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Ein Muss für alle Beatles-Fans: das biographische Meisterwerk über die größte Legende der Popmusik – John Lennon. Philip Norman liefert ein facettenreiches Porträt des Gründers der Beatles, der mit seinen genialen Songs Musikgeschichte schrieb. Eine grandiose Hommage an die Pop-Ikone.
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Seitenzahl: 1563
Philip Norman
John Lennon
Die Biographie
Aus dem Englischen von Reinhard Kreissl
Knaur e-books
Ein Muss für alle Beatles-Fans: das biographische Meisterwerk über die größte Legende der Popmusik – John Lennon. Philip Norman liefert ein facettenreiches Porträt des Gründers der Beatles, der mit seinen genialen Songs Musikgeschichte schrieb. Eine grandiose Hommage an die Pop-Ikone.
Für Jessica
John Lennon kam mit einer musikalischen und komödiantischen Begabung auf die Welt, die ihn weit von seinen Wurzeln forttragen sollte. Als junger Mann lockten ihn die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten und der Glamour jenseits des Atlantiks. Es gelang ihm das seltene Kunststück, als Brite den Amerikanern ihre eigene Musik nahezubringen und dabei so überzeugend wie ein einheimischer Künstler – wenn nicht sogar besser – zu spielen. Er war mit seiner Truppe über Jahre in Amerika unterwegs, wo sie in einer Stadt nach der anderen ihr Publikum beglückten – mit grellen Anzügen, lustigen Frisuren und einem fröhlichen Grinsen, das ansteckend wirkte.
Die Rede ist hier natürlich nicht von dem Beatle John Lennon, sondern von seinem Großvater gleichen Namens, besser bekannt als Jack – Jack Lennon, 1855 in Dublin geboren. Der Familienname ist irischen Ursprungs, abgeleitet von O’Leannein oder O’Lonain. Jack gab als seinen Geburtsort immer Dublin an, obwohl es Belege dafür gibt, dass seine Familie schon lange vorher die Irische See überquert hatte, um sich in der großen irischen Gemeinde von Liverpool niederzulassen. Er arbeitete zunächst in einem Kontor, aber in den 1880ern wanderte er wie viele seiner Landsleute nach New York aus. Viele Iren in der Neuen Welt waren Arbeiter oder auch bei der Polizei beschäftigt. Jack jedoch wurde Mitglied der Andrew Roberton’s Coloured Operatic Kentucky Minstrels.
Sein Engagement dort mag kurz und oberflächlich gewesen sein, aber er wurde dadurch Teil der ersten transatlantischen Popmusikindustrie. Die amerikanischen Minstrelgruppen, in denen Weiße ihre Gesichter schwarz färbten und übergroße Anzüge und Schuhe trugen, sangen sentimentale Lieder vom Swanee River, von »Bimbos« und »Negern«. Solche Combos erfreuten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit, sowohl mit ihren Bühnenauftritten als auch mit ihren Kompositionen. Als Roberton’s Coloured Operatic Kentucky Minstrels 1897 durch Irland tourten, nannte der Limerick Chronicle sie die unbestrittenen Weltmeister des höheren Minstrel, und die Dublin Times meinte, sie seien die Besten, die man je in diesem Genre gesehen habe. Einem zeitgenössischen Handbuch ist zu entnehmen, dass die Truppe etwa 30 Mitglieder hatte, dass auch echte schwarze Künstler unter den Geschminkten waren und dass eine ihrer Spezialitäten eine Parade durch die Straßen der Städte war, in denen sie auftraten.
Die Musik brachte diesem John Lennon, im Gegensatz zu seinem Enkel, den er nie kennengelernt hat, keinen weltweiten Ruhm ein. Es war lediglich eine Episode seines Lebens, von der seine Nachkommen so gut wie nichts wussten. Um die Jahrhundertwende kehrte er nach Liverpool zurück und nahm sein altes bürgerliches Leben als Angestellter wieder auf, diesmal in den Diensten der Booth Shipping Line. Mit ihm zurück kam seine Tochter Mary, das einzige Kind seiner ersten Ehe – diese hatte seinen Ausflug in die Welt des Showgeschäfts nicht überlebt.
Als Mary auszog, um eine Stelle als Dienstmädchen anzutreten, schien Jack auf ein einsames Alter zuzusteuern. Stattdessen heiratete er jedoch seine Haushälterin, eine junge Liverpooler Irin namens Mary Maguire, meist Polly genannt. Zwar war sie zwanzig Jahre jünger als er und konnte weder lesen noch schreiben, aber sie erwies sich als die ideale Ehefrau – sie war selbstlos, praktisch veranlagt und sehr tüchtig. Die beiden wohnten in einem der kleinen Terrassenhäuser in der Copperfield Street in Toxeth, einem Stadtteil mit dem Spitznamen Dickens-Land, weil die Straßen nach Figuren aus Dickens’ Romanen benannt waren. Wie Mr. Micawber in der Geschichte von David Copperfield sprach Jack gelegentlich davon, zu seinem früheren Leben auf der Bühne zurückzukehren und so Reichtümer für seine Frau anzuhäufen, damit sie, wie er es formulierte, »in Seide furzen« könnte. Aber seine musikalischen Auftritte beschränkten sich auf den Pub um die Ecke und gelegentliche Familienfeiern.
In seiner zweiten Ehe brachte es Jack noch mal auf acht Kinder. Zwei starben im Säuglingsalter, was die abergläubische Polly auf ihre katholische Taufe zurückführte. Daher wurden die sechs anderen nach dem protestantischen Ritus getauft und überlebten alle: fünf Jungen, George, Herbert, Sydney, Alfred und Charles, und ein Mädchen, Edith. Polly vollbrachte die heroische Leistung, sie mit Jacks bescheidenem Einkommen alle durchzufüttern. Allerdings beschränkte sich ihr Speisezettel im Wesentlichen auf Brot, Margarine, starken Tee und Labskaus (von diesem Gericht leitet sich der Spitzname der Bewohner Liverpools, Scouses, ab) – eine Kost, der es an wichtigen Nährstoffen fehlte.
Am schwersten von dieser einseitigen Ernährung betroffen war der vierte Junge, Alfred, geboren 1912. Er litt als Kleinkind an Knochenerweichung, mit der Folge, dass seine Beine verkrüppelten. Die einzige Behandlung, die Kinderärzte damals vornahmen, bestand darin, Eisenschienen an den Beinen zu befestigen. Man hoffte, dass das zusätzliche Gewicht und der Zug auf die Schienen das Wachstum der Beine und der Muskulatur fördern würde. Obwohl Alfs Beine über Jahre hinweg mit diesen Schienen belastet waren, blieben seine Beine verkrüppelt und verkürzt, und er wurde nicht größer als 1,50 Meter. Dennoch wuchs er zu einem gutaussehenden jungen Mann heran, mit einer üppigen schwarzen Mähne, fröhlichen Augen und der typischen Nase der Lennons, einem dünnen, steil abfallenden Zinken, mit scharf gezeichneten Nasenflügeln.
Jacks musikalisches Talent verteilte sich auf seine Kinder sehr unterschiedlich. George, Herbert, Sydney, Charles und Edith hatten passable Singstimmen, und die Jungen spielten darüber hinaus Mundharmonika, das einzige Musikinstrument, das sie sich bei diesem Lebensstandard leisten konnten. Alf aber spielte musikalisch in einer anderen Liga, was allerdings mit einem »Hang zur Angeberei« verbunden war, wie es sein Bruder Charlie (geboren 1918) formulierte. Er konnte alle Lieder aus den Music Halls und leichte Opernarien singen, die während des Ersten Weltkriegs in der Hitparade auftauchten. Er konnte Balladen rezitieren, Witze erzählen und andere Leute imitieren. Sein größter Erfolg war die Parodie von Charlie Chaplin, dem kleinwüchsigen anarchischen Tramp, der mit seinen Filmkomödien weltweiten Ruhm erlangte.
Jack starb an einer Leberkrankheit – möglicherweise eine Folge seines Alkoholkonsums – im Jahr 1921. Da sie mit der staatlichen Witwenpension von fünf Shilling pro Woche und Kind nicht überleben konnte, verdingte sich Polly als Wäscherin. Das bedeutete Rückenschmerzen und harte Arbeit, mit den Händen im brühend heißen Wasser, von vier Uhr morgens bis zum Einbruch der Dämmerung. Sie schrubbte die schmutzige Bettwäsche ihrer Kunden auf einem Waschbrett und trocknete sie mit einer schweren, handbetriebenen Eisenmangel. Aber selbst unter diesen Umständen – so die Erinnerung ihrer Enkelin Joyce Lennon – war das enge Häuschen, in dem sie lebten, immer so sauber, dass man vom Boden hätte essen können.
Polly hatte die fünf Söhne unter ihrer Knute, wie Mrs. Joe in Great Expectations von Charles Dickens, und sie zögerte nicht, sie mit einem Lederriemen zu züchtigen, als die ältesten von ihnen schon erwachsene Männer waren.
Trotz ihrer Schufterei erwies es sich als unmöglich, die sechs Mäuler ausreichend zu stopfen. Da ergab es sich, dass ihren Kindern Alf und Edith eine Unterkunft im Liverpooler Bluecoat Hospital in der Church Road in Wavertree angeboten wurde, einer Schule mit Internat für mittellose Kinder. Die Schule war nur einen Steinwurf von einer damals noch völlig unbekannten kleinen Durchgangsstraße namens Penny Lane entfernt. Die Bluecoat-Schule, gegründet im Jahr 1714, kleidete ihre männlichen Schüler immer noch wie im 18. Jahrhundert in einen blauen Frack mit goldenen Knöpfen, Reithosen, langen Gamaschen und Halstuch. Wegen des hohen Niveaus der Schule und der vergleichsweise freundlichen Leitung galten Kinder, denen es gelang, hier unterzukommen, als Glückspilze. Dennoch war es für Alf und Edith eine traumatische Erfahrung, ihr gemütliches Haus in der Copperfield Street und ihre angebetete Mutter verlassen zu müssen. Alf, der fröhlichere von den beiden, passte sich schnell an das Leben in der Institution an: Er kam in der Schule gut mit, wurde das Maskottchen der Footballmannschaft und unterhielt den ganzen Schlafsaal mit seinen Gesangs- und Tanznummern und der Chaplinparodie, mit denen er schon seine Familie und die Nachbarn zu Hause erheitert hatte.
Von seiner frühesten Jugend an war es sein Wunsch gewesen, wie sein Vater ins Showbusiness zu gehen. Dieser Wunsch erfüllte sich ihm im Alter von 14 Jahren, als sein Bruder Sydney ihn in das Empire Theatre in der Lime Street mitnahm, wo eine Truppe von singenden und tanzenden Jugendlichen auftrat, die Murray’s Gang. Nach der Vorstellung fragte sich Alf zu den Garderoben hinter der Bühne durch und gab vor Bill Murray, dem erwachsenen Manager der Truppe, eine spontane Vorstellung seines Könnens. Murray bot ihm daraufhin an, ihn ab und zu für einen Job anzuheuern. Als seine beiden älteren Brüder Herbert und George ihm das verbieten wollten, lief Alf aus der Bluecoat-Schule weg und fuhr mit der Truppe nach Glasgow, um dort mit ihr aufzutreten. Aber einer seiner Lehrer fuhr ihm nach und brachte ihn mit Schimpf und Schande zur Schule zurück, wo er sich vor seinen versammelten Mitschülern einer rituellen Erniedrigungsprozedur unterziehen musste.
Ein Jahr später entließ ihn die Bluecoat-Schule in die Welt hinaus. Er arbeitete ein paar Wochen als Bürobote, was ihm wenig Freude machte, bis sich eines Tages eine viel bessere Karrieremöglichkeit auftat – etwas, das fast so gut war, wie auf der Bühne zu stehen. Es war damals das goldene Zeitalter der Transatlantikdampfer, und Liverpool wetteiferte mit Southampton um die Position als größter Passagierhafen Englands. Große Schiffe mit mehreren Schornsteinen fuhren jeden Tag den Fluss Mersey hinauf und nahmen die Fahrgäste der geschmückten Züge aus London auf, lauter reiche Leute in Pelzmänteln, die mit großen Überseekoffern reisten. Am Ranelagh Place hatte man gerade das prachtvolle Adelphi Hotel erbaut, um einen schnellen und einfachen Zugang zu den Schiffen zu ermöglichen.
Und so fuhr Alf zur See, als Hotelpage auf der S.S. Montrose. Das war ein Leben wie für ihn geschaffen. Seine freundliche, lustige Art machte ihn beliebt bei den Passagieren und bei seinen Vorgesetzten. »Lennie« – so nannte man ihn an Bord – wurde bald zum Kellner befördert und bediente die Gäste in den Restaurants der Schiffe, die zwischen Liverpool und dem Mittelmeer verkehrten. In der Freizeit unterhielt er seine Kollegen in ihren engen stickigen Gemeinschaftskabinen oder in der Bar für das Personal mit Gesang und kleinen Darbietungen. Seine Spezialität (die sein Vater sicher zu schätzen gewusst hätte) war der Auftritt mit schwarz bemaltem Gesicht und eine Parodie auf Al Jolson, einen Ableger der Minstrels, dessen schmalzige Hymnen an »Mammy« und »Dixie« sich in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren millionenfach verkauften.
Er fühlte sich immer im Rampenlicht, ob er mit der weißen Jacke und den weißen Handschuhen des Stewarts im Restaurant servierte, ob er zur Freude seiner bierseligen Kollegen in theatralischer Haltung Jolsons Sonny Boy sang oder beladen mit Delikatessen vom Schiff – der Nebeneinnahme aller Stewards – in der Copperfield Street auftauchte. Auch zwischen seinen Touren auf See fand er in der einen oder anderen Hafenbar immer ein dankbares Publikum, das sich von seinen Geschichten über exotische Gegenden und Menschen faszinieren ließ und ihm gern zuhörte, wenn er von dem rasanten Leben eines jungen unverheirateten Stewards erzählte, von Intrigen an Bord und abenteuerlichen Landausflügen.
Aber trotz all solcher Geschichten scheint es für Alf Lennon nur eine Frau gegeben zu haben. Irgendwann im Jahr 1928, kurz nachdem er die Schule des Bluecoat Hospital verlassen hatte, spazierte er in einem neuen Anzug durch den Sefton Park, auf dem Kopf einen übergroßen Bowler und im Mund eine billige Zigarette, die er dandyhaft in eine Zigarettenspitze gesteckt hatte. Einsam auf einer Bank am Ufer des künstlichen Sees saß ein Mädchen mit flaumigem rötlichem Haar und der Gesichtsform der jungen Marlene Dietrich. Alf sprach sie an, doch sie lachte ihn aus. Als er merkte, dass sein etwas zu groß geratener Bowler der Grund dafür war, nahm er ihn vom Kopf und ließ ihn in den Teich segeln. So begann seine lange und schwierige Beziehung mit Julia Stanley.
Wie Alf strebte auch Julia – gelegentlich »Juliet«, »Judy« oder einfach »Ju« genannt – nach Glamour und Unterhaltung. Auch sie hatte eine Singstimme, die weit über das Mittelmaß hinausreichte, doch anders als Alf spielte sie ein Instrument. Ihr Großvater, ein bühnenversessener Büroangestellter aus Liverpool, hatte ihr das Banjospielen beigebracht, und auch dem Akkordeon und der Ukulele konnte sie passable Töne entlocken.
Julias musikalische Begabung, ihr Charakter und ihr bezauberndes Aussehen machten sie zu einer Aspirantin für eine professionelle Bühnenkarriere. Aber die damit verbundene harte Arbeit war Julias Sache nicht. Als sie mit 15 Jahren von der Schule abgegangen war, nahm sie zunächst eine langweilige Tätigkeit im Büro einer Druckerei auf. Diese Stelle kündigte sie bald, um im schicksten Kino von Liverpool, dem Trocadero in der Camden Street, als Platzanweiserin zu arbeiten. Wie bei Alf und seinem Leben auf See war es ein Leben im Abglanz des Glamours, sie schwebte in einer Phantasieuniform – bestehend aus einer kreuzweise geknöpften Tunika und einem runden Hut – im sanften Licht über dicke Teppiche.
Dank ihres Aussehens hatte sie viele Bewunderer, und selbst der Manager des Trocadero, eine eindrucksvolle Persönlichkeit, machte immer wieder Versuche, seine schönste Platzanweiserin zu betören. Er legte ihr Strümpfe oder Schokolade als Geschenk in den Spind. Für eine solche Frau war ein Alf Lennon mit seinem an Chico Marx erinnernden Hut und seinen kurzgeratenen Beinen nicht gerade eine tolle Eroberung. Aber mit ihrem sonnigen Gemüt und ihrem schrägen Sinn für Humor passten sie bestens zusammen. Beide waren passionierte Tänzer. Sie tanzten Walzer und Quickstep, lagen sich dabei in den Armen und fühlten sich wie die Leinwandstars – die rothaarige Julia wurde zu Ginger Rogers, und ihr Alf mutierte zu Fred Astaire.
Julia und Alf kamen beide aus kinderreichen Familien – sie hatte ebenso viele Schwestern wie er Brüder –, und beide stammten von Männern ab, die zur See gefahren waren. Wie alle Bereiche der britischen Gesellschaft damals war aber auch die Seefahrerei von strikten Klassenschranken geprägt. Und Julias Vater, George Stanley, in seiner Familie liebevoll »Pop« genannt, stand in der klar definierten merkantilen Hierarchie einige Stufen höher als Alf. Er hatte Segelmacher gelernt, zu einer Zeit, als der Dampfantrieb der nach Liverpool einlaufenden Schiffe noch mit Segeln unterstützt wurde. Nachdem er viele Jahre mit der White Star Line zur See gefahren war, wechselte er zur Tug Salvage Company, die sich darauf spezialisiert hatte, Wracks gestrandeter Schiffe zu bergen.
Pop Stanley stand vom Ansehen her auf einer Stufe mit Kapitänen und Lotsen, den Blaublütern des Meeres. Seine anderen vier Töchter, auch sie bezaubernd und mit einem starken Willen gesegnet, hielten sich eher an die soziale Ordnung und gingen mit jungen Männern aus, die eine Karriere als Steuermann oder Schiffsingenieur vor sich hatten. Nur Julia brachte Schande über ihre Familie, indem sie mit einem wie Alf Lennon ging, der nur ein Steward war. In seinem Ärger wurde Pop von seiner ältesten Tochter Mary – Mimi genannt – bestärkt. »Warum sie sich diesen Alf ausgesucht hat, habe ich nie verstanden«, meinte Mimi noch viele Jahre später. »Ich konnte nicht glauben, dass sie mit einem einfachen Seemann daherkam. Er war ein Taugenichts … der Typ, der in jedem Hafen eine hat.«
Alf besaß den beißenden Witz und die trockene Unverblümtheit, die später auch zu den herausragenden Eigenschaften seines Sohnes gehören sollten. Nachdem er jeden Tag bei der Arbeit mit den »feinen Pinkeln« zu tun hatte, fand er die Einstellung der Stanleys lächerlich und machte aus seiner Meinung keinen Hehl. Immer wenn Julia versuchte, ihn in ihre zugeknöpfte Familie einzuführen, kam es unweigerlich zum Eklat – wenn nicht mit Pop, dann mit Mimi. Hätte man das Paar in Ruhe gelassen, wäre Julia möglicherweise eines Tages ihres Alfs überdrüssig geworden und hätte sich einen Mann gesucht, den ihre Familie eher akzeptiert hätte. Aber, wie es ihrem Naturell entsprach, je mehr man ihn abwies und kritisierte, desto mehr hielt sie zu ihm.
Ihre Verlobungszeit in den dreißiger Jahren zog sich hin, und die gegenseitige Attraktion, die sich sonst vielleicht abgenutzt hätte, blieb dank Alfs langer Abwesenheiten während seiner Zeiten auf See frisch. Er entwickelte ein einigermaßen gutes Verhältnis zu Julias Schwestern Elizabeth, Anne und Harriet, und er mochte auch ihre Mutter Annie, die eine gute Seele war. Aber Pop (den selbst Mimi als Rüpel bezeichnete) blieb abweisend und unfreundlich.
Wie die meisten jungen Liebespaare damals, die sich nur in Pubs treffen und auf Parkbänken oder in Hauseingängen knutschen konnten, waren Alf und Julia schon Anfang zwanzig, als es zum ersten Mal zu ernsthaften Intimitäten kam. Er schwor ihr jedes Mal Treue, wenn er auf große Fahrt ging, und schrieb ihr, wann immer sich eine Gelegenheit bot. Sie beantwortete seine Briefe nicht und wartete wohl auch nie am Hafen, wenn sein Schiff wieder einlief.
Die Stanleys hielten Alf für arbeitsscheu – oder, wie man in Seefahrerkreisen sagte, für einen, der »den Anker verschluckt«. Er scheint jedoch in den Zeiten der großen Depression weit erfolgreicher gewesen zu sein als die meisten anderen Seeleute aus Liverpool. Die Eintragungen im offiziellen Register der Seemannschaft zeigen in den Spalten Fleiß und Betragen immer ein VG – very good. Einmal versuchte Julias Familie ihm auf hinterhältige Weise bei der Arbeitssuche zu »helfen« und vermittelte ihm eine Stelle auf einem Walfänger. Er wäre zwei Jahre am Stück auf See gewesen. Als Alf das Angebot ablehnte, warf ihn Pop Stanley wieder einmal aus dem Haus.
Alf und Julia heirateten schließlich im Dezember 1938. Er war 26, sie 24 Jahre alt. Wenige Wochen zuvor war der britische Premierminister Neville Chamberlain aus München zurückgekehrt und hatte mit einem Papier gewedelt, das den Frieden mit Hitlerdeutschland garantieren sollte – gegen Preisgabe der Tschechoslowakei, die damit der Invasion und dem Genozid anheimfiel. Die kurze Phase nationaler Euphorie führte zu einem steilen Anstieg der Eheschließungen, da viele Menschen jetzt ihre Zukunft gesichert glaubten. Aber Alf und Julia dachten bei ihrem verspäteten Sprung in die Ehe – wie sonst auch – gar nicht an die Zukunft. Laut Alf forderte sie ihn eines Abends im Pub diesbezüglich heraus, und Alf war der Letzte, der einer Herausforderung widerstehen konnte.
Ihren Familien erzählten die beiden nichts von ihren Plänen. Am 3. Dezember verließ Julia das Haus wie an jedem anderen Arbeitstag, zu Mittag traf sie sich mit Alf am Standesamt in der Bolton Street. Die einzigen Zeugen der Zeremonie waren Alfs Bruder Sydney, den er in letzter Minute eingeweiht hatte, und eine von Julias Kolleginnen, eine Platzanweiserin aus dem Kino. Danach lud Sydney das frisch vermählte Ehepaar Lennon in einen Pub auf der anderen Straßenseite ein, es gab Drinks und Brathuhn. Am Abend gingen die beiden ins Kino. Danach trennten sie sich und verbrachten ihre Hochzeitsnacht getrennt im Haus ihrer jeweiligen Familie. Mimi würde den Moment nie vergessen, als Julia hereinkam, ihre frisch ausgestellte Heiratsurkunde auf den Tisch legte und sagte: »So, jetzt hab ich es getan. Ich hab ihn geheiratet.«
Pop Stanleys erste Reaktion war Blitz und Donner. Aber unter dem beruhigenden Einfluss seiner Frau sah er schließlich ein, dass nichts mehr zu ändern war – dass er vielmehr als gewissenhafter Vater jetzt alles daran setzen musste, den frisch Vermählten einen angemessenen Start in ihre Ehe zu ermöglichen. Er unterdrückte seine Gefühle und stimmte einem Umzug aus der Berkeley Street in eine größere Wohnung zu, so dass Alf und Julia bei ihm und Annie einziehen konnten. Das neuerworbene Anwesen in der Newcastle Road Nummer 9, ein Terrassenhaus mit Blick auf die Bay, war nur wenige Minuten von der Penny Lane und Alfs ehemaliger Schule, dem Bluecoat Hospital, entfernt.
Die vier lebten das ganze Jahr 1939 hindurch in relativer Harmonie zusammen, das Jahr, in dem der Krieg mit Deutschland näherrückte und in Großbritannien allerorten Gasmasken verteilt, Kinder evakuiert und Luftschutzkeller angelegt wurden. Besonders für Pop Stanley waren es aufregende Zeiten. Im Juni sank ein brandneues U-Boot der königlichen Marine, die Thetis, bei einer Probefahrt in der Liverpool Bay. Pop war an der großangelegten Rettungsaktion beteiligt, bei der das Schiff geborgen werden sollte, dessen Bug noch senkrecht aus dem Wasser ragte. Die Crew des Schiffs fühlte sich ziemlich sicher und schickte fröhliche Morsezeichen an ihre Retter, während diese Taue unter dem Rumpf hindurchzogen, um das Schiff an die Oberfläche zu hieven. Aber im entscheidenden Moment rissen die Taue, und das U-Boot verschwand für immer auf dem Meeresgrund, mit ihm die gesamte Crew von 71 Mann.
Alf fuhr wieder zur See, diesmal auf der S.S. Duchess of York, kam aber zum ersten Weihnachtsfest nach Ausbruch des Weltkriegs nach Hause. Das einzige Kind, das er mit Julia hatte, wurde in der Newcastle Road 9 gezeugt, an einem Januartag im Jahr 1940. Die beiden waren, was eher selten vorkam, allein zu Hause und liebten sich auf dem Küchenboden. Sie wollten eigentlich noch keine Kinder haben und waren beide bestürzt über Julias Schwangerschaft. »Neunzig Prozent der Leute [meiner Generation] sind die Folge einer Flasche Whisky am Samstagabend, ohne dass jemand die Absicht hatte, Kinder zu kriegen«, würde ihr Sohn eines Tages in bitterem Ton anmerken. »Ich war kein Wunschkind.«
Julias Schwangerschaft fiel in die düstersten Monate der Geschichte Europas, es war die Zeit, als Hitlers hochgerüstete Armeen Belgien und Frankreich überrollten, während man die geschlagenen Reste des britischen Expeditionskorps aus Dünkirchen evakuierte. Die Kampfflugzeuge der Royal Air Force kreisten wie wütende Mücken um die nahenden Schwärme schwerer Bomber der deutschen Luftwaffe. Das Land, auf die Invasion eingestellt, schien nur noch durch die Stimme seines neuen Premierministers Winston Churchill mit dem Bulldoggengesicht aufrechterhalten zu werden: Er hielt flammende Reden, die selbst der hoffnungslosesten Situation einen gewissen Glanz verliehen.
Im August fuhr Alf wieder los, diesmal auf der S.S. Empress of Canada. London lag unter nächtlicher Bombardierung, und Großbritannien schien schutzlos ausgeliefert. Da startete die Royal Air Force ihren Überraschungsangriff auf Berlin – was laut dem Kommandeur der deutschen Luftwaffe, Hermann Göring, nie hätte passieren können. Ein wütender Hitler schwor Rache und drohte, alle britischen Städte dem Erdboden gleichzumachen. Als zentraler Hafen für die Lebensmittellieferungen aus Übersee bereitete sich Liverpool auf das Schlimmste vor.
In der Erinnerung von Mimi, Julias Schwester, ging bei der Geburt des Kindes am 9. Oktober 1940 ein besonders schwerer nächtlicher Fliegerangriff der Deutschen auf Liverpool nieder. Als sie die Nachricht erreichte, dass ihre Schwester von einem siebeneinhalb Pfund schweren Jungen entbunden worden war, heulten die Sirenen, und der gesamte Busverkehr war zum Erliegen gekommen. Sie war so aufgeregt, dass sie die zwei Meilen vom Haus ihrer Eltern in die Geburtsklinik in der Oxford Street zu Fuß rannte, ohne dabei einen Gedanken an die Bomber und die an Fallschirmen herabsegelnden Landminen zu verschwenden. Selbst dieses Inferno schien ihr angesichts der frohen Botschaft zu verblassen.
Mimi lief durch Schutt und zerborstene Glasscheiben und sah die Katastropheneinsatztruppen mit ihren weißen Helmen. Direkt neben dem Krankenhaus war eine Bombe niedergegangen. Das Neugeborene hatte man in eine rauhe Decke gewickelt und zum Schutz unter das Bett der Mutter gelegt.
Tatsächlich war es eine schlimme Woche für Liverpool. Jede Nacht fielen in mehreren Angriffswellen tonnenweise Bomben auf die Stadtteile im Zentrum und auf den Hafen. Nur in der Nacht vom 9. auf den 10. Oktober blieben die Angriffe der Luftwaffe aus. Mimi hat vermutlich ihre Erlebnisse an den folgenden Abenden, an denen sie Julia besuchte, mit denen in dieser ersten Nacht verwechselt. Sie war vor allem in Sorge um ihre Schwester, aber zugleich überwältigt von der Freude über das neugeborene Kind – einen der wenigen Jungen in der von Frauen dominierten Familie der Stanleys.
E. M. Forster schrieb einmal, dass um jedes Baby eine Schlacht geschlagen werde. Der Kampf um dieses Neugeborene in Liverpool sollte besonders hart werden. Von wegen »kein Wunschkind« – alle wollten es für sich haben, und eine Zeitlang war keineswegs klar, wer diesen Kampf gewinnen würde.
Zumindest über seinen Namen gab es keinerlei Auseinandersetzungen. Julia beschloss, ihn John zu nennen. Alf gefiel das, da es der Name seines Großvaters väterlicherseits war, des ehemaligen Kentucky Minstrels. Zugleich war es aber auch ein typischer Vorname der englischen Mittelklasse, der all jene Qualitäten symbolisierte, die man bei den Stanleys bewunderte – geradeheraus, aufrecht, beständig, vorhersehbar, unkompliziert. Und in der aufgeheizten Kriegsstimmung wandte in beiden Familien auch niemand etwas gegen den patriotischen Akt der Mutter ein, ihrem Sohn den zweiten Namen Winston zu geben – nach dem Premierminister Winston Churchill.
Alfs lange Abwesenheiten von zu Hause ließen ihn später in den Augen seines Sohnes als selbstsüchtig und lieblos erscheinen. Allerdings nahm der Vater während des Krieges als Angehöriger der Handelsmarine eine wichtige und nicht ungefährliche Aufgaben wahr.
Tausende anderer Männer aus Liverpool befanden sich in einer ähnlichen Situation, waren der Bedrohung durch deutsche U-Boote ausgesetzt, ertranken im eisig kalten Wasser oder wurden in ihren ölgetränkten Uniformen zu lebendigen Fackeln. Ihre Kinder, die sie kaum kannten, wurden daheim von Frauenkollektiven großgezogen.
Bei allen Gefahren bot das Meer zugleich die Möglichkeit, dumpfer Routine und alltäglicher Verantwortung zu entfliehen. Hier konnte Alf zu »Lennie« werden und als Alleinunterhalter seine Phantasien ausleben (er nahm jetzt neben Jolson und Eddie Cantor noch eine Parodie von Hitlers Sturmtruppen in sein Repertoire auf). Was ihn zusätzlich davon abhielt, sich einen sicheren Job an Land zu suchen, war sein Aufstieg in der beruflichen Hierarchie auf See. Im September 1942 wurde er zum Salonsteward befördert, dem Äquivalent eines Oberkellners an Bord eines Schiffes.
Zu dieser Zeit schienen auch die ihm feindlich gesinnten Mitglieder der Familie seiner Frau keinen Grund mehr zu finden, seine berufliche Laufbahn zu kritisieren. Wenn er jetzt zurückkam, brachte er seine Beute aus den Laderäumen der Schiffe mit, Fleisch, Butter und frisches Obst – Dinge, die zu Kriegszeiten nur schwer zu bekommen waren und die er großzügig unter seiner Verwandtschaft verteilte. Während er auf See war, schickte er Programmhefte von den Konzerten, bei denen er selbst auftrat, an Julia, damit diese sie John zeigte. Noch Jahre später assoziierte der Junge den Namen seines Vaters mit einem Musikstück mit dem mysteriösen Titel Begin the Beguin.
Von Anfang September 1942 bis Ende Februar 1943 fuhr Alf als Salonsteward auf der S.S. Moreton Bay. Zwar waren die Luftangriffe auf Liverpool nach dem schrecklichen »May Blitz« von 1941 weniger geworden, aber das Stadtzentrum galt immer noch als Gefahrenzone. Mimi überredete Julia zum Umzug. John sollte in einer sichereren und saubereren Umgebung aufwachsen, und so zogen sie von der Newcastle Road 9 nach Woolton, dem Vorort, in dem Mimi sich mit ihrem Gatten George Smith vor kurzem niedergelassen hatte. Mehrere Monate lang bewohnten Mutter und Sohn ein kleines Haus namens »The Cottage« in der Alberton Road. Aus dieser Zeit stammen Johns erste bewusste Erinnerungen an seine Mutter, die ihn abends in den Schlaf sang. »Sie sang immer dieses kleine Lied … aus dem Disneyfilm«, erinnerte er sich. »Willst du ein Geheimnis wissen? Versprich, dass du’s nicht weitersagst. Du stehst an einem Zauberbrunnen …«
Der Umzug führte zur ersten größeren Krise in der Ehe, die nie wirklich von Vertrauen und persönlicher Reife der Partner getragen war. Nachdem er seine Heuer für die Fahrt auf der Moreton Bay kassiert hatte, ließ Alf sich als Wachposten bei der Hafenfeuerwehr in Liverpool registrieren und blieb längere Zeit an Land. Er hatte sich Woolton als einen ruhigen Ort vorgestellt, an den Julia sich zurückgezogen hatte. Aber jetzt sah er, dass sie durch die Pubs vor Ort zog, trank und mit Männern flirtete, während Mimi oder eine Nachbarin auf John aufpassten. Eines Tages öffnete Alf die Tür, vor der eine lärmende Gruppe von Julias neuen Freunden stand, die ihn erstaunt ansahen: Sie hatten nicht gewusst, dass Julia verheiratet war. Es gab eine wütende Auseinandersetzung, während deren Julia Alf eine Tasse heißen Tee über den Kopf goss. Er holte aus und schlug sie ins Gesicht, woraufhin ihre Nase zu bluten anfing. Man musste Mimi rufen, die sich als gelernte Krankenschwester um Julia kümmerte.
Johns Großmutter mütterlicherseits, die gutmütige Annie Stanley, starb schon 1943, noch bevor John sich ein Bild von ihr machen konnte. Pop Stanley wollte nicht allein im Haus in der Newcastle Road leben und überließ das Haus Julia und Alf; er selbst zog zu Verwandten. Eine Zeitlang zahlte Alfs älterer Bruder Sydney die Miete für das Haus. Es war für John »der erste Ort, an den ich mich erinnern kann … roter Ziegelstein … das Zimmer nach vorn hinaus, das nie benutzt wurde, die Vorhänge waren immer zugezogen, an den Wänden hingen Bilder mit Pferdewagen. Im ersten Stock waren nur drei Schlafzimmer, eines nach vorn zur Straße, eines nach hinten und dazwischen ein kleines Kinderzimmer …« Er hatte bereits damals eine scharfe Beobachtungsgabe, wie Alf im Jahr zuvor in der Weihnachtszeit festgestellt hatte: In jedem Kaufhaus gab es eine eigene Weihnachtsdekoration, und John fragte ihn: »Wie viele Nikoläuse gibt es eigentlich?«
Im Juli 1943 reiste Alf nach New York, um auf den Liberty Ships zu arbeiten. So nannte man die in den USA serienmäßig hergestellten Handelsschiffe, welche die dezimierte Flotte Englands auf der Atlantikroute verstärken sollten. Diese 16 Monate dauernde bizarre Reise führte ihn um die halbe Welt. Zweimal landete er im Gefängnis, und in seiner Personalakte stand am Schluss ein D, was für »Declined Comment«, »Kommentar verweigert«, steht. Der Zerfall seiner Ehe beschleunigte sich.
Später stilisierte Alf sich als unschuldiges Opfer der Umstände und seiner eigenen Gutgläubigkeit. Vielleicht waren tatsächlich die Hysterie des Krieges und die damit einhergehenden widrigen Umstände ebenso verantwortlich für die Ereignisse wie alles, was er selbst an Fehlern begangen hatte. In New York musste er lange warten, um eine Koje auf einem der Schiffe zu bekommen, und so nahm er in der Zwischenzeit eine Stelle beim Kaufhaus Macy’s an und besorgte sich eine Sozialversicherungsnummer. An den Abenden trank und sang er sich seinen Weg durch die bekannteren Bars am Broadway. Als er die Aufforderung bekam, sich in Boston auf einem der Liberty Ships zu melden, musste er feststellen, dass man ihn zum Assistant Steward degradiert hatte. Die einzige Hoffnung, wieder in den richtigen Rang aufzusteigen, so der Rat eines Kollegen, bestand darin, im nächsten Hafen – New York – von Bord zu gehen und sein Problem dem britischen Konsul zu unterbreiten. Naiv, wie er war, befolgte Alf diesen Vorschlag, wurde prompt als Deserteur verhaftet und für zwei Wochen in Ellis Island eingesperrt.
Bei seiner Entlassung teilte man ihn als Assistant Stewart auf ein Schiff namens Sammex ein, das in den Fernen Osten unterwegs war. Als die Sammex in Bône, Algerien, anlegte, wurde er wegen Unterschlagung einer Flasche Whisky angeklagt. Wie er selbst sagte, nahm er die Schuld auf sich, um einen Freund zu schützen, der die Tat eigentlich begangen hatte. Er verbrachte neun Tage in einem schrecklichen Militärgefängnis, wo er die Latrinen putzen musste und man drohte, ihn umzubringen, wenn er draußen von den Verhältnissen im Gefängnis erzählte. Nach seiner Freilassung blieb er in Algerien hängen, bis er schließlich im Oktober 1944, erschöpft und halb verhungert, eine Passage auf einem Truppentransporter zurück nach England erbetteln konnte. Er reiste als D.B.S. (Distressed British Seaman; britischer Seemann in Not).
In Liverpool hatte die Reederei inzwischen die Auszahlung seines Lohns an Julia eingestellt, die nicht wusste, ob er überhaupt noch am Leben war. Als er nach Hause kam, teilte sie ihm mit, dass sie von einem anderen Mann schwanger war. Es sei keine Untreue gewesen, vielmehr habe man sie vergewaltigt. Sie nannte Alf sogar den Namen des Mannes, es handelte sich um einen Soldaten, der auf der Halbinsel Wirral stationiert war. Heutzutage würde man in dieser Situation sofort die Polizei einschalten. Damals jedoch regelte man dergleichen anders. Alfs Bruder Charlie, der jetzt bei der Artillerie Dienst tat, gab ihm moralische Unterstützung. Die beiden begaben sich zur Kaserne auf Wirral und stellten den vermeintlichen Vergewaltiger zur Rede. Williams, der junge Soldat, erklärte, es habe sich keineswegs um eine Vergewaltigung gehandelt. Er liebe Julia, wolle sie heiraten und das Kind auf dem Bauernhof seiner Eltern großziehen. (John spielte in diesem Arrangement offensichtlich keine Rolle.) Alf kam zu dem Schluss, dass ihm nichts anderes übrigblieb, als zurückzutreten – eine Entscheidung, die ihm nach Julias Benehmen möglicherweise nicht sonderlich schwerfiel. Er überredete Williams, ihn in die Newcastle Road 9 zu begleiten, wo er Julia bei einer Tasse Tee erklärte, dass er bereit sei, sie gehen zu lassen. Verkehrter hätte er die Situation nicht interpretieren können. »Ich will dich nicht, du Idiot«, sagte Julia in verächtlichem Ton zu ihrem Liebhaber und empfahl ihm, seinen Tee auszutrinken und dann zu verschwinden.
Alf war trotz alledem bereit, Julia wieder bei sich aufzunehmen und das Kind wie sein eigenes großzuziehen. Aber Pop Stanley, der die öffentliche Schande fürchtete, bestand darauf, das Kind zur Adoption freizugeben. Am 19. Juni 1945, fünf Wochen nach dem Ende des Krieges, gebar Julia im Entbindungsheim der Heilsarmee ein Mädchen. Victoria Elizabeth, wie sie das Baby nannte, wurde von einem norwegischen Ehepaar namens Pederson adoptiert. Sie tauften das Kind auf Ingrid Maria um und nahmen es nach Norwegen mit. Es verschwand damit für immer aus dem Leben seiner Mutter.
Während dieser krisenhaften Zeit in der Familie wurde der vierjährige John zum ersten Mal zu seinen Verwandten aus der Lennon-Familie gebracht. Während Julias Schwangerschaft und der Entbindungszeit lebte er bei Alfs Bruder Sydney, einem Mann, dessen Ehrbarkeit und Strebsamkeit inzwischen selbst Mimi anerkannte. Sydney, seine Frau Madge und ihre achtjährige Tochter Joyce nahmen John in ihr Haus in Maghull auf, einem Dorf zwischen Liverpool und Southport. Er blieb etwa acht Monate bei ihnen. Das Leben dort war von Stabilität und liebevoller Zuneigung geprägt. Nach einiger Zeit gingen Sydney und Madge davon aus, dass sie John offiziell adoptieren könnten. Sie waren davon so überzeugt, dass sie ihn für den folgenden Herbst in der lokalen Volksschule anmeldeten. Doch eines Abends tauchte Alf ohne Vorwarnung auf und verkündete, dass er John wieder mitnehmen wolle. Trotz Sydneys Protest, dass es schon spät am Abend sei, bestand Alf darauf, sofort aufzubrechen. Die ganze Familie war traurig, dass John sie verließ, besonders Madge. Bald darauf adoptierte sie ein sechs Wochen altes Kind, um die Leere zu füllen, die er hinterlassen hatte.
Sollte Alf die Hoffnung gehegt haben, dass seine Großherzigkeit im Zusammenhang mit dem unehelichen Kind seine Ehe retten würde, so wurde er enttäuscht. Als er 1946 von einer seiner Fahrten zurückkam, war Julia mit einem pomadigen Hotelkellner namens John Dykins – genannt Bobby – liiert. Dieses Mal aber war der gehörnte Ehemann nicht bereit, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Es kam eines Abends in der Newcastle Road 9 zu einer fürchterlichen Auseinandersetzung zwischen Alf, Julia, ihrem neuen Liebhaber und Pop Stanley. Julia hatte angekündigt, mit Dykins zusammenzuziehen und John mitzunehmen. Der Junge wachte von den lauten Stimmen auf und kam die Treppe herunter. Er hörte die hysterischen Schreie seiner Mutter und sah gerade noch, wie Alf Dykins zur Tür hinausschob.
Als Alf am nächsten Morgen aufwachte, hatte Pop Stanley John mitgenommen, und Julia war dabei, ihre Möbel auszuräumen, wobei ihr eine Nachbarin half. Alf packte ebenfalls mit an und bat Julia mit dem Selbstmitleid eines Country-and-Western-Sängers, sie möge ihm nur einen kaputten Stuhl dalassen.
Die See, seine alte Trösterin, winkte ihm wie immer verlockend zu, und im April 1946 fand er eine Stelle als Nachtsteward auf dem Flaggschiff der Cunard Reederei, der Queen Mary, die zwischen Southampton und New York verkehrte. Eine Stunde bevor das Schiff in See stechen sollte, erhielt er von seiner Schwägerin Mimi einen Anruf: Er solle so schnell wie möglich nach Liverpool zurückkehren.
Mimi war dieser Anruf nicht leichtgefallen, während der eigentlich nicht rachsüchtige Alf eine innere Befriedigung verspürt haben muss. Denn die Feindseligkeit, mit der die Familie Stanley Julias neuem Lebensgefährten Dykins begegnete, schien alles in den Schatten zu stellen, was er selbst hatte erleiden müssen. Wie Mimi berichtete, waren Julia und John wieder in das Haus in der Newcastle Road eingezogen, und Dykins lebte jetzt auch dort. John werde jeden Tag Zeuge, wie seine Mutter »in Sünde lebte«. Der Junge mochte offensichtlich seinen neuen Papa nicht und hatte eines Tages plötzlich bei Mimi in Woolton vor der Tür gestanden. Er war die drei Kilometer aus der Newcastle Road allein hergelaufen. Trotz aller Missgunst und Ablehnung, die sie gegenüber Alf empfand, hatte Mimi eingesehen, dass der Junge seinen richtigen Vater brauchte. Alf sprach mit John am Telefon, der ihn aufgeregt fragte, wann er denn endlich nach Hause käme. Er antwortete, dass er den Vertrag nicht brechen und von Bord gehen könne, versprach aber, sofort zu kommen, wenn die Queen Mary in zwei Wochen wieder in Southampton anlegte.
Nach seiner Rückkehr machte sich Alf sofort auf den Weg nach Norden und kam eines Abends spät bei Mimi an, als John bereits im Bett lag und schlief. Mimi servierte ihm lediglich eine Tasse Tee zusammen mit einem wütend vorgetragenen Bericht über Julias weiteres Fehlverhalten und präsentierte Alf eine Rechnung über Dinge, die sie für John seit seinem Auftauchen bei ihr hatte besorgen müssen. Nach Alfs Darstellung beschloss er an diesem Abend, John mitzunehmen und nach Blackpool zu bringen, unter dem Vorwand, mit ihm Einkäufe zu erledigen und seine Großmutter zu besuchen. Er blieb über Nacht in Mimis Haus und wurde am nächsten Morgen von einem überglücklichen John geweckt, der auf seiner Brust auf und ab hüpfte. John fand die Idee, den Tag mit seinem Vater zu verbringen, ganz toll. Mimi hatte keine Einwände, da sie dachte, die beiden wollten losziehen, um John neu einzukleiden. Vater und Sohn stiegen in die Tram nach Liverpool, wo Alf seinen Bruder Sydney traf, ihn in seine Pläne einweihte und zur Verschwiegenheit verpflichtete. Sydney erklärte noch mal seine Bereitschaft, John zu adoptieren. Alf erklärte später, er habe diese Möglichkeit nie ernsthaft in Erwägung gezogen.
Blackpool war für Alf das passende Ziel, nicht nur, weil dieses im Nordwesten gelegene Seebad ein Paradies für Kinder war, sondern auch, weil dort sein Arbeitskollege und Kompagnon in Schwarzmarktgeschäften, Billy Hall, wohnte. Er hielt sich etwa drei Wochen mit John dort auf. Sie wohnten bei Billys Eltern und gaben das Geld, das Alf übrig hatte, für Karussells und alle sonstigen Vergnügungen aus, die John sich wünschte. Alf hatte ursprünglich die Idee gehabt, John bei den Halls in Blackpool zu lassen, wenn sein Geld zur Neige ging und er wieder zur See fahren musste. Aber die Halls waren gerade dabei, ihr Haus zu verkaufen, um nach Neuseeland auszuwandern. Alf passte seinen Plan an: Mr. und Mrs. Hall sollten John mitnehmen und sich als seine Großeltern ausgeben, später würden Alf, Billy und dessen Bruder nachkommen, indem sie auf einem Schiff anheuerten, das nach Neuseeland unterwegs war.
Dieser Plan war chancenlos. Inzwischen hatte Julia Alfs Spur aufgenommen, und an einem sonnigen Junitag stand sie mit Dykins bei den Halls vor der Tür, um John abzuholen. Als sie von dem Neuseeland-Plan erfuhr, stimmte sie Alf zu, das könne der Anfang eines wunderbaren neuen Lebens für John sein. Sie wolle ihn nur noch einmal sehen. John wurde geholt und kletterte sogleich auf den Schoß seines Vater – kein Wunder nach all den wunderbaren Tagen, die sie zusammen verbracht hatten. Aber als Julia ihre Niederlage eingestand und sich anschickte zu gehen, sprang er herunter und lief ihr nach, verbarg sein Gesicht in ihrem Rock, weinte und bat sie, nicht zu gehen. Um die Situation aufzulösen, schlug Alf ihr vor, ihrer Ehe noch eine letzte Chance zu geben, aber davon wollte Julia nichts hören.
Da stellte Alf John vor die Wahl, entweder mit Mama mitzugehen oder bei Papa zu bleiben. Wenn man ein kleines Kind in Stücke reißen will, dann ist das wohl die konsequenteste Art, es zu tun. John ging zu Alf und nahm ihn bei der Hand; als Julia sich zum Gehen wandte, rannte er ihr voller Panik nach, bat sie zu warten, und rief zu seinem Vater, er solle kommen. Aber Alf war wieder einmal von fatalem Selbstmitleid erfüllt und blieb wie angewurzelt auf seinem Stuhl sitzen. Julia und John verließen das Haus und verschwanden in der Menge der Urlauber.
An diesem Abend wollten die gutherzigen Halls Alf ein wenig aufheitern und gingen mit ihm in einen Pub, The Cherry Tree, wo sie ihn ermunterten, seine Parodie von Al Jolson für die Gäste zum Besten zu geben. Er wählte Jolsons Song Little Pal, die Eloge auf einen engelsgleichen Sunnyboy, der unter den Augen seines bewundernden Vaters in den Kindergarten geht. Beim Refrain sang er statt »Little Pal« immer »Little John«. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht, aber er sang – ganz Profi – das Lied unter Applaus und Gejohle des Publikums zu Ende. Anders als später sein Sohn empfand Alf Lennon weder Menschenmengen als bedrückend noch Applaus als ermüdend.
Nach dem Ende des Krieges erschien Großbritannien mehr als geschlagene Nation denn als siegreiches Land. Finanziell am Boden, die Städte zerbombt, vegetierte das Land noch lange Zeit in einem Zustand der Entbehrung dahin, auch als die Lichter im übrigen Europa – selbst in Deutschland – schon wieder angegangen waren. Fleisch, Butter und Zucker waren rationiert und nur in mickrigen Mengen gegen Vorlage von Coupons aus einem graubraunen Heftchen erhältlich. Die Kleidung war eintönig, unförmig und so bar jeder individuellen Note wie die Uniformen, die sie ersetzen sollte. Fast jeden Tag, so schien es, wurden von den düster dreinblickenden Mitgliedern der sozialistischen Regierung neue Einschränkungen und Sparmaßnahmen verkündet. In diesem Klima von Mangel, Schäbigkeit und Frostbeulen waren Jung und Alt kaum zu unterscheiden. Die Jugend schien dauerhaft außer Kraft gesetzt, Freude, Spontaneität oder sonstige Frivolitäten wurden nicht geduldet.
Trotz des kalten Würgegriffs dieser Phase der Einsparungen ging das Leben auf den Britischen Inseln weitgehend seinen gewohnten Gang. Die Klassengesellschaft war feudal wie immer, die königliche Familie heilig, und die Aristokratie wurde verehrt. Man respektierte die Autoritäten unhinterfragt und vertraute ihnen, sei es in Gestalt von Politikern, Ärzten, Anwälten, Geistlichen, Militärs oder Polizisten. Die Zeitungen unterdrückten jede Nachricht, die den Status quo hätte in Frage stellen können. Während sie einerseits das Imperium ihrer Kolonien zügig in seine Teile zerlegten, hielten sich die Briten andererseits noch immer für die Herren der Welt. Sie verachteten alle Ausländer und sahen Menschen, deren Hautfarbe dunkler als ihre eigene war, als minderwertig an. Man bezeichnete sie als »Nigger« oder »Wog« (nicht zu reden vom »Judenjungen« und »Jid«), ohne das Geringste dabei zu finden.
Den Klassensnobismus gab es oben und unten. Selbst diejenigen, die weit unten standen, versuchten immer noch ein bisschen »besser« zu sprechen, als sie es eigentlich konnten, und orientierten sich an der geschliffenen Redeweise von Mitgliedern der königlichen Familie, von Premierministern, Shakespeare-Schauspielern oder Ansagern der BBC.
Wie alle größeren Städte im Norden lag auch Liverpool so lange in Trümmern, dass Gras zwischen den Ruinen hervorspross und Wildblumen aus den Bunkern und Wasserreservoirs wuchsen. Ein Film der Ealing Studios mit dem Titel Der Magnet, den man in Liverpool drehte und der 1950 in die Kinos kam, zeigt, wie fünf Jahre nach dem Ende des Krieges ganze Stadtviertel rund um die Docks immer noch aus Bombenkratern und Schutthaufen bestanden, auf denen Kinder spielten.
Seehäfen sind Orte mit eigenem Charakter, wo das Leben freier, rauher und exzentrischer abläuft als im ländlichen Hinterland. Für Liverpool galt das immer mehr als für alle anderen britischen Häfen. Die Ursprünge seiner Besonderheit reichen bis ins 18. und frühe 19. Jahrhundert zurück, als die Kaufleute von Liverpool Außenseiter in der Welt der Seefahrer waren und ihre Reichtümer durch den Handel in dem berüchtigten »Dreieck« erwarben: Man brachte Schwarze als Sklaven aus Afrika nach Amerika, und auf der Rückfahrt belud man die Schiffe mit den Produkten des dortigen Anbaus – Baumwolle, Zucker und Tabak. Im amerikanischen Bürgerkrieg, als der Rest des Landes sich mehr oder weniger neutral verhielt, stellte sich Liverpool klar auf die Seite der Sklavenbesitzer des Südens, räumte ihnen die Möglichkeit ein, in der Stadt eine diplomatische Niederlassung zu eröffnen (die bis heute nie offiziell geschlossen wurde), und baute ihr berühmtestes Schlachtschiff, die Alabama. Die letzte Episode dieses Konflikts spielte sich nicht in Amerika ab, sondern in dieser weit entfernten Schutzzone für Rebellen und Sezessionisten. Als die Niederlage der Südstaaten unabwendbar wurde, tauchte ein weiteres Kriegsschiff der Konföderierten, die Shenandoah, im River Mersey auf. Statt sie den siegreichen Yankees zu überlassen, hatte der Kapitän die Fahrt über den Atlantik angetreten, um das Schiff dem Bürgermeister von Liverpool zu übergeben.
Diese Haltung – dem Rest des Landes die kalte Schulter zu zeigen und voller Bewunderung, sehnsüchtig und wissend nach Amerika zu blicken – herrschte in Liverpool noch bis ins 20. Jahrhundert vor. Amerika kam jeden Tag nach Liverpool, in der Gestalt von Ozeanriesen wie der Queen Mary oder der Mauretania und durch die aus Liverpool stammenden Schiffsbesatzungen, die sich in den fernen Metropolen zu Hause fühlten (diese Seeleute hatten den – auf die Liverpooler Reederei bezogenen – Spitznamen »Cunard Yanks«). Selbst die Silhouette der Stadt, die man vom Schiff aus erblickte, wenn man den Mersey hinauffuhr, erinnerte an New York. Man sah eine große Piazza, den Pier Head, direkt am Wasser, und dahinter eine Akropolis aus drei riesigen grauen Steingebäuden, bekannt unter dem Namen »Drei Grazien«: die Gebäude der Hafenbehörde, der Cunard-Reederei und der Royal-Liver-Versicherung. Das zuletzt genannte Gebäude hatte an der Vorder- und Rückseite je eine in Grün gehaltene Kuppel, auf der die Statue eines »Liver Bird« zu sehen war, dem sagenhaften Wappenvogel Liverpools.
Neben all diesen Reminiszenzen an die Neue Welt war Liverpool aber zugleich eine ganz typische Stadt des nördlichen England, die ihren viktorianischen Stolz zur Schau trug. Die öffentlichen Gebäuden waren im klassischen griechischen Stil errichtet worden. Abgesehen von den Lücken, die die Bomben gerissen hatten, sah auch nach dem Krieg alles noch so aus wie auf der berühmten Hafenszene von Atkinson Grimshaw aus den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts – die stattlichen Straßenbahnen, die man grüne Göttinnen nannte, die zinnenbewehrten Hotels, die großen Kugeln mit blauer Flüssigkeit in den Schaufenstern der Apotheken und die Kramerläden mit ihren Werbeschildern aus Emaille.
Für die Leute aus dem Süden war Liverpool ein gewissermaßen anrüchiger und bedrohlicher Ort, auf dessen Lime Street die im Volkslied verherrlichte Prostituierte Maggie May promenierte und wo die babylonische Sprachenvielfalt von Walisern, Iren, Chinesen und Bewohnern der Westindischen Inseln Erinnerungen an die namenlosen Gefahren und Laster ferner Küsten weckte. Auch sein Ruf als Brutstätte linksextremer Politik und militanter Gewerkschaften trug zum schillernden Image der Stadt bei. Über Jahre hinweg war Bessie Braddock die berühmteste Liverpoolerin, eine Labourabgeordnete, die für den Exchange District im Parlament saß. Sie war ein Schlachtschiff von einer Frau, in deren ruppiger Rhetorik sich der grimmige Geist ihrer Stadt manifestierte.
Aber es gab noch ein anderes Liverpool, das nichts mit der Welt der Kais und Lagerhäuser und der lauten, überfüllten Pubs am Hafen zu tun hatte. In der Schiffsindustrie arbeitete auch eine große Zahl von höheren Angestellten und Managern, die ebenso sehr auf ihre soziale Position achteten wie alle anderen Fraktionen der britischen Bourgeoisie. Abseits des vom Ruß geschwärzten Zentrums, jenseits des Mersey, lagen die herausgeputzten Vorstädte, wo man kaum etwas vom Akzent der Scouses hörte – abgeschlossene Wohngebiete der Mittelschicht, in reinlicher Ordnung gehalten, mit vornehmen Geschäften, grünen Parks, Golfplätzen und erstklassigen Schulen.
In dem bereits erwähnten Film Der Magnet wird die Geschichte eines braven Jungen aus einem solchen Vorort erzählt, der sich mit aufmüpfigen Straßenkindern aus den rauhen innerstädtischen Vierteln zusammentut. Im Rückblick war dies ein geradezu prophetischer Film.
Die oft erzählte Geschichte, wie Mimi Smith die alleinige Verantwortung für die Erziehung ihres sechsjährigen Neffen John Lennon übernahm, ist von unübertroffener herzerwärmender Einfachheit. Mimi war eine jener Gestalten, die man früher in England als »good sort« oder einfach als »brick« bezeichnete, ein guter Mensch, fest wie ein Ziegelstein. Sie hatte ein Herz aus Gold, das sie unter einer rauhen Schale verbarg. Als Johns leibliche Eltern von der Bildfläche verschwanden, übernahm sie die Rolle der beiden und setzte alles daran, dem Kleinen das zu bieten, worauf nach ihren Worten »jedes Kind ein Anrecht hat – ein sicheres und glückliches Familienleben«.
An diese Version der Geschichte glaubte John sein Leben lang. »Meine Eltern sind mit mir nicht fertig geworden«, erzählte er in zahllosen Interviews, »also brachte man mich zu meiner Tante.« Mimis Fürsorge und Aufopferung in den folgenden Jahren sind unbestritten. Aber der Hintergrund der Geschichte ist weit komplizierter, als er in der Erinnerung der beiden erscheint.
Mimi, Jahrgang 1906, wirkte wie eine Figur aus einem Roman von Charles Dickens, die seit ihren jungen Jahren immer pflichtbewusst und ohne die Erfahrung jugendlicher Leidenschaft gelebt hat. Sie war ein Frau von außergewöhnlicher Intelligenz, sehr eloquent und belesen, die gewiss Anwältin, Ärztin oder Lehrerin geworden wäre, wenn man sie hätte studieren lassen. Stattdessen wurde von ihr schon früh erwartet, dass sie für ihre vier jüngeren Geschwister die Rolle der Erzieherin übernahm und die Werte von Heim und Herd hochhielt. Sie wurde als flinkes Wesen mit praktischen Fertigkeiten geschätzt, weniger wegen ihrer intellektuellen Fähigkeiten.
Mit neunzehn begann sie eine Ausbildung zur Krankenschwester im Woolton Convalescent Hospital und blieb dort, nachdem sie ihren Abschluss gemacht hatte. Sie brachte es in der Klinik bis zur Stationsschwester. In den frühen dreißiger Jahren verlobte sie sich mit einem jungen Arzt aus Warrington, den sie auf der Station kennengelernt hatte. Aber noch bevor sie konkrete Pläne für die Hochzeit machen konnten, starb ihr Verlobter an einer Viruserkrankung, die er sich von einem seiner Patienten zugezogen hatte.
1939 heiratete sie im reifen Alter von 33 Jahren George Smith. Die Smiths waren Milchbauern in Woolton, einem Ort, der damals mit seinen offenen Feldern und grünen Alleen eher einem ländlichen Dorf als einer Vorstadt glich. George lernte Mimi kennen, weil er dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete, jeden Morgen die Milch lieferte. Der junge Bauer dachte bald an Hochzeit, aber Mimi war vorsichtig, sie wollte sich nicht »an den Herd oder die Spüle binden« und betrachtete George eher als einen zuverlässigen Verehrer, der immer da war, »wenn ich Hunger hatte oder in der Stadt festhing«. Selbst nach den Maßstäben der damaligen Zeit war ihr Verhältnis bar jeglicher Romantik. Als Mimi schließlich in die Verlobung einwilligte, wurde dieser Akt nicht mit einem Kuss, sondern mit einem eher geschäftsmäßigen Handschlag besiegelt.
»George war anders als ich … wir waren wie Tag und Nacht«, erinnerte sie sich. »Ich redete immer viel, er aber war ein stiller Mensch. Er ging seinen vorgegebenen Weg, war dabei aber nett und freundlich.« Dank Georges Gutmütigkeit genügte oft ein Blick, um ihren Willen durchzusetzen.
Vielleicht war es eine Reaktion auf den dominierenden Vater, dass alle Schwestern in der Familie Stanley – mit Ausnahme von Julia – sich Männer suchten, die still und zurückhaltend waren und sich auf die Rolle des Ernährers beschränkten. Mimi und ihre Schwestern Elisabeth (»Mater«), Anne (»Nanny«) und Harriet (»Harrie«) ähnelten einander in vieler Hinsicht. Zwar war keine so außergewöhnlich attraktiv wie Julia, aber alle verfügten über eine Art sonnengebräunter Eleganz, vom Typ her weniger Marlene Dietrich als Katherine Hepburn ähnelnd. Alle waren makellos gekleidet, verließen das Haus nie ohne Hut und Handschuhe, immer mit passenden Schuhen und Handtaschen. Alle waren gute Hausfrauen, tüchtig, redselig, humorvoll und zielstrebig. John erwog in seinen späteren Jahren, eine Geschichte in der Tradition von John Galsworthys Forsyte Saga zu schreiben, über die »starken, intelligenten, gutaussehenden Frauen, die zu Hause in der Familie das Sagen hatten. Ich war immer mit den Frauen zusammen. Ich hörte sie reden, über ihre Männer, über das Leben. Sie wussten immer, was Sache war. Die Männer wussten das nie.« Die Männer wurden, bildlich gesprochen, in eine Schublade gesteckt und oft bedenkenlos als Außenseiter bezeichnet – ein Etikett, das man auch jedem Ehepartner der Kinder anhängte.
Von den vier Schwestern blieb nur Mimi kinderlos. Sie begründete das damit, dass sie in ihrer Jugend die Rolle der Mutter für ihre jüngeren Geschwister übernommen hatte und sich dem Ganzen nicht noch einmal unterziehen wollte. Es hieß, sie habe nichts für Kleinkinder übrig und könne mit Kindern erst etwas anfangen, wenn sie bereits älter und zu einem vernünftigen Gespräch über Dinge fähig waren, die auch sie interessierten.
Der sanftmütige George Smith machte sie zur angesehenen Landwirtsgattin in einer noch sehr ländlichen Gegend, wo man gesund leben konnte. Das Haus, das die beiden bewohnten, übertraf selbst Mimis Erwartungen. Es wurde »Mendips« genannt und lag an der Menlove Avenue 251 in Woolton. Das Paar zog 1942 dort ein.
Selbst für jemanden, der weniger auf die feinen Unterschiede der englischen Klassengesellschaft bedacht war, hatte dieses Haus eine Reihe von Merkmalen, die es deutlich gegenüber anderen hervorhoben: Es war kein Reihenhaus, sondern eine Doppelhaushälfte; es hatte einen rauhen Verputz, so dass man die Ziegelmauern nicht sah; es lag an einer Avenue (was vornehmer klang als »Street« oder »Road«), und schließlich war es nicht nur durch eine Nummer gekennzeichnet, sondern hatte einen eigenen Namen, abgeleitet von einer Bergkette in Somerset.
Innen erinnerte Mendips an ein elisabethanisches Herrenhaus. Im Erdgeschoss gab es außer dem Wohnzimmer und dem Esszimmer neben der Küche das »Morgenzimmer« – eine Reminiszenz an einen englischen Landsitz, allerdings weniger pompös. Die ersten Besitzer, die das Haus im Jahr 1933 bauen ließen, hatten noch ein eigenes Hausmädchen in Uniform, das mit einer Klingel in jedes Zimmer gerufen werden konnte. Und in diesem Haus wuchs der spätere selbsternannte working class hero auf.
Mimi beschrieb ihre Fürsorge für John immer als eine familiäre Pflicht – sie tat das, was man ihr von klein auf beigebracht hatte, und bügelte die Fehler ihrer jüngeren Geschwister aus. »Julia hatte jemand anderen kennengelernt, mit dem sie die Chance hatte, glücklich zu werden«, sagte sie. »Und welcher Mann möchte schon das Kind eines anderen bei sich haben …«
Allerdings war John in der Beziehung zwischen Julia und ihrem Bobby Dykins, dem Oberkellner, nie ausgeschlossen. Bobby hatte nichts gegen das Kind eines anderen, er war vielmehr bereit, sich um Johns Erziehung zu kümmern, als wäre es sein eigenes Kind. Es war ihm damit so ernst, dass er Julia davon überzeugte, mit John aus der Newcastle Road 9 aus- und in eine kleine Mietwohnung in Gateacre zu ziehen, wo die erhoffte neue Kleinfamilie sich ohne den Druck ihrer Verwandtschaft entfalten sollte.
Doch besonders in den Augen ihrer Schwester Mimi drohte Julia dadurch, dass sie offen mit Dykins »in Sünde« lebte, zum Gegenstand des Geschwätzes der Leute zu werden. Es wäre ein größerer Skandal als der Auftritt von Alf Lennon in der respektablen Familie der Stanleys. Julia mochte alt genug sein, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu führen, aber den kleinen John konnte man nicht in dieser Atmosphäre moralischer Laxheit aufwachsen lassen.
Mimi hatte darüber hinaus andere Motive, die nicht aus ihrer unumstößlichen moralischen Gewissheit erwuchsen. Trotz ihrer sonstigen Skepsis Kindern gegenüber empfand sie eine fast mystische Affinität zu John vom ersten Tag an, als sie ihn auf der Entbindungsstation in den Armen seiner Mutter gesehen hatte. »Sie beschloss, dass sie dieses Kind wollte«, sagte ihre Nichte Liela Harvey. »Und wer könnte ihr da einen Vorwurf machen, denn er war der süßeste kleine Kerl, den man sich vorstellen kann.«
Also startete Mimi, zusammen mit ihrem Vater, eine Kampagne gegen Julia und Dykins, die man heute wohl als Mobbing bezeichnen würde. Eines Tages tauchten die beiden unangekündigt in der Wohnung in Gateacre auf. Sie erklärten, dies sei nicht der Ort, an dem John aufwachsen sollte, und forderten Julia auf, ihnen den Jungen mitzugeben. Aber sie weigerte sich, unterstützt von Dykins. Daraufhin versuchte es Mimi mit der Familienfürsorge. Ein Sozialarbeiter inspizierte die Wohnung und monierte, dass John im gleichen Zimmer wie Julia und Bobby schlief. Aber selbst nach den puritanischen Maßstäben der Wohlfahrtsverbände in den Vierzigern reichte das nicht aus, um das Kind seiner Mutter wegzunehmen. Die Entscheidung über Johns weiteren Aufenthalt konnte nur Julia treffen.
Trotz des abschätzigen Beinamens »Schieber«, den ihm die Stanleys anhängten, war Bobby Dykins im Allgemeinen ein freundlicher und zivilisierter Mensch. Wenn er jedoch zu viel getrunken hatte, wurde aus dem sanften, gesitteten Oberkellner ein typischer Vertreter der Gattung des männlichen Liverpoolers. Von einer Sekunde auf die andere konnte er aus der Haut fahren, Julia mit übelsten Schimpfwörtern belegen und sie gelegentlich sogar schlagen. Und wie immer, wenn sie in Not geriet, war ihre ältere Schwester die erste Adresse, an die sie sich wandte. Einmal, als John bei Mimi in Mendips war, kam – wie er sich später erinnerte – seine Mutter vorbei, »in einen schwarzen Mantel gehüllt und im Gesicht blutend«. Man erzählte ihm, sie habe einen Unfall gehabt, aber er vermutete, dass etwas Schlimmeres vorgefallen war. »Ich ging in den Garten. Ich liebte sie, aber ich wollte da nicht hineingezogen werden. Ich glaube, ich war moralisch gesehen ein Feigling. Ich wollte alle Gefühle verstecken.«
Das Ende vom Lied war, wie Mimi sich erinnert, eine wütende Auseinandersetzung zwischen den Schwestern, bei der die Sprache auch auf Julias Affäre mit dem walisischen Soldaten während des Krieges und auf Elizabeth Victoria, das Kind aus dieser Beziehung, kam. »[Julia] suchte Unterstützung, aber was mich anbetraf, sie hatte sich die Suppe selbst eingebrockt und musste sie auch auslöffeln, und ich sagte zu ihr: ›Du bist nicht imstande, eine Mutter zu sein.‹ Sie reagierte, als hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen. Ich sagte nur, dass ich es für besser hielte, wenn John bei mir wäre … [das] erschien mir einfach als die sinnvollste Lösung. George mochte ihn sehr gern. Unser Haus war in vieler Hinsicht wesentlich ruhiger als all die Orte, an denen er gelebt hatte, und wir konnten ihm eine gewisse Stabilität garantieren. Bis dahin war es bei ihm ja ein bisschen wie auf der Achterbahn zugegangen.« Nach Mimis Version der Geschichte war Julia jetzt bereit, ihrem Vorschlag zuzustimmen, sie sei sogar dankbar gewesen. Aber Johns Cousine Liela, die damals ebenfalls im Zimmer war, sah das Ende dieses Tauziehens ganz anders. »Ich erinnere mich noch, wie Mimi vor John stand und zu Julia sagte: ›Du wirst ihn nicht haben.‹«
Nachdem Mimi den Kampf um John gewonnen hatte, widmete sie sich voll und ganz dem Jungen. Das wenige soziale Leben, das sie und George gehabt hatten, gab sie gern dran. Später würde sie immer wieder stolz darauf hinweisen, dass sie zehn Jahre lang abends, nachdem John zu Bett gegangen war, nie das Haus verlassen habe. Sie achtete stets darauf, dass im Flur vor seinem Zimmer das Licht brannte. John wusste, dass sie immer da war, sie wusste, dass er immer da war: Man fragt sich, wem von beiden diese Gewissheit mehr gegeben hat.
Mimi brachte Struktur und Ordnung in Johns Alltag, was er vom lockeren Leben bei Julia her nicht kannte – das Essen wurde immer pünktlich auf die Minute serviert, jeden Tag musste er zur gleichen Zeit ins Bett gehen, Baden und Haarewaschen waren ein regelmäßiges Ritual im Badezimmer mit dem schwarz-weiß karierten Linoleumboden und der freistehenden Wanne mit den Löwenpfoten. Vor den Mahlzeiten, die man meist im Morgenzimmer einnahm, wurde er angehalten, ein Tischgebet aufzusagen. Er durfte sich nicht mit ungewaschenen Händen an den Tisch setzen und ihn nach dem Essen nicht verlassen, ohne vorher zu fragen: »Darf ich aufstehen?«
Großen Wert legte Mimi darauf, dass er wie ein wohlerzogenes Mittelschichtkind aus der Vorstadt sprach und nicht wie ein ungehobelter Scouse. Unter ihrer Aufsicht war bald jeder innerstädtische Akzent in Johns Aussprache verschwunden. »Ich setzte große Hoffnungen in ihn und wusste, dass man es zu nichts bringt, wenn man wie ein Grobian spricht. Ich erinnere mich noch, wie er einmal mit dem Bus aus der Stadt nach Hause kam und die Leute aus Liverpool reden gehört hatte – er war schockiert, weil er nicht verstand, wovon sie sprachen. Ich sagte ihm, er solle diese Leute meiden. Er war ein Junge vom Land, er hatte mit diesen Leuten nichts zu tun, außer wenn Handwerker ins Haus kamen, um etwas zu reparieren. Es war wirklich eine völlig andere Welt.«