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Nur der flackernde Schein einer einzelnen Kerze, von einer zitternden Hand gehalten, erhellte die Sakristei der Kirche von Lauder.
Wenn der Pfarrer sie erwischte, dann gnade ihnen Gott! Der Zorn Reverend Bulls war berüchtigt und alles andere als heilig. Er würde vielmehr über sie kommen, als hätten sich die Pforten der Hölle aufgetan.
"Da!", sagte die Stimme hinter der Kerze. "Das ist es."
Ein Finger zeigte nach oben ins Regal.
Eine andere Hand griff hinauf und zog das bezeichnete Buch zwischen zwei anderen hervor. Staub rieselte herab, kitzelte ihrer aller Nasen, und einer musste niesen.
Schlagartig herrschte erschrockene Stille. Ein hastiges Pusten, die Kerzenflamme erlosch, und Dunkelheit stülpte sich über ihre Köpfe wie ein schwarzer Sack.
Atemlos lauschten sie. Hatte Reverend Bull sie gehört?
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Seitenzahl: 166
Cover
Impressum
Ihr Kinderlein kommet …
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Wuerz
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-5842-1
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Ihr Kinderlein kommet …
von Timothy Stahl
Nur der flackernde Schein einer einzelnen Kerze, von einer zitternden Hand gehalten, erhellte die Sakristei der Kirche von Lauder.
Wenn der Pfarrer sie erwischte, dann gnade ihnen Gott! Der Zorn Reverend Bulls war berüchtigt und alles andere als heilig. Er würde vielmehr über sie kommen, als hätten sich die Pforten der Hölle aufgetan.
»Da!«, sagte die Stimme hinter der Kerze. »Das ist es.«
Ein Finger, sein Schatten an der Wand ins Riesenhafte vergrößert und verzerrt, zeigte nach oben ins Regal.
Eine andere Hand griff hinauf und zog das bezeichnete Buch zwischen zwei anderen hervor. Staub rieselte herab, kitzelte ihrer aller Nasen, und einer musste niesen.
Schlagartig herrschte erschrockene Stille. Ein hastiges Pusten aus gespitzten Lippen, die Kerzenflamme erlosch, und Dunkelheit stülpte sich über ihre Köpfe wie ein schwarzer Sack.
Atemlos lauschten sie. Hatte Reverend Bull sie gehört?
Die Stille währte, bis der Erste von ihnen die Luft nicht länger anhalten konnte. Ob niemand sie gehört hatte, ließ sich nicht sagen. Aber es war wenigstens keiner gekommen, um in der kleinen Sakristei, die sich hinter dem Altar an die Kirche anschloss, nach dem Rechten zu sehen.
Stumm gaben sie im vagen Zwielicht, das durchs Fenster hereinsickerte, einander Zeichen, sich zur Tür hinaus in die Kirche zu wagen. Dort brannten ein paar rußende Kerzen, die allerdings mehr Schatten als Licht schufen.
Zu hören war allerdings nichts. Und wäre der Reverend in seiner Kirche gewesen, hätte er sich schon bemerkbar gemacht, wenn er Grund gehabt hätte zu der Annahme, dass jemand darin herumschlich, womöglich um zu stehlen. Nur gab es in der schlichten Kirche eigentlich nichts zu klauen. Jedenfalls nichts von solchem Wert, dass es sich gelohnt hätte, dafür Reverend Bulls Zorn auf sich zu ziehen. Was ungefähr der Dummheit gleichgekommen wäre, sich bei Gewitter unter einen Baum zu stellen.
Leise, wie Mäuse, trippelten sie durchs Kirchenschiff und wischten, als wären sie selbst nur Schatten, vorbei an den verwaisten Holzbänken, bis nach vorne zum Portal. Der Erste zog es vorsichtig einen Spaltbreit auf, gerade genug, um mit einem Auge nach draußen spähen zu können.
Denn es galt nicht nur, vor Reverend Bull auf der Hut zu sein. Es gab da auch noch den alten Session Clerk, den Küster also, Ron McGuffey, der angeblich schlecht schlief und nachts oft durch die Kirche und draußen über den Friedhof schlich.
Kalte Luft wehte durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen herein und ließ das Auge, das hinauslugte, tränen und seinen Blick verschwimmen. Das Lid blinzelte die Träne weg, sie trat aus dem Augenwinkel und rollte warm und rasch erkaltend über die Wange, schimmernd wie eine Perle.
»Siehst du was?«, raunte es von hinten aus dem Dunkel der Kirche ungeduldig.
»Nein, nichts.«
Schnee rieselte aus der Nacht herab. Eine dünne Decke hatte sich vor dem Eingang auf das Pflaster gelegt und ringsum über den ganzen Friedhof, der die Kirche umgab wie ein schützender Ring. Wehrhaften Schilden gleich ragten die Grabsteine auf, als duckten sich Krieger dahinter. Das Weiß des Schnees auf dem Boden war unberührt. Keine Spur zeichnete sich darin ab, nicht einmal die eines Hasen.
»Da ist niemand«, wiederholte der Späher mit festerer Stimme überzeugt. »Kommt.«
Er zog die schwere Tür noch ein wenig weiter auf, damit sie aus der Sakristei hinausschlüpfen konnten – mit ihrer Beute, die sie ja nicht stehlen wollten, sondern nur ausgeliehen hatten.
Lautlos wie Katzen huschten sie über den jungfräulichen Schnee. In einer Reihe hintereinander, so hinterließen sie nur eine gemeinsame Spur, als schnürte ein Fuchs durch den Friedhof. Mit ihren Mänteln und Kapuzen hätten sie für einen heimlichen Beobachter ausgesehen wie Mönche auf dem Weg zum mitternächtlichen Stundengebet.
Beten wollten sie allerdings nicht. Bitten aber schon …
In einer dunklen und windgeschützten Ecke der Friedhofsmauer ließen sie sich nieder und zündeten den Kerzenstumpf mit einem Schwefelholz wieder an. Mit hohler Hand wurde die Flamme zusätzlich abgeschirmt. Trotzdem musste sie mühsam ums Überleben ringen.
In ihrem wabernden Schein wurde das geborgte Buch aufgeschlagen.
»Ein lateinisches Wörterbuch – wozu eigentlich?«, fragte einer.
»Weil jede Beschwörung, die Erfolg haben will, auf Lateinisch abgehalten werden muss«, antwortete jemand anders, der zugleich ein Stück Papier hervorholte und auseinanderfaltete.
Dann wurde der krakelige Text, der darauf stand, vorgelesen, und ein anderer musste die lateinischen Entsprechungen aus dem Wörterbuch heraussuchen, die man dann mit einem Bleistiftstummel aufschrieb.
»Wir hoffen und wünschen, dass unser besonderer Wunsch dich erreicht …«
Atemwolken dampften in der Nacht. Der Wind trug das Flüstern fort. Es wurde raschelnd im Buch geblättert.
»Wir hoffen, unser Bitten zieht dich an wie eine Flamme die Motte …«
»Langsam, langsam«, schnaufte derjenige, der im Wörterbuch suchen musste, und ein anderer notierte eifrig, was Ersterer fand.
»Und wir hoffen, dass wir dich auf deinem Weg nicht versäumen …«
Es dauerte eine ganze Weile, bis sie fertig waren. Dann wurde das dicke Wörterbuch zugeschlagen. Ein Geräusch, als hätte jemand in die Hände geklatscht, entstand dabei und hallte über den Gottesacker, als sollten die Toten geweckt werden und aufstehen.
»Und die Beschwörung muss unbedingt hier auf dem Friedhof stattfinden?«, fragte nun eine bang klingende Stimme. »Warum denn nur? Könnten wir nicht stattdessen …«
»Nein, könnten wir nicht. Es muss hier sein«, ertönte die bestimmte Antwort. »Auf einem Friedhof sind die Wände zwischen den Welten am dünnsten und die Wege am kürzesten, das weiß man doch. Und so dringt auch unser Ruf von hieraus am ehesten hinüber, wenn unsere Hoffnung stark genug ist, ihn zu tragen.«
»Meine Angst wäre jedenfalls stark genug«, gab jemand zu.
»Die hilft uns nicht«, hieß es unwirsch. »Wünschen musst du dir, dass er uns hört und zu uns kommt. Ganz fest.«
»Na schön, ich versuch’s.«
Ein Taschenmesser wurde hervorgekramt und aufgeklappt.
»Ritzt euch einen Finger«, lautete die nächste Anweisung, und das Messer wurde im Kreis herumgereicht.
»Wozu das Blut?«, wollte einer wissen.
»Um die Tür zum Jenseits zu schmieren.«
Dunkle Tropfen fielen in den Schnee, auf einen Fleck. Das warme Blut schmolz sich hinein, bis zum Erdboden darunter.
Dann die Formel, in Latein.
»Nos sperare …«, so fing die krude Übersetzung der beschwörenden Worte an.
Einer las vor, die anderen sprachen nach.
Die Worte wisperten mit der Stimme des Windes durch die Nacht. Und das Blut tropfte, bis es vorbei war. Dann wurden die verletzten Finger in den Mund gesteckt, bis sie aufhörten zu bluten.
»Was jetzt?«, fragten sich alle bis auf eine.
Und die eine sagte: »Hört nicht auf zu hoffen. Auch wenn ihr daheim seid. Hofft die ganze Nacht hindurch, dass unser Ruf ihn erreicht und er zu uns kommt. Wie wir es uns wünschen.«
Und während sie wieder zur Kirche hinaufschlichen, um das Buch zurückzubringen, ehe sein Fehlen am nächsten Morgen auffallen konnte, erhob sich hinter ihnen eine dunkle Gestalt aus den Schatten, die sich in einem anderen Winkel der Friedhofsmauer ballten wie Tiere, die sich vor der Nacht und Kälte Schutz suchend aneinanderdrängten.
Die Gestalt sah ihnen nach und flüsterte mit einer Stimme so tief, als käme sie aus einem Grab: »Den Wunsch will ich euch gern erfüllen.«
Ein leises Lachen folgte.
»Soll mir eine ebenso große Freude sein wie euch.«
Die Gestalt wandte sich um und stapfte davon, mit schweren, aber doch eiligen Schritten. Denn es gab viel zu tun, wenn alles so geschehen sollte!
Und dann kam doch alles ganz anders im schottischen Lauder, vor langer, sehr langer Zeit …
***
Ein paar Nächte später …
»Das war’s«, sagte der alte Mann und stellte das letzte Stück ins Regal. Die Hände in die Hüften gestemmt, ließ er den Blick dann über die Arbeiten wandern, die sich vor ihm nebeneinander reihten.
Jedes Teil war ein kleines Meisterwerk, keines wie das andere, alle von Hand gefertigt und im wörtlichen Sinn speziell gemacht. Kaum zu glauben, dass er und seine Frau das alles allein geschafft haben sollten in den vergangenen paar Nächten.
Ein Lächeln huschte über das faltenreiche Gesicht des Mannes – in der Tat hatte er in diesen Nächten mitunter das Gefühl gehabt, ihnen würde von heimlichen Helfern unter die Arme gegriffen, so schnell und gut war ihnen alles von der Hand gegangen.
Aber es war außer ihnen niemand da gewesen – oder jedenfalls nicht zu sehen …
Seine Frau hatte sich bereits schlafen gelegt, er war noch im Schuppen geblieben, weil er schlecht schlief und auch nur wenig Schlaf brauchte. So hatte er nun Zeit gehabt, um die schönen Stücke alle noch einmal zu säubern und zu polieren, bevor es dann bald ans Verteilen ging in einer der kommenden Nächte.
Er fröstelte, und das nicht nur, weil die Kälte des Winters durch die Ritzen in den Holzwänden des Schuppens hereindrang und das Feuer in dem kleinen Kanonenofen im Eck längst erloschen war. Demnach musste einige Zeit vergangen sein, denn als seine Frau ins Haus hinübergegangen war, da hatte er noch ein Scheit Holz in das Öfchen geworfen, und jetzt gloste kaum noch Glut darin. Also, seltsam war das alles schon …
So sauber, als wären sie frisch bemalt und noch feucht, schimmerten die Sachen im wabernden Schein zweier Petroleumlampen, der den Schuppen, der auch als Werkstatt eingerichtet war, erfüllte.
Vorsichtig fasste er nach dem einen oder anderen der Stücke im Regal und rückte sie hier und da ein wenig näher zueinander hin, dann legte er Tücher darüber, damit niemand, der zufällig hereinkam, sie sah. Aber es kam kaum einmal jemand in diesen Schuppen außer ihm und seiner Frau. Er gehörte ihnen zwar nicht, aber alles, was darin stand, benutzten nur sie, weil es ihrer Arbeit diente. Und die Werkzeuge waren so alt, dass niemand ein Interesse daran haben würde, sie zu stehlen. Ganz abgesehen davon, dass im Ort nicht gestohlen wurde. In Lauder lebten nur ehrliche und ehrbare Leute.
Dann hatte er es eilig, aus dem Schuppen zu kommen. In den Nächten zuvor war das mysteriöse Gefühl, jemand wäre unsichtbar bei ihnen, stets vergangen, wenn die Arbeit für die Nacht getan war – heute hingegen blieb ihm dieses Gefühl, als klebte es wie nasses, kaltes Laub auf seinem Rücken, genau zwischen den Schultern.
Er drehte die Dochte der Lampen herunter, bis sie erloschen, und fragte sich: Warum wich dieses Gefühl, nicht allein zu sein, gerade heute nicht von ihm? Wo heute doch alles vorbei, die Arbeit zur Gänze erledigt und nichts mehr zu tun war – außer die Sachen in Bälde zu verteilen?
Eben darum!, glaubte er ein Flüstern zu hören, nicht einfach nur dicht an seinem Ohr, sondern förmlich darin.
Er hatte sich schon zur Tür gewandt, hielt nun aber inne. War da etwa wirklich jemand mit ihm hier und hatte ihm ins Ohr geflüstert? Er sah nichts, hatte die Petroleumlampen ja schon gelöscht. Das Glutpünktchen an der Spitze des Dochts der einen Lampe verglomm gerade, als hätte sich ein schwarzes Lid über einem winzigen roten Auge geschlossen.
Und im selben Zug wurde ihm die Stille bewusst. Nur ein leises Ticken war zu hören. Die Uhr, die er in seiner Hosentasche bei sich trug. Sekunden verstrichen. Tick-tack. Nichts rührte sich. Ganz vage drang ein heller Schimmer hier und da durch eine der Ritzen in der Bretterwand. Nun sah er wieder die Hand vor Augen, die sich an das bisschen Helligkeit gewöhnt hatten, ging zur Tür – und stolperte doch über irgendetwas auf dem unebenen Boden aus festgestampfter Erde.
Oder hatte ihm etwa jemand ein Bein gestellt …?
Er fing sich, verscheuchte alle Ideen, die ihm weismachen wollten, er wäre nicht mehr allein, fand im Dunkeln Halt an der Kante der zerschrammten Werkbank und tastete sich daran entlang. An der Ecke angekommen, konnte er mit der anderen Hand die Schuppentür erreichen. Man musste sie etwas anheben, um sie zu öffnen. Es fiel ihm schwer, weil ihm Hände und Arme zitterten.
»Herrje …«
Was war bloß los mit ihm?
Etwas weniger mühsam, weil er sich nun, als tue ihm die frische Luft gut, eine Spur ruhiger fühlte, stemmte und schob er die Tür wieder zu. Verriegeln war nicht nötig, von selbst ging diese Tür nicht auf.
Ringsum ließ das Licht des Halbmonds die Schneedecke über dem Boden weiß leuchten. Der Winter war früh gekommen in diesem Jahr, schon im November hatte es zu schneien begonnen. Den Farmern in der Gegend zufolge würde er auch lange bleiben, und dem Geruch in der Nachtluft nach zu schließen, würde es noch vor Tagesbeginn neuen Schnee geben, auch wenn der Himmel sich jetzt – er zückte seine Taschenuhr, ließ den Deckel aufspringen und warf einen Blick aufs Zifferblatt – um kurz nach Mitternacht wolkenlos und reich bestirnt zeigte.
Er wollte die Uhr wieder einstecken, aber sie entglitt seinen doch immer noch zittrigen Fingern und drohte in den Schnee zu fallen. Das wäre dem guten alten Stück, immerhin seit zwei Generationen im Besitz der Familie, möglicherweise nicht bekommen!
Er senkte erschrocken den Blick, grapschte nach der golden schimmernden Uhr und bekam sie eben noch zu fassen. Gerade steckte er sie aufatmend in die Tasche, da nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr.
Er hob den Kopf und sah zum Haus hin, das sich dunkel und klein – aber groß genug für zwei – in dem Schatten duckte, den die hohen Bäume ringsum im Mondschein warfen. Er erwartete, seine Frau zu sehen, die vom Haus herüberkam, um ihn zu holen, weil es schon so spät war.
Und sein Blick wurde auch fündig.
Nur war es nicht seine Frau Brenda, die er sah. Es war überhaupt niemand, den er kannte. Sondern …
»Herrje!«, entfuhr es ihm bei dem Anblick gleich noch einmal.
Eine furchtbare Ahnung, wer oder vielmehr was ihm da gegenübertrat, stieg in ihm auf. Nur war das doch eigentlich unmöglich …
Ein Mensch war es jedenfalls nicht.
Dennoch war es eine Hand, die auf ihn zeigte. Wie der Rest des Dings scheinbar aus Nebel gemacht und wie von einer Haut aus fahlem Licht in ganz grob menschlicher Form gehalten: Ein Kopf, zwei Beine, zwei Arme …
Ein Geist.
Ein Geist, der übelwollte.
Und von der Sorte gab es nur einen hier …
Der ausgestreckte Zeigefinger der nebelhaften Hand wies auf seine Brust, dorthin, wo unter der Haut das Herz schlug.
Und wie es jetzt schlug! Schmerzhaft und schnell, einem Hammer gleich, der den Brustkorb zu zerschlagen versuchte.
Die Geisterhand griff durch die Haut und in die Brust zum Herz hinein und legte sich darum, mit mehr als nur fünf Fingern und jeder einzelne so kalt, dass das Herz auf der Stelle gefror. Es erstarrte und brachte keinen Schlag mehr zustande, so wie eine zugedrückte Kehle keinen Atemzug mehr schaffte.
Der alte Mann fasste sich mit seiner eigenen Hand an die Brust. Wie um die andere wegzureißen. Doch die war schon nicht mehr da – oder wenigstens nicht mehr zu sehen …
Seine Finger krallten sich in den groben Stoff der Arbeitsschürze, die er über seiner Kleidung trug, als könnten sie wie zuvor die Nebelhand auch in die Brust hineingreifen, um das Herz darin mit kräftigem Druck und der Kraft des Wunsches, unbedingt am Leben zu bleiben, zum Weiterschlagen zu bewegen.
Aber das war nun wirklich unmöglich.
Im Sterben sah er jetzt doch noch seine Frau, die eigentlich kam, um ihn ins Bett zu holen, stattdessen aber, als sie erkannte, wie es um ihn stand, auf ihn zu rannte, in die Knie ging und …
Ob sie ihn berührte, spürte er schon nicht mehr.
Er wollte ihr noch etwas sagen, aber ob es ihm gelang, wusste er nicht. Er jedenfalls hörte seine eigene Stimme nicht mehr.
Nebel schloss sich um ihn, als würde er nun ganz und gar von jener gespenstischen Hand umfasst, die gerade sein Herz zum Stillstand gebracht hatte. Und wie ein verirrter Wanderer geisterte der alte Mann durch diesen Nebel und vergaß, wer er war …
***
Viel, viel später …
Es war fast wieder wie früher.
Sheila war wieder bei uns. Auferstanden von den Toten, und das richtig, ohne Pferdefuß. Die Frau meines alten Freundes Bill Conolly war wirklich wieder da und ganz sie selbst. Hätte es daran noch Zweifel gegeben, wären sie mit dieser Weihnachtsfeier im Bungalow der Conollys und allem, was die Dame des Hauses dazu aufgefahren hatte, ausgeräumt gewesen.
Der Duft, der das Haus erfüllte, als ich eintrat, ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Ich freu mich so, meine Liebe«, begrüßte ich Sheila, als diese uns an der Haustür empfing und Bill uns die Mäntel abnahm.
Dicke weiße Flocken hatten sich auf dem kurzen Weg vom Auto zum Eingang darauf abgesetzt. Das Wetter war wunderbar weihnachtlich, wie aus dem Bilderbuch – der Mittagshimmel hing voller wattiger Wolken, zwischen denen ab und zu die Sonne hervorlinste, es schneite gerade so viel, dass man sich daran erfreuen konnte, statt sich darüber ärgern zu müssen, und es war kalt genug, dass man zwar froh war, vors warme Kaminfeuer zu kommen, aber nicht ins Haus flüchtete.
Ich küsste Sheila auf beide Wangen, und dann umarmte ich meinen guten alten Bill, den ich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr so hatte strahlen sehen.
Wir lösten uns voneinander, schlugen uns noch einmal auf die Schulter und blinzelten beide ein Tränchen weg.
»Wie schaffst du das nur?«, wunderte sich neben uns Glenda Perkins, die unterdessen Sheila begrüßt hatte.
»Was meinst du?«, fragte Sheila und nahm mit einem leisen Dankeschön die Flasche Champagner entgegen, die Glenda und ich mitgebracht hatten, um uns für die Einladung zu revanchieren.
»Na, wie ich dich kenne, stehst du mindestens seit gestern in der Küche, und trotzdem siehst du aus wie aus dem Ei gepellt«, meinte Glenda und zwinkerte unserer Freundin zu.
»Das liegt alles an meiner liebevollen Pflege«, behauptete Bill und nahm seine Frau in den Arm, und ich verkniff mir einen Kommentar.
In der Tat konnte ich mir nur zu gut vorstellen, dass Bill und Sheila immer noch auf jede nur denkbare Weise Wiedersehen feierten. Ein Wiedersehen, mit dem niemand gerechnet hatte. Denn der Tod war auch in unserer Welt, in der kaum etwas unmöglich war, eine Größe, die eigentlich unverrückbar feststand. In diesem Fall hatten die Mächte des Schicksals eine Ausnahme gemacht.
»Kommt«, sagte Bill, »gehen wir zu den anderen.«
»Sind denn schon alle da?«, fragte ich.
Sein Lächeln verblasste ein wenig, als schöbe sich an einem schönen Tag eine dunkle Wolke vor die Sonne, und ich hätte mich in den Hintern beißen mögen für meine unbedachte Äußerung.
»Alle werden ja nicht kommen«, erwiderte Bill, drückte mir aber die Schulter, eine Geste, die bedeutete: Mach dir nichts draus, Alter, du hast nichts Falsches gesagt.
Ja, er hatte recht. Man konnte einfach nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, bevor man es aussprach. Eine gewisse Normalität und Unbefangenheit mussten wir uns bewahren. Auch unter den gegebenen Umständen – denn komplett war die Familie Conolly auch nach Sheilas Rückkehr nicht wieder.
Der Sohn meiner Freunde, mein Patenkind Johnny, fehlte unverändert. Der Junge war sehr wahrscheinlich in einer fremden Dimension verschollen, in der wir ihn nicht aufspüren konnten und aus der ihm eine Rückkehr zu uns unmöglich zu sein schien. Andernfalls wäre er ja sicher zurückgekommen …
»Ich weiß, dass es ihm gut geht, John«, sagte Bill ein paar Minuten später, als wir miteinander am Kamin standen, beide ein Glas Whisky in der Hand, ein besonders feiner Tropfen, den mein Freund nur zu besonderen Anlässen ausschenkte.
Wir sahen uns an, und ich las eine Überzeugung in Bills Augen, die ansteckend wirkte.
Und so nickte ich. »Ja, ich glaube, du hast recht.«
Bill hob sein Glas. »Auf Johnny – wo immer er auch steckt.«
Ich stieß mit ihm an. »Auf Johnny.«