Jo und die Metamorphose - Elvy Jansen - E-Book

Jo und die Metamorphose E-Book

Elvy Jansen

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Beschreibung

Jo hat wieder einmal ihren Job bei einer Zeitung voll an die Wand gefahren! Jetzt sitzt sie da, ohne Arbeit in einer fremden Stadt, der Kühlschrank ist ebenso leer wie ihr Magen, und sie ist nicht mehr in der Lage, das überteuerte Appartement zu bezahlen. Da erreicht sie die Nachricht, dass sie von einer fernen Verwandten irgendwo im tiefsten Südwesten Deutschlands eine alte Immobilie geerbt hat. Da ihr sonst keine Optionen offen stehen, bezieht sie das alte Haus. Probleme bekommt sie mit einem Mitbewohner, der schon einige Zeit illegal in diesem Haus wohnt, offenbar noch mit dem Einverständnis ihrer Erbtante. Aber etwas stimmt nicht mit ihm! Keiner in dem kleinen Ort hat ihn je zu Gesicht bekommen, oder weiß etwas von seiner Existenz. Vor wem, oder was muss er sich versteckt halten? Geht von ihm eine Bedrohung aus? Jo sucht sich derweil einen neuen Job als Journalistin. Bald fällt ihr auf, dass in dem kleinen Ort viele Menschen als vermisst gelten, und nie wieder auftauchen. Da es überwiegend ältere Menschen sind, hält sich das Interesse bei den Kollegen in Grenzen, und Jo beginnt zu recherchieren. Berwanger, ein Geschäftsmann aus dem kleinen Ort, wird, nachdem er eine Woche lang vermisst war, an der Uferpromenade gefunden... Jo ahnt, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht, aber sie ahnt nicht, welche Abgründe sie hier offen legt.

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Neue Horizonte Das Leben suchen...

„Bin ich die einzige Erbin? Oder sind die anderen verhindert? Ich weiß gar nicht, warum ich den weiten Weg auf mich genommen habe. Und wenn ich ganz ehrlich sein soll, habe ich keine Lust mehr, hier noch länger meine Zeit zu vertrödeln.“

Jolanda, genannt Jo, war, während der Notar sehr langatmig das ellenlange Testament vorlas, doch tatsächlich zeitweilig mit dem Kopf auf der Brust eingeschlafen. Der Notar schaute die junge Frau über den Brillenrand völlig emotionslos an.

„Darüber kann und darf ich leider nicht befinden. Ich bin von der Verblichenen lediglich zu deren Lebzeiten dazu verpflichtet worden, sie als Erbin ausfindig zu machen, das Testament vorzulegen und vorzutragen. Hiermit ist meine Aufgabe erledigt. Wollen sie das Erbe ausschlagen?“

Jo war total übermüdet und stinksauer. Hunderte von Kilometern hatte sie wegen dieses Testamentes zurückgelegt. Dabei war sie sich noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt fahren konnte. Erst letzten Samstag lag in ihrem Briefkasten eine saftige Mieterhöhung für ihr kleines Appartement. Die Immobiliengesellschaft hatte den Flur renovieren lassen, also genau genommen wurde nur etwas Farbe investiert. Aber anscheinend wurden Goldpartikel mitverarbeitet, was die unverschämte Preiserhöhung natürlich erklärt. Die Mieterhöhung wurde dadurch gerechtfertigt, indem man ihr diese bereits beim Einzug vor drei Monaten angekündigt hatte. Allerdings sprach man bei der Wohnungsgesellschaft von einem „kleinen Betrag“. Aber man hatte ihr auch nahe gelegt, den Mietvertrag nicht mehr zu verlängern, da in Kürze schwerwiegende Reparaturen stattfinden würden und das Wohnen dann nahezu unmöglich wäre. Auch das hatte die Gesellschaft vorher angekündigt, aber man hatte versprochen, ihr ein anderes Appartement zur Verfügung zu stellen. Jo blieb leider nichts anderes übrig als abzuwarten, da sie wieder einmal einen neuen Job angetreten hatte und auf die Wohnung in dieser Stadt angewiesen war. Unten im Erdgeschoss befand sich ein Feinkostladen, den Jo wegen den äußert gesalzenen Preisen nur von außen kannte. Als sie vorige Woche aus der Stadt heimkehrte und den Laden passierte, hörte sie, wie eine Kundin in einer teuren, wasserfesten, aber trotzdem luftdurchlässigen und für alle Wüsten der Welt geeigneten Outdoorjacke zu der Besitzerin, mit einem kritischen Blick auf Jo, sagte, „es wurde aber auch allerhöchste Zeit, dass die Wohnungsbaugesellschaft etwas unternommen hat. „Es gibt Menschen hier und wieder warf sie einen vernichtenden, arroganten Blick zu Jo, die machen das gehobene Niveau hier völlig zunichte.“

„Das stimmt,“ pflichtete ihr die Besitzerin des Ladens zu. „Wenn man sich eine gewisse Lebensqualität nicht leisten kann, wäre es doch besser, sich irgendwo anders unter Seinesgleichen einzumieten! In den Hochhäusern am Stadtrand zum Beispiel. Ich muss allerdings zugeben, schön ist etwas anderes und ohne Pfefferspray kann man in dieser Gegend das Haus nicht verlassen.“

„Dafür bezahlen wir hier auch genug, um von solchen Subjekten verschont zu bleiben!“ antwortete die transpirierfrei, bis sechzig Grad Außentemperatur, wirkende Inhaberin der Outdoorjacke.

Es hatte sich also herum gesprochen.

Und zu allem Übel hatte ihr heiß geliebtes, kleines Auto den Geist aufgegeben. In der Werkstatt hatte man ihr erklärt, dass es nach einer neuen Lichtmaschine schreien würde. Außerdem beschloss der antiquierte Kühlschrank in dem möblierten Appartement es doch einmal damit zu versuchen, wie es wäre, wenn Käse, Joghurt und Orangensaft Zimmertemperatur haben, ein neues Leben beginnen können und sich in ihren Verpackungen nicht mehr wohlfühlen. Alles in allem war ihr Budget erheblich zusammengeschrumpft und sie wartete mehr oder weniger darauf, dass ihr Konto einstellig wurde. Ihren Job, den sie mehr oder weniger halbherzig bei der ortsansässigen Zeitung gemacht hatte, war sie auch los und sie wollte eigentlich nur noch nach Hause. Aber was hieß denn nach Hause? So viel war klar, ihr Appartement war sie so gut wie quitt. In ihren Gedanken überschlug sie ihre Barschaft, ob sie sich die Fahrt nach Hause überhaupt noch leisten konnte. Immerhin, wenn sie ihre kupferroten Haare wachsen ließ, könnte sie sich den Weg zum Friseur sparen. Und was hieß erben? Womöglich musste sie hier anstatt etwas zu erben, irgend etwas bezahlen. Den Notar, oder andere Verbindlichkeiten.

Jo hatte nicht die leiseste Ahnung und sehnte sich nur nach ihrem teuer reparierten Kleinwagen zurück, der möglicherweise die nächste Zeit ihr Wohnquartier sein würde. Dieses Auto hatte schließlich die letzten Ersparnisse aufgefressen und Jo fand, dass war es ihm mehr als schuldig.

„Soll ich die Erbschaft ausschlagen?“

Die Augen des Notars wirkten so lebendig, wie die von einer toten Kröte.

„Auch darüber kann ich nicht befinden. Es obliegt Ihnen ganz alleine, die Erbschaft anzutreten oder auszuschlagen.“

Jo überlegte wie es wohl wäre, wenn der Notar so ganz zufällig vor ihrem Kleinwagen stürzen würde und wie oft sie wohl mit dem Auto über seinen übergewichtigen Körper fahren müsste, bis er endlich sein Leben aushauchte.

„Woraus genau, besteht noch einmal diese Erbschaft?“ Der Notar rollte genervt mit seinen toten Froschaugen.

„Da war doch tatsächlich ein Zeichen von Leben!“ schoss es Jo durch den Kopf. „Wenn ich es vernünftig anstelle, wird er sich sogar noch richtig empören.“

„Ihr Erbe beruht auf einer Immobilie mit erheblichem Grundbesitz.“

Jo wurde hellhörig.

„Ein Haus?“

„Ich sagte es bereits, eine Immobilie mit erhe...“

„Ein Hühnerstall ist auch eine Immobilie.“

„Das trifft nicht so ganz den Kern der Wahrheit. Es ist eine feststehende Immobilie.“

„Hühnerställe pflegen auch äußerst selten zu wandern.“

Die Froschaugen des Notars begannen sich mit roten Äderchen zu durchziehen und auf seiner Stirn entstanden kleine Wülste, die man wohl Zornesfalten nennen konnte.

„Es ist eine feststehende, aus Stein gebaute Immobilie, die ihren angestammten Platz noch nicht verlassen hat und es in Zukunft auch wahrscheinlich nicht vorhat!“

Jo sah dem Notar in die jetzt langsam blutunterlaufenen, roten Froschaugen.

„Wenn er noch einmal Immobilie sagt, werde ich ihn wirklich überfahren.“ Aber laut sagte sie, „also doch ein Haus. Ist es mit Schulden belastet? Weil...also ich sage einmal so. Meine Situation würde es mir nicht erlauben, mich noch mehr in Unannehmlichkeiten zu stürzen, denn...“

Der Notar ließ müde und resigniert den Kopf sinken und es sah aus, als ob er gleich anfangen würde zu weinen.

„Nein. Es ist mit keiner Hypothek oder sonstigen Verbindlichkeiten belastet. Sie können frei darüber verfügen.“

In Jo's Kopf brodelte es.

„Muss ich etwas dafür bezahlen? Ich frage nur vorher, weil, wenn es etwas zu bezahlen gibt, hat sich das Thema leider schon erledigt.“

Der Notar schaute sie so verzweifelt an, wobei Jo glaubte, sogar einen Hauch von Tränen bei ihm zu erkennen,

„Die Erblasserin hat alles Finanzielle noch zu ihren Lebzeiten geregelt. Sie brauchen die Erbschaft der Immobilie, die aus einem … sagen wir, rustikalen Haus mit Garten besteht, nur noch anzunehmen. Über die sonstigen Liegenschaften habe ich sie bereits informiert.“

Der Notar ließ sich ausführlich über die Größe des Hauses und des Grundstückes aus. Aber Jo hörte ihm nicht im mindesten zu und an die Liegenschaften konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern. Es war wohl zu der Zeit, als sie gerade eingeschlafen war. Ihre derzeitige angespannte Lage in ihrem Finanzsektor ließ ihre logische Denkweise doch erhebliche Mängel zeigen. So ungefähr wie ein Frosch, der in ein Fass mit Sahne gefallen ist. Was für ein Vergleich! Aber der Notar glich mehr einer fetten Kröte, die in dem Fass keine gute Figur machen würde. Verhält der Frosch sich ruhig, ersäuft er in der Sahne. Aber er will leben, also strampelt er, was seine Froschschenkel so hergeben und siehe da, aus der Sahne wurde Butter. Er konnte nun gefahrlos das Fass verlassen und sich etwas Butter zum Abendbrot mitnehmen. Zu welcher Gattung gehörte sie?

Würde sie in der Sahne untergehen, oder sich frei strampeln?

Bis jetzt hatte in ihrem Leben weglaufen mehr oder weniger hervorragend funktioniert! Jo hatte nur vernommen, dass da ein Haus war? Mit einem richtigen Garten? Was sollte sie um Himmels Willen damit anstellen? Ein Haus für sie ganz alleine? Sie dachte an ihren Joghurt Zuhause, der sich kameradschaftlich mit dem Käse verbündet hatte, um die ungastliche Stätte zu verlassen, die nicht in der Lage war, das passende Klima für sie bereitzuhalten. Angesichts ihrer derzeitigen desolaten, mageren, finanziellen Situation, an der sie auch im Moment nicht viel ändern konnte, wäre ein angemessener neuer Ort zum leben vielleicht gar nicht so übel.

„Wohnt sonst noch jemand in dem Haus? Also ich meine, ist es vermietet, oder so?“

„Nein! Davon ist mir nichts bekannt. Und es dürfte auch schwierig werden, die Immobilie zu vermieten. Sie liegt ziemlich weit außerhalb und...“ Der Notar ließ sich wieder ausführlich darüber aus, wie das Haus und das Land beschaffen waren. Vielleicht erklärte er auch etwas anderes, etwas was ihm ausnehmend gut gefiel. Seine Froschaugen traten hervor und erinnerten Jo an die Glasmurmeln ihrer Kindheit, wobei er aussah, als hätte er sich an einer Fliege verschluckt. Jo hatte nicht mehr zugehört, weil sie mit den Gedanken in ihrer Küche bei der Liaison zwischen Joghurt und Käse und dem neuen Duft, der daraus entstand, war und den beide miteinander verband.

„Befindet sich ein Kühlschrank in dem Haus?“

Die Froschaugen des Notars zeigten so etwas wie eine Mischung zwischen Häme und Mitleid wobei er seinen Vortrag über das wunderbare Gelände unterbrach.

„Die Immobilie ist vollständig möbliert.“

Vor dem Notar lagen neben dem Testament die Schlüssel des Hauses.

Jo nahm den Schlüsselbund in beide Hände und betrachtete ihn eingehend.

„Wo steht die Bude genau?“

*

Die Tankanzeige ihres Wagens blinkte unerbittlich. Aber es gelang ihr, mit einigen Schweißperlen auf der Stirn, trotz des dramatischen Appells ihres Autos doch bitte, bitte, bitte, eine Tankstelle anzufahren, vorher das Appartement zu erreichen. Jo hatte keine blinkende Tankanzeige und ihr Magen knurrte bedenklich wie ein ausgehungerter Wolf. Aber in ihrem Kühlschrank lungerte nur noch eine einsame Scheibe Toast herum. Die Butter war mittlerweile ungenießbar und stank wie eine Mischung aus verdorbenem Fisch und faulen Eiern. Resigniert ließ Jo die Tür des Kühlschrankes zufallen. Im Küchenschrank, versteckt hinter den Desserttellern, entdeckte sie ein Glas mit Erdbeermarmelade, die noch nicht mit Schimmel überzogen und halbwegs genießbar war. In ihrem Kopf befand sich ein einziges Chaos. Wer war die Verblichene? Jo grübelte stundenlang, aber es wollte ihr nicht mehr einfallen. Kurzerhand nahm sie ihren Laptop zur Hand, um mit ihrer Mutter zu skypen. Aber dann ließ sie es doch sein. Ihre Mutter würde ihr wieder Fragen stellen, auf die sie zur Zeit auf keinen Fall eine Antwort geben wollte. Sie nahm das Testament wieder in die Hand und las laut den Namen der Verblichenen vor: „Waltraud Agnes Fahreskamp.“

War Fahreskamp nicht der Mädchenname ihrer Mutter? So langsam begann sich ihr Verstand mit dieser Information zu verknüpfen. Jetzt konnte sie sich erinnern, dass ihre Mutter hin und wieder eine Tante „Wally“ erwähnte, was wohl eine Abkürzung von Waltraud war. Und sie erwähnte, dass es eine Schwester ihrer Großmutter, also Jo's Urgroßmutter gewesen sei, die im tiefsten Südwesten der Republik irgendwo mitten in den Bergen wohnte. Niemand wollte mit der „alten Hexe“ etwas zu tun haben, die im übrigen nie geheiratet hatte und alleine mit ihren seltsamen Kräutern lebte. Zu absonderlich und menschenscheu sei sie gewesen. In der Familie galt sie als „schwarzes Schaf“, und wurde weitgehend ignoriert. Jo kramte den letzten Kaffeepad hervor, bediente die Maschine und nahm das phantastische Aroma des Kaffees auf, während er sich in ihre Tasse ergoss. Als sie dieser Zeremonie fasziniert zuschaute, keimte langsam wieder die Erinnerung auf, dass sie einmal einen Ausflug zu dieser seltsamen Tante Wally gemacht hatten.

Über zehn Jahre hatte sie nicht mehr an diesen Nachmittag gedacht und es fast gänzlich aus ihrer Erinnerung gelöscht. Da war Jo elf oder zwölf Jahre alt, so genau wusste sie das nicht mehr und sie erinnerte sich, dass die Fahrt zu der Tante ewig lange gedauert hatte. Die Dörfer wurden immer kleiner und spärlicher, bis sie endlich an jenem einsamen Haus angelangt waren, in dem die Tante wohnte. Ihre Eltern teilten ihr mit, dass sie etwas sehr wichtiges mit der Tante zu besprechen hätten und nicht gestört werden wollten.

„Magst du eine Himbeerlimonade?“ und die Tante bot Jo freundlich eine an.

„Au ja!“

„Das ist die beste Himbeerlimonade der Welt! Sie ist nämlich selbst gemacht. So etwas bekommst du nicht zu kaufen.“

Die Tante hatte recht. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas herrliches getrunken.

Jo langweilte sich fürchterlich. Sie sah sich in dem alten Haus verwundert um. Auf einem Klavier standen mehrere alte Fotos in Glasrahmen, die auf sie befremdlich wirkten. Auf einem Foto stand eine kurvige, junge, sehr hübsche Frau, in einem eleganten schwarzen Kostüm auf einer Treppe. Voller Stolz hielt sie ein weißes Papier in die Kamera, welches Jo nicht entziffern konnte und sie verspürte auch nicht das geringste Interesse, sich darin zu vertiefen. Auf einem anderen Foto war die gleiche Frau zu sehen. Sie trug ein grünes Kleid, welches wunderbar mit ihren kupferroten Haaren harmonierte, mit einem schwingenden weiten Rock und einem breiten schwarzen Lackgürtel. Die Gesichtszüge der jungen Frau auf den Fotos glichen entfernt der Tante im Wohnzimmer. Das gleiche hintergründige Lächeln. Jo hielt eines der alten Bilder in der Hand.

„Ich habe die gleichen roten Haare wie du,“ sagte sie zu dem Bild. Auf beiden Bildern stand im Hintergrund eine junge Frau in einem dunklen Kleid mit großen hellen Knöpfen und mit einem kecken Hütchen, wie es wohl zu der Zeit Mode war. Die Einrichtung in dem Haus wirkte sehr altmodisch und abgenutzt und schien noch aus den sechzigern des vergangenen Jahrhunderts zu stammen. Ein komplexer Holzschrank füllte eine ganze Ecke des Wohnzimmers aus. Darauf stand ein seltsames kleines Schiff, auf dem stand in abgenutzten, verblassten, ehemals feuerroten Buchstaben.

„Tanti saluti da Venezia.“

Jo betrachtete neugierig die Topfpflanzen, die in aller Pracht blühten und sie konnte sich nicht erinnern, jemals so herrliche Blumen gesehen zu haben. Durch die großen Fenster erschloss sich der Blick in den Garten, in dem ebenfalls viele bunte Blumen wuchsen. Aber es wirkte alles ein wenig verwildert und es schien kein Gärtner je Hand an diese wilde Blütenpracht gelegt zu haben. Im Garten sah sie ein Mädchen, welches vielleicht ein oder zwei Jahre älter war als sie. Jo wollte ihre Eltern fragen, ob sie in den Garten gehen dürfte, aber sie befanden sich in einer hitzigen Diskussion mit Tante Wally, die Jo an diesem Tag nur ein einziges Mal zu sehen bekam und danach nie wieder. Ihre Eltern saßen mit Tante Wally an einem runden Tisch, auf dem eine gehäkelte Tischdecke lag. Sie hatte ein buntes Tuch um ihre umfangreiche Haarpracht gewickelt und mehrere wunderschöne Blüten im ehemals roten und jetzt graumelierten Haar befestigt, und sie trug so etwas wie einen kunterbunten Kaftan, der bis zum Boden reichte.

Jeder von ihnen hatte eine dampfende Tasse Tee vor sich stehen. Ihre Eltern rührten das „Zeugs“ nicht an, aber Tante Wally genoss sichtlich ihren Tee und überging geflissentlich die Abneigung von

Jo's Eltern. Jo hatte ihre Kopfhörer an und keine Ahnung, um was es bei diesem Streit ging. Sie wandte sich desinteressiert ab und ging nach draußen.

Das Mädchen mit den langen, blonden Zöpfen saß auf einer alten Schaukel, ließ sich sachte hin und her pendeln und hielt verträumt der Frühlingssonne ihr Gesicht entgegen. Ihre Zöpfe hingen ihr bis auf die Hüften. Sie reflektierten das Sonnenlicht und von ihnen schien ein eigentümliches Leuchten auszugehen.

Jo blieb stehen und beobachtete fasziniert das Mädchen. Auf einmal drehte sie sich um und sah Jo mit großen, veilchenblauen Augen an. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie so blaue Augen gesehen.

„Willst du auch einmal schaukeln?“

„Lust hätte ich schon. Willst du mal meine Kopfhörer aufsetzen?

Ich habe tolle Songs darauf.“

„Warum soll ich Kopfhörer aufsetzen? Dann können wir uns doch nicht mehr unterhalten.“

„Ich dachte du magst vielleicht Musik. Da sind unglaubliche Beats dabei. Ich könnte dir auch tolle Moves zeigen. Da bin ich ziemlich gut drin.“

„Ich mag Musik. Aber das können wir später machen. Viel lieber würde ich mich mit dir unterhalten. Über Blumen oder so.“

„Ich finde die Blumen auf der Fensterbank super schön. Aber ich habe nicht sonderlich viel Ahnung von Blumen. Ich weiß nur, dass sie schön sind.

„Sie gefallen dir?“

„Ich glaube schon. So eine Pracht wie hier im Garten habe ich noch nie gesehen. Wie funktioniert das? Da braucht man doch bestimmt jede Menge Dünger und so Chemiekram.“

Das Mädchen mit den blonden Zöpfen lachte. Es klang für Jo wie Musik.

„Nein! Chemiekram und Dünger brauchen die Blumen nicht. Aber viel Liebe, die richtige Dosis Sonne, Wasser und Geschichten mögen sie auch gerne.“

Verwundert sah Jo das Mädchen an.

„Geschichten? Das habe ich noch nie gehört. Erzähle mir mehr davon!“

Die Tante stand mit Jo's Eltern am Fenster und beobachtete die Kinder.

„Wer ist das Mädchen?“ wollte Jo's Mutter wissen.

„Sie ist die Tochter unseres Postzustellers. Er ist alleinerziehend. Die Mutter muss wohl sehr früh gestorben sein. Nach der Schule kommt sie häufig zu mir und wir teilen uns die Einsamkeit. Sie versteht auch sehr viel von Blumen.“

„Aber dein Garten wirkt wie ein tropischer Busch. Überhaupt keine Ordnung. Okay, es ist eine blühende Wildnis. Und wie kommt sie in diese Wildnis, ääh ich meine, Einsamkeit zu dir? So etwas fortschrittliches wie zum Beispiel öffentliche Verkehrsmittel hat sich leider noch nicht bis in diese Gegend herum gesprochen und ausgebreitet.“

„Sie besitzt ein Fahrrad. Ein sehr gutes Fahrrad.“

Die alte Tante beobachtete die Mädchen dabei, wie sie sich angeregt unterhielten und lächelte...

Auf dem Kaffee lag eine leckere Crema und drei Löcher darin gaben ihm ein freundliches Gesicht. Jo biss in ihre Scheibe Toast mit Erdbeermarmelade. Und irgendwie war es das Beste, was sie in letzter Zeit gegessen hatte. Der Kaffee schien sie irgendwie anzugrinsen.

„Du bist also auch der Meinung, ich soll mir die Hütte genauer ansehen?“

Die „Augen“ des Kaffees wurden größer und der „Mund“ wurde breiter.

„Das deute ich einmal als Zustimmung.“

Nach ihrer mehr als übersichtlichen Mahlzeit und langem Grübeln entschloss sie sich, ihre Eltern doch von der Erbschaft zu unterrichten. So schnappte sie sich ihren Laptop und schaltete eine Verbindung zu ihren Eltern nach Gran Canaria. Aber ihre Eltern meldeten sich nicht. Jo fiel ein, dass es Donnerstag war und ihre Eltern sich um diese Zeit mit anderen Deutschen in einer Taverna trafen, in der es „anständiges deutsches Essen“ gab. Sie hatten in Deutschland alles aufgegeben und verkauft und lebten nun ständig auf der Insel, wobei sie es sich gut gehen ließen. Sehr ungern ließen sie vor vier Jahren ihre chaotische und unstete Tochter zurück. Aber Jo war nicht dazu zu bewegen, mit nach Gran Canaria zu gehen, sie wollte lieber in Deutschland bleiben. Was sollte sie auch auf Gran Canaria? Als Kellnerin herumrennen und die Touristen bedienen? Oder als Animationstrainerin arbeiten? Schließlich hatte sie nicht umsonst Medienwissenschaften, mit Schwerpunkt Journalismus studiert. Das war möglich, weil sie ein Stipendiat erhielt, von dem sie eigentlich nicht genau wusste, wer der oder die Geldgeber waren und schloss ihr Studium als Beste ab. Jo war der Meinung, dass es für sie dort nichts zu tun gäbe und, dass sie ihren Eltern nur auf der Tasche liegen würde. Und bei den deutschen Magazinen, die auf der Insel in geringer Auflage erschienen, war auch kein Journalist gefragt, sondern mehr jemand, der sich mit Medizin, Rheuma und altersbedingten Defekten, wie Blutdruck und Arthrose auskannte. Selbstständiger würde sie bei ihren Eltern auf Gran Canaria auch nicht werden. Allerdings ihr beruflicher Erfolg und ihre Laufbahn waren Zuhause in Deutschland auch arg ins Stocken geraten, weil sie mit dem Chef der ortsansässigen Zeitung, ihrem derzeitigen Arbeitgeber, einen heftigen Disput hatte. Es war immer dasselbe. Dabei hatte alles so nett angefangen...

Er lud sie zu einem feudalen Abendessen in ein vier Sterne Restaurant ein und hatte ihr augenzwinkernd erklärt, dass sie in seiner Zeitung phantastische Aussichten hätte, wenn man nur „nett“ genug miteinander umginge und, dass er sehr gespannt wäre, wie sie den Bericht über das ortsansässige Altenheim interpretieren würde. Er gab ihr, wahrscheinlich auf die Vorfreude, dass sie ihm die Nächte etwas versüßen würde, freie Bahn. Jo flirtete etwas zaghaft mit dem gutaussehenden Mann, der gut und gerne fünfzehn Jahre älter war als sie. Sie machte ihm ihre zunehmend progressive Art zu arbeiten, mit mehreren Gläsern Wein schmackhaft und am Schluss war er sogar einverstanden. Aber ansonsten ging sie nicht näher auf seine körperlichen Avancen ein und bestand am Ende des Abends darauf, alleine mit einem Taxi nach Hause zu fahren. Als sie am nächsten Tag das Altenheim besuchte, schien es ihr einfach unmöglich die Zustände darin als paradiesisch darzustellen, wie von ihr erwartet wurde, sondern prangerte in ihrem Bericht das Heim schlichtweg als eine trostlose, total überteuerte, lieblose Wartestation auf den Tod an. Um ihre Arbeit zu veröffentlichen, umging sie ihren Chef und log den Redakteuren sehr emotional und lebendig vor, der Chef wäre mit diesem Artikel mehr als einverstanden und hätte sie geradezu motiviert, neue Wege zu gehen. Einem Redakteur kam dieser Artikel schlichtweg spanisch vor. Darin wurde unter anderem unverblümt erklärt, dass die Insassen des Heimes viele Stunden in vollgeschissenen Windeln zubrachten und sich selbst überlassen wurden. Ferner stand da noch, dass die Alten ständig sediert wurden und das Essen unberührt vor ihnen stand, weil keine Zeit blieb, um ihnen die Mahlzeiten zu verabreichen und dann stand da noch, dass die Hygiene ebenfalls ein großes Problem sei. Die bettlägerigen Senioren und Seniorinnen mussten auch schon einmal mit dem Waschlappen vorlieb nehmen, der ihnen feucht über das Gesicht gerieben wurde. Die benutzten Bettpfannen standen stundenlang in den Zimmern, bis sie entfernt und gereinigt wurden. Vielen Insassen des Seniorenheims verbot man den Ausgang in den weitreichenden Park, weil der Park auch für die Öffentlichkeit zugänglich war und die Besucher sich durch die vielen, mit Rollatoren fahrenden Menschen gestört fühlten. Außerdem beinhaltete der Artikel, dass das Personal unterbesetzt, vollkommen überarbeitet war und nicht vernünftig bezahlt wurde. Er hätte doch gerne mit dem Chef Rücksprache gehalten, seit wann er denn die Position einer Gewerkschaft vertrat, wo er doch sonst immer gerne den Lobbyisten den Vorrang gab. Besagter Herr konnte allerdings nicht antworten, weil er sein Handy ausgeschaltet hatte und notgedrungen mit seiner Sekretärin, statt mit Jo in Paris die Betten unsicher machte, wobei die traute Gattin natürlich nichts von den erotischen Ausschweifungen ihres Ehemannes mitbekam. Und so fand der Artikel doch noch seinen Platz in der Zeitung. Als sich der Chef allerdings in Paris am folgenden Morgen, als er noch auf Wolke sieben schwebte, zum Frühstück mit Champagner im weichen Bademantel, mit dem Logo des fünf Sterne Hotels, die Zeitung auf seinen Laptop herunter lud, verschluckte er sich heftig an dem prickelnden Gesöff. Seine Gespielin musste in der Not den Heimlich-Griff anwenden, um sein Leben zu erhalten. So ein Auffrischungskurs in erster Hilfe hat doch was!

Das Arbeitsverhältnis war dann doch mehr als getrübt und Jo durfte das Terrain der Zeitung nicht mehr betreten. Mehrere Werbeträger der Industrie kündigten ihre Verträge und es würde eine Zeitlang dauern, bis dieser „Fehler“ wieder korrigiert war. Die Schreiber der vielen Leserbriefe, fanden den Artikel mit dem Altenheim allerdings prima, und lobten das Provinzblatt über den grünen Klee hinaus. Aber was sind schon Leserbriefe gegen hochdotierte Werbeverträge?

Jo löste sich von den viel zu negativen Gedanken, weil sie getrost davon ausgehen konnte, dass man ihr das Honorar für diesen Bericht nicht mehr auszahlte und schlürfte genüsslich die Crema. Ihr war klar, dass sie nicht mehr in der Lage war, die anfallende Miete für ihr Appartement zu begleichen, weil sich ihr Konto in einer roten Phase befand. Es bot sich auch kein anderer Ausweg an, als den Weg in die „Wildnis“, wie ihre Mutter es nannte, anzutreten. Dann grübelte Jo wie sie an Geld kommen konnte, um den teuren Sprit für diese unwegsame Gegend bezahlen zu können. Kurz entschlossen nahm sie aus dem Wohnzimmerschrank ein kleines Kästchen, öffnete es und schüttete den Inhalt auf den Tisch.

Vor ihr lagen eine schwere, mit Brillanten verzierte Goldkette, ein dazugehöriger passender Ring, glitzernder Ohrschmuck und ein Armband. Marylin Monroe hätte sich sehr gefreut.

„Diamonds are the Girls best Friends!“

Erbstücke ihrer Großmutter. Anlässlich zur silbernen Hochzeit hatte sie diese klotzigen Pretiosen von ihrem Mann als Geschenk erhalten. Er hatte ein großes Geheimnis darum gemacht und sie beim Juwelier extra für diesen Tag herstellen lassen. Ihr Großmutter trug diesen Schmuck nur zu diesem Ehejubiläum und nur an diesem einzigen Tag, danach nie wieder. Auf den Fotos von der Silberhochzeit wirkte die zarte, zerbrechliche und wunderschöne Oma in ihrem kunterbunten Blümchenkleid mit dem voluminösen Schmuck etwas befremdlich. Als sich Jo in Teenagerjahren den Schmuck ansah, meinte ihre Großmutter nur, dass sie sich an diesem besonderen Tag, auf den sie sich eigentlich sehr gefreut hatte, vorgekommen wäre, wie ein aufgemotzter Pfingstochse mit einem glitzernden Joch um den Hals! Das konnte Jo gut nachvollziehen. Nie würde sie mit so einem schrecklichen glitzernden Ballast um den Hals herumlaufen. Ihre Eltern meinten es wäre eine Geldanlage, die besser in einem Schließfach in der Bank aufgehoben wäre.

Jo schaute auf ihre Uhr. Heute würde sie es nicht mehr schaffen und schaltete den Fernseher ein. Zwei Stunden später meldete sich ihr knurrender Magen erneut und zu ihrer großen Freude fand sie eine Tütensuppe. Es störte sie nicht im geringsten, dass sie bereits über ein Jahr abgelaufen war. Das rührte wahrscheinlich daher, dass die Suppe zwischen Abschminktüchern und Gesichtsmasken im Bad lag. Es interessierte sie nur am Rande, dass sie eigentlich erst zwei Monate hier gelebt hatte und sich die Tütensuppe aus Überlebensinstinkt irgendwie zu den Badeutensilien beim Umzug geflüchtet haben musste. Und hinter der Suppe hatte sich ein vergessener Joint versteckt.

„Wer sagt es denn? Das Dessert wäre auch gesichert.“

Sie hatte das Gefühl, nie etwas besseres gegessen zu haben.

*

Zuerst wollte Jo den Schmuck im Internet verscherbeln. Aber sie hatte nicht einen Cent mehr in der Tasche und war somit völlig handlungsunfähig. Ihre Kreditkarte war noch nicht einmal mehr das Material wert, aus dem sie hergestellt war. Mit dem besten Willen war auch nichts essbares mehr im Appartement aufzutreiben, selbst die kleinen Spinnen waren mittlerweile ausgezogen und die kleine Maus, die sich auf dem Balkon im Blumentopf eingenistet hatte, würde wohl die Grundsicherung beantragen müssen. Auf dem Weg in die Stadt, zu einem der besten Juweliere und anerkannten Gutachter, wurde sie von einer unerklärlichen Nervosität befallen. Sie fühlte sich ihrer Großmutter gegenüber wie eine Verräterin. Aber dann sah sie vor ihrem inneren Auge das lächelnde Gesicht ihrer Oma, als sie ihr den Schmuck noch zu ihren Lebzeiten vermachte.

„Mach das Beste draus!“ hatte sie zu Jo gesagt und ihr dabei sanft über das Haar gestreichelt. „Aber vermeide ihn zu tragen! Diese klobigen Dinger lassen dich locker zwanzig Jahre älter aussehen! Schlag soviel Kohle raus, wie du kriegen kannst!“

Die Augen des Juweliers bekamen einen feuchten Glanz und weckten Begehrlichkeiten, als er des Schmuckes ansichtig wurde Er bot zuerst weniger, als man ihr im Internet geboten hatte. Der Juwelier wies sehr wortreich auf Tragespuren an den Schmuckstücken hin und, dass er sie noch bearbeiten müsste, bis sie endlich bei ihm in der Vitrine stehen würden. Da wurde Jo böse und fing an, den Schmuck wieder einzupacken. Zähne knirschend ließ sich der Juwelier auf einen höheren Preis ein, weil er wusste, dass ihm was besseres in seinem endlichen Leben nie mehr angeboten wurde. Die glitzernden Pretiosen wechselten den Besitzer.

Nur Bares ist Wahres!

Danach führte ihr nächster Weg zu einer Tankstelle, weil ihr winziges Auto schon Schnappatmung bekam und anschließend zu einem Schnellrestaurant. Dort füllte sie sich erst einmal mit zwei Big Macs und einer Riesenportion Pommes ab, bis aus ihrem Magen nur noch ein zufriedenes Schnurren zu vernehmen war. Jo stellte fest, dass Hunger aus Mangel an Essen doch schon etwas anderes war, als eine Diät einzuhalten, damit man den Reißverschluss von der neuen Designerhose nicht mehr mit der Wasserpumpenzange von Papa zuziehen musste.

Die Wohnungsgesellschaft war überglücklich, dass Jo die Wohnung zum schnellstmöglichen Termin gekündigt hatte. Da es sich um ein möbliertes Appartement handelte, war der Auszug schnell erledigt. Der defekte Kühlschrank hatte mittlerweile eine eigene Duftnote, die sehr an eine Kläranlage erinnerte. Die kümmerliche Topfpflanze, deren Äste aussahen wie die verkrümmten Hände einer alten Hexe, packte Jo aus Mitleid auf den Beifahrersitz neben ihren alten Teddy und gurtete beide sorgfältig an.

*

Das Navi hatte den Geist aufgegeben und verkündete nur noch, dass sie in die falsche Richtung fuhr und bitte wenden solle. In diesem unwirklichen, bergigen Gelände schien es keine Straßen zu geben. Laut Navi befand sie sich entweder mitten im Wald, oder auf einer grünen Wiese. Die einzige Straße war sehr schmal, aber das war nicht wichtig. Wer sollte ihr hier auch schon entgegenkommen? Jo kämpfte sich in den Tälern durch dichten Nebel, aber auf den Bergen schien die Sonne. Sie durchquerte ein kleines Dorf und fuhr weiter auf der schmalen Straße. Ihr Navi frohlockte, dass sie sich außerhalb jeglicher Zivilisation aufhielt. Ein uralter Traktor kam ihr wie aus dem Nichts entgegen und nahm die komplette Straße ein. Jo blieb nichts anderes übrig, als vorsichtig auf das nasse Gras zu fahren. An einem Hügel, auf dem drei mächtige Tannen standen, blieb der Traktor stehen. Der Fahrer des Traktors, ein großer Mann in den dreißigern, kam auf sie zu.

„Hast du dich verfahren? Kann ich dir irgendwie weiterhelfen?“

Der Mann stand vor Jo's Wagen mit verschränkten Armen und sah sie aus bernsteinfarbenen Augen skeptisch an.

„Also ich kann mir nicht vorstellen, dass du aus freiem Willen hier gelandet bist! Niemand will freiwillig hier sein. Manchmal verschlägt es so Typen wie Nehberg in diese Gegend. Ach ja, und einmal im Jahr kommt eine Handvoll Menschen, um die Tannen anzubeten.“

Jo stieg aus ihrem Wagen aus. Der Kerl war mindestens einen Kopf

größer als sie und flößte ihr doch tatsächlich so eine Mischung zwischen Angst und Respekt ein. Er hatte dunkle Haare, hellbraune Augen, trug eine verwaschene Jeans und ein kariertes Hemd. Aber seine Stimme war sanft wie von einem angenehmen Bariton und klar.

„ Die beten die Tannen an? Und warum bitte schön tun die das?

„Ich habe nicht die geringst Ahnung. Aber wenn ich ehrlich sein soll, interessiert es mich nicht im geringsten.“

„Und von diesen Nehbergtypen habe ich auch noch nichts gehört. Sind das irgendwelche Jünger von einer Sekte?“

Der freundliche Kerl lächelte. Also wollte er sie nicht auf der Stelle fressen, oder ihr sonst etwas schlimmes antun... allerdings... Wölfe zeigen auch ihre Zähne, bevor sie ihr Opfer reißen. Sein Lächeln wirkte auf Jo beruhigend und sie ärgerte sich darüber, dass sie den Menschen, der vor ihr aufrecht wie ein Leuchtturm in den Himmel ragte, nicht auf Anhieb unsympathisch fand.

„Man könnte sie fast als Jünger bezeichnen. Das sind so Typen, die sich nur von dem ernähren, was die Gegend so hergibt. Alles was wild wächst und niemandem gehört. Privateigentum ist für sie tabu! Grassamen, Käfer, Würmer, Spinnen und solche Sachen.“

„Auch Schmetterlinge?“

Wieder huschte ein zartes Lächeln über das gebräunte Gesicht des Mannes.

„Keine Ahnung. Kann sein.“

„Dann mag ich diese Nehbergs nicht.“

„Schön, dass wir das geklärt haben. Und eindeutig gehörst du nicht zu dieser Fraktion, die essen, was über und unter der Wiese auf mehr als vier Beinen läuft..“

„Ich gebe diesen Viechern ein reelle Chance. Meistens bin ich schneller weg, als die gucken können. Ich finde Big Macs großartig. Mit richtig viel Soße. Und Pommes mit Mayo. Die finde ich auch großartig!“

„Dann hoffe ich, du hast dir in der letzten Stadt einen Vorrat angefressen, denn so etwas gibt es hier weit und breit nicht.“

Jo zuckte resigniert mit den Schultern.

„So etwas habe ich befürchtet. Mal sehen wie lange ich es aushalte.“ Der Mann krauste die Stirn.

„Wie lange du es aushältst? Wie soll ich das denn verstehen? Was willst du in dieser verlassenen Gegend? Du musst doch meilenweit vom Kurs abgekommen sein.“

Jo fühlte sich nicht sonderlich wohl in ihrer Haut.

„Ich habe ein Haus geerbt und nicht die geringst Ahnung, ob ich auf dem richtigen Weg bin.“

Der Mann hob überrascht die Augenbrauen. „Hier? Das ist nicht dein Ernst?“

„Leider ja.“

„Weißt du denn wenigstens, wo das Haus steht? Dann könnte ich dir vielleicht weiterhelfen.“

Jo zeigte ihm die Papiere des Notars.

„Bin ich denn wenigstens auch nur in der Nähe dieses Hauses?“

Der Mann lächelte und zeigte mit seiner Hand auf den Hügel, auf dem drei große Tannenbäume in majestätischer Ruhe standen. Er ging auf den Hügel zu und forderte Jo auf, mitzukommen. Vor ihren Augen tat sich ein schmaler Weg auf, den sie durch die Tannenbäume nicht wahr genommen hat.

„Dieser Weg heißt, bei den heiligen Tannen. Du bist nicht weit weg. Hier musst du hineinfahren und dann ist es nicht mehr weit, hinter der Kurve kannst du das Haus von Waltraud bereits sehen.“

Der Mann strahlte sie an und irgendwie kam er ihr sympathisch und vertraut vor. Irritiert nahm sie das Schreiben aus seinen großen Händen wieder entgegen.

„Danke. Das ist schon seltsam. Das Navi hat doch überhaupt nicht funktioniert. Du hast Waltraud gekannt?“

„Natürlich! Ich bin ihr ab und zu etwas zur Hand gegangen.Vielleicht hat das Haus auf dich gewartet?“

Jo inspizierte das Gesicht des Mannes. Aber darin war keine Spur von Ironie oder Schadenfreude zu sehen.

„Auf mich gewartet? Es wird sich zeigen, ob das so eine gute Idee ist.“

Der Mann verschränkte wieder seine Arme, legte den Kopf schief und sah sie fragend an.

„Das verstehe ich nicht. Aber andererseits bist du ein Stadtmensch und wirkst hier völlig verloren und fehl am Platz.“

Jo wandte den Blick ab und zuckte mit den Schultern.

„Ach, ich weiß auch nicht warum ich das sage und ob es nur damit zu tun hat, weil ich eine Stadtpflanze bin. Drücken wir es einmal vorsichtig aus. Wenn das Haus ein Wesen mit Gefühl wäre, welches sich auf mich verlassen muss, dass ich es gut behandele, so wie meine Tante es tat, dann würde es mir wahrscheinlich die Freundschaft kündigen und mich rausschmeißen. Ich habe so ein Talent, mit einhundertfünfzig Sachen und ohne zu bremsen, gegen die Wand zu fahren! Mit dem Haus war das mehr so eine Metapher, aber passt ganz gut zu dem Leben, wie ich es bis jetzt geführt habe.“

Der Mann lächelte nachsichtig.

„Du machst auf mich keinen stupiden Eindruck. Vielleicht brauchst du nur etwas Zeit zum Nachdenken bevor du wieder Vollgas gibst.“

Ein Raubvogel zog seine Kreise über den Tannen und stieß dabei heisere Rufe aus. Jo verfolgte ihn mit ihrem Blick.

„Zeit zum Nachdenken? Was ich bräuchte, wäre ein stabiler fester Wohnsitz, in dem ich mich länger als drei Monate aufhalten kann!“

„Dieses Haus ist vielleicht nicht das neueste, es steht, so viel ich weiß, fast zweihundert Jahre. Und ich denke, die nächsten hundert Jahre würde es auch noch aushalten. Aber ich weiß nicht, ob es das richtige für dich ist. Noch kannst du umkehren.“

„Ich bin noch ziemlich ratlos und ehrlich gesagt, habe ich auch Respekt davor, etwas falsch zu machen.“

„Dann hast du hier viel Platz, um dich auszutoben. Aber ich würde es mir an deiner Stelle gut überlegen. Hier ist es verdammt einsam. Was willst du hier machen? Landwirtschaft? Hier gibt es Äcker genug und es ist gutes, fruchtbares Land.“

Jo seufzte tief und sah über die weite Landschaft.

„Landwirtschaft? Zeit auszutoben? Hört sich nicht schlecht an. Wo denn? Wie denn? Ich glaube nicht, dass es hier in der Nähe einen guten Club gibt, in dem ich die ganze Nacht abgrooven kann. Scheiße! Was rede ich denn da? Ich kenne dich nicht und erzähle dir Sachen, die dich nicht im geringsten interessieren! Landwirtschaft? Das soll wohl ein Witz sein? Ich kann Weizen von Roggen nicht unterscheiden und wie Kühe aussehen, weiß ich auch nur aus der Werbung. Und Grünzeug kaufe ich im Supermarkt, wenn es fertig angerichtet ist und nur noch in die Mikrowelle muss. Auf einem Acker würde ich es nicht einmal erkennen können, selbst wenn ich darüber stolpern würde. Wie soll ich mich bloß ernähren? Ich kann nicht kochen. Selbst für heißes Wasser brauche ich eine Anleitung. Außerdem...“

Jo stockte. Sie war doch tatsächlich drauf und dran, diesem wildfremden Mann ihren Lebenslauf, mit seiner wilden Existenz, zu erzählen.

„Man kann sich auch auf andere Weise austoben und du hast genug Zeit zum experimentieren. Aber mit deiner Lebenseinstellung wirst du hier nicht weit kommen. Verkauf doch das Haus und ziehe in eine für dich vernünftige Stadt. Ich glaube nicht, dass das hier das Ziel für dich ist, das du suchst. Du wirst hier nicht glücklich werden.“

Der Mann nahm seinen Platz auf dem Traktor wieder ein.

„Ich muss dann mal weiter. Die Arbeit ruht nicht und ich habe noch so viel zu tun.“

„Geht klar. Irgendwie Körner in den Boden bringen und so ein Kram. Man sieht sich. Ich werde mir die Bude einmal ansehen.“

Jo verstaute das Schreiben in ihrem Wagen. Sie schaute auf ihr Handy, auf dem eine langatmige Sprachnachricht ihrer Mutter eingegangen war.

„Hallo, mein Schatz. Du hast vergeblich versucht uns zu erreichen. Aber du weißt ja, was hier immer los ist. Wir haben eine neue Kochgruppe gegründet. Das macht so einen Spaß! Nur Ella muss mal wieder aus der Reihe tanzen. Meine beste Freundin Ella! Ich kann es immer noch nicht fassen! Stell dir vor, sie hat doch tatsächlich ihren Günther in die Wüste geschickt und lebt jetzt mit Antonio, diesem unverschämt gutaussehenden Spanier zusammen. Na ja, was heißt in die Wüste? Günther wohnt jetzt zwei Straßen weiter in einem Zimmer und kommt ab und zu zum Essen und um sich auszuweinen, vorbei. Ella und ihr Spanier betreiben gemeinsam eine Bodega. Aber weißt du was das Schlimmste ist? Sie sehen unverschämt glücklich und zufrieden aus. Und nun zu dir. Was macht dein neuer Job? Hast du dich schon gut in deinem Appartement eingelebt? Ich muss jetzt Schluss machen, du weißt die neue Kochgruppe fordert mich doch ziemlich. Ich muss noch Rezepte ausdrucken und die passenden Lebensmittel besorgen. Auf dem Markt hier sind die Sachen so frisch, man kann förmlich die Todesschreie der Garnelen noch hören. Kannst du dich noch erinnern, ob Oma den Zimt auf den Zuckerkuchen vor oder nach dem Backen aufgetragen hat? Und hinterher gehen wir zu Ella und Antonio noch einen leckeren Rotwein trinken. Der heißt hier übrigens Vino Tinto.“

Jo seufzte. Ihre Eltern waren noch nicht auf dem neusten Stand der Dinge. Sie legte das Handy zurück, aber bevor sie wieder einstieg, wollte sie sich von dem netten, hilfsbereiten Mann, der ihr so eifrig nahegelegt hatte wieder zu verschwinden, verabschieden.

„Wie heißt du ei....“

Von dem Mann war nichts mehr zu sehen, ebenso wie von seinem betagter Traktor. Oben auf dem Berg sah sie einen winzigen Traktor seine Bahnen ziehen. Sie sah dem Traktor eine Weile nach, dann stieg sie in ihren Wagen und bog in die kleine Straße ein. Die letzten Nebelschwaden krochen über die Straße und verfingen sich in den „Drei Tannen“. Vor ihr tauchte die Silhouette eines Hauses auf. Langsam fuhr sie auf das Gebäude zu. Jetzt war es Jo doch etwas beklommen zumute. Sie hatte nicht daran gedacht, noch Lebensmittel einzukaufen. In ihrer scheinbar grandiosen Naivität war sie der Meinung, dass sich doch bestimmt irgendein Lieferservice finden würde. Aber so wie es aussah, mussten jetzt die alten Kekse in ihrem Handschuhfach vorerst ihren Hunger stillen. Die nächste Ortschaft war gefühlte tausend Kilometer entfernt. In ihrer Erinnerung tauchte die Tante in ihrem bunten, voluminösen Kaftan auf, die sie freundlich anlächelte.

„Wie hast du hier bloß überlebt, Tante? Ich weiß nicht, ob ich das aushalte. Ich bin da mehr so intellektuell unterwegs... Ach das stimmt doch auch nicht. Dann würde ich doch nicht ständig so viel Mist bauen!“

Zögerlich lenkte sie ihren Wagen in die Hofeinfahrt. Das Haus war aus großen unregelmäßigen Bruchsteinen erbaut. Im oberen Stockwerk hing ein Fensterladen lose in den Angeln, pendelte hin und her und quietschte erbärmlich. Die Fensterläden waren ehemals blau, aber die Farbe war rissig und abgeblättert. Das Dach war überwuchert von Moos und anderem Grünzeug. Links und rechts neben dem Eingang wuchsen Rosenstöcke, die einen Bogen bildeten. Sie trugen feuerrote, rosa und weiße Blüten. Obwohl Rosen nicht unbedingt zu ihren Lieblingsblumen gehörten, glaubte sie, nie etwas schöneres gesehen zu haben. Auf den Fensterbänken standen Blumenkästen. Alle waren bepflanzt und strahlten in wunderbarer Blütenpracht. Jo überlegte, wann ihre Tante gestorben war. Vor über sechs Wochen. Keine Pflanze, das wusste sie aus leidlicher Erfahrung mit ihrer kümmerlichen, verzweifelt ums Leben kämpfenden Topfpflanze, hielt länger als eine Woche stand, wenn sie kein Wasser bekam. Es sei denn, man ist ein Kaktus.

„Dieser nette Nachbar mit dem Traktor hat sich bestimmt um die Blumen gekümmert.“

Erwartungsvoll und doch ein wenig ängstlich, steckte sie den unhandlich großen Schlüssel ins Schloss der massiven, dunkel gebeizten Holztür. Zu Jo's Überraschung war sie nicht verschlossen und sprang sofort auf. Sie erwartete einen muffigen und abgestandenen Geruch nach Mottenkugeln und alten Möbeln. Aber es roch frisch nach Lavendel und Frühlingsblumen.

„Da hat wohl jemand gut gelüftet, kurz bevor ich angekommen bin,“ teilte Jo sich selbst lautstark mit, um ihre Unsicherheit zu überspielen.

„Aber wer hat denn gewusst, dass ich ausgerechnet heute ankomme?“

Jo gab sich auch sogleich selbst die Antwort.

„Na wer schon? Dieser krötige Notar wird irgend jemandem Bescheid gesagt haben.“

Sie blieb unschlüssig im Flur stehen.

„Und wenn nicht? Wer weiß denn sonst noch, dass ich das Haus inspiziere?“

Sie fühlte sich nicht mehr so wohl, sehnte sich nach menschlicher Gesellschaft und betrachtete intensiv die mit Holz verkleidete Wand. Risse zogen sich durch die alten Paneelen und erinnerten Jo, farblich zumindest, an den Grand Canyon in Amerika, den sie mit Studienkollegen besucht hatte. In Gedanken stand sie wieder mit ihrer Freundin Leona auf der berühmten Plattform und sie genossen die Aussicht auf das unglaubliche weite Land. Ihre Freundin hielt eine Hand abschirmend gegen die Sonne vor die Augen und sah sie an.

„Was willst du eigentlich mit dieser alten Bruchbude irgendwo im nirgendwo? Also du kannst nicht von mir erwarten, dass ich dich dort besuchen komme!“

Ungläubig starrte Jo ihre Freundin an, deren Bild erst transparent wurde und schließlich gänzlich verschwand.

Sie fuhr mit dem Finger über die alten Paneelen.

„Ich werde mich die nächste Zeit bei ihr melden,“ murmelte sie schuldbewusst. „Ich glaube, dass es allerhöchste Zeit ist, wenn sie mir schon hier erscheint.“

Zögerlich ging Jo weiter. Sie ließ den Flur hinter sich und betrat die geräumige Küche. Die Möbel, vermutete sie, stammten aus dem vorigen Jahrhundert. Fünfziger oder sechziger Jahre. Sie konnte sich nur noch wage daran erinnern, es war schließlich schon über fünfzehn Jahre her, dass sie das letzte Mal hier war. Die Fenster waren uralt und die bunten Gardinen wirkten ebenfalls wie aus der Zeit gefallen. An der Wand war eine Stange befestigt und daran hing ein gestärktes weißes Tuch, auf dem rote und blaue Blumen in Handarbeit gestickt waren. Den Küchenschrank zierte eine Puppe mit einem ausladenden, weiten Rock. Als Jo die Puppe hoch hob, kam darunter eine Kaffeekanne zum Vorschein. Anscheinend diente die Puppe dazu, mit ihrem weiten Rock den Kaffee warmzuhalten. Auf dem Tisch stand eine Vase. Normalerweise nichts ungewöhnliches. Aber hier waren frische Blumen drin.

Tulpen!

Sie standen ordentlich in frischem Wasser, wie sich das gehörte, und sie erstrahlten in dem feurigsten rot, wie es Jo noch nie gesehen hatte. Auch wirkte die Küche sauber und aufgeräumt.

„Wer macht sich denn so eine Arbeit? Ich verstehe das nicht. Hat das die Tante noch zu ihren Lebzeiten gemanagt?“

Ein lautes Knurren ließ Jo zusammenzucken. Ihr Magen! Er fühlte sich vernachlässigt und forderte lautstark sein Recht auf Essen ein.

„Du bekommst gleich einen Keks,“ meinte sie beschwichtigend, „und etwas Eistee, der mittlerweile lauwarm ist, habe ich auch noch. Aber jetzt werde ich mir das Haus ansehen. Ich muss doch wissen, ob ich hier übernachten kann.“

Jo nahm den Duft der Tulpen auf.

„Und vor allen Dingen muss ich wissen, ob es in das Haus hinein regnet. Ich habe keine Lust überall Eimer aufzustellen. Aber irgend etwas ist sehr seltsam hier.“

Sie setzte ihren Rundgang fort. Sie erinnerte sich an einen alten klobigen Röhrenfernseher, den man mit Türen verschließen konnte.

Fernsehen war einmal etwas kostbares und das Programm begann erst um siebzehn Uhr. Im Gegensatz zu heute war es meistens um zehn Uhr schon beendet und der Bildschirm gab nur noch schwarzweißes Schneekriseln wieder. Diese Zeit wurde auch in ihrem Studium behandelt, aber am ausführlichsten hatte ihre Großmama darüber berichtet. Jo war fasziniert davon, dass die Menschen in früheren Zeiten nicht ständig vor der Glotze hockten, oder sich mit dem Handy beschäftigten. Sie war nicht sonderlich überrascht, dass das Ungetüm immer noch in der Ecke des Wohnzimmers stand und darauf befand sich, wie erwartet, die venezianische Gondel.

Auf dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers lag eine gehäkelte Decke. An der Wand stand ein Sofa und darüber in der Ecke hing eine Leuchte mit zwei Lampenschirmen, die in ihrer Form an die Tulpen in der Küche erinnerten. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Kamin, indem noch die letzten Reste von verbranntem Holz lagen. Auf dem Schrank standen immer noch die alten Fotos ihrer Tante. Auf dem einen Bild war sie in einem schwarzen Kostüm zu sehen und auf dem anderen trug sie ein grünes Kleid. Auf der Fensterbank standen, genau wie vor fünfzehn Jahren, Topfpflanzen, die wunderbare Blüten hatten. „Wer dieses alte Haus immer noch so hütet, muss Tante Waltraud sehr gern gehabt haben.“

Jo tappte eine uralte Holztreppe, deren Stufen in der Mitte schon stark abgenutzt waren, hoch, um in den oberen Stock zu gelangen. Sie konnte es nicht verhindern, dass jede Stufe beharrlich knarrte. In dem Flur befanden sich zwei Türen und eine Treppenleiter, die anscheinend zum Dachboden führte. Hinter der ersten Tür befand sich das Schlafzimmer. Darin stand ein Bett, dass so hoch vom Boden ab stand, dass es an ein Schlafgemach im Mittelalter erinnerte. Ein monströser Kleiderschrank ging von Wand zu Wand. Das Bettzeug roch frisch, die Bettwäsche war sauber und mit blauen Veilchen bedruckt. Hinter der nächsten Tür war das Bad. Es war mit schwarzen und weißen Kacheln gefliest und an der Wand stand eine Badewanne mit bedrohlich wirkenden Löwenfüßen.

Am Handtuchhalter hingen zwei saubere, unbenutzte Handtücher.

Ihr Magen meldete sich wieder unerbittlich. Er knurrte jetzt wie ein böser Wolf und wollte seinen Keks haben. Sie beeilte sich mit dem Rundgang, sie lief die Treppe hinunter, um den Keller zu besichtigen. Auch hier war die ordnende Hand der Tante anscheinend noch zu spüren. Auf sauberen Regalbrettern standen Einmachgläser...volle Einmachgläser.

Sie fand Gläser mit wunderbaren Pflaumen, herrlichen Kirschen, Erdbeeren und samtig gelben Pfirsichen. Auf dem nächsten Regal standen Blumenkohl, Rosenkohl und Kartoffeln. Jo staunte die Gläser an und ihr Magen begann zu revoltieren; er gab Töne von sich, die jedem wütenden Tiger zur Ehre gereichen würden. Anscheinend hatten Jo's Augen diese Information direkt an den Magen weitergegeben, ohne das Gehirn von diesen Tatsachen zu unterrichten. Sie nahm sich ein Glas Kirschen und ging in die Küche. Sie öffnete mehrere Schubladen, bis sie das Besteck fand. Jo vertilgte den kompletten Inhalt des Glases und hinterher trank sie mit Wohlbehagen den roten Saft. Dann räumte sie das leere Einmachglas in die Keramikspüle. Ihr fiel ein, dass sie den Wagen mit ihren Habseligkeiten noch ausräumen musste. Als sie die Wagentür öffnete, fiel ihr als erstes ihre armselige Topfpflanze auf. Sonst hatte Jo immer das Gefühl, dieses Ding wollte sich mit ihren krallenartigen und trockenen Ästen an ihr festklammern. Aber jetzt stand sie im Wagen auf dem Beifahrersitz, einträchtig mit dem alten Teddy, und beide waren immer noch sorgsam angegurtet. Sie hatte die Äste wie zum Willkommensgruß ausgebreitet und schien mit einem Ast den Kopf des Teddys zu kraulen.

„Freu dich bloß nicht zu früh!“ warnte sie die Pflanze vor. „Ich kann dir nicht versprechen, ob wir für immer hier bleiben werden. Wenn ich keinen Job finde, ist der Erlös von dem Schmuck in wenigen Monaten aufgebraucht. Ich weiß doch selbst nicht, wie es weiter gehen soll. Auf alle Fälle haben wir für die nächste Zeit ein Dach und du blauen Himmel über dem Kopf.“

Jo stellte die Topfpflanze, von der sie noch nicht einmal den Namen wusste, vor dem Haus auf eine einladende Bank. Die Vögel begannen zu zwitschern und Jo hielt inne, um diesem wunderbaren Gesang zu lauschen.

„Unglaublich! Und das ist alles live und völlig ohne Soundkarte.“

Vor dem Haus stand ein seltsamer Gegenstand, wie ihn Jo als reines Stadtkind noch nie gesehen hatte. Er war aus Eisen und schien aus dem Boden zu wachsen. Das Ding bestand aus einem Rohr und an dem Rohr war ein Hebel befestigt, der sich bewegen ließ. Sie konnte ihre Neugier nicht mehr im Zaume halten und bewegte den Hebel. Zuerst kamen gluckernde Geräusche, als wäre ein Tier darin gefangen. Jo erschrak und ließ den Hebel wieder los. Aber dann lief ein kleines Rinnsal aus dem gluckernden Rohr. Sie schalt sich selbst, eine blöde, dämliche Stadtkuh zu sein und bediente den Hebel erneut. Wieder erfolgten die gluckernden Geräusche und einen Augenblick später floss sprudelndes, klares, kaltes Wasser in einen bereit stehenden Eimer.

„Bock auf einen Drink?“

Jo nahm den Eimer und begoss mit dem köstlichen Nass die äußerst gestresste Topfpflanze.

Dann begann sie ihre Habseligkeiten, samt Teddy, ins Haus zu tragen. Sie hievte ihre Koffer mit den Klamotten ins Schlafzimmer und legte den Teddy auf die frischen Kissen. Als sie den Schrank öffnete, staunte sie nicht schlecht. Das schwarze Kostüm und das grüne Kleid, welche Tante Waltraud auf den Bildern trug, hingen fein säuberlich auf Bügeln. Sogar der schwarze, breite Lackgürtel hing an der Innenseite der Tür auf einer Holzleiste. Die Schuhe, aus längst vergangener Zeit, standen fein säuberlich und aufgeräumt im Schrank. In einem anderen Fach hing die Garderobe, welche Tante Waltraud wohl später getragen hatte, als Jo sie einmal kennenlernen durfte. Voluminöse, bunte und weite Kleider und Kaftane hingen an der Stange. Viele bunte Tücher aus Seide, Satin und was es sonst noch so alles gab, lagen zusammengelegt in der Schublade. Jo wagte es nicht, die Garderobe von Tante Waltraud auszuräumen und legte ihre Koffer auf dem Boden ab. Danach ging sie ins Bad. Die vielen Kirschen, die sie gegessen hatte, forderten ihren Tribut.

Sie war erleichtert, dass eine Rolle Klopapier einladen an der Wand mit einer Schnur hing und das Wasser nicht abgestellt war.

Aus den altmodischen Armaturen über der Badewanne floss sogar warmes Wasser und Jo nahm ein ausgiebiges Bad. An der Tür hing ein rosa flauschiger Bademantel. Sie überlegte nicht mehr lange und hüllte sich gemütlich darin ein. Sie öffnete das Fenster und legte sich auf das Bett. Sie atmete den betörenden Duft der blühenden Bäume ein, lauschte dem wunderbaren Gesang der Vögel und alsbald schlief sie ein...

In ihren Träumen saß sie auf einer Schaukel, die mit Blumen umrankt war. Das Mädchen mit den langen blonden Zöpfen, das damals bei der Tante im Garten war, saß inmitten von bunten Blumen und sah Jo zu.

„Wo warst du solange?“

„Warum willst du das wissen? Wir haben uns nur ein einziges Mal gesehen und ich kenne noch nicht einmal deinen Namen.“

„Ist das wichtig?“

„Nein. Aber ich hätte ihn damals schon gerne gewusst. Ich habe es nur vergessen, zu fragen.“

„Ich habe viele Namen.“

„Genau wie ich. In meinem Pass steht Jolanda Margarethe Dorothea Agnes Wenkert.“

Das Mädchen mit den blonden Zöpfen lachte und sie lachte lauthals mit.

„Ich trage die Namen der halben weiblichen Verwandtschaft. Weil meine Eltern sich mit keiner der Tanten anlegen und keine beleidigen wollten. Geht es dir genauso?“

„Nein. Bei mir ist es völlig anders...“

Schwarzer Nebel tauchte wie aus dem Nichts auf und breitete sich im Garten aus. Er wurde so dicht, dass er sogar die Sonne verdunkelte und es wurde empfindlich kalt. Die Vögel verstummten und es herrschte eine gespenstige Stille. Jo verließ die Schaukel. Ihr fiel auf, dass sie die gleiche Jacke trug, wie damals vor fünfzehn Jahren. Ein starker Wind kam auf, wehte über den Platz und fuhr heulend in die „Drei Tannen“. Sie begann zu frösteln und zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu.

„Komm, lass uns ins Haus gehen. Anscheinend gibt es ein Unwetter.“

Das Lächeln verschwand aus dem Gesicht des Mädchens. Vielmehr spiegelte ihr Gesicht Angst und Entsetzen wider. Es sah aus, als ob der Nebel Krallen bekam und nach ihr greifen wollte. Sie schrie und rannte tiefer in den Garten hinein.

„Bleib doch!“ rief Jo. „Wovor fürchtest du dich denn?“

Mitten im Traum schreckte sie auf. Zuerst wusste sie nicht wo sie sich befand. Aber dann erinnerte sie sich. Sie stand auf, trat an das offene Fenster und sog gierig die klare kalte Nachtluft ein. Die Sterne standen hell und klar am Himmel und die Milchstraße war phantastisch zu sehen. In der Stadt hatte sie so etwas schönes noch nie zu Gesicht bekommen.

Warum war sie wach geworden? Die Luft war klar und still. Das Unwetter hatte wohl nur in ihrem Traum stattgefunden. Jo schaute in den Garten. Auf einem Kirschbaum sah sie zwei leuchtende Punkte. Neugierig blieb sie am offenen Fenster stehen, die Punkte bewegten sich. Es war ihr nicht möglich, herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Nach einer Weile sah sie, dass die leuchtenden Punkte auf dem Boden gelandet waren. Aber bald darauf verschwanden die Punkte in der pechschwarzen Nacht.

„Ich möchte nicht wissen, was sich hier alles für Viecher in der Nacht herumtreiben.“

Sie schloss das Fenster, legte sich wieder ins Bett und nahm ihren Teddy in den Arm. Gerade als sie wieder einschlafen wollte, hörte sie ein schleifendes Geräusch. Wie elektrisiert stand sie auf und machte das Licht an.

„Was war das?“

Jo nahm ihren Teddy, ging hinaus in den Flur und schaltete hier ebenfalls das Licht an. Alles war still und es war nichts zu sehen.

„Ist hier jemand?“ rief sie laut durch das Haus. „Also Jo, du hast sie doch nicht mehr alle,“ schalt sie laut mit sich selbst.

„Einbrecher geben selbstverständlich keine Antwort und pflegen sich auch sehr selten während des Einbruchs vorzustellen.“

Sie durchschritt das gesamte Haus, aber konnte keine Spuren eines Eindringlings ausmachen. Die massive schwere Holztür war abgeschlossen und der altertümliche Riegel war vorgeschoben. Einigermaßen beruhigt stieg sie wieder die Treppe hinauf. Als sie in das Schlafzimmer zurückgehen wollte, ließ sie ihren Blick noch ein letztes Mal durch den Flur schweifen. Die Treppenleiter zum Dachboden war doch eben noch heruntergelassen. Und jetzt war sie nach oben gezogen. Oder doch nicht? Narrte sie ihr Verstand? Ihr Teddy schien sie anzustupsen, weil er ins Bett zurück wollte. Jo sah in seine braunen, ehrlichen Glasaugen.

„Was habe ich dir nicht schon alles angetan? Als ich ein kleines Kind war, fand ich es für notwendig, dich in einer Wanne zu baden, in der Mörtel angerührt wurde. In einem Urlaub mit den Eltern, ich war gerade einmal sechs Jahre alt, hielt ich es für angebracht, dich in eine Brombeerhecke zu werfen. Und das dreimal hintereinander, weil ich den Jungen so süß fand, der dich immer wieder daraus befreit hatte. Die wilde Studienzeit und mindestens vier Umzüge, musstest du schon mitmachen. Und weil ich es nirgendwo lange ausgehalten habe und ständig durch mein vorlautes Mundwerk Scheiße baue, hast du mich Nächte lang trösten müssen. Ich werde nun dafür sorgen, dass du etwas Ruhe in dein Leben bekommst. Wir gehen jetzt schlafen und morgen sehen wir weiter!“

Jo befühlte mit der Hand die bunte Blümchentapete an der Wand und trottete müde zurück in das Schlafzimmer. Der dichte dunkelrote Vorhang des Fensters im Flur, war nur an einer Seite zugezogen. Die Vorhangschiene war so befestigt, dass der Vorhang über Eck die halbe Wand bedeckte. Davor stand ein, schon arg in die Jahre gekommener, grüner Ohrensessel. Sie zog den Vorhang vor das Fenster, weil sie wenig Sinn darin fand, dass er die Wand bedeckte. Sie staunte nicht schlecht, als hinter dem Vorhang eine Tür auftauchte. Die Tür war ebenfalls mit der bunten Blümchentapete überzogen und war auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen. Oben war ein Riegel angebracht und daran hing ein kleines Vorhängeschloss. Sie versuchte es zu öffnen, aber es gelang ihr nicht.

„Das wird eine Abstellkammer sein,“ sprach sie leise zu sich selbst und gähnte, dass ihre Kieferknochen knackten. „Darum kümmere ich mich morgen.“

Und endlich legte sie sich wieder ins Bett. Aber der Schlaf wollte sich nicht direkt einstellen. Zu viele Dinge gingen ihr durch den Kopf. Außerdem hatte sie Angst, wieder von dem schwarzen Nebel zu träumen.

*