Jormund - Robin Band - E-Book

Jormund E-Book

Robin Band

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Beschreibung

Macht hat immer einen Ursprung. Die Macht des Besessenen namens Rael stammt von einem Elementargeist, der seinen Körper verstärkt und ihm zerstörerische Kräfte verleiht. Sein Ziel: Die Akzeptanz der Menschen. Obwohl er mit der Neu-Besessenen Jotaka an seiner Seite eine friedliche Annäherung an die Menschen sucht, stellt sich bald heraus, dass ein offener Konflikt unvermeidbar ist. Jotaka bemerkt, dass Rael seine Kräfte nicht so gut unter Kontrolle hat, wie es scheint...

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Für mich.

Inhaltsverzeichnis

Jormund – Elementarkräfte der Besessenen

Spoilerfreies Lexikon

Über den Autor

Prolog

Schweigend lehnte der großgewachsene Mann an der Rückwand des alten Holzstalls. Er blickte an seinem ärmellosen schwarzen Oberteil vorbei auf seine schwarze, schlichte Hose und die alten Lederstiefel und zupfte den hellgrauen, einfachen Schal zurecht. Die Enden baumelten auf seinem Rücken knapp über der Hüfte. Er lauschte. Die schnellen Schritte und die Schreie kamen näher. Den Geräuschen nach zu urteilen rannte eine Person weg und wurde von zwei – nein – drei weiteren Leuten verfolgt.

Rael wurde als Besessener bezeichnet. Das bedeutete, er war ein Mensch, der in den Augen der anderen einen unheilvollen Pakt geschlossen hatte. Dies ermöglichte es ihm nicht nur, auf Fähigkeiten zuzugreifen, die anderen Menschen verwehrt blieben, sondern verstärkte alles an seinem Körper. Manche nannten es Magie, doch Rael war überzeugt, dass der Pakt lediglich die menschlichen Kapazitäten erweiterte. Er verbrachte bereits zehn seiner bisher 22 Lebensjahre als Besessener und war stolz darauf. Es musste noch jemand gefunden werden, der seiner Kampfkraft auch nur standhalten konnte.

Die Bewohner der Großstadt Ährenberg waren die aggressivsten in ganz Jormund und dafür bekannt, gewaltigen Hass auf Besessene zu haben. Der Grund war entweder nicht vorhanden oder im Laufe der Jahre verblasst. Genau dort, vor dieser Stadt, lauerte Rael am Rande der Stadt hinter eben jener heruntergekommenen Scheune. Sie musste schon lange leer stehen, denn von Vieh fehlte jede Spur.

Die Schritte waren nun sehr nah und somit auch laut. Rael ließ die Handgelenke kreisen und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Er würde diesen Idioten schon zeigen, was wahre Kräfte bedeuteten!

Eine Frau mit wehendem Haar sauste dicht an ihm vorbei. Sie war kaum mehr als ein roter Schemen, so schnell rannte sie. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.

Nun sprang Rael aus seinem Versteck hervor und erblickte die Verfolger. Drei Männer, wie erwartet. Zwei trugen Schwerter, einer eine Heugabel. Alles nicht gut geschmiedet, das sah Rael auf dem ersten Blick. Als sie den großgewachsenen Besessenen sahen, hielten sie an. Dieser wiederum ließ sich Zeit und schlurfte gemächlich näher. Er nahm wahr, dass die verfolgte Frau ihre Schritte verlangsamte. Mit einer Hand strich er über seine in Stacheln nach hinten gekämmten, mittellangen Haaren, während er die andere ausstreckte. Der Zeigefinger richtete sich auf die Gruppe.

»Was wird das denn? Ihr seid nur ein wütender Mob. Der Kleine da weiß nicht einmal, wie er die Waffe zu halten hat.«, knurrte er, um zu provozieren. Seine tiefe, heisere Stimme ließ den jungen Angreifer mit der Heugabel zusammenzucken.

Die Verfolger senkten bedrohlich ihre Waffen und setzten sich in Bewegung. Der größte in der Gruppe meldete sich zu Wort: »Und du spielst dich auf, weil du denkst, dass wir uns gegen euch nicht wehren könnten? Verfluchtes Monster.«

Ohne eine Antwort zu geben, stürzte Rael vorwärts. Die Enden seines Schals flatterten wild hinter ihm her. Seine Hände umhüllten sich mit dunklem Nebel. Die Adern an seinen Armen traten hervor, färbten sich tiefschwarz. Blitzschnell duckte er sich unter dem vergleichsweise langsamen Schwertschwung hinweg und schlug dann mit voller Wucht mit der schwarzen Handfläche gegen die Brust seines Gegners. Er spürte, wie der Aufprall seines durch den Pakt verstärkten Hiebes sich durch den Oberkörper arbeitete und dann hinten herausbrach. Die Kleidung des Mannes riss am Rücken auf, die Haut platzte auf und Blut spritzte auf seine Kameraden. Der schwache Körper konnte der erzeugten Druckwelle nicht standhalten. Sofort sprintete Rael zum anderen Schwertträger, während der Leichnam rücklings zu Boden fiel. Panisch fuchtelte der Mann mit seinem Schwert herum. Jegliches Training, das er absolviert hatte, wurde durch die Angst im Antlitz des Todes verdrängt. Die Klinge sauste auf Rael nieder, doch er musste nicht einmal ausweichen. Die Handfläche seiner linken Hand blockierte das Schwert mit einem einfachen Gegenhieb. Die Erschütterung der Waffe ließ sie aus dem Griff ihres Besitzers fallen. Machtlos stand der Mann dem Besessenen gegenüber. Es dauerte keine Sekunde, da kollidierte die schwarz umhüllte rechte Handfläche mit der Stirn des Mannes. Abermals krachte es, die Druckwelle wanderte durch den Schädel und brach durch den Knochen am Hinterkopf. Blut schoss heraus. Mit der Rückhand drückte Rael den zu Boden sinkenden Toten beiseite. Ein gellender Schrei war zu hören, als der Jüngling seine Mistgabel fallen ließ und so schnell wie möglich in die Ferne floh.

Rael seufzte, doch machte sich nicht die Mühe, die Verfolgung aufzunehmen. Von dem Jungen ging keine Gefahr aus. Zudem sollte er seinen eigenen Blutrausch zügeln. Die Schwärze um seine Hände verschwand, doch die schwarzen Adern zeichneten sich noch immer deutlich auf seinen Armen ab. Einen Moment lang stand er reglos da, lauschte den sanften Schritten, die sich nun wieder von hinten näherten. Wie erwartet.

»Die hatten keine Chance, was? Danke dir. Ich weiß nicht, ob ich sie hätte abhängen können, aber-«

Die Frau verstummte, als Rael sich zu ihr umdrehte. Seine stacheligen, braunen Haare und seine schiere Größe verliehen ihm ein wildes Aussehen.

Sie wiederum war zwar ebenfalls groß, doch reichte ihm nur bis zur Schulter. Ihre hüftlangen Haare waren feuerrot und ab den Schultern ein wenig gewellt, ansonsten jedoch schnurgerade. Strähnen fielen ihr seitlich über die Stirn und bildeten so einen schiefen Pony. Ein schmutziges, weißes Kleid verlieh ihrem kurvigen Körper eine gewisse Unschuld und ihre Füße streckten in hellen Holzschuhen. Sie hatte spitze, schmale Augen in blau. Ein wahrhaft interessantes Zusammenspiel der Farben.

»Ist was mit meinen Augen?«, fragte die Frau, als sie seinen prüfenden Blick bemerkte.

»Nichts. Ich habe nur etwas überprüft.«

Sie nickte. Eindeutig begriff sie aber nicht, was er meinte.

»Mein Name ist Jotaka«, stellte sie sich vor.

»Rael«, erwiderte er knapp.

»Du bist ein Besessener, oder?«, fragte sie zögerlich. Raels eigene Augen waren eigentlich dunkelgrün, doch kurz nach dem Gebrauch seiner erweiterten Kraft traten wie an seinen Armen schwarze Adern hervor. Es dauerte immer eine Weile, bis sie verschwanden. Jotaka konnte es unmöglich übersehen haben.

»Und du willst eine von uns werden«, erwiderte er und beantwortete ihre Frage dadurch indirekt positiv.

»Ich habe mich mit der Materie beschäftigt, ja. Irgendwie müssen die Leute mir auf die Schliche gekommen sein.«

Nervös spielte sie mit ihren Haaren, zog sie ein wenig vor ihre Augen.

»Du hättest dir keinen schlechteren Ort für deine Recherche aussuchen können. In keiner anderen Stadt sucht man so verzweifelt nach Besessenen, um sie jede Woche feierlich hinzurichten.«

»Ich weiß. Aber ich habe zu wenig Geld für eine Reise. Aus dieser Armut möchte ich meine Familie retten, indem ich als Besessene das große Geld verdiene!«

Rael sagte nichts. Besessene waren mancherorts zwar als Söldner beliebt, aber ansonsten verachtete man sie stets.

Nach einer kurzen Pause fragte sie: »Wieso hast du mich gerettet?«

Auf diese Frage hatte er gewartet. Dennoch starrte er sie noch weiter finster an, bis sie ihn nur noch eingeschüchtert anblickte. Seine Gesichtszüge hellten sich auf. Ein breites Grinsen aus schiefen, aber gesunden Zähnen kam zum Vorschein.

»Weil ich einen Zufluchtsort für uns Besessene habe. Ich finde es wird Zeit, dass wir uns Größerem widmen als dem Kampf. Die Menschheit kann durch die Pakte so viel profitieren. Arbeit wird zum Beispiel leichter. Wir müssen allen zeigen, dass wir immer noch Menschen und keine Monster sind. Vermutlich weiß ich mehr über die Funktionsweise der menschlichen Verstärkung als die meisten anderen. Ich trage meinen Elementar schon seit zehn Jahren in mir.«

Sie nickte eifrig.

Raels Brustkorb hob und senkte sich schnell. Er biss sich auf die Lippe und verdrehte genervt die Augen.

Jotaka hob verwundert die Augenbrauen.

Genervt erklärte Rael: »Das war mein Elementar. Er … hat irgendeinen Defekt. Normalerweise sind Elementare nur Energieströme, aber meiner hat eine Art von Bewusstsein und beeinflusst meine Atmung hin und wieder. Zum Glück jedoch nur phasenweise. Es kann auch ewig nichts passieren.«

Er schnaufte nochmals, dann beruhigte sich seine Atmung wieder.

Jotaka versuchte es zu unterdrücken, doch fing dann an zu kichern. Rael zog die Augenbrauen hoch und hob abwehrend die Hände.

»Wenn es nach mir ginge, hätte ich lieber den Pakt mit einem normal funktionierenden Elementar geschlossen, glaub mir.«

»Schon in Ordnung«, kicherte sie. Von einem auf den anderen Moment beruhigte sie sich und schob dann peinlich berührt wieder einige Haare vor ihr Gesicht.

»Wie auch immer. Wenn du mir in den Wald folgen willst, kümmere ich mich darum, dass du einen gescheiten Elementar und eine kämpferische Ausbildung bekommst. Ich trainiere dich höchstpersönlich. Wirst du eine von uns und hilfst der Welt zu zeigen, dass Pakte die Menschheit nur vorantreiben können?«

Jotaka strich ihr Haar aus dem Gesicht hinter das Ohr und legte den Kopf schief. Das Sonnenlicht reflektierte sich in ihren Augen. Da ist sie dem Tod nur knapp entkommen, nur um diesem großen, viel zu starken Typen in den Wald zu folgen?

»E-Es tut mir leid, aber ich kann nicht einfach so mitkommen. Danke für die Rettung dennoch!«

Raels Mund klappte nur eine Sekunde auf. Das war so nicht Teil des Plans. Währenddessen machte Jotaka auf dem Absatz kehrt und ging zügig davon.

»Aber du hast doch kein Zuhause mehr!«, rief er ihr hinterher, beschloss aber, ihr nicht zu folgen.

1

Bei einem seiner vielen Streifzüge durch den Wald, der das Dorf mitten im Wald umzäunte, in dem die Besessenen friedlich lebten, erspähte Rael plötzlich einen roten Haarschopf im sonst grün-braunen Gehölz. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass …

Warmer Sommerwind blies ein paar Blätter durch die Luft und ließ Rael für einen Moment in Gedanken versinken. Dann überkam ihn einer seiner Hustenanfälle und er musste nach Luft ringen. Warum suchten die Anfälle ihn noch immer heim? Dann schüttelte er den Kopf und fokussierte seinen Blick erneut auf die rothaarige Frau. Es musste sie sein, ganz klar.

Er zögerte nicht lange und sprintete mit übermenschlicher Geschwindigkeit los. Der graue Schal, den er nur selten ablegte, flatterte hinter ihm her, während Äste brachen und er seinem Ziel näherkam. Erschrocken hastete sie zur Seite und fiel in einen Haufen matschiger Blätter.

»Du hast mich erschreckt«, beschwerte sich Jotaka, welche sich nun langsam hochkämpfte.

»Und du hast mich überrascht. Ich dachte, du kannst nicht einfach so mitkommen«, erwiderte der Besessene und streckte ihr eine Hand entgegen. Dankend ließ sie sich helfen. Die Blätter waren aber auch glitschig.

Sofort bemerkte Rael tiefe Augenringe unter den nun nur noch mattblauen Augen. Auch ihr schnurgerades Haar hatte seinen Glanz verloren. Außerdem trug sie noch immer dieselben Holzschuhe und dasselbe weiße Kleid, nur dass das Kleid nun allmählich vor lauter Dreck bereits grau wirkte. Es dauerte keinen Augenblick, da verkündete Rael das Ergebnis seiner Beobachtung.

»Du bist nicht zurück nach Ährenberg.«

»Ich konnte nicht. Die Soldaten würden mir den Tod zweier Wachen auch noch in die Schuhe schieben und ich hätte wohl genau jetzt im Scheiterhaufen gebrannt, während alle außer meine Familie jubelten. Der Fürst will das so.«

Rael sagte nichts, was dazu führte, dass sie von allein fortfuhr.

»Nachdem du mich gerettet hast, bin ich in den Wald nahe Ährenbergs. Dort gibt es ein altes Haus – das muss einst eine Art Lager gewesen sein, wo ich mich versteckt hielt. Ich wusste einfach nicht, wohin ich sonst gehen sollte.«

Sie verriet allerdings nicht, dass sie Rael und seinen Elementar nicht mehr aus ihrem Kopf bekam, seitdem er sie eingeladen hatte. Das käme bestimmt komisch rüber.

»Und deshalb hast du kaum gegessen und geschlafen, während du versucht hast, mich zu finden.«

Der große Mann schnaubte belustigt auf.

»Ja, so kann man das beschreiben. Ich hatte nichts zu essen und einfach allein am Straßenrand zu schlafen passt mir auch nicht.«

»Ich verstehe. Wie hast du mich gefunden?«

»Rael … du hast mich gefunden. Schon wieder.«

Er kratzte sich kurz am Kopf.

»Ja schon klar. Ich meinte, woher du wusstest, wohin du gehen musstest.«

»Du hattest erwähnt, dass ihr in einem Wald lebt und außerdem sei es ein „Zufluchtsort“ für Besessene. Ich denke nicht, dass irgendeiner der neun Fürsten ein ganzes Dorf voller Besessener tolerieren würde, so sehr sie einzelne von euch auch tolerieren. Zum Glück habe ich so viel Zeit in der Bibliothek verbracht, sodass ich wusste, wo sich ein Wald befindet, welcher außerhalb jeder Grenze der Provinzen lag.«

»Gute Arbeit, ich bin echt erstaunt. Allerdings ist deine Orientierung wohl nicht so gut wie deine Gabe, Karten zu lesen. Du hättest unser Dorf um etwa einen Kilometer verfehlt, wenn du da lang weitergegangen wärst.«

Er nickte mit dem Kopf in die Richtung, in die Jotaka unterwegs gewesen war. Nervös strich sie sich eine Haarsträhne ins Gesicht und spielte an ihr herum.

»Oh. Dann ist es ja gut, dass du mich gefunden hast.«

Rael lachte auf und klopfte ihr auf die Schulter.

»Ich bringe dich dann mal in das Dorf. Dort kannst du erstmal essen und schlafen. Siehst schlimm aus.«

2

Zufrieden blickte Rael auf die im Bett schlafende Jotaka herab. Sie hatte die Augen geschlossen und war augenblicklich eingeschlafen. Die Verfolgungsjagd und der darauffolgende Aufenthalt im Wald, sowie die pausenlose Reise hatten sie vollends erschöpft. Er selbst lächelte bei dem Gedanken. Sowas erschöpfte ihn schon lange nicht mehr.

»Du hast also wieder jemanden überzeugt, Junge«, lachte Silas hinter ihm. Silas war ein von der See gegerbter, alter Mann, der, nachdem er für den Einsatz als Seefahrer untauglich eingestuft wurde, das Waisenkind Rael aufgezogen hatte. Er war schon etwas älter, doch sein Bart war noch immer so schwarz wie vor 20 Jahren. Außerdem versteckte das buschige Gesichtshaar seine vielen Falten. Vielleicht war das die Entschuldigung der Natur dafür, dass ihm schon lange sein Kopfhaar fehlte. Er war derjenige gewesen, der Rael die Welt der Elementare gezeigt hatte, da er selbst schon lange einen Pakt eingegangen war, um auf hoher See niemals schwächeln zu müssen.

»Denk nur nicht, dass jeder so talentiert ist wie du. Überanstreng das Mädchen nicht«, warnte Silas ihn, doch das wusste Rael bereits.

»Schick sie zu mir, wenn sie aufwacht. Ich bin beim Stumpf.«

Rael schlurfte zur Tür und trat nach draußen. Die kühle Waldluft umhüllte ihn.

»Hallo«, begrüßte ihn eine Frau von der Seite. Er murmelte einen Gruß zurück und spazierte dann weiter durch das belebte Dorf, das gänzlich aus Holz gebaut war. In den vergangenen drei Jahren hatten er und Silas nach und nach Besessene und deren Familien aufgesucht und an diesen Ort gebracht, wo sie in der Freiheit leben konnten, die sie verdienten. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie der Welt zeigen würden, dass es nur Vorteile brachte, einen Pakt zu schließen. Rael hoffte, dass es ohne einen großen Kampf vonstattengehen würde. Er liebte zwar den Nervenkitzel eines guten Kampfes, doch ein Blutbad würde niemals dazu führen, dass die Menschen die Besessenen akzeptieren und in ihre Gesellschaft mehr integrierten als günstige Söldner. Die Anwendungsmöglichkeiten der Elementare waren grenzenlos.

Nachdem Rael das 300-Einwohner-Dorf „Turva“ (Silas hatte den Namen ausgesucht) hinter sich gelassen hatte, ging er tiefer in den nebligen Wald hinein. Das Dorf lag in jenem Waldgebiet, das zu keinem der neun Fürstentümer Jormunds gehörte. Einst war Jormund ein großes Königreich gewesen, reich an Wäldern und mit guten Ernten, aber ebenso brutalen Wintern. Der König starb vor 92 Jahren ohne einen Nachfolger und so entbrannte zwischen den neun Fürsten der einzelnen Provinzen ein Krieg, der viele Opfer forderte und letztendlich die Grenzen der Fürstentümer definierte. Jedes Fürstentum hatte eine große Hauptstadt, Ländereien und ein paar Dörfer. Durch den Krieg waren die meisten Bewohner in die Hauptstädte geflohen, sodass auf dem Land nur noch einzelne Landwirte lebten. Manche der Fürstentümer entledigten sich im gleichen Zug ihrer Fürsten und wurden nun vom Volk verwaltet. Doch der Krieg hatte auch die Natur beeinflusst: Er erweckte die Elementarkräfte der Welt, die nun als unsichtbare Energieströme unterwegs waren. So entstanden die Pakte, welche die Menschen stärken konnten.

In der Abenddämmerung konnte Rael die umherschwirrenden Elementare des Waldes und ihre Kräfte spüren. Diese Elementare waren der Schlüssel, um das volle Potential eines Menschen zu eröffnen. Der Begriff „Besessener“ war von den normalen Menschen festgelegt worden. Jemand wie Rael hatte jedoch die volle Kontrolle über seinen Körper und seine Kräfte. Von besessen konnte also nicht die Rede sein. Er hatte nichts anderes getan, als eine neue Rüstung oder eine neue Waffe anzulegen, bloß dass diese Waffe im Inneren seines Körpers saß.

Zufrieden ließ er sich auf dem alten Baumstumpf nieder, zog die Beine an und begab sich so in den Schneidersitz. Der riesenhafte Stumpf war schon hier gewesen, als Rael zum ersten Mal durch den Wald streifte, doch auch damals hatte vom dazugehörigen Baum jede Spur gefehlt.

Dieser Ort im Wald, umhüllt von Nebel, war der einzige Ort, an dem Rael wirklich zur Ruhe kommen konnte. So sehr er das Adrenalin liebte, wenn es durch seinen Körper floss, so schwer tat er sich, einfach mal abzuschalten. Er schlief immer weniger, seitdem er den Pakt geschlossen hatte. Inzwischen genügten ihm einmal wöchentlich vier Stunden Schlaf.

Silas hatte ihm schon oft geraten, doch trotzdem täglich ein paar Stunden zu schlafen, auch wenn es nicht notwendig war. Man gönne seinem Körper so eine Pause. Rael hielt Schlaf für ein reines Mittel zum Zweck. Mehr als nötig war Zeitverschwendung.

Der Baumstumpf mitten im Wald hatte eine wundersame Wirkung auf Rael. Nach jeder Reise suchte er ihn auf und setzte sich für ein paar Stunden auf ihn. Er schlief nicht, sondern versank in seinen Gedanken, lauschte dem Wald oder summte leise vor sich hin. Er machte kein Geheimnis aus seinem Rückzugsort, aber kein Bewohner des Dorfes, dessen zweites Oberhaupt er war, störte ihn, wenn er hier saß. In seltenen Fällen lud er jemanden zu sich ein, wie auch an diesem Tag.

Nach einer etwas längeren Zeit erklang ein zartes »Entschuldigung?« hinter ihm. Rael wurde aus seinen Gedanken gerissen, öffnete die Augen und drehte sich um. Jotaka stand ein paar Meter entfernt und musterte die Umgebung genaustens.

»Es gibt hier keine Raubtiere, keine Sorge«, erklärte Rael und richtete sich auf. Sein Knie knackte kurz.

»Komm doch mal näher, du musst nicht da im Gebüsch stehen. Ich habe die ganze Zeit nachgedacht, welche Art von Elementar für dich am passendsten sein würde. Aber bevor ich dir sage, was ich denke, möchte ich gerne deine Meinung hören. Du behauptest immerhin, dich in die Welt der Elementare eingelesen zu haben. Wie schätzt du dich ein?«

Jotaka stieg über einen Ast am Boden und trat zum Baumstumpf. Da sie nicht sofort eine Antwort auf seine Frage wusste, dachte sie nach und zupfte dabei abermals ihre Haare vor die Augen.

Durch Elementare verstärkte Menschen erhielten abgesehen von einer Erhöhung der körperlichen Geschwindigkeit, Kraft und Ausdauer auch eine besondere Gabe, der ein Element zugeordnet war.

Es gab drei verschiedene Typen von Gaben:

Der Quellen-Typ konnte das zugeordnete Element hervortreten lassen. Ein Besessener mit einer Feuer-Quelle konnte beispielsweise seinen Körper zum Teil in Flammen hüllen.

Der Verstärker-Typ machte im Alleingang nichts, jedoch konnten bestimmte Muskeln aufgeladen werden, was die unterschiedlichsten Effekte haben konnte. Raels Elementar war ein Wind-Verstärker, der die Hiebe seines Besitzers mit Stoßwellen auflud.

Der Infusions-Typ konnte seine Fähigkeit nicht auf sich selbst anwenden, sondern musste sie durch Körperkontakt auf Freund oder Feind einsetzen. Es soll einst eine Alchemistin gegeben haben, welche Menschen durch Berührung heilen konnte.

Nach einem Augenblick verkündete Jotaka siegessicher: »Ein Quellen-Typ!«

»Ne«, meinte Rael trocken. Sie ließ die Schultern hängen. Seine Hand hob ihr Kinn an, sodass sie nun direkt in seine grünen Augen sah.

»Wenn du wirklich eine Quelle haben willst, nur zu. Ich sehe in dir eine Infusion.«

»Wieso das?«

»Mit einer Quelle kannst du zwar alles mit bunten Effekten machen, aber in einem Kampf sieht dein Gegner schon vorher, wie du ihn angreifen möchtest. Dein Arm fängt an zu brennen? Du hast verraten, wie du angreifst. Außerdem ist der Quellen-Typ extrem kräftezehrend. Du erschaffst permanent neue Materie, egal ob du Trinkwasser aus deinem Körper fließen lässt oder deinem Gegner das Gesicht wegbrennst.

Ein Verstärker-Typ erfordert bereits ein hohes Maß an technischem Können, das Einzige, was der Pakt dir nicht schenkt. Wenn du nicht weißt, wie du deinen Gegner mit den Fäusten plattmachst, dann bringt dir der Verstärker auch nichts. Außerdem ist das was für grobe Menschen wie mich.

Mit einem Infusions-Typ kannst du vieles anstellen, gerade wenn du so gerissen bist, wie du wirkst. Du musst zwar näher an dein Ziel herankommen als bei den anderen Elementaren, doch die Vielseitigkeit ist enorm. Je nach Element kannst du Heilen, Zerstören oder Verändern.«

»Verstehe.«

Die Frau wirkte verunsichert. Um sie aus diesem Zustand herauszuholen, fügte Rael hinzu: »Du wärst passend für den Pakt mit einem Eis-Infusions-Typen.«

»Eis? Wieso Eis?«

»In erster Linie, da Eis-Elementare sich eher für die vorsichtigen Leute eignen. Eis hat eine vielfältige Macht, auch wenn du mit der Infusion die defensiven Aspekte nicht nutzen kannst. Außerdem verändern Infusionen deine eigenen Empfindungen. Ein Eis-Typ friert kaum noch, hat eine niedrigere Körpertemperatur und muss daher weniger essen. Eine Feuer-Infusion bewirkt das Gegenteil.«

»Hört sich gut an, denke ich.«

»Ja, es hört sich gut an!«

Jotaka lächelte dankbar.

»Woher bekomme ich den Elementar?«

Rael hob fragend eine Augenbraue.

»Wie du bestimmt weißt, sind Elementare dicht mit der Welt verbunden. Sie sind Strömungen der Welt, gebündelte Kräfte. Willenslos. Namenslos.«

Seine Atmung stockte und beschleunigte sich.

»Verdammter Mist«, knurrte er. Wie er diesen Fehler hasste. Jotaka unterdrückte ein Grinsen, was Rael jedoch sah.

»Du darfst es ruhig lustig finden. Es ist schließlich ziemlich dämlich.«

Doch sie war bereits wieder mit dem ursprünglichen Thema beschäftigt.

»Also müssen wir dorthin, wo viel Eis ist?«

»Das, oder wir warten, bis es Winter wird. Deine Entscheidung.«

»Ich bin bereit!«

Rael griff sie am Handgelenk und stapfte zurück auf Turva zu. Der Ast, über den sie grazil gestiegen war, brach unter seinem Stiefel. Die Frau schloss zu ihm auf und er ließ sie los. Voller Tatendrang richtete er den Blick entschlossen nach vorne. Ein neues Abenteuer. So gefiel es ihm. Lange Pausen frustrierten ihn.

3

»Du hast mir echt keine Zeit zur Vorbereitung gegeben«, beschwerte sich Jotaka, als sie keine Stunde nach ihrem Gespräch im Wald das Dorf verließen. Rael schnaubte bloß kurz. Weshalb sollte man auch nur eine Minute zu viel Zeit verschwenden?

Er trug eine Umhängetasche über einer Schulter. Darin befanden sich zwei Jacken für die beiden, da weder das ärmellose schwarze Oberteil, noch das weiße Kleid besonderen Schutz vor der Kälte boten, die sie erwartete. Außerdem schleppte er zwei schmale, zusammengerollte Matratzen auf dem Rücken.

Nach einer Weile verließen sie schweigend den Wald und begaben sich auf einen breiten Weg aus Schotter. Auf der anderen Seite erstreckte sich eine große Grünfläche, die Gräser wogen sich im lauwarmen Wind unter der Mittagssonne. In Jormund war der Sommer lang, die Temperaturen stiegen und fielen sanft. Der Winter war kurz, aber umso erbarmungsloser. Es gab jedes Jahr erneut Leute, die im Kampf gegen die Kälte ihr Leben ließen. Rael hatte diese Angst schon vor zehn Jahren abgelegt. Sein Körper war eben stärker als der eines Menschen. Jotaka starrte Rael schon eine Weile von unten an, während dieser die Natur beobachtete. Er hatte irgendetwas wildes und geheimnisvolles an sich. Konnte dieser Mann wirklich eine bessere Welt herbeiführen? Ihre Welt hatte er bereits gebessert.

»Was gibt’s?«, knurrte er schließlich. Sie wandte ihren Blick für einen Moment ab, bevor sie ihm entschlossen in die Augen blickte. Dem Besessenen entging nicht, dass sie wieder mit ihren Haaren spielte.

»Ich frage mich nur gerade, wieso ich dir vertraue, obwohl ich eigentlich nichts über dich weiß. Du heißt Rael, bist ein Besessener mit einem Wind-Verstärker-Elementar und wohnst im Dorf mitten im Wald.«

Rael sah wieder nach vorne.

»Na hör mal, du weißt mehr über mich als ich über dich weiß. Wie auch immer, wenn du etwas hören willst, dann erzähle ich auch. Im Gegenzug möchte ich etwas über dich erfahren.«

Jotaka nickte, was Rael jedoch nicht sah.

»Ja, gerne.«

Als hätte er nur auf den Startschuss gewartet, legte er los.

»Ich bin ein Waisenkind. Schon immer. Soweit ich weiß, ist mein Vater vor meiner Geburt und meine Mutter bei meiner Geburt gestorben. Ich war zu groß für ihren Körper, hieß es. Doch was kann ich schon dafür? Inzwischen bin ich 2,10m groß. Schlimm, ich weiß.

Ich wuchs im Waisenhaus der Hafenstadt Teldraal auf, bis ich im Alter von sechs Jahren im Hafen saß und der 50-jährige Seemann Silas auf mich zu humpelte. Man hatte ihn soeben suspendiert, da seine Hüfte bei einem Sturz vom Mast schweren Schaden genommen hatte und durch die Heilung seltsam verdreht wurde. Es hieß, er war trotzdem noch gut davongekommen.

Du hast ihn noch gar nicht laufen sehen, oder? Er eiert hin und her, wie ein Betrunkener. Jedenfalls sah ich in dem Moment, in dem er mich sah, eine neue Tür im Leben aufgehen. An jenem Tag führte er mich durch den Hafen, obwohl jeder Schritt schmerzte, und erklärte mir die Funktionsweise der Segelschiffe. Noch am darauffolgenden Tag adoptierte er mich. Das Leben in der alten, nach Fisch stinkenden Hütte war kein Traum, aber Silas ist ein wirklich guter Zeitgenosse und Vater für mich gewesen. Er ist es immer noch. In dem Mann stecken mehr Geschichten als man glaubt.«

Rael machte eine Pause, trat einen etwas größeren Kieselstein davon.

»Vier Jahre später erfuhr ich den wahren Grund, weshalb der Alte den Sturz vom Mast überlebt hatte. Es war keinesfalls Glück, sondern weil sein Körper robuster war, als die der anderen. Er hatte einen Pakt mit einem Wasser-Quellen-Elementar geschlossen. Meine Begeisterung für Elementare war nicht zu stoppen. Jede freie Minute fragte ich ihn aus und wollte alles über diese mir vorher unbekannten Kräfte wissen. Als ich erfuhr, dass Besessene verachtet und teilweise ermordet wurden, entschloss ich mich, gemeinsam mit Silas eine Welt zu schaffen, in der alle leben können, wie sie sein möchten. Einen Pakt zu schließen brachte immerhin schier unbegrenzte Vorteile. Selbst wenn aus meinem Traum nichts wird, so will ich wenigstens den Grundstein für diese Welt legen. Deshalb rekrutiere ich Leute wie dich. Ich kann das nicht alleine. Wir müssen zeigen, dass wir keine Minderheit sind.«

Die Frau hörte ihm gespannt zu. Die Stille legte sich über die Beiden. Eine Frage brannte ihr noch auf der Zunge.

»Wie kamst du zu deinem eigenen Elementar?«

»An meinem 12. Geburtstag nahm Silas mich mit in eine nahe Schlucht, in der der Wind immerzu heulte. Er zeigte mir, wie man die Elementare sehen konnte, doch bis ich mich entschieden hatte, war es bereits Mitternacht. Der Wind wuchs an, ich konnte kaum noch stehen und da fand ich meinen Elementar. Er ist der Mitternachtswind, deshalb sind seine Effekte auf meinen Körper auch schwarz. Vielleicht verursacht er deshalb auch Atemprobleme. Kurz darauf zogen Silas und ich in den Wald und begannen, unser Dorf zu bauen.«

Jotakas blaue Augen glänzten. Seine Worte verstärkten nur ihre Überzeugung, eine Besessene zu werden. Sie wollte gerade mit ihrer Lebensgeschichte anfangen, da erschien ein Karren mit einem Pferd am Horizont des Steinweges. Rael hob die Hand.

»Gleich kannst du erzählen. Warte, bis der Karren vorbei ist.«