John Sinclair 2259 - Timothy Stahl - E-Book

John Sinclair 2259 E-Book

Timothy Stahl

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Beschreibung

Alles begann mit einem alten blauen Pick-up-Truck, der in Spalding auftauchte. Er war beladen mit Kürbissen, jeder einzelne ein kleines, makelloses Meisterwerk der Natur. Der weißbärtige Mann am Steuer fuhr auf den Markt, bot seine Ware an, aber niemand wollte seine Kürbisse haben, nicht einmal geschenkt. Manch einer sah den Mann an wie einen Geist. Die einen zweifelten erst, ob er es denn wirklich sei, andere erkannten ihn dagegen gleich wieder, trotz der langen Zeit, die vergangen war. Keiner konnte fassen, dass der Mann selbst so tat, als wäre nie etwas gewesen.
Am Abend fuhr der alte Mann unverrichteter Dinge wieder davon. Und als er am Ende des Tages, es schlug gerade Mitternacht, schließlich die Stadt hinter sich ließ, da war die Ladefläche seines Pick-ups leer. Der Mann am Steuer blickte zufrieden drein, auf den Lippen ein Liedchen: "Old MacKill hat eine Farm, hi-ei-hi-ei-oh. Und auf der Farm, da fließt bald Blut, hi-ei-hi-ei-oh ..."


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Inhalt

Cover

Old MacKill

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Old MacKill

von Timothy Stahl

Alles begann mit einem alten blauen Pick-up-Truck, der in Spalding auftauchte. Er war beladen mit Kürbissen, jeder einzelne ein kleines, makelloses Meisterwerk der Natur.

Der weißbärtige Mann am Steuer fuhr auf den Markt, bot seine Ware an, aber niemand wollte seine Kürbisse haben, nicht einmal geschenkt. Manch einer sah den Mann an wie einen Geist. Die einen zweifelten erst, ob er es denn wirklich sei, andere erkannten ihn dagegen gleich wieder, trotz der langen Zeit, die vergangen war. Keiner konnte fassen, dass der Mann selbst so tat, als wäre nie etwas gewesen.

Am Abend fuhr der alte Mann unverrichteter Dinge wieder davon. Und als er am Ende des Tages, es schlug gerade Mitternacht, schließlich die Stadt hinter sich ließ, da war die Ladefläche seines Pick-ups leer.

Der Mann am Steuer blickte zufrieden drein, auf den Lippen ein Liedchen: »Old MacKill hat eine Farm, hi-ei-hi-ei-oh. Und auf der Farm, da fließt bald Blut, hi-ei-hi-ei-oh ...«

Mitte Oktober

»Habt ihr es schon gehört?«

»Habt ihr ihn gesehen?«

»Old MacKill ist wieder da!«

So und ähnlich hörte man es an jenem Tag und an den folgenden allerorten in Spalding.

Nun ist Spalding mit seinen immerhin über 20.000 Einwohnern gewiss kein Dorf und unter den englischen Kleinstädten schon eine der etwas größeren, und es ist dort längst nicht so, dass jeder jeden kennt. Trotzdem gab es letztlich anscheinend niemanden, der nicht mitbekommen hätte, dass der Mann, den sie »Old MacKill« nannten, zurückgekehrt war. Und das wiederum zeigte, dass Spalding dann doch auch keine wirklich große Stadt war.

Jedenfalls hatte mit dem Wiederauftauchen dieses Mannes in Spalding auch die Unruhe Einzug gehalten. Sie breitete sich aus wie ein ansteckendes Virus und infizierte selbst diejenigen, die zu der Zeit, als Old MacKill verschwunden war, noch gar nicht hier gelebt hatten. Was wiederum dazu führte, dass man die alte Geschichte vielerorts neu aufwärmte und erzählte. Dabei vermischten sich freilich Tatsachen – derer es gar nicht so viele gab, wie man vielleicht meinte – mit Spekulationen und Hörensagen zu Dingen, die so nie geschehen waren.

Was keinesfalls heißen soll, dass damals nichts geschehen sei, bewahre! Ein Grab auf dem Friedhof von Spalding, das bis heute gepflegt wird, beweist, dass ehedem etwas ganz Schreckliches passiert war – das Allerschlimmste, was den Eltern eines Kindes nur widerfahren kann.

Das stand fest. Niemand bestritt das. Das wusste jeder.

Aber: Es war auch etwas passiert, wovon fast niemand wusste.

Und eine Person wusste deshalb ganz genau, dass es nicht sein konnte: Old MacKill konnte unmöglich zurückgekehrt sein!

Denn diese Person hatte Old MacKill seinerzeit mit eigenen Augen sterben sehen – und sich vergewissert, dass Jimmy Baxters mutmaßlicher Mörder wirklich tot gewesen war ...

24. Oktober

Spalding

Klingen fuhren über feste Haut, durchtrennten sie und schnitten in das weiche Fleisch darunter. Dick wie Blut trat Saft hervor ...

»Seid vorsichtig, Kinder!«, rief Marsha Bleasdale über die Köpfe und Kürbisse hinweg. »Die Messer sind sehr scharf, vergesst das bitte nicht.«

»Ja, ja«, kam es vielstimmig von den vier großen Tischen im Raum zurück.

An jedem der mit Zeitungspapier abgedeckten Tische saßen jeweils zwei, drei Kinder im Alter zwischen sechs und dreizehn Jahren, und jedes arbeitete an seinem Kürbis, schnitt Löcher und schnitzte Verzierungen in die großen, prallen Früchte, um am Ende mit der schönsten beziehungsweise gruseligsten Fratze aufzuwarten.

Die Kinder waren mit Fleiß und Freude bei der Sache, sie wetteiferten und versuchten einander mit immer tolleren Ideen zu übertrumpfen, die dann in der Praxis allerdings nicht immer ganz so gelangen, wie man sie sich in der Theorie vorgestellt haben mochte. Aber das machte gar nichts, fand Marsha Bleasdale. Die Hauptsache war, dass der kreative Muskel trainiert wurde – das handwerkliche Geschick kam dann im Lauf der Zeit durch Übung dazu.

Eine natürliche Entwicklung, die sie an einigen der älteren Kinder hier schon hatte beobachten können, denn sie kamen schon, seit sie selbst sechs oder sieben Jahre alt gewesen waren, in Marsha Bleasdales Jugendgruppe, die sich einmal wöchentlich für zwei Stunden im Gemeindesaal traf, um zu basteln und zu werken und dergleichen.

Es hätten für Marshas Geschmack zwar gerne noch ein paar mehr Kinder sein können, für die Größe der Gemeinde war die Gruppe nämlich eher klein, aber dass die Zahl der Kinder über die Jahre hinweg zumindest konstant blieb und einige eben auch schon seit Langem dazugehörten und immer noch gerne kamen, wertete Marsha in der heutigen schnelllebigen Zeit als schönen und vor allem motivierenden Erfolg.

Hinter ihr ging die Tür auf.

»Hallo, Kinder!«, rief eine Stimme, die ihr fast so vertraut war wie ihre eigene, in den Raum.

»Hallo, Reverend Bleasdale!«, tönte es von allen Tischen zurück.

»Na, wie läuft es?«, fragte William Bleasdale sowohl die Kinder als auch Marsha, seine Frau, die er zugleich mit einem Arm um die Schultern fasste, voll der Liebe – auch nach fast dreißig Jahren Ehe noch! – an sich zog und auf die Wange küsste.

»Sehr gut«, sagte Marsha. »Du siehst hier lauter junge Spitzenkünstler vor dir.«

»Reverend Bleasdale!«, rief ein Mädchen. »Gucken Sie mal – mein Kürbis hat ganz spitze Zähne, wie ein Monster!«

»Und meiner schaut am bösesten von allen, sehen Sie mal, Reverend, was der für Augen hat!«, meldete sich ein Junge von einem anderen Tisch, und dann pries dessen Nebenmann auch schon die Besonderheiten seiner Kreation an.

Das führte dazu, dass William Bleasdale eine Runde durch den Raum machte, an jedem Tisch kurz verweilte und zu allen der dort entstehenden kleinen Kunstwerke ein paar lobende Worte fand, die ein stolzes und freudiges Lächeln im Gesicht des jeweiligen kleinen Künstlers hinterließen.

»Aber«, sagte der Reverend anschließend, »ihr wisst schon, dass Halloween ein heidnisches Fest ist und in unserer Kirche nur geduldet, aber nicht gefeiert wird, oder?«

»Na klar, da hat Ihre Frau doch schon vorhin mit uns drüber gesprochen«, antwortete jemand.

Und einer der älteren Jungen ergänzte: »Und voriges Jahr auch schon.«

»Alle Jahre wieder.« Das hübsche Mädchen neben dem Jungen, das unter dem Tisch heimlich seine Hand hielt, seufzte theatralisch, und alle lachten.

»Jessica«, Reverend Bleasdale drohte spielerisch mit dem Finger, »ich sehe, deine Klappe ist genauso groß wie die deines Kürbisses. Sieh mal, da passt ja meine ganze Hand rein.«

Er trat an den Tisch, ging etwas in die Knie und schob seine linke Hand in die breite Öffnung, die einen zähnefletschenden Mund darstellte.

Wieder wurde gelacht, an den anderen Tischen standen Kinder auf, damit sie besser sehen konnten – und im nächsten Moment bekamen sie etwas geboten, das niemand im Raum bislang auch nur in einem Albtraum gesehen hatte!

Reverend Bleasdale schrie als Erster auf, vor Schreck und Schmerz in einem. Dann, nur vor Schreck, seine Frau und die Kinder.

Das Maul der Kürbisfratze hatte sich geschlossen. Hatte zugebissen. Und Reverend Bleasdales Linke steckte noch darin. Die Zähne, die doch eigentlich nur aus weichem Fruchtfleisch und ein bisschen Kürbishaut bestanden, schienen plötzlich steinhart und messerscharf zu sein.

Rotes Blut quoll über den orangefarbenen Rand des lippenlosen Kürbismauls, das die Hand des Reverends nicht nur nicht mehr losließ, sondern sie noch tiefer in sich hineinschlang, sie anscheinend regelrecht auffraß. Und dabei bewegte sich der ganze Kürbis, als wäre er mit einem Mal aus Gummi und von unmöglichem Leben erfüllt.

Schrill schrien die Kinder ringsum, und eine helle Stimme rief: »Ich glaub, meiner will mich auch fressen!«

Und an einem anderen Tisch: »Hilfe, meiner bewegt sich auch!«

Stühle wurden gerückt und fielen um, die Schreie wurden lauter, Kürbisse rollten von den Tischen und prallten dumpf zu Boden.

»Zurück, Kinder!«, rief Marsha Bleasdale über das Tohuwabohu hinweg. »Alle weg von den Tischen und zur Tür, na los, schnell!«

Der Reverend versuchte unterdessen, seine Hand zu befreien, mit einem Ruck aus dem Maul zu reißen, in dem sie inzwischen bis übers Gelenk verschwunden war. Vergebens.

Und so fest, wie die Hand darin steckte, so fest schien der Kürbis mit der Tischplatte verwachsen zu sein. Er rührte sich unter den kraftvollen Bewegungen, die Reverend Bleasdale mit dem ganzen Arm und dann dem gesamten Körper vollführte, nicht von der Stelle, keinen Millimeter. Als wöge das verfluchte Ding nicht bloß ein paar Pfund, sondern zwei, drei Zentner oder mehr.

Aus dem Augenwinkel sah William Bleasdale, wie seine Frau Marsha nach einem der auf dem Tisch liegenden Messer griff, es packte, ausholte – und zustach!

Genau in dem Moment, da der Kürbis auf dem Tisch plötzlich wieder nichts weiter war als ein ganz gewöhnlicher Kürbis.

Und Reverend Bleasdale schrie abermals auf – als seine Frau ihm das Messer in den Handrücken rammte, mit solcher Wucht und so tief, dass die Spitze sich noch in das Holz der Tischplatte darunter bohrte!

Dies war der erste einer ganzen Reihe von unheimlichen Vorfällen, die begannen, nachdem ein Mann, den sie Old MacKill nannten, nach Spalding zurückgekehrt war, mit einer Wagenladung Kürbisse, die niemand haben wollte – und die er trotzdem irgendwie unters Volk gebracht hatte ...

Schon welcher Vorfall dann der zweite gewesen war, ließ sich nicht mehr genau sagen. Die Zahl wuchs zu schnell. Und manche Fälle wurden möglicherweise gar nicht gemeldet, vielleicht auch nicht bemerkt oder dieser Reihe von Geschehnissen nicht zugeordnet.

Konkrete Konsequenzen hatte das Verschwinden von Mrs. Dodds' Dackel Dodie. Man fand ihn, nachdem Mrs. Dodds einen Tag lang nach ihrem Hündchen gesucht hatte, drei Häuser weiter – in einem Halloween-Kürbis, der dort vor der Tür stand. Dodie befand sich in einem Zustand, als wäre er unter hungrige Wölfe geraten. Das Wunder bestand darin, dass noch ein Funken Leben in ihm steckte, den Doc Shuler, der dienstälteste Tierarzt in der Stadt, so weit anfachen konnte, dass Dodie die erlittene Tortur überlebte – und letztlich sogar sein Frauchen. Was zwar nichts mit unserer Geschichte zu tun hat ...

... aber wer A sagt, muss auch B sagen, also: Mrs. Dodds holte Dodie nach seiner Genesung aus Dr. Shulers Tierklinik ab, gönnte sich und ihrem Hund jedoch kein Taxi, dafür aber ein Stück Haselnusshimbeersahnetorte im Riverview Café, das auf ihrem Heimweg lag – wenn man einen kleinen Umweg in Kauf nahm, was sie gerne tat. Verständlich, denn die hausgemachte Haselnusshimbeersahne im Riverview Café war vorzüglich und einen Umweg wert.

Dennoch, hätte Mrs. Dodds diesen Umweg nicht gemacht, wäre sie stattdessen schnurstracks nach Hause gegangen, und hätte sie nicht eine halbe Stunde durch Tee und Haselnusshimbeersahne verloren, dann wäre sie daheim gewesen, bevor es zu regnen begann – und das wäre ihr Glück gewesen. So aber ...

Der Weg vom Riverview Café zu ihrem kleinen Haus am Oakley Drive führte ein gutes Stück am Welland entlang, einem der größeren Flüsse in diesem Teil Englands. Der Gehsteig säumte hier die grasbewachsene Uferböschung, und um nicht von den Wasserschleiern durchnässt zu werden, die vorbeifahrende Autos verursachten, ging Mrs. Dodds mit Dodie dicht an der abschüssigen Böschung entlang – ein bisschen zu dicht: Sie rutschte aus, ließ Dodie los, fiel hin, schlitterte den klitschnassen Hang hinunter und landete im Fluss.

Nun war der Welland an dieser Stelle kein reißender Strom, aus dem man sich nicht retten könnte. Unwahrscheinlich also, dass Mrs. Dodds darin ertrunken wäre ... hätte sie nicht das Pech gehabt, sich schon beim Sturz die Böschung hinunter das Genick zu brechen, wie der Notarzt bereits wenig später feststellte, denn Dodie hatte oben auf dem Fußgängerweg lautstark und mit Erfolg auf das Malheur seines Frauchens aufmerksam gemacht.*

Die schon angesprochene Konsequenz von Dodies unliebsamer Erfahrung mit einer herbstlichen Feldfrucht, die er bis dahin jahrelang nur angepinkelt hatte, bestand darin, dass viele Menschen in Spalding ihre Hunde und auch Katzen fortan nicht mehr unbeaufsichtigt ins Freie ließen. So unglaublich es auch anmuten mochte, dass Tiere einem Halloween-Kürbis zum Opfer fallen konnten, so wenig wollte man der Nächste sein, dessen vierbeinigem Liebling etwas derart Ungeheuerliches widerfuhr.

Regelrecht Aufsehen erregte danach ein Hausbrand, den man ursächlich mit diesen »Kürbis-Geschichten«, wie man diese Vorfälle nun schon nannte, in Verbindung brachte. Die brennende Kerze in einem vor einer Haustür stehenden Halloween-Kürbis sollte laut einem Augenzeugen, der seine Katze Gassi führte, binnen eines Moments den ganzen Kürbis in Brand gesteckt haben. Im Nu habe das Feuer auf die Tür übergegriffen und sich weiter ausgebreitet. Es war, so gab der Zeuge zu Protokoll, als hätte der Kürbis einmal tief Luft geholt, die Kerzenflamme so zum Auflodern gebracht – und dann selbst Feuer gespuckt!

Der Zeuge hatte sich freiwillig einem Blutalkoholtest unterzogen, der ergab, dass er stocknüchtern war.

Der Brand konnte gelöscht werden, ohne dass jemand leiblichen Schaden erlitt.

Schließlich aber gab es bei einem weiteren Vorfall ein erstes, direktes Todesopfer.

Und da kam ich ins Spiel.

30. Oktober

London

Der Tag fing so harmlos an ...

Im Büro empfingen mich Kaffeeduft und Glenda Perkins, die einmal mehr zum Anbeißen aussah in ihrem modischen Herbstensemble. Offenbar waren ein warmes Braun, Weinrot und ein helles Pink en vogue, und sicher hatten all diese Farben auch schicke Namen, die ich aber natürlich nicht kannte und mir auch nicht hätte merken können oder wollen. Mir genügte es vollauf, dass meine Assistentin – die Bezeichnung ›Sekretärin‹ ist, glaube ich, nicht mehr en vogue – hinreißend darin aussah. Und ich ließ es mir nicht nehmen, ihr das auch zu sagen.

»Oh, danke, John«, flötete sie und drehte sich einmal schwungvoll um die eigene Achse, ehe sie fragte: »Suko?«

»Kommt später, hat noch was zu erledigen.«

»Zahnarzt?«

Ich winkte ab. »Nein, irgendwas mit einem seiner Vettern.«

»Ach so. Kaffee?«

»Das fragst du?«

»Kommt sofort.«

Ich ging durch in das Büro, das ich mir seit eh und je mit meinem chinesischen Kollegen teilte. Akten, die durchgesehen werden wollten, stapelten sich auf unser beider Schreibtische. Ich nahm hinter meinem Platz und schob den Stapel so weit wie möglich an den Rand der Platte. Dann fuhr ich den PC hoch und lehnte mich in meinem knarzenden Stuhl zurück.

Glenda trat ein. »Du siehst aus wie ein Mann, der schon ordentlich was geschafft hat«, sagte sie und stellte mir meinen Kaffee vor die Nase.

»Hab ich ja auch«, erwiderte ich. »Nur halt heute noch nicht.«

»Der Tag ist ja noch jung.«

»Eben.«

»Und man soll ihn nicht vor dem Abend loben.«

»Da sagst du was.«

»Apropos, ich bin da im Netz auf etwas gestoßen, das interessant für uns sein könnte.«

»Glenda«, ich seufzte, »du weißt nicht nur, wie man den besten Kaffee der Welt macht, nein, meine Liebe, du verstehst es auch, einem Mann den Genuss desselben zu ruinieren.«

Ich trank rasch einen ersten Schluck, bevor sie vollends mit Arbeit daherkam.

»Uh, heiß«, entfuhr es mir, kaum dass ich mir wieder einmal Lippe und Zunge verbrannt hatte.

Ich setzte die Tasse ab, Glenda huschte ins Vorzimmer hinaus und war gleich wieder da, ein paar Blätter Papier in der Hand, die sie mir auf den Tisch legte.

Ich lehnte mich wieder zurück. »Erzähl mir doch lieber, was da drin steht. Ich hör deine Stimme so gern.«

»Ha, ha«, machte sie. »Aber gut, meinetwegen, weil du es bist. Kennst du Spalding?«

»Das steht da nicht drin«, behauptete ich und sah zu den laserbedruckten Seiten auf meinem Schreibtisch hin.

»Nein«, bestätigte Glenda, »das steht da nicht drin. Ich möchte es nur gern spannend machen.«

»Ach so.« Ich nickte und nahm meine Kaffeetasse wieder auf. »Dann ist die Sache also weder dringend, noch geht es um Leben oder Tod. Das ist schon mal gut.«

Ich blies in die Tasse und nippte daran. Köstlich!

»So sehe ich das nicht«, entgegnete Glenda. »Wart's mal ab. Also?«

»Was?«

»Kennst du Spalding?«, wiederholte sie.

Ich runzelte die Stirn, musste kurz in meinem Gedächtnis kramen. »Das ist eine Kleinstadt in der Grafschaft Lincolnshire, nicht wahr?« Ich schnippte mit den Fingern. »Nennt sich auch ›Kürbishauptstadt von England‹, richtig?«

»Richtig. Der Kandidat hat hundert Punkte.«

»Und weiter?«

»Nun, es sieht ganz so aus, als wollten die Kürbisse dort diesem Beinamen alle Ehre machen.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Es kam in den vergangenen Tagen in Spalding zu etlichen, sagen wir mal, merkwürdigen Vorfällen, bei denen offenbar Kürbisse eine entscheidende Rolle spielten.«

»Erstens«, ich hob einen Daumen, »ich versteh's immer noch nicht, und zweitens«, mein Zeigefinger folgte, »was hat das mit uns zu tun?«

»Vielleicht gar nichts«, antwortete Glenda, »aber vielleicht auch eine ganze Menge.«

Draußen ging die Tür zum Vorzimmer auf. Ich rechnete damit, dass Suko eingetroffen war, irrte mich jedoch. Unser aller Vorgesetzter, Superintendent James Powell, kam herein. Eine Seltenheit. Im Allgemeinen bestellte Sir James uns immer in sein Büro, wenn etwas anlag.

»Guten Morgen«, grüßte er. »Suko?« Er sah sich durch die dicken Gläser seiner Brille im Raum um, als glaubte er, der Inspektor würde sich irgendwo verstecken.

»Kommt etwas später«, sagte ich.

»Na gut«, erwiderte mein Chef und fragte dann: »John, waren Sie schon einmal in Spalding?«

Ich verschluckte mich an meinem Kaffee.

»Wie bitte?«, brachte ich dann hervor.

Auch Glenda staunte nicht schlecht. Gerade eben hatte sie von Spalding gesprochen, und nun kam Sir James daher und tat das Gleiche.

Der Superintendent blickte konsterniert von mir zu Glenda und wieder zurück.

»Was ist denn?«, fragte er leicht ungehalten. »Ob Sie schon einmal in Spalding waren, wollte ich wissen. Das ist eine Kleinstadt mit etwas über zwanzigtausend Einwohnern in den Fens*, am Welland gelegen, bekannt vor allem als Anbaugebiet für Blumen und Gemüse, insbesondere ...«

»Kürbisse, ich weiß, ich weiß«, unterbrach ich ihn. »Es ist nur ...«

»Ja, was denn nun?«

»Wir sprachen auch gerade von Spalding, Sir«, schaltete sich Glenda ein. »Das heißt, ich sprach davon, weil ich John aufmerksam machen wollte auf ...«

»Auf diese Kürbis-Geschichten, die sich dort zugetragen haben?«, fiel nun der Superintendent ihr ins Wort.

»Genau«, gab ich meinen Senf dazu.

Sir James sah mich an. »Dann wissen Sie also Bescheid?«

»Nein, so weit waren wir noch nicht gekommen.«

»Warum wissen Sie nichts von dieser Sache, John? Sie ist doch das Thema in den sozialen Medien!«