John Sinclair 2102 - Timothy Stahl - E-Book

John Sinclair 2102 E-Book

Timothy Stahl

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Beschreibung

"Geschafft!"
Jane Collins ließ sich in einen der gemütlichen alten Sessel mit den hohen Lehnen fallen, sah sich um und nickte zufrieden.
Gerade hatte sie letzte Hand angelegt, und jetzt war ihr Wohnzimmer - wie auch der Rest des Hauses, drinnen und draußen - für Halloween geschmückt. So aufwendig wie lange nicht mehr!

Ehrlich gesagt war das alte Häuschen in Mayfair seit dem Tod von Lady Sarah Goldwyn nicht mehr dermaßen dekoriert gewesen. Für die Horror-Oma, der es gar nicht gruselig genug sein konnte, war Halloween immer einer der schönsten Feiertage des Jahres gewesen!

Jane Collins seufzte. Eine Begeisterung, die sie nicht unbedingt geteilt hatte, so gerne sie auch mit der alten Dame zusammengewohnt hatte. Aber ihr selbst war der Horror, den ihr das tägliche Leben bescherte, immer mehr als genug gewesen. Und gerade Halloween, der 31. Oktober, war für sie mit besonders unliebsamen Erinnerungen verbunden.
Da brauchte sie nur an den lächelnden Henker zu denken ...

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Seitenzahl: 166

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Inhalt

Cover

Impressum

Der Henker kam an Halloween

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Dino Osmic; Romolo Tavani/shutterstock

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-7114-7

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Der Henker kam an Halloween

von Timothy Stahl

»Geschafft!«

Jane Collins ließ sich in einen der gemütlichen alten Sessel mit den hohen Lehnen fallen, sah sich um und nickte zufrieden.

Gerade hatte sie letzte Hand angelegt, und jetzt war ihr Wohnzimmer – wie auch der Rest des Hauses, drinnen und draußen – für Halloween geschmückt. So aufwendig wie lange nicht mehr!

Ehrlich gesagt war das alte Häuschen in Mayfair seit dem Tod von Lady Sarah Goldwyn nicht mehr dermaßen dekoriert gewesen. Für die Horror-Oma, der es gar nicht gruselig genug sein konnte, war Halloween immer einer der schönsten Feiertage des Jahres gewesen!

Jane Collins seufzte. Eine Begeisterung, die sie nicht unbedingt geteilt hatte, so gerne sie auch mit der alten Dame zusammengewohnt hatte. Aber ihr selbst war der Horror, den ihr das tägliche Leben bescherte, immer mehr als genug gewesen. Und gerade Halloween, der 31. Oktober, war für sie mit besonders unliebsamen Erinnerungen verbunden.

Da brauchte sie nur an den lächelnden Henker zu denken …

»Sag mal, spürst du das auch?«, fragte Ella McTaggart.

Das Mädchen fröstelte, obwohl es warm angezogen war. Noch …

Ella wusste, warum Harry Lundqvist mit ihr hier heraufgefahren war. Nicht nur, weil er, der neu im Viertel war, das berüchtigte Haus auf dem Hügel vor der Stadt mit eigenen Augen sehen und, wie er sagte, »mit allen Sinnen erfahren« wollte – Harry konnte so poetisch sein, ach, so romantisch! –, nein, er hatte schon noch etwas anderes vor. In erster Linie sogar hatte er etwas anderes im Sinn. Mit ihr.

Natürlich wusste Ella das. Sie wollte es ja auch! Sonst wäre sie bestimmt nicht mit ihm gegangen – ausgerechnet hierher … und ausgerechnet heute, an Halloween.

Harry legte einen Arm um Ella und zog sie an sich, ganz sanft. Sofort wurde ihr warm. Beinahe heiß. Trotzdem, die Gänsehaut auf ihren Armen blieb. Sie kroch sogar weiter, als liefe unter der Kleidung kaltes Wasser über ihre Haut. Ihre Schultern, ihren Nacken, den Rücken hinunter und vorne über ihre Brüste. Das tat fast weh. Und sie wusste, woran es lag, natürlich wusste sie das – an diesem verfluchten Haus.

Wie ein aus einer anderen Welt gestürzter schwarzer Klotz ragte es mit seinen verkohlten Wänden vor ihnen auf. Mit seinen leeren, scheinbar endlos tief ins Dunkle reichenden Fenstern. Mit den Türmchen und Erkern, die auf seinem Dach zu wuchern schienen wie Hörner und Geschwüre auf dem Schädel eines Monsters.

Der bloße Anblick des alten Ainsworth-Hauses war wie Öl ins Feuer ihrer Fantasie. Trotzdem konnte Ella die Augen nicht abwenden, Nicht einmal die Lider schließen. Und der Gedanke, da hineinzugehen, um mit Harry zu … Dabei wurde ihr jetzt beinahe schlecht.

»Spüren?«, fragte er und zog sie noch ein wenig fester an sich. Sie roch das Leder seiner dunklen Jacke, deren Kragen er hochgestellt hatte. »Was spürst du denn?«

Sie hob voller Unbehagen die Schultern. Er schien zu meinen, sie versuche sich aus seiner Umarmung zu befreien, und ließ sie los. Rasch griff sie nach seiner Hand und sagte: »Ich weiß nicht …«

»Hast du Angst?«, fragte Harry und drückte ihre Hand.

Sie sagte nichts.

»Komm, lass uns mal reingehen.«

Er setzte sich in Bewegung, auf die Veranda zu, die im Schatten der schief hängenden Überdachung lag und bevölkert zu sein schien von dunklen, reglos dastehenden Gestalten, die auf arglose Besucher lauerten.

Ella hatte Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Harry musste sie beinahe mit sich ziehen.

»Ich bin doch da«, sagte er.

Sie sah nach hinten. Harrys silbergrauer Ford Fiesta verschmolz fast mit dem Zwielicht des anbrechenden Abends. Harry war erst siebzehn, hätte eigentlich noch nicht alleine fahren dürfen, nur in Begleitung eines Führerscheininhabers, der über einundzwanzig war. So schrieb es das Gesetz vor.

»Mein Dad wird mich schon nicht gleich verhaften und einsperren, meinst du nicht?«, hatte er gesagt, als sie ihn darauf angesprochen hatte.

Sein Dad war der neue Constable hier oben. Der Nachfolger des alten Zak Roberts, der vor einem Jahr ums Leben gekommen war. Getötet von ihrem, Ellas, Hund. Nachdem dieser als mörderisches kleines Monster vom Tode auferstanden war …1)

Lange Zeit hatte Ella fast gar nicht an all diese Ereignisse – und die noch viel schlimmeren! – gedacht. Die Gespräche mit Glynn Keane hatten ihr geholfen, Auch wenn sie sich kaum daran erinnern konnte, worüber sie mit dem alten ehemaligen Priester im Detail gesprochen hatte. Aber heute Abend, hier oben, da war es, als würde das Tuch, das Keane irgendwie über diese Dinge gebreitet zu haben schien, wieder weggezogen, ganz langsam und Stück für Stück.

Ein Schauder schüttelte Ella förmlich durch. Die Bewegung übertrug sich durch ihre Hand auf Harry. Er blieb stehen, drehte sich um, sah sie an.

»Willst du nicht …?«, begann er.

Ihr Kopfschütteln ließ ihn verstummen. »Doch.«

Sie lächelten beide.

Ella machte eine Geste mit dem Kopf über ihre Schulter hinweg. »Willst du das Auto nicht absperren?«

Harry, groß und blond wie ein junger Wikinger, wenn auch noch nicht ganz so groß und kräftig wie sein Dad, Stellan Lundqvist, der gebürtiger Schwede war, guckte kurz in die Runde und meinte dann: »Ach, wozu? Hier ist doch niemand.«

Auch Ella sah sich um, ein bisschen länger als Harry und mit bangerem Blick.

Hier ist doch niemand …?

Das hatten schon viele gedacht.

Durch die kahlen Bäume, die wie fleischlose Riesenhände aus Gräbern in der Flanke des Hügels vor der Stadt zu greifen schienen, sah Ella die Lichter ihres Viertels im Norden von London. Dort würden sich gerade die ersten Kinder aufmachen, um kostümiert von Haus zu Haus zu ziehen. Sie spürte einen Anflug von Wehmut. Ein bisschen fehlte ihr das. Aber sie fühlte sich zu alt dafür. Sie war jetzt vierzehn, fast fünfzehn. Alt genug, fand sie, für etwas anderes, für ein neues Kapitel im Leben eines Mädchens. Einer Frau …

»Komm«, sagte Harry und zog sacht an ihrer Hand. Er grinste.

Ella lächelte verlegen und folgte ihm in das alte Haus, in dem einst so viel Schlimmes geschehen sein sollte.

Sie aber würde bald schöne Erinnerungen daran haben.

Hoffte sie …

Mayfair

Der lächelnde Henker …

Der bloße Gedanke ließ Jane Collins schlucken, trocken und schmerzhaft.

Diese Horrorgestalt hatte vor einigen Jahren an Halloween ihr Unwesen getrieben und mit einer schrecklichen Waffe, der Axt des schwarzen Henkers Moro, zwei Menschen getötet und andere grausam terrorisiert. Stets begleitet von einem Kichern, das den Namen geprägt hatte: Der lächelnde Henker.

Unter der Kapuze hatte in diesem Fall jedoch nicht jener untote Moro gesteckt, der einst in Schottland seine Opfer geköpft hatte, sondern … Jane selbst. Sie war es gewesen, die da gemordet hatte, und das schaurige Kichern, das sie dabei ausgestoßen hatte, konnte sie heute noch hören, wenn sie nur daran dachte.2)

Die furchtbare Erinnerung schlug wie eine schwarze Welle über ihr zusammen. Die Lichter im Zimmer schienen zu verlöschen. Sie hatte das entsetzliche Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, ertrinken zu müssen in dieser fürchterlichen Schuld der Vergangenheit.

Heute noch, nach all den Jahren, fiel es Jane bisweilen schwer, zu akzeptieren, dass an diesen Morden damals – und an vielen anderen grausigen Taten – nicht wirklich sie schuld gewesen war. Weil sie zu dem Zeitpunkt eben nicht »sie selbst« gewesen war. Sie war vom Geist Jack the Rippers besessen gewesen und hatte im Bann der Oberhexe Wikka gestanden. Das Böse hatte ihren Körper missbraucht, sie als Marionette benutzt.

Aber auch wenn sie selbst nichts für all das konnte, waren es doch ihre Erinnerungen. Immer noch. Und für immer …

Jane riss sich zusammen, tauchte auf aus diesem erstickenden schwarzen Meer und stellte sich ein Licht vor, auf das sie zu schwamm. Ein paar meditative Übungen, die sie schon häufig praktiziert hatte, halfen ihr dann, endgültig wieder zu sich und ins Jetzt und Hier zu finden – wo sie von schaurig grinsenden Toten- und Kürbisköpfen, Spinnen, Fledermäusen und dergleichen begrüßt wurde.

Jane lachte, und es klang echt in ihren Ohren, gelöst und leicht. Denn zum Glück war der Horror, inmitten dessen sie nun in ihrem Sessel saß, nicht echt, sondern nur aus Plastik und Pappe.

Auch eine Form von Therapie, fand sie und war unverändert froh, sich für das Dekorieren des alten Hauses entschieden zu haben.

In den Jahren nach Lady Sarahs Tod hatte sie darauf verzichtet. Sie wurde hier im Haus ohnehin oft genug an den Verlust ihrer lieben und geradezu mütterlichen Freundin erinnert. Diesem Schmerz musste sie nicht auch noch nachhelfen. Und eigentlich hatte sie das Haus auch heuer nicht schmücken wollen, vor allem in Anbetracht dessen, was vor einem Jahr an Halloween passiert war, denn auch da hatte das Grauen wieder zugeschlagen.

Aber dann hatten sie es sich doch anders überlegt, und zwar genau deshalb! Denn voriges Jahr an Halloween waren eben nicht nur schlimme Dinge geschehen, es hatte auch etwas Neues seinen Anfang genommen, das heute noch bestand und es wert war, gefeiert zu werden.

Dazu fehlte jetzt nur noch …

Es klopfte.

Jane hielt inne. Gerade hatte sie nach der Teetasse greifen wollen, die auf dem kleinen antiken Tisch neben ihrem Sessel stand. Sie hatte eine Kanne Kräutertee zubereitet, um nach getaner Arbeit zu entspannen und sich auf den Abend einzustimmen.

Zu Lady Sarahs Lebzeiten war dieses Haus an Halloween sehr beliebt gewesen bei den Kindern im ganzen Viertel und darüber hinaus. Eben weil es immer fantasievoll geschmückt war, aber auch weil die alte Dame, die darin wohnte, für ihre Großzügigkeit bekannt gewesen war, was die Ausgabe von Süßigkeiten an der Haustür anging. Lady Sarah hatte drei Ehemänner überlebt, die ihr alle einiges an Geld hinterlassen hatten. Und sie war nicht geizig gewesen.

Diese Tradition wollte Jane nun endlich wieder aufleben lassen! Leisten konnte sie sich das ohne Weiteres. Sie hatte damals nach Lady Sarahs Tod den größten Teil von deren Vermögen geerbt, und Jane gab das Geld nicht mit vollen Händen aus.

Sie hätte es sich wahrscheinlich leisten können, ihren Beruf als Privatdetektivin an den Nagel zu hängen, aber was hätte sie dann den ganzen Tag lang gemacht? Im Gegensatz zu der Horror-Oma, die stundenlang hier in diesem Zimmer in ihrem Sessel am Fenster gesessen und einen Grusel- oder Kriminalroman nach dem anderen goutiert hatte, hatte Jane Collins deutlich weniger Sitzfleisch. Sie brauchte zwar nicht pausenlos Action, aber Müßiggang und Däumchen drehen waren einfach nicht ihr Ding …

Es klopfte abermals. Lauter diesmal.

Jane stand auf, warf einen Blick durchs Fenster hinaus auf die Straße und wunderte sich. Es war noch lange nicht richtig dunkel. Viel zu früh also eigentlich, als dass jetzt schon mit kostümierten Kindern zu rechnen gewesen wäre, die an der Haustür um etwas Süßes baten und andernfalls Saures androhten.

Hell war es allerdings auch nicht mehr. Oder vielmehr, so richtig hell war es den ganzen Tag nicht geworden. Der Himmel war bewölkt, das Wetter diesig. Zum Abend hin würde sich der Dunst in den Straßen sicher zu Nebel verdichten. Die richtige Kulisse also für den gruseligsten Tag des Jahres.

Jane machte gerade die Wohnzimmertür auf, als es zum dritten Mal klopfte.

»Ich komme ja schon!«, rief sie.

Komisch fand sie, dass geklopft und nicht geschellt wurde. Der Klingelknopf neben der Haustür war groß genug und unmöglich zu übersehen.

Sie huschte auf dicken, warmen Strümpfen den Flur entlang, an der Wandgarderobe vorbei und zur Eingangstür, öffnete sie, hoffte ein bisschen, es sei schon …

Nein. Chris war es nicht.

Es war überhaupt niemand da.

Jane steckte den Kopf zur Tür hinaus. Links und rechts davon stand je ein ausgehöhlter Kürbis, in den sie ein Gesicht geschnitzt hatte, ein grimmiges in den einen, ein lachendes in den anderen. Wenn es dunkel war, würde sie in jeden davon eine brennende Kerze stellen, damit ihre Kunstwerke auch gebührend zur Geltung kamen.

Später.

Jetzt blickte sie erst einmal suchend die von kahlen Bäumen gesäumte Straße hinauf und hinunter. Abgefallenes Herbstlaub klebte auf dem feuchten Asphalt. Auch vor einigen der anderen Häuser standen Kürbisse mit fratzenhaften Gesichtszügen, sogenannte Jack O’Lanterns, deren natürliches Orange kraftvoll durch das Grau des späten Tages leuchtete, obwohl noch gar keine Kerzen darin flackerten.

Auf der anderen Straßenseite waren einige Fenster mit künstlichen Spinnweben geschmückt und mit Fledermaus-Scherenschnitten beklebt.

Dafür hatte Jane im Moment jedoch nur flüchtige Blicke übrig. Sie wollte wissen, wer an ihre Tür geklopft hatte.

Waren doch schon erste Kinder unterwegs und nun weitergezogen, weil sie nicht schnell genug an der Tür gewesen war? Das hätte unerfreuliche Folgen haben können, denn es gab durchaus Kids, die ihre Drohung »Trick or treat!« – also »Süßes, sonst gibt’s Saures!« – auch in die Tat umsetzten. Dann bewarfen sie Häuser, wenn sie dort nichts zu naschen bekommen hatten, mit rohen Eiern oder umwickelten die Bäume und Sträucher in den Vorgärten mit Klopapier, das sich nur mühsam wieder entfernen ließ, vor allem wenn es einmal nass geworden war. Und das würde es heute werden bei diesem feuchten Wetter.

Aber es war keiner da. Auch niemand, der sich entfernte oder im Begriff war, sich zu verstecken.

»Hm«, machte Jane und zuckte mit den Schultern.

Da klopfte es abermals!

»Aha!«, rief sie und schloss die Haustür. Jetzt war ihr auch klar, warum es nicht geklingelt hatte. Wer immer da bei ihr anklopfte, tat es nämlich an der Hintertür.

Hinter den Häusern entlang dieser Seitenstraße in Mayfair lagen die zugehörigen Hinterhöfe, und es gab auch Verbindungswege zur Parallelstraße. Denkbar, dass Kinder diese Route nahmen. Vielleicht war es der kürzere Weg, darüber hatte Jane nie nachgedacht.

Oder Chris hatte hinten geparkt und lieber höflich geklopft, als einfach ins Haus zu platzen.

Bevor es erneut klopfen konnte, rief Jane ein weiteres Mal, dass sie komme.

Dann war sie auch schon an der Hintertür, sperrte auf, öffnete sie – und vor ihr stand ein Henker!

Schwarz gekleidet von Kopf bis Fuß, das Gesicht hinter einer sackartigen Maske verborgen, so stand der Henker vor der grauen Kulisse des trüben Spätnachmittags. Völlig reglos. Nicht einmal die Arme rührte er. Die Hände, in schwarzen Handschuhen, hingen unbeweglich links und rechts des Körpers, die linke offen, die rechte umschloss den langen Stiel einer Axt, deren Kopf fast den Boden berührte.

Eine Sekunde verging, dann eine zweite und dritte, und Jane stand ebenso starr da wie die unheimliche Gestalt vor ihr. Nur in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken und vor allem die Bilder.

Sie sah sich selbst durch die Schlitze einer solchen Maske blicken. Sie erinnerte sich, wie es gewesen war, die eigene Umgebung nur durch zwei Löcher in schwarzem Stoff wahrzunehmen. Dieser Eindruck war so klar und deutlich, als trüge sie auch jetzt wieder, in diesem Moment, eine Henkerskapuze, und tatsächlich griff sie sich erschrocken und wie von selbst ins Gesicht, um das zu überprüfen …

Während der Henker vor ihr sich nicht bewegte. Nur dastand. Sie ansah. Soweit das zu erkennen war durch die unförmige Kapuze, die auch die Konturen seines Kopfes nur erahnen ließ.

Natürlich trug sie selbst keine Maske, ihre Finger berührten die blanke Haut ihres Gesichts. Aber jene schwarze Welle rollte wieder auf sie zu, drohte, sie niederzuwalzen und mit sich zu reißen, zurück in die Vergangenheit, die nur darauf zu lauern schien, zu neuem Leben zu erwachen.

Nein, sagte sie sich.

Ihre Knie wurden weich.

Nein!

Sie stemmte sich gegen das Schwindelgefühl. Stieß den angehaltenen Atem aus. Holte Luft, gleichmäßig, ruhig. Fasste sich.

Und der Henker …

Hey, es war Halloween!

»Verzeihung«, brachte Jane hervor.

Der Henker sagte nichts. Kicherte auch nicht. Zum Glück, fand Jane, sonst … sie hatte keine Ahnung, was sie dann getan hätte. Ausgerastet wäre sie, ja, bestimmt. Aber wie sich das geäußert hätte, wusste sie nicht. Wollte sie auch nicht wissen. Egal, es spielte ja auch keine Rolle.

Falls der Henker vor ihrer Tür sich wunderte über ihr Verhalten oder sein Gesicht sonst eine Reaktion zeigte, verbarg es die Kapuze. Vielleicht genoss er ihre Verwirrung, ihren Schrecken, freute sich über den Erfolg seiner Maskerade und seines unheimlichen Auftritts.

Er spielte seine Rolle gut. Das musste Jane ihm lassen. Auch wenn sie seine Verkleidung alles andere als originell fand. Geschmacklos sogar. Aber dafür konnte er nichts. Es war nicht seine Schuld, dass sie so empfindlich darauf reagierte. Er konnte es ja nicht einmal wissen, einerlei, wer er war. Sie ging mit ihrer Vorgeschichte schließlich nicht hausieren, nur eine Handvoll Menschen kannte sie.

Und heute war Jane für den Anblick einer Henkersgestalt eben besonders anfällig. Zum einen hatte sie selbst ihren Auftritt als lächelnder Henker ausgerechnet an Halloween gehabt und mit der aus dem schottischen Pitlochry gestohlenen Axt des schwarzen Henkers gemordet …

Nein, eben nicht sie selbst, sondern …

Schon gut, beruhigte sie sich.

Und zum anderen waren die Grenzen zwischen den dies- und jenseitigen Welten an Halloween – oder Samhain, wie die Kelten das eigentlich ursprüngliche Fest nannten – dünner als sonst. Es mochte heute eine besondere Magie in der Luft liegen und jemanden wie sie, Jane, besonders sensibel machen.

Sie schüttelte das Gefühl und alles, was damit einherging, ab, schaffte sogar ein Lächeln und fragte den Henker: »Sag mal, bist du nicht schon ein bisschen groß fürs Trick-or-Treating?«

Groß war er in der Tat für ein Kind. Eine Antwort blieb er ihr schuldig. Überhaupt zeigte er keinerlei Reaktion. Stand nur da, die offenbar schwere Axt in der herabhängenden Hand, als wäre sie mit seiner Faust verwachsen.

»Hm, wirklich nicht schlecht«, meinte Jane anerkennend. »Warte, ich hole dir etwas.«

Sie hatte die Schüsseln mit den Süßigkeiten vorne im Flur neben dem Eingang stehen, weil sie nicht erwartet hatte, dass jemand an die Hintertür kommen würde.

»Bin gleich wieder da«, sagte sie, drehte sich um – und hielt inne.

Irgendetwas störte sie plötzlich, ein Detail, das ihr auffiel … oder vielmehr eben nicht auffiel, weil es nicht da war.

Der Bursche an der Hintertür hatte gar nichts in der Hand, worin er seine Süßigkeiten transportieren konnte, keinen Beutel, kein Eimerchen oder irgendetwas in der Art.

Nur diese Axt …

Jane hatte das Beil gar nicht richtig ansehen können, so zuwider war ihr die ganze Erscheinung des Henkers gewesen. Erst jetzt, wo sie daran dachte, wurde ihr halbwegs bewusst, dass die Axt irgendwie nicht so aussah, als hätte man sie als Teil eines Kostüms gekauft, sondern … ziemlich echt.

Jane drehte sich wieder zur Hintertür um – und schaffte es nur halb.

Bereits da, in dieser halben Drehung, sah sie aus dem Augenwinkel, dass der Henker die Hand mit der Axt über seinen Kopf gehoben haben musste, kaum dass sie ihm den Rücken zugewandt hatte.

Und jetzt ließ er das Beil mit der Schneide voran herabsausen.

Haargenau auf Jane zu – um ihr den Schädel zu spalten!

Im Norden von London

»Warte«, flüsterte Ella McTaggart, und Harry Lundqvist hielt inne. Ließ seine Hand aber wo sie war – unter Ellas T-Shirt. Den Pullover, den sie darüber getragen hatte, und die wattierte Jacke hatte sie schon ausgezogen. Oder vielmehr hatte Harry ihr beides schon ausgezogen …

Er gab sich richtig Mühe. Wirklich. Das fand Ella so süß, und sie fühlte sich regelrecht geehrt, weil er doch schon siebzehn war und sie erst knapp fünfzehn. Er hatte wirklich viel unternommen, um es ihnen schön zu machen in dem unheimlichen alten Haus, in dem immer noch jahrealter Brandgeruch nistete, obwohl sommers wie winters der Wind durch die größtenteils zerbrochenen Fenster fuhr und heulte. Jetzt auch … Als weinte irgendwo jemand. Die weiße Frau vielleicht, die Ella vor einem Jahr selbst hier gesehen hatte.

Auch daran erinnerte Ella sich kaum. Ihr war, als hörte sie die Stimme Glynn Keanes, und das Bild des weißen Schemens an einem der schwarzen Fenster des baufälligen alten Hauses, der eine Frauengestalt gewesen sein mochte oder auch nicht, verschwand wieder in den dunkelsten Tiefen ihres Gedächtnisses, dorthin, wo das Vergessen schlief.

»Was ist?«, fragte Harry. »Alles gut? Bin ich dir zu …«