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Mick Jagger ist der größte Star der Rockgeschichte. Viele Millionen Fans weltweit bewundern ihn. Mit seiner markanten Stimme und der wilden, aufreizenden Bühnenshow bringt er auch heute noch ganze Stadien zum Kochen. Songs wie "Satisfaction", "Jumpin' Jack Flash" und "Street Fighting Man" sind ewige Rock-'n'-Roll-Hymnen – voller Sex und Rebellion. Philip Norman hat mit vielen engen Weggefährten von Mick Jagger gesprochen und liefert uns nun die grandiose Lebensschau des berühmten Musikers. Er erzählt von Jaggers Jugend, wie er schon früh den Rhythm & Blues entdeckte und dann 1962 mit Keith Richards und Brian Jones die Rolling Stones gründete. Er berichtet von den gigantischen Welttourneen, von den wüsten Drogenexzessen und den Eskapaden des skandalträchtigen Womanizers, dessen Privatleben seit Jahrzehnten die Medien beschäftigt. Das authentische Porträt des Mannes, der mit seiner Musik die Welt veränderte.
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Seitenzahl: 1088
Philip Norman
Mick Jagger
Die Biographie
Aus dem Englischen von Gabriele Gockel, Sonja Schumacher und Maria Zybak
Knaur e-books
Er ist der größte Star der Rockgeschichte. Mit seiner röhrenden Stimme und der aufreizenden Show bringt Mick Jagger auch fünfzig Jahre nach der Gründung der Rolling Stones noch Fußballstadien zum Kochen. Songs wie Satisfaction, Jumpin’ Jack Flash und Street Fighting Man sind ewige Rock-’n’-Roll-Hymnen – voller Sex und Rebellion.
Philip Norman zeichnet ein in vielen Teilen neues, facettenreiches Porträt des Mannes, der mit seiner Musik die Welt veränderte.
Die definitive Biographie der Rocklegende
Sympathie für den alten Teufel
Die British Academy of Film and Television Arts sieht sich eigentlich nur selten heftigen Angriffen ausgesetzt, doch im Februar 2009 stand sie im Mittelpunkt empörter Schlagzeilen der Regenbogenpresse. Die Moderation bei ihrer alljährlichen Preisverleihung (ein Ereignis, das von seiner Bedeutung angeblich gleich nach den Oscars in Hollywood kommt) sollte nämlich Jonathan Ross übernehmen, ein äußerst rüder Talkmaster, der damals die am übelsten beleumdeste Person im britischen Rundfunk war. Wenige Wochen zuvor hatte Ross während einer Radiosendung der BBC zur besten Sendezeit eine Reihe obszöner Sprüche auf dem Anrufbeantworter des Schauspielers Andrew Sachs hinterlassen, der in der Comedy-Serie Fawlty Towers mitgewirkt hatte. Ross wurde daraufhin für drei Monate von seinen zahlreichen Verpflichtungen bei der BBC freigestellt, während sich Komiker Russel Brand, sein Komplize bei dem üblen Streich (er hatte sich live im Rundfunk damit gebrüstet, Sachs’ Enkeltochter »gebumst« zu haben), dem Druck beugte und seinen Posten räumte. Seit den 1990er Jahren galt die Comedy in England als der »neue Rock ’n’ Roll«. Und hier waren jetzt plötzlich zwei ihrer wichtigsten Vertreter, die sich alle Mühe gaben, ebenso frech zu sein wie die Rockstars von einst.
Bei der Preisverleihung im Royal Opera House in Covent Garden erlebte ein ausgesprochen prominent besetztes Publikum – darunter Brad Pitt, Angelina Jolie, Meryl Streep, Sir Ben Kingsley, Kevin Spacey und Kristin Scott Thomas – neben der Bekanntgabe der Preisträger noch zwei weitere Überraschungen. Zunächst einmal, dass die Kraftausdrücke, die man eigentlich von H. Jonathan Ross erwartet hatte, von Mickey Rourke kamen, der für seine Rolle in dem Film The Wrestler als bester Schauspieler ausgezeichnet wurde. Mit Zottelmähne, unrasiert und kaum verständlich (die Vertreter der Filmbranche haben ebenfalls lautstarke Ansprüche auf das Genre »neuer Rock ’n’ Roll« angemeldet) dankte Rourke seinem Regisseur dafür, ihm eine zweite Chance gegeben zu haben, nachdem er »seine Karriere fünfzehn Jahre lang versaut« habe. Seinem Presseagenten hingegen fühlte er sich verpflichtet, »weil er mir gesagt hat, wo ich hingehen und was ich tun muss, wann ich es machen soll, was ich essen und was ich anziehen und wen ich ficken darf …«.
Nach Rourkes Auftritt witzelte Ross, Rourke müsste sich nun auf die gleiche Strafe gefasst machen wie er nach seinem »Sachsgate« und mit drei Monaten Auftrittsverbot rechnen. Dann aber wurde sein Ton geradezu unterwürfig. Die vorletzte Trophäe des Abends, die für den besten Film, erklärte er, werde von einem »Schauspieler und Leadsänger einer der besten Rockbands der Geschichte« verliehen, dem dieses vornehme Auditorium mit seinen Rängen in Rot und Gold »eher wie ein bescheidener Veranstaltungsort erscheinen mag«. Fast schon ein Sakrileg in diesem an die Klänge Mozarts, Wagners und Puccinis gewöhnten Tempel, erscholl aus der Lautsprecheranlage das auf der Elektrogitarre gespielte Intro zu »Brown Sugar«, der 1971 erschienenen Rockhymne über Drogen, Sklaverei und Cunnilingus zwischen Schwarz und Weiß. Ja, tatsächlich, die Auszeichnung sollte von Sir Mick Jagger vergeben werden.
Jagger sprang nicht einfach nur aufs Podium, sondern schritt über den roten Teppich vom hinteren Teil der Bühne nach vorn, damit die Fernsehzuschauer das Wunder in voller Länge genießen konnten: das noch immer volle Haar, geschnitten in jugendlichem Retrostil à la Sixties, ohne eine Spur von Grau; ein unaufdringlicher Designer-Anzug, der aber zugleich auch den schlanken Körper und den federnd-athletischen Schritt hervorhob. Nur das Gesicht verriet die fünfundsechzig Jahre eines mitten im Zweiten Weltkrieg geborenen Mannes – die berühmten Lippen, von denen es einst hieß, sie könnten »einem Huhn das Ei aus dem Arsch saugen«, waren jetzt schmal und blutleer, die Wangen von Falten durchzogen, so breit und tief wie symmetrisch angeordnete Narben.
Doch ihn empfing ein Beifall, der weniger ins Royal Opera House oder zu der British Association for Film and Television Arts zu passen schien als zum Wembley-Stadion oder einer anderen Bühne für ein Open-Air-Konzert. Trotz all der vielen Genres des »neuen« Rock ’n’ Roll weiß jeder, dass es in Wahrheit nur einen gibt und Mick Jagger seine unbestrittene Verkörperung ist. Er antwortete mit seinem unwiderstehlichen Lächeln, einem heiseren »Allaw!« und dann mit einem unerwarteten Aufblitzen der alten Stones-Subversität: »Seht ihr? Ihr habt gedacht, Jonathan würde all die Fuck-Wörter benutzen, und dabei war es Mickey.«
Wie üblich veränderte er daraufhin seine Stimme, um sie dem Anlass anzupassen. Jahrzehntelang hat Jagger in einem aufgesetzten Cockney gesprochen, bekannt als »Mockney« oder Großlondoner Akzent. Mit den deformierten, langgezogenen Vokalen und verschluckten »T«s galt es in Großbritannien als Inbegriff der Jugendlichkeit und Coolness. Doch hier, unter den Stars englischer Diktion, war jedes »T« kristallklar zu hören, jedes »H« auf den Punkt genau angehaucht, als er sagte, es sei ihm eine Ehre, an diesem Abend hier zu sein, und wie es dazu gekommen war …
Der hübsche kleine Scherz, der dann folgte, bewegte sich punktgenau in der Mitte zwischen Reverenz und Spöttelei. Er sei hier, sagte er, »im Rahmen des Rockstar-Filmstar-Austauschprogramms … In diesem Augenblick singt ›Sir‹ Ben Kingsley (mit einer leicht ironischen Betonung auf dem Titel, obwohl er ihn ebenfalls trug) bei der Grammy-Verleihung ›Brown Sugar‹ … und ›Sir‹ Anthony Hopkins steht mit Amy Winehouse im Aufnahmestudio … ›Dame‹ Judy Dench ist irgendwo in den USA und zerlegt tapfer Hotelzimmer … und wir hoffen, dass ›Sir‹ Brad und die Pitt-Familie nächste Woche bei den Brit Awards als Trapp-Familie auftreten werden.« (Schnitt zu Kevin Spacey und Meryl Streep, die sich vor Lachen ausschütten, während Angelina Brad den Witz erklärt.)
Nach Öffnen des Umschlags verkündete Jagger, der Preis für den besten Film gehe an Danny Boyles Slumdog Millionaire (so hatten viele früher ihn selbst bezeichnet). Doch niemand bezweifelte, wer der wahre Gewinner des Abends war. Jagger hatte gerade den größten Hit seit … ach – seit »Start Me Up« aus dem Jahr 1981 eingefahren. »Man muss schon eine Menge draufhaben, wenn man an diesem Ort glänzen will«, meinte ein Akademiemitglied. »Aber er hat es geschafft.«
Ein halbes Jahrhundert zuvor, als sich die Rolling Stones mit den Beatles ein Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten, stellte man dem jungen Mick Jagger in dem verzweifelten Versuch, etwas Erhellendes oder vielleicht sogar Intelligentes aus ihm herauszubekommen, immer wieder die gleiche Frage: Ob er mit dreißig wohl auch noch »Satisfaction« singen werde?
In jenen unschuldigen Jahren zu Anfang der Sixties war die Popmusik allein das Revier der Jugend und, wie man meinte, daher auch der Sprunghaftigkeit der Jugend unterworfen. Selbst die erfolgreichsten Gruppen – die Beatles eingeschlossen – gingen davon aus, nach höchstens ein paar Monaten von Newcomern von ihrem Platz an der Spitze verdrängt zu werden. Damals hätte man nicht im Traum erwartet, dass einige dieser vermeintlich flüchtigen Liedchen eine Generation später immer noch gespielt werden würden. Und ebenso wenig, dass viele der vermeintlich austauschbaren Sänger und Bands noch im Rentenalter ihrem Gewerbe nachgehen und mit der immer gleichen Begeisterung vom Publikum empfangen werden würden, solange sie sich nur auf die Bühne schleppen konnten.
Was die Langlebigkeit betrifft, lassen die Stones alle Rivalen weit hinter sich. Die Beatles existierten als internationale Live-Band gerade mal drei Jahre und nur neun insgesamt (wenn man die zwei abzieht, die sie mit erbittertem Trennungsstreit verbrachten). Andere Sechziger-Jahre-Bands der ersten Garde wie Led Zeppelin, Pink Floyd und The Who drifteten, wenn sie nicht von Alkohol oder Drogen auseinandergerissen wurden, im Lauf der Zeit in verschiedene Richtungen und formierten sich dann neu. Die tödliche Langeweile, die sie empfanden, wenn sie immer wieder mit den alten Leuten die alten Titel spielten, wurde durch eine ansehnliche Entlohnung gemildert. Nur die Stones, dem Anschein nach einst die flatterhaftesten von allen, rollten weiter von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, dann von einem Jahrhundert ins nächste. Sie überstanden den spektakulären Tod eines Mitglieds und die Verbitterung und Resignation von zwei anderen (sowie interne Intrigen, vor denen die Medicis den Hut gezogen hätten), ließen Generationen von Ehefrauen und Geliebten hinter sich, überdauerten zwei Manager, neun britische Premierminister und die gleiche Zahl amerikanischer Präsidenten. Sie waren immun gegen wechselnde musikalische Modeerscheinungen, Geschlechterpolitik und soziale Normen und umgeben sich noch als Sechzigjährige mit demselben schwefligen Hauch der Verruchtheit und Rebellion wie in ihren Zwanzigern. Die Beatles verkörpern ewigen Charme, die Stones ewige Provokation.
Im Verlauf der Jahrzehnte, seit ihrer gemeinsam erlebten Blütezeit, hat sich an den wesentlichen Elementen der Popmusik natürlich kaum etwas geändert. Jede neue Generation von Musikern schlägt in der gleichen Folge die gleichen Akkorde an, bedient sich der gleichen Begriffe von Liebe, Lust und Sehnsucht. Und jede neue Generation von Fans sucht sich die gleiche Art von männlichem Idol mit der gleichen Art von Sexappeal, dem gleichen Repertoire an Gesten, Eigenheiten und dem gleichen Ausdruck der Coolness.
Das Konzept einer Rock-»Band« – einer Gruppe junger Musiker, verbunden in Ruhm, Wohlstand und sexuellen Möglichkeiten, von denen Gleichaltrige im Militärdienst oder in den Bergarbeiterstädten des Nordens nicht mal zu träumen wagten – war bereits gut eingeführt, als sich die Stones an den Start machten, und hat sich seitdem nicht im Geringsten geändert. Und obwohl es in der Popindustrie meist um Illusion, Ausbeutung und künstlich aufgebauschte Sensationen geht und nach Jahrzehnten des Rap der Eindruck entstehen mag, als seien originelle Melodien und Texte überflüssig geworden, gilt nach wie vor die Wahrheit, dass sich echtes Talent immer durchsetzen und überdauern wird. Von den großen rebellischen Hits wie »Jumpin’ Jack Flash« oder »Street Fighting Man« bis zu unbekannteren früheren Tracks wie »Off the Hook« oder »Play With Fire« und den davor entstandenen R&B-Coverversionen klingt die Musik der Stones so frisch und aggressiv, als sei sie erst gestern aufgenommen worden.
Sie sind auch immer noch Vorbild für jede Band, die es nach oben schafft – verwöhnte jungenhafte Potentaten, die sich im flackernden Blitzlicht auf dem Sofa fläzen und die ewig gleichen dummen Reporterfragen mit den ewig gleichen sarkastischen Antworten parieren. Die von ihnen in den Sixties entwickelte Art der Tournee ist das, was noch immer jeder möchte: Privatflugzeug, Limousinen, Roadies, Groupies, verwüstete Hotelsuiten. Dem Mythos Tournee, der Beschwörung von immerwährenden »Sex and Drugs and Rock ’n’ Roll«, können auch die detailliertesten Darstellungen der Monotonie und der schädlichen Auswirkungen auf die seelische Gesundheit nichts anhaben – so etwa Christopher Guests brillante und packende Darstellung einer leicht unterbelichteten Supergroup auf Tournee in seinem Spielfilm This Is Spinal Tap. Doch trotz aller Anstrengungen konnte sich bislang keiner ihrer jungen Schüler einen vergleichbaren Pfad durch die Welt bahnen wie die Stones auf Tour vor vierzig Jahren. Noch konnten sie auch nur entfernt ein vergleichbares Maß an Arroganz, Zügellosigkeit, Hysterie, Paranoia, Gewalt, Vandalismus und hemmungslosem Vergnügen erreichen.
Vor allem Mick Jagger ist einzigartig, in welchem Alter auch immer. Mehr als jeder andere hat Jagger vorgemacht, wie aus dem schlichten Sänger einer Band ein Rock-»Star« wird. Deutlich abgehoben von seinen Bandkollegen (was in einer Zeit gemeinschaftlich auftretender Gruppen wie der Beatles, Hollies, Searchers und anderer eine tiefgreifende Veränderung bedeutete), war er es, der in einer gewaltigen Zuschauermenge die verschiedenartigsten Phantasien erst wecken, dann lenken und schließlich beherrschen konnte. Keith Richards, die zweite Galionsfigur der Stones, ist ein begnadeter Gitarrist (und der erstaunlichste Überlebenskünstler des Rock), doch er gehört in die Riege der Troubadoure, wie sie zunächst von Blind Lemon Jefferson und Django Reinhardt und dann von Eric Clapton, Jimi Hendrix, Bruce Springsteen, Noel Gallagher und Pete Doherty verkörpert wurden. Jagger hingegen begründete eine neue Spezies und gab ihr einen Ausdruck, der bislang noch nicht verbessert werden konnte. Unter seinen Rivalen als Bühnenkünstler des Rock hatte nur Jim Morrison von The Doors einen eigenen Stil entwickelt, ins Mikrofon zu singen: Er umschloss es sanft mit den Fingern wie ein verängstigtes Vogelküken, anstatt es im Stil von Jagger wie einen Phallus zu schwingen. Seit den 1970er Jahren gab es viele weitere begabte Rockbands mit einer großen internationalen Fangemeinde und unbestreitbar charismatischen Leadsängern: Freddie Mercury von Queen, Holly Johnson von Frankie Goes to Hollywood, Bono von U2, Michael Hutchence von INXS, Axl Rose von Guns N’ Roses. Auch wenn sie auf Platten ihren eigenen unverwechselbaren Sound präsentierten, hatten sie auf der Bühne keine andere Wahl, als in Mick Jaggers Fußstapfen zu treten.
Als Sexsymbol lässt er sich nur mit Rudolfo Valentino vergleichen, dem Stummfilmstar mit dem Beinamen »der Scheich«, der in den 1920er Jahren bei Frauen die erregende Phantasie auslöste, über den Sattel geworfen und in ein Beduinenzelt verschleppt zu werden. Bei Jagger geht es eher in die Richtung großer Balletttänzer wie Nijinsky oder Nurejew, deren scheinbare Androgynität von ihren lustvollen Blicken auf die Ballerinen und der Wölbung ihres Hosenbundes Lügen gestraft wurde. Die Stones waren eine der ersten Rockbands mit einem Logo, und selbst für die freizügigen frühen Siebziger war es ausgesprochen drastisch – eine grellrote Grafik von Jaggers Mund, die üppigen Lippen mit der vertrauten Schamlosigkeit leicht geöffnet und die Zunge herausgestreckt, um etwas Unbekanntes, aber sicher kein Speiseeis, zu lecken. Die »Lapping Tongue«, noch immer auf allen Stones-Veröffentlichungen und -Fanartikeln abgebildet, zeigt, wer in allen Bereichen die Regie führt. Nach heutigen Kriterien kann man sich kaum ein drastischeres Symbol für altmodischen männlichen Chauvinismus vorstellen – und doch erreicht es sein Ziel wie eh und je. Frauen des 21. Jahrhunderts, befreit wie keine Generation zuvor, spitzen die Ohren, wenn sie Jaggers Namen hören, während die, die bereits im 20. Jahrhundert von ihm fasziniert waren, ihm auch weiterhin hörig sind. Ich hatte gerade mit diesem Buch begonnen, als ich das Thema gegenüber meiner Tischnachbarin auf einer Dinnerparty erwähnte, einer würdig und beherrscht wirkenden Engländerin reiferen Alters. Anstatt mir zu antworten, spielte sie die Szene aus dem Film Harry und Sally nach, in der Meg Ryan in einem gut besuchten Restaurant einen Orgasmus vortäuscht: »Mick Jagger? Oh … ja! Ja, JA, JA!«
Sexsymbole sind dafür bekannt, dass sie im Privatleben ihrem öffentlichen Image nicht gerecht werden, wie uns etwa Mae West, Marilyn Monroe und vor allem Elvis Presley zeigen. Doch in der übersexualisierten Welt des Rock, eigentlich in den gesamten Annalen des Showbusiness, gibt es niemanden, der es mit Mick Jagger als Casanova der Neuzeit aufnehmen kann. Man fragt sich, welche Schürzenjäger vergangener Jahrhunderte derart viele Sexualpartnerinnen gefunden hatten und ob auch ihnen häufig das mühsame Vorgeplänkel der Verführung erspart blieb. Und sicherlich bewahrte sich keiner von ihnen wie Jagger seine Leistungsfähigkeit bis ins mittlere oder höhere Alter (Casanova war mit Mitte dreißig ausgelaugt). Was Swift die »Raserei der Lenden« nennt, wird mittlerweile als Sex-Sucht diagnostiziert und kann mit einer Therapie geheilt werden. Doch Jagger hat nie zu erkennen gegeben, dass er damit ein Problem hatte.
Beim Anblick dieses zerfurchten Gesichts versucht man vergeblich, sich das unermessliche weltliche Bankett vor Augen zu führen, an dem er sich gelabt hat, ohne je satt zu werden … die endlose Folge schöner Gesichter und leuchtender williger Augen … die ungezählten Anmachfloskeln … die zahllosen Betten, Sofas, zusammengeschobenen Kissen oder Autorücksitze … die immer neuen Stimmen, Düfte, Hauttöne, Haarfarben … die gleich wieder vergessenen Namen, falls sie überhaupt genannt wurden. Alte Männer werden in ihren Träumen oder Tagträumen oft von den Frauen heimgesucht, nach denen ihnen der Sinn stand. Mick würde in dieser Phantasie so etwas wie eine der überholten Paraden der Sowjetarmee auf dem Roten Platz vor sich sehen. Und wenigstens eine dieser prächtigen Soldatinnen sitzt an diesem Tag im Publikum bei der BAFTA-Verleihung, nicht gerade weit von Brad Pitt entfernt.
Von Rechts wegen hätten seine Skandale aus den 1960ern schon seit Jahrzehnten vergessen sein müssen, ausradiert von den zahllosen Jugendsünden heutiger Popstars, Fußballspieler, Supermodels und der TV-Schauspieler in Reality-Soaps. Doch die Sixties haben eine hartnäckige Attraktivität, vor allem bei denen, die zu jung sind, um sich an sie zu erinnern – eine Haltung, die bei Psychologen als »Nostalgie ohne Erinnerung« bekannt ist. Für die britische Jugend ist Jagger die Verkörperung der »Swinging Sixties«: ihrer Freiheiten, ihrer Vergnügungssucht und des Rückschlags, der ihnen schließlich folgte. Selbst ganz junge Leute haben von seiner Drogenrazzia im Jahr 1967 gehört oder zumindest von dem Marsriegel, der dabei die anstößige Hauptrolle spielte. Nur wenigen aber ist bekannt, mit welcher Rachsucht ihn das britische Establishment in jenem sogenannten Summer of Love verfolgte, als man den witzigen, eloquenten geadelten Redner dieses Abends schmähte und wie einen langhaarigen Antichrist in Handschellen bei Gericht vorführte, um ihn in einem Schauprozess von fast mittelalterlich-grotesken Zügen zu verurteilen und ins Gefängnis zu werfen.
Mick Jagger ist wohl das beste Beispiel für das, was man im Showbusiness klischeehaft Überlebenskünstler nennt. Doch während andere Angehörige dieser Spezies meist als alte Säcke mit Übergewicht und grauem Pferdeschwanz enden, hat er sich – bis aufs Gesicht – seit seinen ersten Schritten auf der Bühne nicht verändert. Während die meisten anderen ihren Verstand mit Drogen oder Alkohol vernebelten, verfügt er noch über alle seine Kräfte, nicht zuletzt seinen berühmten Instinkt für das, was gerade angesagt, cool und schick ist. Während andere über die Summen jammern, die sie verloren haben oder um die man sie betrogen hat, leitet er die bestverdienende Band der Geschichte, die ihr Überleben allein seiner Cleverness und Entschlossenheit verdankt. Ohne Mick wäre es mit den Stones 1968 vorbei gewesen. Er machte aus einer Bande von langhaarigen Außenseitern einen in Großbritannien ebenso anerkannten Nationalschatz wie Shakespeare oder die weißen Klippen von Dover.
Doch hinter der Anbetung, dem Reichtum und der überreichlichen »Satisfaction« verbirgt sich die Geschichte eines vielversprechenden Talents, das – fast schon aus Trotz – in all den Jahren nie zum Zuge kam. Unter seinen halbwegs intelligenten Zeitgenossen besaß nur John Lennon ein ähnliches Potenzial wie er, über die Grenzen des Pop hinauszugehen. Zwar war Mick, wie ihn Jonathan Ross bei der BAFTA-Verleihung vorstellte, zweifellos ein Schauspieler und hatte Rollen im Film wie im Fernsehen gespielt, doch er hätte neben der Musik auch eine ebenso erfolgreiche Filmkarriere ansteuern können wie Elvis Presley und Frank Sinatra. Auch hätte er seine Macht über das Publikum nutzen können, um Politiker zu werden, oder eine Leitfigur, wie die Welt sie – bis heute – noch nie gesehen hat. Er hätte auch die (oft unbeachtet gebliebene) Brillanz seiner besten Songtexte zu echter Lyrik oder Prosa ausbauen können wie Bob Dylan oder Paul McCartney. Zumindest aber hätte er ein erstklassiger eigenständiger Bühnenkünstler werden können, anstatt immer nur Frontman einer Band zu bleiben. Doch irgendwie hat er nichts von alledem verwirklicht. Seine Laufbahn als Filmschauspieler kam 1970 ins Stocken und dann nie wieder nennenswert in Schwung, trotz Dutzender interessanter Rollenangebote. Mit der Vorstellung, in die Politik zu gehen, hat er lediglich gespielt, und ernsthafte schriftstellerische Ambitionen ließ er nie erkennen. Mit der Solokarriere wartete er bis Mitte der 1980er Jahre und stieß damit auf so viele Vorbehalte bei den anderen Stones, vor allem Keith, dass er vor der Wahl stand, sie entweder aufzugeben oder den Zusammenbruch der Band zu riskieren. So ist er immer noch lediglich ihr Frontman und macht das Gleiche wie mit achtzehn.
Und dann ist da noch das Rätsel, wie ein Mann, der Millionen begeistert, der zweifellos hochintelligent und scharfsinnig ist, plötzlich so unattraktiv werden kann, wenn er den berühmten Mund zum Sprechen öffnet. Seit die Medien Jaggers Schritte verfolgten, sind seine überlieferten Zitate stets von einer unverbindlichen Inhaltslosigkeit, wie man sie üblicherweise nur vom britischen Königshaus kennt. Greift man zu einem der vielen in den letzten vier Jahrzehnten erschienenen Büchern mit Selbstzeugnissen der Stones, erkennt man sofort, dass Micks Aussagen stets die knappsten und nichtssagendsten sind. 1983 unterzeichnete er einen Vertrag bei dem britischen Verlag Weidenfeld and Nicolson, um für die damals enorme Summe von einer Million Pfund eine Autobiographie zu schreiben. Es sollte die Insiderstory des Jahrhunderts aus dem Showbusiness werden. Doch das von einem Ghostwriter verfasste Manuskript war laut Verlag todlangweilig, und der gesamte Vorschuss musste zurückgezahlt werden.
Mick erklärte damals, er könne sich »an nichts erinnern«. Damit meinte er natürlich nicht seinen Geburtsort oder den Namen seiner Mutter, sondern die späteren privaten Erlebnisse, die Weidenfeld damals eine Million Pfund wert gewesen waren und für die ein Verleger heute gern das Fünffache zahlen würde. Dies hört man von ihm immer wieder, sobald man an ihn wegen eines Buches herantritt oder wenn ihn ein Reporter bedrängt, zu bestimmten Dingen Stellung zu beziehen. Sorry, er könne sich nicht erinnern, alles sei »wie im Nebel«.
Das Image eines Mannes, der vor dreißig Jahren wie unter einer frühen Alzheimer-Attacke sein Gedächtnis verlor, ist natürlich reiner Unsinn, wie jeder, der ihn kennt, bestätigen kann. Es ist eine bequeme Masche, um Dingen aus dem Weg zu gehen, eine Strategie, die er zu höchster Kunst perfektioniert hat. Das ersparte ihm, sich für langweilige Monate mit einem Ghostwriter zurückziehen oder peinliche Fragen zu seinem Liebesleben beantworten zu müssen. Doch damit werden auch die Höhen und Tiefen einer Karriere ausgelöscht, wie sie in seiner Branche beispielhaft ist. Wie kann man das alles »vergessen«? Etwa die Begegnung mit Andrew Loog Oldham, das Zusammenleben mit Marianne Faithfull oder die Weigerung, im London Palladium auf einer Drehbühne aufzutreten? Wie kann er vergessen, dass er im Brixton Prison saß, dass er in Cecil Beatons Tagebüchern auftaucht oder in den Straßen von New York angespuckt wurde? Dass er Thema eines Leitartikels der Londoner Times war, Allen Klein entlassen hat und sich von mörderischen Hells Angels auf dem Festival von Altamont nicht aus der Ruhe bringen ließ? Dass er vor den Augen der Weltpresse in Saint-Tropez getraut wurde, dass man ihm in Rhode Island die Fingerabdrücke abnahm und Steven Spielberg vor ihm auf die Knie fiel? Dass Andy Warhol mit seiner Tochter Jade spielte, dass ihn in Montauk nackte Frauen mit grüngefärbtem Schamhaar heimsuchten oder dass er eine Viertelmillion Menschen im Hyde Park dazu brachte, schweigend den Versen von Shelley zu lauschen?
Mick Jagger ist ein Mensch voller Widersprüche: zu außerordentlichen Leistungen fähig, ohne dass ihm diese Leistungen etwas zu bedeuten scheinen, höchst extrovertiert, doch stets auf Diskretion bedacht, ein Egoist wie kein anderer, der nicht gern über sich selbst spricht. Charlie Watts, der Drummer der Stones, und jemand, der sich dem ganzen Wahnsinn am stärksten entzogen hat, brachte es einmal auf den Punkt: »Mick kümmert es nicht, was gestern war. Ihn interessiert nur das Morgen.«
Sehen wir uns also genauer an, was gestern passiert ist. Vielleicht können wir ja sein Gedächtnis auffrischen.
Um das zu werden, was wir einen »Star« nennen, braucht man mehr als außergewöhnliches Talent in einer der darstellenden Künste: Offenbar muss man dafür auch eine innere Leere empfinden, so unergründlich und schwarz, wie das Sternenlicht hell und strahlend ist.
Normale, glückliche, ausgeglichene Leute werden in der Regel keine Stars. Meist sind es Menschen, die in ihren frühen Jahren ein Trauma erlebt haben oder unter Entbehrungen litten. Diese Erfahrung treibt sie an, um jeden Preis zu Reichtum und Ruhm zu gelangen, und nährt ihren unersättlichen Hunger nach Liebe und Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Wir verleihen ihnen einerseits einen nahezu göttlichen Status, sehen in ihnen aber zugleich auch höchst verletzliche Wesen, gepeinigt von den Dämonen der Vergangenheit und Ängsten der Gegenwart, dazu verurteilt, ihr Talent und schließlich auch sich selbst durch Drogen oder Alkohol oder beides zu zerstören. Das galt für die schillerndsten Namen, für Stars, die ab Mitte des 20. Jahrhunderts auf der ganzen Welt berühmt waren: Charlie Chaplin, Judy Garland, Marilyn Monroe und Edith Piaf bis zu Elvis Presley, John Lennon, Michael Jackson und Amy Winehouse. Auf sie alle trafen eines oder mehrere dieser Kennzeichen zu. Warum dann nicht auch für Mick Jagger?
Schon mit seinen ersten Atemzügen entzog sich Jagger allen Klischees. Wir gehen gewöhnlich davon aus, dass Stars unter wenig verheißungsvollen Umständen geboren werden, die dann ihren späteren Erfolg nur noch spektakulärer wirken lassen – eine erbärmliche Hütte mit Lehmboden in Mississippi … eine heruntergekommene Hafenstadt … die Garderobe eines schmierigen Varietétheaters … ein Elendsviertel in Paris. Dass jemand aus relativ angenehmen, wenn auch wenig inspirierenden Verhältnissen in der englischen Grafschaft Kent stammt, entspricht nicht unseren Erwartungen.
Der Süden Englands war schon immer der wohlhabendste und privilegierteste Teil des Landes, obwohl die Grafschaften im Umkreis Londons oft abwertend als die »Home Counties« (in etwa: »Schlafdörfer«) bezeichnet werden. Die östlichste in diesem Kreis ist Kent, im Norden begrenzt durch die Themsemündung, im Süden durch die sagenumwobenen weißen Klippen bei Dover und den Ärmelkanal. Wie sein berühmtester Sohn im 20. Jahrhundert besitzt Kent ganz verschiedene Seiten. Für die einen ist es der »Garten Englands«, mit seinen waldbedeckten grünen Hügeln (dem Weald), seinen Apfel- und Kirschbaumhainen und den Hopfenfeldern, seinen konischen, aus roten Ziegeln errichteten Scheunen, in denen der Hopfen getrocknet wird. Andere denken bei Kent an die imposante Geschichte der Kathedrale von Canterbury, wo der »rebellische Priester« Thomas Beckett den Tod fand, oder an stattliche Herrenhäuser wie Knole und Sissinghurst, an die verblasste Pracht viktorianischer Badeorte wie Margate und Broadstairs. Wieder andere verbinden Kent mit Kricket auf ländlichen Plätzen, den Pickwickiern von Charles Dickens oder dem ehrbaren Kurort Royal Tunbridge Wells, dessen Bewohner mit solchem Eifer Leserbriefe verfassen, dass sie zum Synonym für aufgebrachte ältere Briten geworden sind, die gegen die heutige Moral und die modernen Sitten zu Felde ziehen (solche Leute werden in unserer Geschichte keine geringe Rolle spielen).
Seit Julius Cäsars Legionäre vor 2000 Jahren bei Walmer an den Strand gewatet sind, war Kent hauptsächlich ein Durchreisegebiet – für Chaucers Pilger, die »von allen Enden« kamen, um nach Canterbury zu gelangen, für die Heere, die in die Kriege auf dem Kontinent zogen, für den heutigen Verkehr von und zu den Kanalhäfen in Dover und Folkestone und zum »Chunnel«, dem Tunnel unter dem Ärmelkanal. Daher ist es schwer, den eigentlichen, urtümlichen Charakter dieser Grafschaft auszumachen. Sicherlich gibt es dort ein typisches Nuscheln, das anders klingt als im benachbarten Sussex und von Stadt zu Stadt, wenn nicht gar von Dorf zu Dorf unterschiedliche Ausprägungen hat. Der vorherrschende Akzent aber ist der der Metropole, die an der Nordgrenze nahtlos in die Grafschaft übergeht. Die ersten Sprachimperialisten waren Cockneys aus dem Londoner East End, die im Sommer zügeweise herbeiströmten, um als Helfer bei der Hopfenernte zu arbeiten. Dank dem Vordringen der »Schlafstädte« für die Büroangestellten der Hauptstadt ist der Londoner Slang seitdem allgegenwärtig.
Der Name »Jagger« stammt ursprünglich weder aus Kent noch aus London – auch wenn es in Charles Dickens’ Roman Große Erwartungen einen Londoner Anwalt namens Jaggers gibt –, sondern aus der etwa dreihundert Kilometer weiter nördlich gelegenen Region um Halifax in Yorkshire. Zwar betonte der berühmteste Träger dieses Namens in seiner Phase als »Street Fighting Man« gern die Verwandtschaft zu »jagged« (gezackt), was, wie er behauptet, früher so viel wie »Schlitzer« oder »Gangster« bedeutete; doch letztlich leitet sich der Name von dem altenglischen »jag«, dem Begriff für »Bündel« oder »Last« her und bezeichnete einen Fuhrmann, Straßenhändler oder Hausierer. Vor Mick hat der Name Jagger nur einmal bescheidene Berühmtheit erlangt: Der Ingenieur Joseph Hobson Jagger entwickelte zur Zeit Königin Victorias ein erfolgreiches Gewinnsystem für das Roulette und inspirierte damit womöglich einen Komponisten zu dem bekannten Gassenhauer »The Man Who Broke the Bank at Monte Carlo«. Die Familie konnte sich also auf eine gewisse Erfahrung berufen, wenn es darum ging, den Jackpot zu knacken.
Micks Vater verfolgte allerdings keine solch schnöden monetären Ziele. Basil Fanshawe Jagger – allseits bekannt als Joe – wurde im Jahr 1913 geboren und wuchs in einer Familie auf, in der Anständigkeit und Nächstenliebe hochgehalten wurden. Sein aus Yorkshire stammender Vater war Rektor einer einklassigen Dorfschule, in der die Kinder auf langen Holzbänken saßen und mit Griffeln auf Tafeln schrieben. Obwohl Joe klein und schmächtig war, erwies er sich als guter Sportler in allen Leichtathletikdisziplinen. Geprägt durch sein Elternhaus und von idealistischer Selbstlosigkeit, entschied er sich für eine Laufbahn als Sportlehrer. Er studierte an den Universitäten von Manchester und London und begann 1938 seine Tätigkeit als Sportlehrer an der staatlichen East Central School in Dartford, Kent.
Mit seiner Lage im äußersten Nordwesten der Grafschaft ist Dartford beinahe schon ein östlicher Londoner Vorort, zumal man mit dem Zug in knapp dreißig Minuten die großen Bahnhöfe der Metropole, Victoria Station und Charing Cross, erreichen kann. Der Ort liegt im Flusstal des Darent am einstigen Weg der Pilger nach Canterbury und war 1381 Ausgangspunkt von Wat Tylers Bauernaufstand gegen die Kopfsteuer von König Richard II. (Rebellen gab es hier also schon damals.) In heutiger Zeit wird Dartford fast nur noch (dafür aber täglich) in den Verkehrsnachrichten des Rundfunks erwähnt: in den Meldungen für den Tunnel unter der Themse und die angrenzende Brücke, die Dartford/Thurrock Crossing an der Hauptausfallstraße aus London in Richtung südlicher Küste. Dartford selbst ist kaum mehr als ein Name auf einem Straßenschild oder den Zuganzeigen am Bahnsteig; dank Bürokomplexen, Einkaufszentren und den immer zahlreicheren Pendlersiedlungen ist seine Vergangenheit als Marktflecken und Brauereistadt in Vergessenheit geraten. Seit den letzten Jahren der Regierungszeit Königin Victorias befindet sich in einem nahe gelegenen Dörfchen mit dem Namen Stone (welch ein Zufall) eine abschreckende Einrichtung, einst als Ostlondoner Irrenanstalt bekannt, bis sie in jüngerer Zeit taktvollerweise den Namen »Stone House« erhielt.
Anfang 1940 lernte der ruhige, in sich gekehrte Joe Jagger die lebhafte, extrovertierte Eva Ensley Scutts kennen, die damals siebenundzwanzig war. Ihre Familie stammte ursprünglich aus Greenhithe in Kent, war allerdings in das australische New South Wales ausgewandert, wo Eva 1913 (im selben Jahr wie Joe) zur Welt gekommen war. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs verließ ihre Mutter den Vater und kehrte mit Eva und deren vier Geschwistern nach England zurück, um sich in Dartford niederzulassen. Angeblich hat Eva sich ihrer Geburt in »Down Under« stets ein wenig geschämt und sich einen übertriebenen Oberschicht-Akzent zugelegt, damit auch ja kein australisches Näseln durchklang. Allerdings bemühten sich in jenen Jahren alle anständigen jungen Mädchen, wie Londoner Debütantinnen und die Prinzessinnen Elizabeth und Margaret zu sprechen. Und für Evas berufliche Tätigkeit (sie arbeitete zunächst als Sekretärin und später als Kosmetikberaterin) war das ohnehin von Nutzen.
Als Joe Eva den Hof machte, befand sich England im düsteren ersten Akt des Zweiten Weltkriegs, als es allein gegen Hitlers Besatzungsheer in Frankreich kämpfte und der Führer mit einer Selbstgefälligkeit über den Ärmelkanal nach den weißen Klippen Dovers schielte, als befänden sie sich bereits in seinem Besitz. Im Sommer begann die Luftschlacht um England, und am sonnigen Himmel Kents erschienen die weißen Kondensstreifen der britischen und deutschen Kampfflieger, die sich hoch über den Kornfeldern, den Hopfendarren und den sanften grünen Hügeln Gefechte lieferten. Obwohl sich in Dartford keine bedeutsamen militärischen Einrichtungen befanden, landeten dort regelmäßig Bomben der deutschen Luftwaffe, die eigentlich für die Fabriken und Hafenanlagen im nahe gelegenen Chatham und Rochester sowie im Osten Londons bestimmt waren. Hinzu kamen zahlreiche Einschläge von Bomben, die die Deutschen vor ihrem Heimflug ziellos abwarfen – mit fürchterlichen Folgen. Einer solchen Bombe fielen in der Kent Road dreizehn Menschen zum Opfer, eine andere traf das Krankenhaus der Grafschaft und löschte zwei voll belegte Frauenstationen aus.
Joe und Eva heirateten am 7. Dezember 1940 in der Holy Trinity Church in Dartford, wo Eva im Kirchenchor sang. Statt des üblichen Weiß trug sie ein Kleid aus lila Seide, und Joes Bruder Alfred übernahm die Rolle des Brautführers. Nach der Trauung gab man in der nahe gelegenen Coneybeare Hall einen Empfang, zu dem man wegen des Kriegs – und auch, weil Joe sich dem vorherrschenden Ethos von Genügsamkeit und Verzicht verpflichtet fühlte – nur fünfzig Gäste geladen hatte. Sie stießen mit Old Brown Sherry auf die Jungvermählten an und aßen Schnittchen mit Dosenfleisch und Rührei aus Eipulver.
Da Joe Lehrer und außerdem mit der Unterbringung aus London evakuierter Kinder befasst war, blieb ihm die Einberufung zum Militär und damit auch eine schmerzliche Trennung durch eine Versetzung auf den Kontinent oder ans andere Ende des Landes erspart. Anders als viele Pflichtsoldaten, die nur für einen kurzen Urlaub nach Hause kommen konnten, sah er deshalb auch keine Notwendigkeit für eine rasche Familiengründung. Joes und Evas erstes Kind – ein Sohn, den sie auf den Namen Michael Philip tauften – kam erst im Jahr 1943 zur Welt, als sie beide dreißig waren. Er wurde am 26. Juli im Livingstone Hospital in Dartford geboren, dem Geburtstag George Bernard Shaws, Carl Gustav Jungs und Aldous Huxleys. Aber von größerer symbolischer Bedeutung ist vielleicht die Tatsache, dass im städtischen Kino in jener Woche ein Film von Abbott und Costello mit dem Titel Money for Jam (Geld für Nichts) gezeigt wurde.
In Mikes ersten Lebensjahren, als die Alliierten im Krieg allmählich die Oberhand gewannen, waren in Großbritannien jede Menge amerikanischer Soldaten stationiert – prächtige Kerle, denen Annehmlichkeiten zur Verfügung standen, die die Engländer schon fast nicht mehr kannten. Während man sich rüstete, die »Festung Europa« zurückzuerobern, spielten die Amerikaner ihre eigene mitreißende Tanzmusik. Die Niederlage der Nazis war bereits sicher, doch sie hatten noch eine »Vergeltungswaffe« in der Hinterhand, die unbemannte, in Frankreich abgeschossene V1-Rakete, die London und seiner Umgebung in den letzten Kriegsmonaten schwere Schäden zufügte und viele Opfer forderte. Wie alle Bewohner des Gebiets um Dartford verbrachten Joe und Eva viele Nächte voller Anspannung und lauschten auf das Heulen des V1-Motors, das kurz vorm Aufschlagen verstummte. Etwas später kam die noch schrecklichere V2, ein Geschoss mit Düsenantrieb, das mit Überschallgeschwindigkeit flog und sich daher geräuschlos näherte.
Von alldem bekam der kleine Michael Philip natürlich nur wenig mit. Verwundert stellte das von Bomben heimgesuchte und unter strikte Rationierungen gestellte Land fest, dass es den Krieg nicht nur überstanden, sondern sogar gewonnen hatte. Mike erinnert sich daran, wie seine Mutter 1945 die schweren Verdunklungsvorhänge von den Fenstern nahm, was bedeutete, dass sie nun keine nächtlichen Luftangriffe mehr zu fürchten brauchten.
Als im Jahr 1947 sein Bruder Christopher geboren wurde, wohnte die Familie schon in der Denver Road 39, einer in sanftem Bogen verlaufenden Straße mit weißen Rauhputzhäusern im Westen Dartfords, wo die besseren Leute lebten. Joe hatte den Lehrerberuf aufgegeben und arbeitete mittlerweile in der Verwaltung des Central Council of Physical Recreation, der Dachorganisation für die Fach- und Freizeitsportverbände des Landes. Obwohl Joe nach wie vor in der Leichtathletik glänzte, galt seine Leidenschaft vor allem dem Basketball, einer typisch amerikanischen Sportart, die aber in Großbritannien bereits seit den 1890er Jahren heimisch war. Für Joe gab es kein Spiel, das besser den ihm so wichtigen Sports- und Teamgeist förderte. Viele Stunden widmete er sich ehrenamtlich der Aufgabe, Basketballmannschaften aufzubauen und zu trainieren. 1948 gründete er die erste Basketballliga der Grafschaft Kent.
Zu Beginn seines Romans Anna Karenina bemerkt Tolstoi, dass sich das Leid unglücklicher Familien auf höchst vielfältige und originelle Weise ausdrückt, während sich glückliche Familien auf fast langweilige Weise ähneln. Unser Star und zukünftiges Symbol für Rebellion und Bilderstürmerei wuchs in einer derart glücklichen Konformität auf. Sein stiller, körperlich dynamischer Vater und seine übersprudelnde, auf sozialen Aufstieg bedachte Mutter bildeten ein Paar, das sich bestens ergänzte. Beide waren einander und den Kindern aufrichtig zugetan. Im Gegensatz zu vielen anderen Familien der Nachkriegszeit herrschte in der Denver Road 39 eine Atmosphäre der Sicherheit mit festen Essens-, Wasch- und Schlafenszeiten und einer hierarchischen Werteordnung. Da Joe weder rauchte noch trank, reichte auch sein bescheidenes Gehalt, um seiner Frau und den beiden Söhnen einen gewissen Wohlstand zu ermöglichen, als die kriegsbedingten Rationierungen nach und nach aufgehoben wurden und Fleisch, Butter, Zucker und frisches Obst wieder in ausreichender Menge erhältlich waren.
Ein Foto zeigt den idealen englischen kleinen Jungen zu Beginn der 1950er Jahre, als Fernsehen, Computerspiele und vorzeitige Sexualisierung noch nicht die Unschuld der Kindheit zerstörten. Er ist nicht wie die Miniaturausgabe eines New Yorker Gangsters oder wie ein Guerillero aus dem Dschungel gekleidet, sondern unzweifelhaft wie ein Kind, mit kurzärmeligem weißen Nyltest-Hemd, weiten beigefarbenen Shorts und einem Elastikgürtel mit S-förmiger Schnappschnalle. Sein Haar ist zerzaust, er lächelt fröhlich, und die Augen mit dem furchtlosen, unschuldigen Blick sind wegen der Helligkeit zusammengekniffen. Es ist Mike Jagger, wie er damals gerufen wurde, etwa sieben Jahre alt, in einer Gruppe von Klassenkameraden seiner ersten Schule, der Maypole Infants School. Malerischer konnte der Name – Vorschule am Maibaum – nicht sein, denkt man dabei doch an Frühling und Kinderfreuden, an Buben und Mädchen mit reinem Herzen, die zur Begrüßung der süßen Knospen um einen mit Bändern geschmückten Pfahl tanzen.
In der Maypole Infants School war Mike Jagger ein herausragender Schüler, in allen Fächern der beste oder beinahe beste. Bald zeigte sich, dass er wie sein Vater ein sportliches Allround-Talent war, und er übertraf bald alle in den Fußball- und Kricketspielen der Kleinen und auch beim Eierlaufen und Sackhüpfen. Ken Llewellyn, einer seiner Lehrer, bezeichnet ihn als den nettesten und klügsten Jungen seines Jahrgangs, ein »kaum zu bändigendes Energiebündel«, den zu unterrichten eine Freude war. Allerdings lässt sich bei diesem siebenjährigen Wunderknaben auch schon ein Hang zur Aufmüpfigkeit erkennen. Er hatte ein gutes Ohr für Sprache, konnte ein beeindruckendes Spektrum von Akzenten nachahmen, und wenn er beispielsweise den Waliser Mr. Llewellyn imitierte, erntete er bei seinen Klassenkameraden noch mehr Beifall als bei seinen Triumphen auf dem Spielfeld.
Mit acht Jahren kam er auf die Wentworth County Primary, eine Grundschule, wo es ernster zuging und weniger darauf ankam, um den Maibaum zu tanzen, als sich auf dem Schulhof durchzusetzen. Hier begegnete er einem Jungen, der fünf Monate nach ihm im Livingstone Hospital das Licht der Welt erblickt hatte, einem äußerlich wenig attraktiven Burschen mit den abstehenden Ohren und eingefallenen Wangen eines Dickensschen Straßenkinds, obwohl er aus ordentlichen Verhältnissen stammte. Er hieß Keith Richards.
Die Phantasie der Achtjährigen entzündete sich in jener Zeit an Helden amerikanischer Western wie Gene Autry und Hopalong Cassidy, die hin und wieder ihren perlmuttbesetzten Sechs-Schuss-Revolver wegsteckten, zur Gitarre griffen und eine Ballade anstimmten. Eines Tages vertraute Keith Mike auf dem Schulhof an, als Erwachsener wolle er so werden wie Roy Rogers, der selbst ernannte »König der Cowboys«, und Gitarre spielen.
Mike ließ der König der Cowboys kalt – eine Haltung, die er schon damals recht gut beherrschte. Doch die Sache mit der Gitarre, die diesem kleinen Pimpf mit den abstehenden Ohren so am Herzen lag, klang interessant. Allerdings konnten sie ihre Bekanntschaft damals nicht vertiefen; erst ein Jahrzehnt später griffen sie dieses Thema wieder auf.
Wie in anderen britischen Haushalten gab es auch bei den Jaggers ein wuchtiges Röhrenradio. Ständig hörte man die Unterhaltungsprogramme der BBC, von Tanzbands bis zu Operetten. Mike imitierte gern die amerikanischen Schnulzensänger, wie Johnnie Ray mit »Just Walkin’ in the Rain« und »The Little White Cloud That Cried«, fiel aber weder im Gesangsunterricht der Schule noch im Kirchenchor auf, wo er gemeinsam mit seinem Bruder Chris sang. In dieser Hinsicht schien Chris damals der Begabtere gewesen zu sein; an der Maypole Infants School hatte er sogar für einen Auftritt mit dem Song »The Deadwood Stage« aus dem Western Calamity Jane (Schwere Colts in zarter Hand) einen Preis gewonnen. Mike bevorzugte eher die Musik aus den professionellen Weihnachtsaufführungen der lokalen Bühnen – freie Adaptionen von Märchen wie Mutter Gans oder Hans und die Bohnenranke, allerdings mit aufreizenden sexuellen Anspielungen und vertauschten Geschlechterrollen: Meist wurde die rotbackige, moralisierende »Matrone« von einem Mann und der jugendliche Held von einer schlanken, jungen Frau gespielt.
Im Jahr 1954 zog die Familie aus Dartford in ein Haus im Nachbardorf Wilmington, das den Namen »Newlands« trug. Es befand sich in der abgelegenen Durchgangsstraße The Close und hatte einen weitläufigen Garten, in dem Joe seine beiden Söhne regelmäßig in vielen Sportarten trainierte. Die Nachbarn gewöhnten sich an den Anblick von Bällen, Kricketstäben und Hanteln auf dem Rasen und sahen zu, wenn sich Mike und Chris wie kleine Tarzans an den Seilen herabließen, die ihr Vater an den Bäumen befestigt hatte.
Für die meisten Familien in Großbritannien war dies eine Zeit stetig wachsenden Wohlstands. Vor dem Krieg kaum vorstellbare Luxusartikel hielten Einzug in fast jedem Haus. So wurde auch bei den Jaggers ein Fernseher angeschafft, dessen kleiner Bildschirm ein bläuliches statt schwarzweißes Bild zeigte, und Mike und Chris konnten sich nun im Kinderprogramm Marionetten wie Muffin the Mule, Mr. Turnip und Sooty sowie die Verfilmungen von Frances Hodgson Burnetts Der geheime Garten oder Edith Nesbits Die Eisenbahnkinder ansehen. In den Sommerferien mieden sie Kents eher ungemütliche Urlaubsorte wie Margate oder Broadstairs, sondern reisten stattdessen nach Spanien oder Südfrankreich. Trotzdem wurden die beiden Jungs nicht verwöhnt. In seiner stillen Art legte Joe Wert auf Disziplin, und Eva war ähnlich konsequent, besonders wenn es um Sauberkeit ging. Schon von frühester Kindheit an hatten Mike und Chris Aufgaben im Haushalt zu erledigen, die wie im Stundenplan einer Schule festgelegt waren.
Mike erfüllte diese Pflichten ohne Murren. »Als Kind war er überhaupt nicht rebellisch«, erinnerte sich Joe später. »Zu Hause in der Familie war er wirklich brav und passte oft auf seinen kleinen Bruder auf.« Nur ein Schatten fiel in jenen Jahren auf Mikes Leben: Chris war offenbar der Liebling der Mutter, während er selbst von ihr nie das gleiche Maß an Aufmerksamkeit und Zuwendung zu bekommen schien. Die Folge war, dass er sich schwertat, anderen seine Zuneigung zu zeigen – ein Zug, der ihn sein Leben lang begleiten würde. Gegenüber Fremden verhielt er sich schüchtern und linkisch. Er kam fast um vor Scham, wenn Eva ihn nach vorn schob und anwies, »Guten Tag« zu sagen oder jemandem die Hand zu geben.
Im Jahr ihres Umzugs nach Wilmington legte Mike die »Eleven Plus«-Prüfung ab, mit der das britische Schulsystem seine Elfjährigen vorzeitig in Gewinner und Verlierer zu unterteilen pflegte. Die Klugen besuchten daraufhin Oberschulen, die häufig auf dem gleichen Niveau waren wie die teuren, exklusiven Privatschulen, die weniger Intelligenten die Mittelschule, und die Dummköpfe wurden auf Berufsfachschulen geschickt, wo man hoffte, ihnen wenigstens ein brauchbares Handwerk beibringen zu können. Bei Mike Jagger bestand keine Gefahr, dass er in einer der beiden letzten landete. Er bestand die Prüfung mühelos und besuchte ab September 1954 die Dartford Grammar School am West Hill.
Sein Vater freute sich außerordentlich. Die im 18. Jahrhundert gegründete Oberschule war die beste der Gegend, und sie bemühte sich um denselben Standard und pflegte dieselben Traditionen wie die Institute in Eton und Harrow, also Privatschulen, die andere Eltern eine Stange Geld kosteten. Sie hatte ein Wappen und ein lateinisches Motto – »Ora et labora« (»Bete und arbeite«) –, und ihre Lehrer trugen die schwarzen Talare der Gelehrten und gaben sich den Anstrich von »Magistern«. Am wichtigsten aber war für Joe, dass sie ebenso viel Wert auf Sport und körperliche Ertüchtigung legte wie auf akademische Leistungen. Zu ihren ehemaligen Schülern gehören Sir Henry Havelock, der an der Niederschlagung des Indienaufstands von 1857 beteiligt war, und der große Schriftsteller Thomas Hardy, der während seiner Zeit als Architekt an einem der Anbauten mitwirkte.
An der Dartford Grammar School zeichnete sich Mike allerdings nicht mehr durch so glänzende Leistungen aus wie während der Grundschulzeit. Aufgrund seiner Prüfungsergebnisse hatte man ihn als besonders vielversprechenden Schüler in den A-Zweig eingestuft, den man mit Examen in einem breiten Fächerspektrum abschloss, um nach zwei weiteren Schuljahren eventuell die Universität zu besuchen. Der Englischunterricht bereitete Mike keine Mühe, der Geschichtsunterricht begeisterte ihn (hauptsächlich wegen des inspirierenden Lehrers Walter Wilkinson), und in Französisch hatte er eine weit bessere Aussprache als die meisten seiner Mitschüler. Mathematik, Physik und Chemie aber langweilten ihn, und er gab sich in diesen Fächern wenig Mühe. In der Rangordnung der Klasse, die auf der Gesamtheit der Noten basierte, rangierte er meist in der Mitte. »Ich war weder ein Streber noch ein Schwachkopf«, erinnert er sich. »Ich lag immer im Mittelfeld.«
Ähnlich zwiespältig waren, trotz des umfassenden väterlichen Trainings, seine Leistungen im Sport. Im Sommer hatte er keine Schwierigkeiten, da man an der Dartford Grammar School das von ihm geliebte Kricket spielte, und dank Joes Betreuung glänzte er in Leichtathletik, besonders im Mittelstreckenlauf und Speerwerfen. Doch im Winter spielte man statt dem proletarischen Fußball das von der Oberschicht bevorzugte Rugby. Mike war ein schneller Läufer und ein guter Fänger, doch er hasste es, körperlich attackiert zu werden – was nämlich oft bedeutete, dass man mit dem Gesicht in den Schlamm fiel. Daher vermied er es nach Möglichkeit, einen Pass anzunehmen.
Der Rektor Ronald Loftus Hudson, ironisch mit dem Spitznamen »Lofty« (Gernegroß) tituliert, konnte trotz seiner geringen Körpergröße einen Haufen von Rüpeln zum Schweigen bringen, indem er eine Augenbraue hochzog. Unter seiner Leitung wurde eine Unzahl von kleinlichen Vorschriften zur Kleiderordnung und zum Verhalten erlassen. Besonders strenge Regeln galten für den Kontakt zu der in verlockender Nähe gelegenen Mädchenoberschule. Es war den Jungs verboten, mit den Schülerinnen zu sprechen, selbst wenn sie sich außerhalb der Schule, etwa an der Bushaltestelle, über den Weg liefen. Wie die meisten britischen Pädagogen jener Zeit griff auch der Rektor zu körperlicher Züchtigung, ohne durch Gesetze oder Proteste der Eltern daran gehindert zu werden – zwischen zwei und sechs Schlägen mit dem Turnschuh oder Stock aufs Hinterteil. »Man hatte draußen vor seinem Büro zu warten, bis das Lämpchen aufleuchtete, und dann musste man rein«, erinnerte sich Jagger später. »Die anderen lungerten alle an der Treppe herum, um zu sehen, wie viele Schläge es gab und wie schlimm es an diesem Morgen war.«
Sämtliche männlichen Lehrer verhängten Prügelstrafen vor der versammelten Klasse. Vielen schien es auch Vergnügen zu bereiten, Schüler ganz beiläufig zu züchtigen, was sie heutzutage vor Gericht bringen würde. Und wer Schwächen zeigte (wie der Englischlehrer, der »liebe, sanfte Mr. Brandon«), wurde von Jagger, dem Klassenclown, hinter seinem Rücken oder auch frontal aufgezogen und lächerlich gemacht. »Es gab Guerilla-Attacken an allen Fronten, zivilen Ungehorsam und unerklärten Krieg, [die Lehrer] bewarfen uns mit Tafelschwämmen, und wir warfen sie zurück«, erinnert er sich. »Es gab einige, die dich einfach niederschlugen. Sie gaben dir so heftige Ohrfeigen, dass du in die Knie gingst. Andere zogen dich am Ohr und schleiften dich hinter sich her, bis es glühte und brannte.« Daher ist die Zeile »I was schooled with a strap right across my back« aus »Jumpin’ Jack Flash« wohl nicht so weit hergeholt wie oft vermutet.
In The Close 23 wohnte ein Junge namens Alan Etherington, der im gleichen Alter war wie Mike und ebenfalls die Dartford Grammar School besuchte. Die beiden freundeten sich bald an, fuhren gemeinsam mit dem Fahrrad zur Schule und besuchten sich nachmittags zu Hause. »Zwischen uns war es ein running gag, dass Mike immer dann auftauchte, wenn er sich vor den Pflichten drücken wollte, die seine Eltern ihm aufgetragen hatten, wie Geschirrspülen oder Rasenmähen«, erinnert sich Etherington. Die gute Hausfrau Eva konnte einem schon ein wenig Angst einjagen, doch Joe gelang es trotz seiner »leisen Autorität«, eine Atmosphäre gesunder Lebensfreude herzustellen. Wenn Etherington vorbeikam, begann man oft ganz spontan auf dem Rasen mit einem Kricket- oder Schlagballmatch oder mit Hanteltraining. Ein besonderes Vergnügen war es, wenn Joe manchmal einen langen Speer aus dem Erwachsenensport mitbrachte. Dann ging er mit den Jungs zu einer Freifläche am Ende von The Close und ließ sie unter seiner Aufsicht ein paar Würfe üben.
Da sein Vater noch enge Verbindungen zur Welt der Lehrer hatte, konnte Mike nach der Schule nicht so gut abschalten wie andere Jungs. Joe kannte einige Lehrer aus dem Kollegium der Dartford Grammar School persönlich und behielt daher Mikes Leistungen und sein Betragen genau im Auge. Ebenso wenig konnte der Junge bei den Hausaufgaben mogeln. Später erinnerte er sich, morgens um sechs aufgestanden zu sein, um einen Aufsatz oder eine Übung fertig zu schreiben, weil er am Vorabend über seinen Büchern eingeschlafen war. In anderer Hinsicht waren Joes Verbindungen zur Schule allerdings auch von Vorteil. Der Sportlehrer Arthur Page, ein allseits geschätzter Kricketspieler, war ein Freund der Familie und widmete Mike besondere Aufmerksamkeit, wenn es um die Schlagtechnik ging. Und einer der Mathematiklehrer erteilte Joes Sohn Nachhilfe in dessen schwächstem Fach, obwohl es dabei nicht um seinen üblichen Stoff ging.
Schließlich begann Joe, selbst als Teilzeit-Lehrer an der Dartford Grammar School zu arbeiten, und kam jeden Dienstagabend, um mit den Schülern sein geliebtes Basketball zu trainieren. Dies war wenigstens ein Spiel, für das Mike und sein Vater die gleiche Begeisterung aufbrachten. Beim Basketball konnte man ohne Gefahr, in den Schlamm gestoßen zu werden, laufen, täuschen, fangen und werfen. Am besten aber war, dass Basketball auf Mike herrlich exotisch und amerikanisch wirkte, obwohl Joe immer wieder von der langen Geschichte dieses Sports in England erzählte. Seine berühmtesten Vertreter waren die schwarzen Spieler der Harlem Globetrotters mit ihrer phantastischen Ballkontrolle. Wenn das Publikum beim Einzug der Mannschaft »Sweet Georgia Brown« pfiff, bekamen Mike Jagger und unzählige andere britische Jungs eine erste Ahnung davon, was es heißt, »cool« zu sein. Er wurde Schriftführer des von Joe gegründeten Basketballvereins der Schule und versäumte keine einzige Sitzung. Während seine Freunde in ordinären Turnschuhen spielten, besaß er echte Basketballstiefel aus schwarz-weißem Segeltuch, die ihm nicht nur beim Spielen zugutekamen, sondern unter den Jugendlichen als umwerfend schick galten.
Ansonsten zog er unter den Schülern weder besondere Anerkennung noch besondere Ablehnung auf sich. Er stellte die Zustände nicht in Frage und nutzte seinen scharfen Verstand, um Problemen mit schwämmchenwerfenden, ohrenziehenden Lehrern aus dem Weg zu gehen, anstatt sie zu provozieren. Sein Schulfreund John Spinks meint, er sei »biegsam wie Gummi« gewesen. Er »ging geschmeidig jeder Schwierigkeit aus dem Weg«.
Nach den Maßstäben Mitte der 1950er Jahre galt er nicht als gutaussehend. Sexappeal war ein ausschließlich Filmstars zugeschriebenes Attribut, und deren männliche Vertreter waren groß, muskulös, hatten ein markantes Kinn und kurzgeschnittenes, glänzendes Haar – amerikanische Draufgängertypen wie John Wayne und Rock Hudson oder britische Offiziersdarsteller wie Jack Hawkins und Richard Todd. Mike war wie sein Vater eher ein Leichtgewicht und so mager, dass die Rippen hervortraten, wobei er nicht wie Joe zu früher Glatzenbildung neigte. Sein anfangs rötliches Haar war inzwischen haselnussbraun und entzog sich bereits damals allen Bändigungsversuchen.
Sein hervorstechendstes Merkmal war der Mund, der wie bei einem Bullterrier die gesamte untere Gesichtshälfte einzunehmen schien, so dass sein Grinsen tatsächlich von einem Ohr zum anderen reichte. Der Amorbogen war außergewöhnlich ausgeprägt, und das Lippenrot schien doppelt so oft mit der Zunge befeuchtet werden zu müssen wie bei anderen. Seine Mutter hatte gleichfalls ausgesprochen volle Lippen – die durch unentwegtes Reden geschmeidig blieben. Dennoch war Joe überzeugt, dass sie bei Mike von der Jaggerschen Familienseite stammten. Manchmal entschuldigte er sich scherzhaft dafür, sie ihm vererbt zu haben.
Als die Jungs in dieser Zeit in die Pubertät eintraten (ja, im England der 1950er geschah das so spät) und mit einem Schlag Kleidung, Aufmachung und die Wirkung aufs andere Geschlecht in den Mittelpunkt rückten, schien der kleine, magere Mike Jagger mit dem lockeren Mundwerk nur wenig zu bieten zu haben. Trotzdem bewirkte er bei den »verbotenen« Mädchen von der Grammar School häufiger Reaktionen wie Lächeln, Rotwerden, Kichern und Getuschel als seine Geschlechtsgenossen. »Fast seit Beginn unserer Bekanntschaft an war Mike ständig von einem Schwarm Mädchen umlagert«, erinnert sich Alan Etherington. »Eine ganze Reihe unserer Freunde sahen viel besser aus, aber sie hatten nicht annähernd so viel Erfolg wie er. Wo er auch war und was er tat, er wusste, irgendeine war immer für ihn da.«
Zur gleichen Zeit schlug ihm wegen seines markanten Aussehens, besonders wegen der Lippen, von manchen Männern eine undefinierbare Ablehnung entgegen, Klassenkameraden behandelten ihn mit Hohn und Spott, und ältere Jungs wurden manchmal sogar handgreiflich. Nicht, weil er als weibisch empfunden wurde – das verbot sich allein schon wegen seiner Leistungen auf dem Sportplatz –, sondern wegen weit schlimmerer Vorurteile. Jene Jahre waren noch geprägt vom Rassismus des 19. Jahrhunderts, weshalb selbst in den gebildetsten und liberalsten Kreisen Großbritanniens sogenannte »Rassenschranken« existierten. Für die Schüler der Oberschule wie für ihre Eltern konnten ausgeprägte Lippen nur auf eins hindeuten, und dafür gab es nur eine heute verpönte Bezeichnung, die damals gang und gäbe war.
Lange Zeit später räumte er in einem Augenblick seltener Offenheit ein, dass man ihn auf der Dartford Grammar School mehr als einmal mit dem Schimpfwort »Nigger« tituliert hatte. Es sollten noch viele Jahre vergehen, bis er das als schmeichelhaft empfand.
Tausende der in den 1950er Jahren in Großbritannien aufgewachsenen Männer – und nahezu alle, die die Popkultur der 1960er Jahre prägten – beschreiben die Entdeckung des amerikanischen Rock ’n’ Roll als einen Augenblick, der ihr Leben veränderte. Nicht so Mike Jagger. In dem rigiden Klassensystem des Englands der Nachkriegszeit ergriff das Rock-’n’-Roll-Fieber zunächst nur junge Leute aus den unteren Gesellschaftsschichten, die sogenannten »Teddyboys« und »Teddygirls«. In der Anfangsphase kam er bei Bürgerlichen und Adeligen überhaupt nicht gut an, und deren Sprösslinge betrachteten ihn fast ebenso angewidert wie ihre Eltern. Daher fand er im hierarchischen Bildungssystem seine begeisterten Fans vorwiegend in den Mittel- und Technikerschulen. An Oberschulen wie der Dartford Grammar School war er eher Anlass für abgehobene Debatten nach dem Motto »Ist der Rock ’n’ Roll ein Indiz für den moralischen Verfall des 20. Jahrhunderts?«.
Wie die Spanische Grippe vierzig Jahre zuvor kam der Rock ’n’ Roll in zwei Wellen, wobei die zweite unvergleichlich heftiger ausfiel als die erste. Im Jahr 1950 kletterte ein Song mit dem Titel »Rock Around the Clock« von Bill Haley & His Comets an die Spitze der verschlafenen britischen Charts und führte zu Tumulten in den Tanzhallen der Arbeiter. Die Kassandras in den Medien des Landes aber sahen darin nur eine weitere Modeerscheinung von der anderen Seite des Atlantiks, die sich nicht lange halten würde. Im Jahr darauf erschien Elvis Presley mit einer weit gefährlicheren Variante von Haleys schlichter Ausgelassenheit und verlieh der Musik eine deutliche sexuelle Note.
Als Oberschüler aus der Mittelschicht blieb Mike lediglich Beobachter des Medienwirbels um Elvis Presley – um die »Anzüglichkeit« seines Hüftschwungs und seine bebenden Beine beim Auftritt, die Haarlänge, die animalische Ausstrahlung und die hemmungslose Hysterie der jungen Mädchen im Publikum. Während in den Vereinigten Staaten Angst und Schrecken der Erwachsenen beinahe das gleiche Ausmaß erreichten wie die Kommunistenphobie, reagierten die Briten eher amüsiert und mit einer gewissen Arroganz: Es hieß, nur das schrille, hektische Land der Hollywoodfilme, der Chicagoer Gangster und der rummelplatzartigen Parteikongresse könne so etwas wie Presley hervorbringen. In der traditionsorientierten Heimat des Understatements, der Ironie und der Blasiertheit schien ein Unterhaltungskünstler mit auch nur ansatzweise ähnlicher Ausrichtung unvorstellbar.
Der Vorwurf gegen den Rock ’n’ Roll insgesamt, nicht nur gegen Elvis Presley, eine unverhüllte Sexualität auf die Bühne zu bringen, war schlichtweg absurd. Seine Musik ließ sich direkt vom Blues ableiten (der schwarzamerikanischen Kombination von Gesang und Gitarre) und der modernen, mit elektrischen Instrumenten gespielten schnelleren Variante Rhythm and Blues oder R&B. Der Blues hatte nie ein verklemmtes Verhältnis zum Sex gehabt, und »rock« und »roll« waren in vergangenen Jahrzehnten zwei Begriffe für körperliche Liebe gewesen und kamen schon von jeher in Liedzeilen oder Titeln (»Rock Me, Baby«, »Roll With Me, Henry«) von Songs vor, die ausschließlich in bestimmten Sendern der Schwarzen gespielt wurden. Presleys Gesangsstil und aufreizende Körperbewegungen gaben also nur wieder, was er in seiner Heimatstadt Memphis, Tennessee, auf der Bühne oder in den Tanzclubs bei den Schwarzen beobachtet hatte. Die meisten Hits des Rock ’n’ Roll waren von weißen Sängerinnen und Sängern gecoverte, von deftigen Anklängen befreite oder so in dicken Slang verpackte Versionen von R&B-Klassikern (»I’m like a one-eyed cat peepin’ in a seafood store«), dass niemand die Herkunft erkannte. Doch selbst derart gereinigte Versionen bedeuteten einen Affront gegen Anstand und Sitte, der Folgen haben konnte. Als der weiße gottesfürchtige Pat Boone Fats Dominos »Ain’t That A Shame« sang, warf man ihm vor, er verbreite eine vulgäre »schwarze Sprache«, die andere infizieren könnte.
Für einen Schüler der Dartford Grammar School wie Mike Jagger war eher der Jazz angesagt, besonders die moderne Variante mit ihren melodischen Komplexitäten, dem gedämpften Klang und dem Touch von Intellektualität. Aber im Schulalltag spielte auch der Jazz kaum eine Rolle. Hier gab es nur überlieferte Weisen wie »Early One Morning« oder »Sweet Lass of Richmond Hill«, die in der Morgenandacht gesungen wurden. »Generell hielt man Musik nicht für wichtig«, erinnert er sich. »Einige Lehrer hörten widerstrebend Jazz, aber das konnten sie nicht zugeben … Jazz war intelligent und wurde von Musikern gespielt, die Brillen trugen, deshalb mussten wir alle so tun, als würden wir Dave Brubeck mögen. Auf Jazz zu stehen war cool, auf Rock ’n’ Roll dagegen gar nicht.«
Diese soziale Kluft überbrückte der Skiffle, eine kurzlebige Modeerscheinung, von der ausschließlich Großbritannien ergriffen wurde. Kurze Zeit machte er dem Rock ’n’ Roll Konkurrenz und schien ihn sogar zu überflügeln. Skiffle war ursprünglich eine Variante der (vorwiegend weißen) amerikanischen Folkmusik und während der Depression in den 1930er Jahren entstanden, stützte sich in seiner neuen Form jedoch auch auf die Bluesgrößen jener Zeit, vor allem auf Huddie »Leadbelly« Ledbetter. Dessen zumeist von Maisfeldern und der Eisenbahn handelnde Songs wie »New Island Line«, »Midnight Special« und »Bring Me Little Water, Sylvie« hatten den treibenden Beat und die Hormone stimulierenden Akkordfolgen des Rock ’n’ Roll, aber weder dessen sexuelle Anklänge noch die Kraft, die Arbeiter zu Tumulten anzustacheln. Vor allem aber war der Skiffle ein Ableger des Jazz, ausgegraben und als letzter Schrei präsentiert von rückwärts orientierten Trad-Jazz-Bandleadern wie Ken Colyer und Chris Barber. Sein größter Star Tony Donegan, einstmals Chris Barbers Banjospieler, hatte seinen Vornamen zu Ehren des Bluesmusikers Lonnie Johnson in Lonnie umgeändert.
Der britische Skiffle hatte einen weit größeren Einfluss, als man aufgrund seiner kaum zweijährigen kommerziell erfolgreichen Lebensspanne vermuten würde. Da sich die armen weißen Amerikaner, die ihn ursprünglich spielten, oft keine regulären Musikinstrumente leisten konnten, griffen sie zu Küchenutensilien wie Waschbrett, Löffel, Mülleimerdeckel und ergänzten sie durch Kazoo, Kamm und hin und wieder eine Gitarre. Nach dem Erfolg von Lonnie Donegan schlossen sich in ganz Großbritannien Jugendliche zu »Skiffle-Gruppen« zusammen und klapperten und klampften auf selbstgemachten Instrumenten (die man in Donegans Besetzung vergeblich suchte). So erlebte die Hausmusik, seit ihrer viktorianischen Blütezeit im Niedergang begriffen, eine stürmische Wiedergeburt. Zugeknöpfte Jungs, die vorher durch keinerlei musikalisches Talent aufgefallen waren, stellten sich tapfer ihrem Publikum aus Angehörigen und Freunden, um ausgelassen zu singen und zu spielen. Die Gitarre wurde bei jungen Männern über Nacht von einem unattraktiven Schlaginstrument im Hintergrund zu einem Objekt der Ehrfurcht und Begierde, oft noch heißer geliebt als der Fußball. Vor den Musikalienhandlungen bildeten sich derart lange Schlangen, dass man sich an die noch gar nicht so fernen Mangeljahre des Krieges erinnert fühlte und der Daily Mirror von einem nationalen Gitarrenengpass berichtete.
Hier war Mike Jagger seiner Zeit voraus. Er besaß bereits eine Gitarre, ein rundbäuchiges Akustikinstrument, das ihm seine Eltern auf einem Familienurlaub in Spanien gekauft hatten. Ein Ferienfoto zeigt ihn mit einem ausgebeulten Strohhut, den Gitarrenhals im Flamencostil haltend und den Mund geformt, als würde er spanisch singen. Das Instrument hätte ihm den Zugang zu jeder in und um Wilmington entstandenen Skiffle-Gruppe ermöglicht. Doch selbst das Erlernen der einfachen Akkorde, aus denen sich die meisten Skiffle-Nummern zusammensetzen, war ihm zu mühsam. Er war auch nicht so uncool, an einem mit einer einzelnen Saite bespannten »Teekisten-Bass« zu zupfen oder ein Waschbrett zu kitzeln. Stattdessen nutzte er seine Erfahrung als Organisator von Basketballspielen und gründete den Schallplattenclub der Schule. Aber die Treffen fanden während der Mittagspause in einem der Klassenräume statt, weshalb sie offenbar wie eine zusätzliche Unterrichtsstunde wirkten. »Wir hockten da … und der Lehrer hinter dem Pult runzelte die Stirn, wenn wir Lonnie Donegan hörten«, berichtete er später.