich mit leuchtenden Augen an.
»Total!«, sage ich.
»Wenn ich größer bin und da reindarf, mach ich das auch!«, bekennt sie.
»Echt?« Ich bin beeindruckt. So jung. Und schon so leichtsinnig.
»Ja. Ich bin voll mutig. Wieso machst du nicht mit?«
Der neugierige Blick bereitet mir plötzlich Unbehagen.
Ich räuspere mich.
»Oh, ich muss auf die ganzen Taschen und so aufpassen. Die darf man ja nicht mit reinnehmen.«
Sie verzieht den Mund und mustert mich, als würde meine Aussage ein neues Licht auf mich werfen. »Das ist aber echt lieb von dir, dass du das machst.«
»Ja, so bin ich …«
So bin ich? Ich lüge kleine, fremde Kinder an!
Beklommen starre ich einen Augenblick auf meine Hände, die ich in meinem Schoß gefaltet habe.
»Hast du auch Kinder?«, überrascht Jule mich mit ihrer nächsten Frage.
Ich schüttele den Kopf. »Leider nicht.«
»Wie alt bist du denn?«
»Ehm … zweiunddreißig.«
»Ist das jünger als vierzig?«, erkundigt Jule sich.
»Oh ja!«, nicke ich eifrig. »Sehr, sehr viel jünger als vierzig!« Gut, dass Angela mich jetzt gerade nicht hören kann.
Jule zuckt die Achseln, als hätte sie mit meiner Antwort ein Problem gelöst. »Na, dann kannst du doch noch Kinder bekommen, wenn du willst.«
Ich muss sagen, die Kleine hat es offenbar in sich.
»Woher weißt du das denn?«
Sie schlenkert wieder mit den Beinen.
»Hat Mama gesagt. Sie hat gesagt, dass Tante Patricia auf alle Fälle noch Kinder bekommen kann, weil sie jünger als vierzig ist. Mama ist auch jünger als vierzig. Aber ich kriege trotzdem keine kleine Schwester.«
»Wie schade!«
»Ja! Dann könnte Jannis nämlich einpacken! Wenn wir zwei Mädchen wären, dann würden wir ihn zusammen verkloppen.«
»Aber! Aber!«, bremse ich ihren Eifer ein bisschen.
»Nur im Spaß natürlich«, setzt Jule rasch hinzu. Offenbar ist ihr gerade eingefallen, dass ich eine Erwachsene bin – genau wie ihre Mama.
Die sich im Übrigen wundern würde, wenn sie wüsste, mit wem ihre unschuldige Tochter sich hier die Wartezeit vertreibt.
»Möchtest du ein Schoko-Bonbon?«, frage ich und krame in Jackies Tasche. Sie hat immer irgendwelche Naschereien dabei.
Jule zögert.
Als ich ihr ein Toffee hinhalte, weiten sich ihre Augen noch ein bisschen mehr.
Tapfer schüttelt sie jedoch den Kopf.
»Mutti sagt, das darf ich nicht, wenn sie nicht dabei ist. So ein Bonbon könnte vergiftet sein.«
Ich lache auf. Jule lacht ein bisschen mit. Wohl um mir zu zeigen, dass sie nicht die Bohne an solche Schauermärchen glaubt.
»Okay, pass auf. Dann machen wir jetzt einen Deal …«
»Was ist ein Deal?«, unterbricht sie mich.
Ich überlege. »Eine Art Abkommen. Ein Vertrag. So, dass du ganz sicher sein kannst, dass dein Bonbon nicht vergiftet ist. Bist du bereit?«
Jule nickt.
Ich halte ihr auf der flachen Hand zwei Bonbons hin.
»Wenn ich eins von den Bonbon vergiftet hätte, dann wüsste ich ja nicht, welches du jetzt nehmen würdest, oder?«
Diesmal schüttelt sie den Kopf.
»Dann zeig doch jetzt auf das Bonbon, das du gerne hättest. Ich esse es dann selbst. Dann siehst du, dass es nicht vergiftet ist. Und du kannst dann das andere nehmen. Sollen wir es so machen?«
Einen Moment lang ringt Jule mit ihrem Gewissen, doch dann nickt sie und schluckt rasch den Speichel hinunter, der sich bereits in ihrem kleinen Mund gesammelt hat.
»Das da!« Sie tippt auf eines der beiden Bonbons.
Ich nehme es vorsichtig mit spitzen Fingern von meiner Hand, ziehe das Papier mit den Zähnen auf und schiebe mir die Süßigkeit in den Mund.
»Mmmmmmh!«, mache ich dann. »Das sind zufällig meine Lieblings-Schokoladen-Bonbons.«
»Meine auch«, gesteht Jule, den Blick fest auf das verbliebene Bonbon gehaftet.
»Nicht vergiftet! Siehst du?« Ich lächele sie strahlend an.
Daraufhin greift Jule beherzt das verbliebene, wickelt es in Windeseile aus dem Papier und schiebt es sich genüsslich zwischen die Zähne.
»Coooooler Deal!«, bringt sie am Toffee vorbei heraus.
Ich muss lachen.
Ganz nebenbei stelle ich fest, dass dies der einzige Nachteil ist an einem hauptsächlich homosexuellen Freundeskreis: Es gibt viel zu wenig Kinder in meinem Umfeld!
Denn immer, wenn ich einem begegne, bin ich hin und weg.
Ich finde einfach, Kinder haben in jedem Alter enorme Vorzüge. Zuerst sind sie hilfsbedürftig und kuschelig, riechen so gut und bedienen einfach voll meinen Schutztrieb. Dann sind sie Weltentdecker, neugierig, wissensdurstig, mit enormem Willen, alles zu erobern, was sie noch nicht kennen. Sie besitzen eine solche umwerfende Energie, glauben an alles. Ihre Naivität berührt mich und lässt mich hoffen, dass unsere Welt doch noch nicht verloren ist.
Wenn ich Jule so aus dem Augenwinkel betrachte, wie sie zufrieden das Schokotoffee lutscht, überkommt mich der Wunsch, ihre kleine Hand in meiner zu fühlen.
Verrückt.
»Oh, guck mal, da sind sie!«, ruft Jule da plötzlich, springt von der Bank und rennt den Weg entlang zwischen den flanierenden Menschen hindurch, die den vorbeisausenden Achterbahnen beeindruckt nachschauen.
Jule breitet die Arme aus und fällt einer Frau um den Hals, die sich lachend hinunterbeugt und die Kleine an sich drückt.
Die Frau trägt den gleichen zerstrubbelten Kurzhaarschnitt wie ihre Tochter.
Hinter ihr sieht man das sommersprossenübersäte Gesicht eines pubertären Jungen, der noch ganz unter dem Einfluss der gerade erlebten wilden Fahrt zu stehen scheint. Und direkt neben ihm …
Ich spüre selbst, wie ich beginne, zu starren.
Das heißt, ich bewege den Kopf keinen Millimeter und glotze aus großen Augen auf das, was ich da sehe.
Neben dem Jungen geht eine weitere Frau. Ihre schulterlangen Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden.
Mit der einen Hand greift sie nach Jules Hand, während die Kleine sie mit Fragen bestürmt. In der anderen Hand aber hält sie die von Jules Mama.
Ein Lesbenpaar!
Ich klappe meinen Mund rasch wieder zu, bevor die Familie bei mir angekommen ist.
»Mama! Mutti! Guckt mal, hier hab ich gewartet!«, ruft Jule, löst sich von der Hand ihrer Mutti und setzt sich noch einmal neben mich auf die Bank.
»Ging es denn?«, wendet sich die kurzhaarige Frau lächelnd an mich.
»Es war toll«, antworte ich wahrheitsgemäß.
»Sie passt auf die Taschen auf. Lieb, ne?« Jule springt wieder auf und hängt sich an den Arm der anderen Frau. »Und sie ist jünger als vierzig!«, trompetet sie dann.
Wir Erwachsenen lachen. Der Junge verzieht das Gesicht zu einer Grimasse.
»Hast du dich denn wenigstens vorgestellt?«, will die langhaarige Frau wissen.
»Hat sie!«, erwidere ich an Jules Stelle.
»Ja, hab ich! Aber deinen Namen hab ich wieder vergessen. Der war schwierig.«
»Michelin«, wiederhole ich langsam.
»Michelin!«, eifert Jule mir nach. Da fällt ihr noch etwas ein. »Michelin hat mir ein Bonbon gegeben. Und mit einem Deal haben wir rausgefunden, dass es nicht vergiftet war.«
»Tatsächlich?« Jules Mütter sehen zuerst sich gegenseitig und dann mich grinsend an.
»Danke dafür«, sagt die eine.
»Gerne«, antworte ich. »Na, dann tschüss.« Die Familie wendet sich zum Gehen.
»Tschüss, Michelin!«, ruft Jule übermütig, schnappt sich rechts und links je eine Mutterhand und hüpft zwischen ihnen den Weg entlang.
Ich höre noch eine ganze Weile meinen Namen, als Singsang aus ihrem Mund.
Mit heller Stimme perlt es zu mir herüber und wird erst allmählich leiser und leise: »Michelin … Michelin … Michelin … Michelin …«
Als ein paar Minuten später meine Freundinnen mit bleichen Gesichtern wieder bei mir aufschlagen, fühle ich mich immer noch wie betäubt.
»Deine liebe Angela war richtig wild darauf, ganz vorne zu sitzen«, stöhnt Ellen.
»Na, so was!«, mache ich und umarme Angela zärtlich. Doch die wehrt meinen Liebesbeweis sanft ab.
»Gleich geht’s wieder«, murmelt sie und hüstelt ein bisschen. »Ich muss erst wieder spüren, dass ich festen Boden unter den Füßen habe.«
Ich kann ein fettes Grinsen nicht unterdrücken. »Es hat euch also gefallen, ja?«
Frauke und Antonie nicken begeistert.
»Am besten war, dass die Frau hinter uns ständig schrie: ›Ich will aussteigen! Ich will aussteigen!‹«, amüsiert Jackie sich.
»Hast du denn die Wartezeit gut rumbekommen?«, will Antonie wissen, die einen Magen aus Stahl zu haben scheint und nicht die Spur mitgenommen aussieht.
Kein Wunder. Wenn ich täglich Katern die Hoden entfernen oder Hunden irgendwelche nässenden Ekzeme behandeln müsste, würde mir wahrscheinlich von einer Achterbahnfahrt auch nicht übel.
»Oh, ja. Ich hatte Besuch«, sage ich schlicht. Wirklich nicht mehr. Aber diese wenigen Worte bringen die lieben Menschen, die mich umstehen, dazu, schlagartig ihre eigenen kleinen Gespräche oder Gedankenketten zu unterbrechen.
Frauke, Antonie, Ellen und Jackie glotzen mich neugierig an. Angelas grüne Augen wirken riesengroß.
»Jemand, den wir kennen?«, fragt Angela und versucht tatsächlich, es ganz nebensächlich klingen zu lassen. Ich muss darüber schmunzeln.
»Wenn, dann ist es eine ›sie‹, die wir kennen«, weiß Ellen mit einem einzigen Blick auf mich. »Michelin hat so einen gewissen Ausdruck im Gesicht.«
Angela mustert mich beunruhigt.
»Nicht, was du denkst«, säusele ich. »Es war nur ein kleines Mädchen. Jule, um genau zu sein. Sie wollte auch nicht in diesem Höllengefährt mitfahren. Und da haben wir eben gemeinsam gewartet.«
»Und Jule hatte nicht zufällig eine attraktive Mutter dabei?«, gräbt Jackie noch etwas tiefer.
Die arme Angela beginnt derweil hektisch in unserem Rucksack nach der Sonnencreme zu suchen.
»Gewartet haben wir allein. Aber die Mutter tauchte tatsächlich noch auf, nachdem sie die Fahrt überlebt hatte. Und zwar tauchte sie nicht allein auf. Jule hat nämlich gleich zwei Mütter.«
»Echt? Wie Susanne und Kerstin«, Jackie nickt allwissend.
»Ach, ich kenn auch mindestens …« Antonie zählt an ihren Fingern ab, wie viele Frauenpaare mit Kindern sie denn nun aus ihrem Bekanntenkreis zusammenbekommt.
Frauke sagt als Einzige nichts. Sie ist nach der Beziehung mit Lothar nun mit Antonie zusammen und hat erst vor Kurzem begonnen, bei lesbenspezifischen Dingen mitzureden. Lesbische Mutterschaft ist aber wohl etwas, womit sie sich noch nicht auseinandergesetzt hat. Ich kann ihre Neugierde an den spitzen Ohren deutlich erkennen.
Frauke sagt als Einzige nichts? Das stimmt nicht ganz. Angela hält sich auch sehr zurück bei dem, was meine Freundinnen nun zum Thema ›Homos kriegen Kinder‹ zu erzählen haben.
Es ist bestimmt nicht so, dass sie Insemination durch eine Ärztin, Samenbanken und die aktuelle Rechtslage zur Adoption nicht interessieren. Angela ist jedoch eine Person, die bei unguten Vorahnungen lieber den Kopf in den Sand steckt als der drohenden Gefahr direkt ins Auge zu sehen.
Und eine ungute Vorahnung hat sie ganz sicher. Denn schließlich haben wir noch nie über so eine Idee gesprochen – und das obwohl ich mich bei jeder Gelegenheit auf anwesende Kinder stürze und mit meiner Begeisterung für die ›kleinen Menschen‹ bestimmt nicht hinterm Berg halte.
Gerade erklärt Ellen mit typisch arrogantem Handgewedel: »Ich bin doch nicht bekloppt und ruiniere meine Figur, nur um dann mindestens ein Jahr lang nicht mehr durchschlafen zu können, stündlich Windeln zu wechseln und Breichen zu kochen.«
Angela scheint diesen infamen Schlag gegen die Mutterschaft überhaupt nicht gehört zu haben.
Statt ein Argument fürs Kinderkriegen in die Waagschale zu werfen, schlägt sie möglichst gelassen vor: »Wo es uns nun wieder besser geht, könnten wir uns doch mal nach einem schicken Restaurant umgucken?«
Damit reißt sie die Aufmerksamkeit der anderen direkt in eine komplett andere Richtung. Und anstatt sich darüber auszutauschen, wieso eine Schwangerschaft oder eine Adoption so gar nicht infrage kommt, wird plötzlich die hitzige Debatte rund um ›Pizza contra Pommes‹ geführt.
An diesem Gespräch beteiligt meine Freundin sich angeregt und gibt sich sogar schließlich mit einem reizenden Lachen geschlagen, als die Pommes-Fraktion gewinnt und wir – jede nun wieder mit ihrem eigenen Rucksack bewaffnet – losziehen, um in einem der vielen kleinen Schnellrestaurants sechs Plätze zu ergattern.
Trotzdem fällt mir auf, dass ihre Art, nach meiner Hand zu greifen und sanft ihren Daumen an meinem zu reiben, etwas Tröstendes hat. Als wolle sie mir darüber hinweghelfen, dass sie gerade bei diesem einen Thema so wenig gesprächsbereit ist.
Es ist aber auch sonderbar.
Jedes Mal, wenn das Gespräch auch nur entfernt auf ›lesbische Mutterschaft‹ kommt, weicht Angela aus, erfindet abstruse andere Gesprächsanlässe oder muss dringend zur Toilette.
Sie gibt mir auch nach zwei Jahren immer noch Rätsel auf. Denn wie einfach wäre es doch für sie, einfach rundheraus zu erklären, dass so eine Idee mit ihr auf keinen Fall umzusetzen ist – weil ihr eine Tochter, und erst recht eine wie Lena, für ein ganzes Leben vollkommen ausreicht. Ich würde es sogar verstehen.
Aber das tut Angela nicht. Sie sagt nicht, dass sie zu solch weitreichenden, großen Plänen nicht bereit ist.
Vermutlich, weil ich sie noch nie konkret danach gefragt habe.
Und das tue ich wiederum nicht, weil ich ihre Antwort bereits kenne. Ich könnte sogar über unseren wortlosen Austausch zu diesem Thema lachen. Aber irgendwie ist mir nicht danach zumute.
Wie wir so in unserem kleinen Clübchen die Hauptstraße des Phantasialandes hinabstreben, zweifelhaften Gaumenfreuden aus mit altem Fett gefüllten Friteusen entgegen, müssen sich meine lieben Freundinnen doch noch einmal über die Achterbahnfahrt austauschen. Es wird gelacht und angegeben. Selbstverständlich ging es allen blendend, und gekreischt haben sie nur aus reinem Vergnügen.
Während Angela und Jackie sich gegenseitig auszustechen versuchen mit ihren Erzählungen über früher getestete Fahrgeschäfte auf den Rummelplätzen dieser Welt, geht plötzlich Frauke neben mir.
Sie schlendert vielmehr und sieht mich immer wieder von der Seite an.
»Was ist denn?«, will ich schließlich wissen.
Frauke vergewissert sich noch einmal rasch, ob ihre Freundin Antonie auch tatsächlich mit den anderen beschäftigt ist. Dann fragte sie leise: »Diese Sache mit den Kindern. Wie geht das eigentlich genau? Ich meine, Samenbanken und so, davon hab ich auch schon gehört. Aber gibt es da mehrere Möglichkeiten?«
Ich blicke sie interessiert an.
Ich weiß, dass sie und mein guter Kumpel, zugleich ihr Ex-Freund, Lothar sich damals durchaus mal dazu Gedanken gemacht haben.
Schließlich fanden aber beide, dass noch Zeit genug sei. Und außerdem hatten sie schon genug damit zu tun, Fraukes getüpfelte Mischlingshündin Loulou und Lothars stilvolle Katzen an der gegenseitigen Ermordung zu hindern. Aber jetzt, wo es für Frauke nur noch Loulou gibt …
»Sag bloß, ihr wollt …?«, flüstere ich, gerade so laut, dass nur sie mich verstehen kann.
Frauke macht große Augen und sieht rasch wieder zu Antonie. »Ach, was! Nein, nein. Darüber haben wir noch nie gesprochen. Ich fragte mich nur gerade so, wie das wohl funktioniert.«
»Tja, das fragen sich bestimmt viele Frauenpaare. Ich selbst hab auch nicht so viel Ahnung davon. Ich weiß eigentlich nur das, was jede weiß. Die einfachste Lösung ist: Bitte einen guten Freund um eine milde Spende. Und halt ihn bei Laune, falls es beim ersten Mal nicht klappt. Dabei müsst ihr euch wahrscheinlich auch noch absichern, damit er nicht sein Sorgerecht einklagen kann und du ihm keine Unterhaltsforderung an den Hals hängen kannst. Aber frag mich nicht, wie das vor sich geht. Keine Ahnung! Ich weiß nur, dass Adoption für Lesbenpaare so gut wie unmöglich ist. Du kannst nur als einzelne Person ein Kind adoptieren. Aber da sehr viele Paare, heterosexuelle versteht sich, auf ein Baby warten, sieht es schlecht aus für einzelne Frauen, die dem Gesetzgeber ja wie Alleinerziehende vorkommen müssen. Adoption scheidet also so gut wie aus. Du kannst auch nicht einfach in eine Samenbank spazieren und dir eine Portion kaufen, weißt du. In Dänemark soll es spezielle Kliniken geben, die Frauenpaaren mit ihrem Kinderwunsch weiterhelfen. Wahrscheinlich unglaublich teuer. Sei also froh, wenn ihr noch nicht drüber gesprochen habt. Falls ihr wirklich ein Kind bekommen wolltet, würdet ihr bestimmt vor einem Berg Probleme stehen.«
Frauke sieht mich nachdenklich an.
»Du scheinst dich dafür zu interessieren. Und als unsere Recherche-Kanone müsstest du eigentlich doch schon viel mehr darüber wissen. Wie kommt es, dass dem nicht so ist?« Wir arbeiten seit ein paar Jahren zusammen in einem kleinen Journalistinnenbüro, dessen einzige Fernsehredakteurinnen wir zwei sind. Daher weiß Frauke, dass derartig schwammige Infos sonst nicht meine Art sind.
Ich winke ab.
»Ach, Frauke. Was hätte das denn für einen Sinn?«
Diesmal werfen Frauke und ich gleichzeitig einen raschen Blick zu Angela.
»Was meint sie dazu?«, will Frauke mit einem leichten Kopfnicken wissen.
Ich seufze. »Das ist es ja. Du weißt doch: Lena ist wirklich Tochter genug. Angela ist daher bei diesem Thema extrem … wie soll ich sagen?«
»Sperrig?«, hilft Frauke mir weiter.
»Genau das wollte ich sagen!«, lächele ich.
Wir haben durch unser scheinbar gemütliches Schlendern mittlerweile ein paar Meter Abstand zum Rest der Gruppe geschaffen.
Ich sehe nach vorn, wo Angela gerade mit Ellen scherzt und lachend den Kopf in den Nacken wirft.
Sie ist eine unschlagbar attraktive Frau. Weil sie alles besitzt, das ich an Frauen umwerfend finde: Sie sieht klasse aus, und zwar auf eine Art und Weise, die allen deutlich macht, dass sie sich ihrer Reize bewusst ist, ohne damit hausieren zu gehen. Sie hat Temperament und Unternehmungsgeist. Seit wir zusammen sind, ist aus der ehemaligen ›Reisenden im Geiste‹, mit 500 Bildbänden über ferne Länder im Regal, auch eine tatsächlich Reisende geworden – denn nichts ist schöner als gemeinsam die Welt zu entdecken. Und sie besitzt einen gelassenen Tiefgang, der trotz seines Ernstes nicht die Spur depressiv und dennoch in der Lage ist, mich auch dann zu erreichen, wenn ich mich mal wieder vor allem weit in mich selbst zurückgezogen habe. Kurz: Sie ist die wunderbarste Frau, die ich mir an meiner Seite nur vorstellen kann.
Alles, was zu ihr gehört, liebe ich mit jeder Faser meines Herzens.
Außer die Tatsache, dass sie eine erwachsene Tochter hat. Denn das ist nicht nur eine Erfahrung, die sie mir voraushat. Das ist vor allem eine Erfahrung, die wahrscheinlich ausschließt, dass es für mich je wichtig sein könnte, meine gerade erwähnten, schlampigen Recherchen in aller Sorgfalt und bis ins kleinste Detail durchzuführen.
Das Thema ›Lena‹ ist für Angela und mich auch deswegen immer mal wieder etwas schwierig, weil wir uns quasi über sie kennengelernt haben. Ich muss nämlich gestehen, dass ich mich auf einer Frauenparty Hals über Kopf in die Neunzehnjährige verknallt hatte. Und wenn sie mich bei unserer ersten Verabredung nicht dumm vor der Wohnungstür hätte stehen lassen, wären Angela und ich uns wahrscheinlich nie begegnet. Im Grunde müsste ich Lena also dankbar sein. Nur dumm, dass eine Affäre mit der Tochter der Liebsten sich nicht wirklich gut macht.
Diese ganze verzwickte Lage würde ein Gespräch über ein gemeinsames Kind höchstwahrscheinlich nicht vereinfachen.
All diese Gedanken schießen mir durch den Kopf, während um uns herum kreischend und kichernd die lesbischschwule Community durchs Phantasialand tobt.
Frauke, mit der ich seit Jahren täglich etwa acht Stunden verbringe und die mich deswegen wirklich gut kennt, betrachtet mich nachdenklich von der Seite.
»Willst du wissen, was ich dazu denke?«, fragt sie dann. Dass sie immer noch so zaghaft ist, was lesbische Themen angeht. Ich glaube, sie hält mich tatsächlich für eine Art Guru für lesbische Weltzusammenhänge.
Ich nicke.
»Ich glaube, du wärst eine tolle Mutter«, sagt meine liebe Arbeitskollegin und Freundin da.
Ich verschlucke mich an meiner eigenen Spucke. Was ein kleines Kunststück ist, denn heute ist der bisher heißeste Tag in diesem Jahr und man sollte meinen, dass Spucke da nicht in solchem Übermaß vorhanden ist, dass sie einem in die Quere kommen kann.
»Nein, im Ernst«, beteuert Frauke in meinen kleinen Hustenanfall hinein. »Ich finde, wenn eine von uns ein Kind bekommen sollte, dann du! Du bist ruhig und gelassen genug, hast feste Wurzeln. Du liebst Kinder und bist nie genervt von noch so blöden Einfällen. Du bist … tolerant. Ja! Ich finde, Toleranz sollte ein unbedingtes Kriterium für gute Elternschaft sein. Denn nur wer tolerant ist, kann lässig dabei zusehen, wie sich das eigene Kind ganz seinen eigenen Vorstellungen und Wünschen entsprechend entwickelt – ohne es in die eine oder andere Richtung zu drängen. Du bist liebevoll und fürsorglich und humorvoll. Was kann sich ein Kind noch mehr wünschen?«
»Eine nette Tante wie dich?!«, kontere ich, bevor ich noch krebsrot anlaufe.
Frauke grinst. »Also, an mir soll es nicht scheitern …«
»Michelin, Frauke, was haltet ihr hiervon?«, ruft Angela da gerade von vorn. Sie deutet auf ein kleines Restaurant, das an einem kleinem Seitenweg liegt.
»Okay!«, rufen Frauke und ich gleichzeitig so rasch, dass wir geradezu verdächtig wirken müssen. Doch keine unserer Freundinnen wittert etwas. Offenbar überdeckt ihr Hunger den sicheren Lesbeninstinkt, der sonst so deutlich Geheimnisse und Vertuschungsversuche anzeigt.
»Ich finde, du solltest mit ihr reden«, wispert Frauke mir noch zu, bevor wir die anderen wieder erreichen.
»Was habt ihr denn da zu munkeln?«, will Angela schmunzelnd wissen.
»Ach, nichts«, antworte ich leichthin.
Ich weiß genau, es wäre aussichtslos.
»Michelin!« Frauke eilt mit großen Schritten, die bei ihren langen Beinen wirklich gewaltig sind, den Flur meiner Altbauwohnung entlang und schlittert durch die Tür zu unserem gemeinsamen Büro. Knapp hinter ihr erscheint das haarige Gesicht ihrer Mischlingshündin Loulou. Die ist normalerweise eigentlich die Erste von den beiden, die morgens bei mir im Büroraum ankommt. Heute scheint es Frauke wirklich enorm eilig zu haben.
»Hoppla!«, grinse ich. »Was gibt’s denn so Wichtiges?«
Es ist der Montagmorgen nach unserem gemeinsamen Trip in den Funpark unter der Regenbogenflagge.
»Ich hab die Lösung gefunden! Irgendwie ging es mir nicht aus dem Kopf. Und als ich heute Morgen wegen dieser verfluchten Hitze nicht mehr schlafen konnte, hab ich mich zu Hause an den PC gesetzt und ein bisschen gesurft. Es gibt ja viel weniger Material dazu, als ich gedacht hatte. Aber ich denke, ich hab das Perfekte gefunden: Hier!«
Triumphierend lässt sie einen Zettel aus ihrer großen, schlanken Hand auf meinen Schreibtisch segeln. Es flattert genau vor meiner Nase nieder und bedeckt die Unterlagen zu lactosefreier Ernährung, die ich gerade für ein Kochmagazin durcharbeite.
»Was soll das sein?«, lache ich.
Frauke wirkt so niedlich, wenn sie aufgeregt ist.
»Eine Klinik in Dänemark. Die scheint super zu sein. Die Frau, die das Ganze aufgebaut hat, ist selbst lesbisch und scheint sowohl rechtlich als auch menschlich echt fit zu sein. Die Preise sind entsprechend. Aber schließlich ist es eine Privatklinik. Und die Betreuung scheint spitze zu sein. Na, was sagst du? So problematisch wäre es also gar nicht.«
Ich starre auf den Zettel vor mir, auf dem in Fraukes ordentlicher, aber dennoch etwas ungelenker Handschrift eine Webadresse und noch ein paar weitere Notizen stehen.
Das fehlt mir gerade noch.
Unser kurzes Gespräch vom Samstag hat mich sowieso das ganze Wochenende immer mal wieder beschäftigt.
Angela war gestern sogar schon recht mürrisch, weil sie ›den Eindruck hatte, ich sei meilenweit von ihr entfernt und sage nicht, wieso‹.
Daher hatte ich mir am Abend fest vorgenommen, nicht mehr darüber nachzudenken und das Thema zusammen mit den immer wieder vor mir aufziehenden Bildern der kleinen Jule in den Tiefen meines Unterbewusstseins zu vergraben.
»Das ist lieb von dir, Frauke«, seufze ich, nehme den Zettel auf und lege ihn in eines meiner Ablagefächer. »Ich kann es mir nachher ja mal ansehen.«
Frauke geht auf die andere Seite des Büros, wo ihr Schreibtisch meinem genau gegenübersteht. Ihre Miene spricht Bände.
»Ich finde es wirklich toll, dass du dich so engagierst, weißt du«, versuche ich ihr direkt den Wind aus den Segeln zu nehmen. »Aber Plan B steht momentan wirklich nicht an. Vielleicht in ein paar Jahren, wenn Angela und ich länger zusammen sind und …«
»Michelin?«, unterbricht Frauke mich.
Ich sehe sie aufmerksam an.
»Du bist jetzt zweiunddreißig Jahre alt. Angela ist zehn Jahre älter als du. Um es kurz zu machen: Wenn du irgendwann Ernst machen willst, ist es jetzt allerhöchste Eisenbahn.«
»Hoppla!«, mache ich und tue gekränkt. »Dafür, dass du vor zwei Tagen noch gar keine Ahnung hattest, weißt du jetzt aber schon ganz gut Bescheid über lesbische Mutterschaft.«
Frauke grunzt. »Meine liebe Kollegin und Freundin! Dass eine erste Schwangerschaft ab Mitte dreißig immer risikoreicher wird, ist zufälligerweise bei allen Frauen so, egal ob hetera oder lesbisch.«
Da muss ich ihr nun recht geben.
Wir schweigen eine Weile.
»Weißt du noch, Michelin, wie ich damals rumgeschlichen bin und mich nicht recht entscheiden konnte, ob ich mich nun auf Antonie einlassen soll oder nicht?«
Und ob ich mich an diese Zeit vor einem Jahr erinnern kann! Frauke kam mir vor wie ein zu groß geratener Teenager. Was will sie mir damit jetzt sagen?
Sie fährt fort: »Immerhin war es ja ein gewaltig großer Schritt, den ich da zu tun im Begriff war. Ich hatte ja noch nie vorher was mit einer Frau gehabt. Und lesbisch zu leben ist ja so viel mehr, als nur eine andere Art von Sexualität zu erfahren. Es hat wirklich Auswirkungen auf das ganze Leben, unser ganzes Sein. Auch darauf, wie andere uns wahrnehmen und beurteilen. Das waren alles Dinge, die mir meine damalige Entscheidung nicht leicht gemacht haben …« Frauke macht eine kleine Pause, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen.
In dieser Pause unterlasse ich es tunlichst, sie darauf hinzuweisen, dass nicht nur die Selbst- und Fremdwahrnehmung lesbischer Frauen damals ihr Problem gewesen war, sondern in erster Linie die schöne Emma, die neben Antonie auch noch durch Fraukes Hirn und Herz spukte.
»Trotzdem war es etwas, das ich gar nicht anders hätte entscheiden können. Weil ich es nicht mit dem Kopf entscheiden konnte, sondern nur mit dem Bauch. Und der hat einfach klar gesagt, wo es langging.«
Na, das habe ich ein bisschen anders in Erinnerung. Aber mir ist schon klar, was sie mir damit sagen will.
»Natürlich hast du recht«, lächele ich verkrampft. »Aber du musst auch bedenken, dass es hier nicht nur um meinen Bauch geht. Angela und ich wollen demnächst zusammenziehen. Da kann ich so eine Entscheidung nicht einfach über ihren Kopf hinweg treffen.«
Frauke nickt heftig. »Das ist wirklich wahr! Aber!« Sie hebt den Zeigefinger. »Du solltest die Entscheidung auch nicht gegen ein Kind fällen, solange du mit Angela nicht darüber gesprochen hast. Das wäre genauso ein Alleingang wie die Entscheidung für eine Schwangerschaft. Betrüge deinen Bauch nicht, Michelin! Und betrüg Angelas Bauch nicht!«
Wer sich schon mal gefragt haben sollte, was so unglaublich wichtige Fernsehredakteurinnen wie wir in ihrer Arbeitszeit so miteinander zu bereden haben, dem dürfte dies jetzt klar sein.
Ich bin von unserem kleinen Gespräch selbst am Nachmittag noch so angepiekst, dass ich mir unbedingt etwas Luft verschaffen muss.
Also schmeiße ich mich in meinen Laufdress und schlüpfe in meine Joggingschuhe.
Ich fahre ein Stückchen aus der Stadt raus zum Wald und parke meinen Wagen auf dem großen Parkplatz dort.
Hier, zwischen all den großen Laubbäumen, kann ich beim Laufen loswerden, was mich den Tag über bei der Arbeit beschäftigt hat. Lactosefreie Ernährung. Und wie gestalte ich einen fünfminütigen Einspieler für eine Sendung zu diesem Thema, in dem es eigentlich nichts anders zu zeigen gibt als blasse Lebensmittel, die so tun, als seien sie zum Beispiel Kuhmilch oder junger Gouda am Stück?
Sobald ich diesen Ballast auf den weichen Wegen des Waldbodens abgeworfen habe, kann ich in aller Ruhe nachdenken. Meinen Gedanken freien Lauf lassen und sie hoffentlich bald zum Schweigen bringen.
Ich kann mich völlig loslösen vom Alltag. Kann versuchen, die innere Ruhe und Gelassenheit zu gewinnen, die mir normalerweise eigen ist und die ich dringend brauche, um mich wohlzufühlen. Ich hasse es, aus dem Gleichgewicht zu geraten.
Dann fühle ich mich meiner Alm, meinem ruhigen, stillen Ort, so fern.
Doch der Wald ist ein guter Freund, an dessen Seite ich alles, was mich sonst so ausmacht, vergessen kann – um nur noch Frieden zu sein.
Wie herrlich das ist!
Nicht denken. Nicht grübeln. Alle Fragen einfach fallen lassen. Nur da sein. Ohne Sehnsucht. Ohne Wünsche. Ohne Ängste. Ganz in innerer Ausgeglichenheit. Ganz in Ruhe. Ganz allein.
»Wenn das mal nicht eine wilde Lesbe ist!«, ruft da plötzlich jemand hinter mir.
Ich fahre herum. Zwar habe ich das verräterische Klackern der Stöcke bereits gehört, doch war ich so versunken, dass ich gar nicht hingeschaut habe, wer sich da von einem Seitenweg nähert.
»Hi!«, rufe ich und trabe Jackie und Ellen entgegen, die mit ihrem elastischen Nordic-Walking-Schritt auf mich zukommen.
Jackie strahlt mich an, offenbar erfreut über die überraschende Begegnung. »Wir haben dein Auto auf dem Parkplatz gesehen und gehofft, dass wir dich treffen!«
Ellen hingegen mustert mich mit düsterem Blick.
»Du wirst dir deine Knie noch total versauen mit diesem Gehopse. Warum hast du deine Stöcke nicht dabei und läufst ordentlich, ohne dir deine Bänder und Knorpel zu ruinieren?«
Dreimal darf geraten werden, was Ellen vom Joggen hält.
»Ich brauchte etwas Schnelles heute«, entschuldige ich mich. Damit kriegt sie mich immer noch. Wir sind schon seit drei Jahren kein Paar mehr. Aber manche Muster ziehen auch heute noch.
Jackie betrachtet mich neugierig.