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Josi, Helga, Ulrich und Leo sind schon seit dem Kindesalter in unzertrennlicher Freundschaft verbunden. Dabei sind die vier Freunde eigentlich sehr verschieden – jeder hat so seine Eigenart und jeder hat sein eigenes turbulentes Schicksal. Und so kommt es, dass die vier Freunde sich zuweilen aus den Augen verlieren und verschiedene Wege gehen müssen. Doch wahre Freundschaft übersteht selbst die größten Hindernisse. Nichts kann die Freunde trennen.JOSI UND IHRE FREUNDE ist ein humorvoller und lustiger Roman über vier äußerst unterschiedliche junge Menschen, deren Lebenswege immer wieder von Höhen und Tiefen bestimmt werden und unerwartete Richtungen einschlagen - und sich am Ende dennoch wieder kreuzen. Lise Gast (geboren 1908 als Elisabeth Gast, gestorben 1988) war eine deutsche Autorin von Kinder- und Jugendbüchern. Sie absolvierte eine Ausbildung zur landwirtschaftlichen Lehrerin. 1933 heiratete sie Georg Richter. Aus der Ehe gingen 8 Kinder hervor. 1936 erschien ihr erstes Buch "Tapfere junge Susanne". Darauf folgen unzählige weitere Geschichten, die alle unter dem Pseudonym Lise Gast veröffentlicht wurden. Nach Ende des zweiten Weltkriegs floh Gast mit ihren Kindern nach Württemberg, wo sie sich vollkommen der Schriftstellerei widmete. Nachdem sie erfuhr, dass ihr Mann in der Tschechoslowakei in einem Kriegsgefangenenlager gestorben war, gründete sie 1955 einen Ponyhof und verwendete das Alltagsgeschehen auf diesem Hof als Inspiration für ihre Geschichten. Insgesamt verfasste Gast etwa 120 Bücher und war neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin auch als Kolumnistin aktiv.-
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Seitenzahl: 586
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Lise Gast
Drei Romane für Mädchen
Saga
Josi und ihre Freunde
© 1964 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711509647
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Josi stand am Fenster des D-Zuges, der soeben zu bremsen begann. Sie trug ein Kostüm, ihr erstes, und mußte sich beständig in den Fensterscheiben spiegeln, während ihr dunkles Haar im Zugwind flatterte. Ob Ulrich an der Bahn sein würde? Kein Mensch auf der Welt konnte ermessen, wie wichtig das war. Wie jeden Tag mit Ulrich und Leo und Helga zusammenzusein...
Josi zog, ohne es zu wissen, wie stets ihre Himmelfahrtsnase ein wenig kraus, wenn sie an Helga dachte. Helga war die Tochter vom Gut, etwas älter als Josi, und hatte ungefähr alles, was man sich wünschen konnte, nur keine Geschwister. Dafür hatte sie, Josi, sieben, und war Nummer acht. Als Helga ein gutes Abitur machte – sie waren alle vier zusammen in die Kreisstadt zur höheren Schule geradelt –, war es für Josi klar, daß sie das auch schaffen müßte. Sie schaffte es dann auch. Und jetzt hatte es die kleine Josi Fischer tatsächlich durchgesetzt, daß sie auch studieren durfte. Sport wollte sie studieren, und dazu – sie mußte noch mit Ulrich reden. Nun würden sie sich wieder jeden Tag sehen. So war es damals gewesen; da verging kein Tag, an dem sie nicht in der Revierförsterei auftauchte. Frau Gieseking, Ulrichs Mutter, pflegte zu sagen, wenn man sie fragte, wieviel Kinder sie habe: „Drei. Zwei Jungen und ein Mädchen.“ Das Mädchen war Josi. Sie gehörte in die Försterei mehr als ins Inspektorhaus. Und deshalb waren die Jahre, in denen Ulrich und Leo fort waren, ein bißchen einsam gewesen. Jetzt aber fing das Leben wieder richtig an. Ob Ulrich...
Aber es war ein anderes Gesicht, das auftauchte, als Josi aus dem Zug gesprungen war, und nicht Ulrichs, sondern eine andere Stimme rief: „Ja, Josi, da bist du ja. Wunderbar!“
Sie war nicht enttäuscht. Sie kam gar nicht dazu, es zu sein – Leo sah großartig aus, und er hakte sich sofort bei ihr ein.
„Bist du noch größer geworden?“ Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter. „Nein, ein Taxi, du bist ja verrückt!“
„Nur heute, dir zu Ehren. Komm, ich traute mich gar nicht, dich hier heil über die Straße zu bringen zu Fuß!“
Das Gewühl vor dem Hauptbahnhof war freilich verwirrend. München – Großstadt – Universitätsstadt – sie schnurrten dem Stachus zu.
„Du mußt gleich alles kennenlernen. Ich hab’ zu Ulrich gesagt...“
„Wo ist er denn?“ fragte Josi und versuchte zu kapieren, was er ihr zeigte. Da hielt der Wagen schon wieder.
„Ulrich? Kommt gleich. Helga hat noch Kolleg“, berichtete Leo beim Aussteigen. „Sie sind sicherlich gleich da.“
Er bugsierte Josi durch ein gemütliches kleines Lokal zu einem Fenstertisch. Draußen flutete der Verkehr vorbei, gegenüber lag das Rathaus. Und dann kamen Ulrich und Helga.
Ulrich war größer als sein Bruder, wirkte aber zarter. Er hatte ein etwas unregelmäßiges Gesicht mit gescheiten dunklen Augen und auch dunkles Haar. Leos Haar krauste sich, hellbraun, in kurzen eigensinnigen Locken über der breiten Stirn.
Josi war glücklich. Die andern fragten nach zu Hause, und sie erzählte. Sie hatte natürlich ein Päckchen für sie alle mit, von Frau Gieseking – „sicherlich Waffeln“ –, und viele, viele Grüße. Und die Lotte hatte gekalbt, ein Kuhkalb, braun mit winziger Blesse.
Auch für Helga brachte sie Grüße mit. Die saß am Fenster in der blassen Herbstsonne, vornehm, still und schön. Ein bißchen blaß, fand Leo, als sein Blick von den strahlenden Farben Josis zu ihr hinüberging. Wahrscheinlich arbeitete sie zuviel.
„Wo wohnen wir denn?“ fragte Josi.
„In der Leopoldstraße, ziemlich weit draußen, aber trotzdem enorm günstig. Die Uni zu Fuß zu erreichen, ringsumher Schwabing, für dich haben wir ein Zimmer erwischt.“ Die Zugehfrau, die alle betreute, sei ganz groß, erzählte er. Früh machte sie Waldlauf im Englischen Garten, und abends braute sie Schnäpse; und dichten tat sie auch. Wie Ulrich.
„Ach, laß doch den Unsinn!“ sagte der ärgerlich.
„Na, natürlich, du dichtest ganz anders...“
„Hast du was Neues fertig?“ fragte Josi begierig.
Ulrich winkte ab. Er konnte es nicht leiden, wenn man darüber sprach, obwohl sie alle nicht spotteten. Alle – ob auch Helga glaubte, daß etwas Großes aus ihm werden würde? Nie wurde man aus ihr klug, und sie sollte, gerade sie sollte doch...
„Ich hab’ noch zu arbeiten“, sagte er plötzlich in Leos Pläne für den Abend hinein, „geht doch allein. Ich...“
„Aber Ulrich! Du hattest doch gesagt... Helga, sag du mal...“
„Ich möchte auch noch was tun“, sagte Helga. Leo wütete.
„Dann geh’ ich mit Josi allein. Sie hat das Recht drauf, daß wir ihr die Stadt zeigen, an ihrem ersten Tag hier!“
Die andern gaben nach. Man beschloß: Theater.
„Kann ich denn so gehen?“ fragte Josi schüchtern. Ihr herrliches Kostüm kam ihr gegen die Eleganz der Großstadt und Helgas Pelzjacke plötzlich sehr simpel vor. Sie dachte an ausgeschnittene Abendkleider und blitzende Diamanten im Foyer.
„Klar, wir gehen doch Galerie“, sagte Leo beruhigend. Er brachte Josis Koffer heim, und die andern gingen voran ins „Kleine Theater“. Es war ein modernes Stück und schwer zu verstehen, und schon im zweiten Akt sank Josis Kopf nach vorn. Immerhin war sie nach einer vor Vorfreude fast schlaflosen Nacht seit dem Morgen unterwegs. Leo lachte. Mochte sie schlafen.
Als sie heimkamen, war Josi wieder munter, so munter, daß ihr unmöglich schien, schlafen zu können. Ihr Zimmer war kalt, die Koffer standen noch so, wie Leo sie hingeboxt hatte. Helgas Zimmer lag nebenan, das der Jungen einen Stock tiefer.
Auf dem Tisch türmten sich bald Bücher, Taschenbücher, von Mutter liebevoll zusammengebunden, und sonst allerlei. Endlich fand Josi die Waffeln, auf die die Jungen lauerten.
„So, nun brausen wir ab; wenn was ist, klopfst du auf den Fußboden, dann komme ich als rettender Engel heraufgeschwebt.“
„Was soll denn schon sein? Aber es beruhigt mich kolossal!“ Josi lachte. Die Jungen schoben ab, auch Helga, die sich erst geweigert hatte, ihren Anteil Waffeln anzunehmen. Josi ging umher, räumte ein, setzte sich schließlich auf die Bettkante und zündete sich eine Zigarette an. Sie rauchte sonst nie, fand nichts daran, aber wie oft hatte sie sich ausgemalt: Wenn ich erst Studentin bin und eine Bude hab’, dann rauche ich vor dem Schlafengehen eine Zigarette. Es war also eine symbolische Handlung. So tat sie es mit Genuß.
Draußen war Mondschein. Unten, im selben Haus, schlief Ulrich. Sie war glücklich. Als die Zigarette zu Ende war, konnte sie getrost ins Bett schlüpfen. Sie drehte das Nachttischlämpchen an: Da lag ihr Waffelanteil, auf ein Stück Papier geschichtet. Es duftete herrlich nach Butter und Zimt. Sie kuschelte sich ins Bett und griff nach der obersten Waffel, ließ sie genießerisch auf der Zunge zergehen. Dabei dachte sie an die Küche im Forsthaus von Frau Gieseking...
Zu gern war sie dort immer gewesen. An einen Nachmittag erinnerte sie sich besonders genau, im letzten oder vorletzten Jahr, als die Jungen noch zu Hause waren. Es war entsetzlich heiß, ein Gewitter im Anzug. Josi sah die Wolkenbank vom Westen her aufziehen, während sie um die Hutung bog. Frau Gieseking rettete die Putküken vor dem Regen, die keinen vertrugen. Josi half – kaum waren sie in der Küche, da fuhren die Blitze schon über den Himmel, zischgelb und tausendfach verästelt. Die Jungen waren im Wald.
„Wo sie nur bleiben!“ sagte Frau Gieseking und sah hinaus.
Josi schnupperte. „Backen Sie Waffeln?“
„Ich wollte gerade anfangen.“ Frau Gieseking trocknete sich die Arme mit der Schürze ab. Josi sah zu, wie sie den Teig zähflüssig ins schwarze Waffeleisen rinnen ließ. Ihr lief das Wasser im Mund zusammen. „Darf ich mitessen?“ fragte sie blinzelnd.
„Als ob wir jemals Waffeln ohne dich gegessen hätten“, sagte Frau Gieseking lachend, „aber trockne dich ab, Kind!“ Sie warf ihr ein Handtuch zu, das am Herd gehangen hatte. Es roch nach Rauch und Sommerwind und kratzte auf der Haut, so grobkörnig war es. Josi hatte einen Fuß auf die Ofenbank gestellt und rieb das Bein ab.
„Jetzt kommen sie“, sagte sie, ohne aufzublicken, „hören Sie?“
„Ich höre nur den Regen...“
Sie gingen zusammen zum Fenster und sahen hinaus. Der Hof war jetzt ein See, aus dem die Tropfen spritzend emporsprangen. Hinterm Wald wurde es schon wieder hell. „Du mußt Ohren haben wie ein Luchs“, sagte Frau Gieseking, „hören kann man doch nichts.“
Die beiden Jungen kamen um die Hutung. Sie sprangen in weiten Sätzen, Leo vornweg, Ulrich etwas vorsichtiger hinterher. Ihre Hemden klatschten auf der Haut. Josi hielt ihnen die Tür auf.
„Waffeln fertig?“ war das erste, was Leo rief. Die Mutter legte eben ein paar Scheite auf.
„Gleich geht’s los. Könnt ihr nicht eher kommen? Naß wie die Wassermäuse seid ihr...“
Ulrich zog sein Hemd über den Kopf und warf es, klatsch, auf die Ofenbank. Der Schein des Feuers tanzte auf seinem nackten Oberkörper und malte ihn rot an. Leo hockte sich vor die Glut. Er sah wie ein Waldschrat aus mit dem hellbraunen Haar, das sich in der Nässe ringelte und drehte.
„Na, ihr seid ja reichlich ungeniert, dabei habt ihr doch Damenbesuch“, schalt die Mutter.
„Ach, Damen!“ meinte Ulrich wegwerfend. Josi am Fenster lachte. Sie hatte ihr Haar glatt nach hinten gestrichen und fühlte es um den Kopf liegen wie einen kühlen Helm.
„Wenn ich schon keine bin, aber draußen ist eine“, sagte sie.
„Wo?“
Sie deutete mit dem Daumen hinter sich. Leo kam neugierig herüber. Eine Dame im regennassen Wald?
Es war Helga. Josi hätte sie malen können, so genau besann sie sich, wie sie jetzt dastand, ein wenig hilflos, das Pferd am Zügel. Es war der hochbeinige Dunkelbraune, den sie damals ritt. Der Regen sprühte von dem blanken Sattel.
Ulrich rannte gleich hinaus, um ihr zu helfen. Helga fühlte sich wohl ein wenig fehl am Platz mit ihrer durchgeregneten Reitjacke zwischen den halbnackten Jungen und Josi, die hier wie zu Hause war. Josi fand, daß sie nicht so recht zu ihnen paßte, zu Ulrich, Leo und ihr. Damals schon – und auch noch heute. Obwohl die Jungen sehr nett zu ihr waren...
Josi hatte beim Schwelgen in Gedanken alle Waffeln aufgegessen. Jetzt tat ihr das leid. Eine hätte sie doch als Heimwehbrot aufheben sollen. Sie lachte: Heimweh? Wo die Jungen unten wohnten? Nein, Heimweh gab es nicht. Sie streckte sich aus und schob den Arm unter die Wange. Wo Ulrich war, war auch sie zu Hause. Schnell war sie eingeschlafen.
Helga stand am Waschtisch und ließ das Wasser über die Hände laufen, minutenlang, wie vor einer Operation. Draußen nieselte es – unerfreuliches Wetter, fast schon November. Helga fror und hatte zu nichts Lust. Es war noch Zeit bis zur Reitstunde. Ob Josi vielleicht...
Da kam sie schon draußen durch den Regen gesaust, Helga sah es durchs Fenster. Josi trug zu einem kurzen Rock ihre Skijacke, ihr Gesicht war naß vom Regen und munter – beneidenswert munter. Mit einem Satz sprang sie vom Rad und trug es, noch im Schwung, drüben zur Seitentür hinein. Helga fragte sie, warum sie denn so zeitig käme. Die Stunde finge noch nicht an.
Seit Josi da war, war alles anders, auch die Jungen – wacher, lebendiger. Sie unternahmen mehr, sie ließen sich mitreißen von ihrem Tempo, und Josi tat, als gehörten sie ihr. Das, fand Helga, war übertrieben.
Bisher hatten sie sich um sie. Helga, förmlich gerissen. Und sie hatte sich zwischen den beiden Knappen recht wohl gefühlt. Sie „standen“ ihr gut. Ulrich war bestimmt begabt und wurde sicherlich einmal etwas Großes, und Leo, einfacheren Gemütes, wäre sicher für sie durchs Feuer gegangen, bisher. Und nun war es auf einmal Josi, die den Ton angab. Wie kam das nur?
Sie dachte an ihre Mutter. Neben der war es auch schwer, sich zu behaupten, deswegen hatte sie, Helga, wohl angefangen Medizin zu studieren. Mutter hatte das als junger Mensch auch einmal gewollt, und so glaubte Helga, am ehesten vor ihren Augen bestehen zu können. Das Interesse für all die Wunder und Zusammenhänge des Lebens hatte sie in sich, und ein gutes Gedächtnis auch. So hatte sie das Physikum ohne Schwierigkeiten gut bestanden. Nun kam also das Klinische.
Ob Mutter sich gefreut hatte, als sie telegrafierte, sie habe bestanden? Ob Mutter – Herrgott, immerzu Mutter und Mutter. Lieber sollte sie sich jetzt um ihren Lord kümmern, den sie so gern ritt. Sie stand auf, ungeduldig über sich selbst, und ging zum Stall hinüber. Gerade kam Leo geschusselt.
„Helga? Willst du auch Stallbursche werden? Dort drin steht Josi und mistet aus. Für dich ist auch noch eine Gabel da!“
„Ist nicht wahr. Putzen tut sie“, sagte jetzt Ulrich herankommend. „finde ich übrigens ganz gut. Selbst putzen und satteln – wir sind doch keine Herrenreiter. Von jetzt an...“
Der Reitlehrer verteilte die Pferde. Ulrich bekam den Kardinal und saß auf, strahlend vor Stolz. Er ritt gut, fast so gut wie Leo. Helga sah noch, daß Josi den Loki bekam, ein kleines, nicht sehr dekoratives Pferd, aber einfach zu reiten. Eigentlich gehörte sie noch in die Anfängerabteilung.
„Wir wollen es mal hier versuchen, kleines Fräulein“, sagte der Reitlehrer eben zu ihr. „Schneid und Energie haben Sie ja. Gehen Sie hinter den Lord, so. Freien Schritt reiten!“
Helga fand es schade. Josi nicht beobachten zu können. Natürlich ritt sie selbst besser, sie hatte ja schon zu Hause viel geritten, auch unter Anleitung. Hier tat sie mehr mit, um in Übung zu bleiben, Mit dem Lord wäre Josi vermutlich nicht fertig geworden.
Es wurmte Helga, daß Josi in diese Abteilung durfte. Sie bekam zwar manchen Rüffel – Reitlehrer sind ja nie sehr höflich –, und einmal benahm sich der Loki auch ausgesprochen störrisch und wollte nicht mehr auf den Hufschlag zurück; da ritt Helga schweigend aus der Reihe und setzte sich vor ihn, nahm ihn mit, bis er wieder drin war. Josi rief ein halblautes: „Danke schön, Helga!“, das sehr erleichtert klang. Aber was war das schon groß.
Als sie absaßen, sah sie, daß Josi kaum laufen konnte. Es war wohl erst ihre dritte oder vierte Stunde, und anfangs machte das Reiten ja einen unmäßigen Muskelkater. Aber sie lachte nur und grub Zucker aus der Hosentasche, und das Haar hing ihr verstrubbelt in das erhitzte und erschöpfte Gesicht. Sie sattelte selbst ab und kam daher erst in den Umkleideraum, als Helga schon fertig war.
„Du, das war prima von dir, ich glaub’, der Gestrenge hätte mich sonst rausgeschmissen“, sprudelte sie hervor, „dabei möchte ich doch...“; und nun ergoß sich ihre ganze Reit- und Pferdebegeisterung über Helga. Die Jungen klopften schon an die Tür und riefen und trieben an, da stand Josi noch in der Strumpfhose da und ereiferte sich. Sie wollte unbedingt wissen, wie man antrabt, wie man richtig wechselt und woran man merkt, daß man – schweres Verbrechen! – auf dem falschen Fuß trabt oder angaloppiert.
Es war schon dunkel, als sie das Reithaus verließen. Josi und die Jungen schoben die Räder, da Helga zu Fuß war, und man beratschlagte, was heute noch zu unternehmen sei. Nach dem Reiten mußte ein schöner Abend folgen, das gehörte zum Programm.
Ulrich fuhr aus dem Schlaf, als der Wecker rasselte. Er hatte ihn auf sechs gestellt. Aufstehen, los, sonst kam er keine einzige Minute an die Arbeit.
Mit Mühe raffte er sich auf. So ein Unfug von ihnen, gestern bis wer weiß wann in der „Laterne“ zu sitzen. Nun hatte man einen dicken Kopf. Ulrich steckte das Gesicht in die Waschschüssel und prustete. Huh, war das kalt! Und in solcher Stimmung sollte der Mensch nun dichten! Er holte die Papiere und suchte nach einem Kuli. Das Glück bescherte ihm eine Packung Zigaretten, als er in Leos Hosentasche fuhr, um nach einem Stift zu fahnden. Na also, so ärmlich war man ja gar nicht dran. Er entzündete eine der beiden einsamen und zerdrückten Zigaretten und überlas die letzten Sätze.
Seine Stimmung stieg. Das letzte war gut, das hatte er ganz sicher im Gefühl, und ein guter Schluß ist ein leichter Anfang. Man mußte nur so tun, als habe man eben erst geschrieben, und sich über den Absatz hinwegmogeln. Es gelang. Der Kugelschreiber eilte, und die Zigarette verglomm ungeraucht. Er merkte es nicht. Von Zeit zu Zeit starrte er geistesabwesend in die Luft, schrieb dann weiter und verbesserte, strich aus, setzte neu an. Und allmählich kam es über ihn wie ein sanfter Rausch. Er sah sich selbst sitzen in der kalten und unordentlichen Bude, fröstelnd und übernächtigt; es war ja sozusagen für die Kunst, daß er hier litt. Für die Kunst und für Helga. Manchmal sah er zu Leo hinüber, von dem nur der Schopf unter der Decke herausguckte und der so hingegeben schnaufte. Und aus dem anfänglichen Neid auf dessen gesunden und genießerischen Schlaf wurde ein Gefühl der Herablassung. Na ja, wer sich nicht schindet, bringt es auch zu nichts. Aber er, Ulrich, würde es zu etwas bringen, zu etwas Großem, bestimmt!
Im Stockwerk über ihm fing es an zu rumoren. Er stellte sich vor, wie es sein würde, wenn sie erst verheiratet wären, Helga und er. Dann würde er nach einer durcharbeiteten Nacht – daß er erst vor einer reichlichen Stunde aufgestanden war, zählte nicht – hinüber in ihr Schlafzimmer gehen und die Vorhänge aufziehen, damit die Sonne auf ihr verschlafenes, rosiges Gesicht fiel, und sie lächelnd wecken: „Helga, denk nur, ich hab’ das Kapitel fertig!“
Wie sie dann staunen und sich an ihn schmiegen würde: „Ulrich, das ist großartig! Und ich schlief so schön!“
Er saß und träumte und erlebte dies alles. Und dann würde er hinausgehen in die winzige Küche, die sie haben würden, den Stecker des elektrischen Topfes einstecken und den Kaffee in die Tüte schütten. Und nachher saß er dann auf ihrem Bettrand und balancierte eine Tasse auf den Knien, und Helga hörte zu, während sie trank. Ach, herrlich würde das sein, großartig, Helga und er!
Helga und er, so hieß seine Zukunft. So hatte er sie sich schon als halbwüchsiger Junge geträumt. Und wenn die Welt voll Teufel wär’ und wenn er jede Nacht sitzen müßte...
Er horchte. Nein, es war wohl Josi gewesen, die da oben herumfuhrwerkte. Man hörte es an ihrem halblauten, nicht sehr musikalischen Singen. Josi sang immer, wenn sie aufstand. Dann schepperte es in regelmäßigen Abständen, daß die Lampe klirrte: Josis Frühgymnastik. Der Gesang wurde kriegerischer. Dazwischen ertönte immer einmal ein tiefer Seufzer: „Oh!“ Wahrscheinlich hatte sie Reitfieber. Ulrich lächelte. Eine Tür schmetterte ins Schloß. Ach ja, Josi war sehr anders als Helga.
Mit dem Arbeiten war es vorbei. Frau Fleischhack, die Zugehfrau, meldete sich, die Dame mit dem Waldlauf am Morgen und den Schnäpsen am Abend. „Gehen Sie erst rauf, oben ist das Nest leer“, trompetete Leo, der inzwischen auch aufgewacht war, durchs Schlüsselloch hinaus, und die Dame entfloh erschreckt die Treppe hinauf. Als sie dann zu dritt das Haus verließen – Josi war längst über alle Berge –, trafen sie den Briefträger. Wieder keine Antwort des Verlages, an den er seine Novelle „Reiterin in der Heide“ geschickt hatte. Dabei befand sich der Verlag in der Stadt. Ulrich tobte.
„Ruf doch mal an, vielleicht ist was verlorengegangen“, riet Leo, und Ulrich strebte auf das nächste Telefonhäuschen zu. Die beiden andern standen wartend, der Atem rauchte ihnen vor dem Mund. Helga hatte den Kragen ihrer Jacke hochgeschlagen, ihr Gesicht sah fein und ein wenig blaß aus dem Pelzwerk hervor. Wie eine Gräfin sieht sie aus, dachte Leo stolz. Eben wurde die Glastür heftig aufgestoßen, und Ulrich kam heraus, aufgeregt und eilig.
„Kinder, ich muß in den Verlag“, sprudelte er hervor, „sie wollen persönlich mit mir verhandeln. Paßt auf, sie nehmen sie!“
„Hast du nicht Kolleg?“ fragte Leo hinterlistig-bieder.
„Na, das geht ja wohl vor“, rief Ulrich. Er hatte noch keine seiner zahlreichen Arbeiten an den Mann gebracht und war begreiflicherweise empfindlich, wenn jemand deren Wichtigkeit anzweifelte. Leo tat das mit Vorliebe. Sie hasteten weiter. An der Uni schwenkte Ulrich ab, er sah noch Helgas Pelzjacke im Strom der Studenten verschwinden. Einen Augenblick stand er still und überlegte – war er nicht ein bißchen zu salopp angezogen? Dann aber setzte er sich entschlossen in Marsch.
Das Verlagshaus war groß und gediegen. Ulrich mußte in der Diele warten und blätterte in den Zeitschriften, die auf einem Tischchen auslagen. Wie beim Zahnarzt, dachte er. So ähnlich war ihm auch zumute. Dann aber bat ihn ein kleiner, sehr höflicher Mann einzutreten, und nahm selbst hinter einem riesenhaften Schreibtisch Platz. „Sie kommen wegen der ‚Reiterin in der Heide‘ für unsere Monatshefte“, sagte der kleine Mann und schichtete einige Manuskripte um, die sich vor ihm türmten. „Wie gesagt, sie gefällt mir ausgezeichnet.“ Ulrich strahlte und fand ihn nicht mehr komisch.
„Aber sie ist zu groß für uns.“
„Wieso?“ fragte Ulrich töricht.
„Zu umfangreich, zu lang“, erläuterte der Kleine. „Sie müssen sie kürzen.“
„Das geht nicht“, warf sich Ulrich in den Kampf. Er war entschlossen, jedes seiner hundertmal überlegten und gefeilten Worte bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Wenn dieser Herr seine „Reiterin“ ausgezeichnet fand, mußte er sie auch nehmen, wie sie war.
„Tja, das sagen die Herren Autoren immer. Aber glauben Sie mir...“ Er blätterte virtuos eine Nummer der Monatshefte auf, die vor ihm lag. „... der Raum ist ausgerechnet. Zwölf Druckseiten höchstens. Das Manuskript ergibt... ergibt...“ Er rechnete. „Mindestens zwanzig. Das ist zuviel.“
„Aber ich kann nicht...“
„Doch. In der Beschränkung zeigt sich der Meister.“
„Ich kürze nicht. Unter keinen Umständen.“
„Dann bedauere ich aufrichtig.“ Er erhob sich, Ulrich tat es auch. Er trat an den Schreibtisch heran, sah auf seinen Gegner nieder. Etwas Flehendes kam in sein Gesicht. „Bitte...“, sagte er, und dann kam ihm ein leuchtender Einfall. „Können Sie nicht... Sie müssen dann eben die Novelle in Fortsetzungen bringen, in zwei Hälften.“
„Das ist nicht üblich.“ Aber es klang zögernd. Ulrich merkte, daß er Boden gewann.
„Muß man sich denn nach dem Üblichen richten?“
„Nein, das nicht. Aber unsere Leser – man vergißt so leicht... Sie müssen bedenken, daß nur alle vier Wochen ein Heft erscheint!“
„Aber einen Fortsetzungsroman haben Sie doch auch, sogar durch vier Hefte laufend.“
„Das wohl...“
Ulrich fieberte. Er mußte das Eisen schmieden, solange es warm war. „Ich finde, die Novelle eignet sich prachtvoll als Fortsetzungsgeschichte. Wenn man an der Stelle abbricht, wo Leonore – wo es gerade so spannend ist, im fruchtbaren Moment sozusagen...“ Er hatte das Manuskript erspäht und blätterte es eifrig auf. „Hier, sehen Sie!“ Er fühlte ordentlich, wie die Entscheidung auf Messers Schneide stand. Kaum konnte er Atem holen. Der Gewaltige – jetzt wirkte er plötzlich gewaltig, so klein er war – sah auf den Bogen herunter, den Ulrich herausgenommen hatte, überlegte. Ulrich fühlte alles Blut zum Herzen strömen – er hatte gewonnen!
„Also gut. Allerdings...“
Es sauste und brauste um Ulrich. Er lächelte entspannt und nicht sehr intelligent.
„Bitte, was ist noch?“ fragte er erschöpft.
„Sie müßten darauf eingehen, daß ich Ihnen nur die Hälfte des Honorars zahle, sozusagen, also quasi das Honorar für das eine Heft, und den Schluß honorarfrei bringe. Ich kann es sonst nicht verantworten.“
„Bitte. Natürlich“, sagte Ulrich. Er wäre auf ganz andere Bedingungen eingegangen.
„Das macht dann ungefähr – ungefähr...“ Der Kleine überlegte, rechnete, sah auf. „Zweihundert Mark.“
„Das Ganze?“ fragte Ulrich gespannt.
„Das, was Sie bekommen.“
Ulrich wäre am liebsten in ein Indianergeheul ausgebrochen. Zweihundert Mark! Das überstieg alle Hoffnungen. Er hatte mit kaum der Hälfte gerechnet. Mit Mühe bezwang er sich.
„Und in welchem Heft erscheint es?“
„Das muß ich mir vorbehalten. Bezahlt wird sofort. Wir sind uns also einig?“
An der Tür hielt der kleine Mann Ulrich noch einen Augenblick auf. „Wenn Sie – ich meine das ganz unverbindlich –, wenn Sie zufällig eine größere Arbeit haben, einen Roman, der sich vielleicht eignet, in Fortsetzungen zu erscheinen? Ich sehe gern einmal hinein. Die Länge können Sie sich ja ungefähr aus den Heften ausrechnen.“
Ulrich fand sich, leicht taumelig vor Aufregung, auf der Straße wieder, zweihundert Mark in der Brieftasche und einen Stoß Monatshefte unter dem Arm. Und im Herzen die Aussicht, die Aussicht! Das war vielleicht das allergroßartigste dabei. Zweihundert Mark, gewiß, aber er hatte bereits andere Maßstäbe. Fieberhaft überschlug er, was wohl der Roman bringen würde, wenn er ankam. Denn natürlich hatte er einen. Einen, seinen Roman, noch nicht ganz fertig, um so besser, so konnte er sich mit der Länge noch einrichten. Er mußte sich nur entsetzlich eilen, durfte keine Zeit verlieren. Der Zwerg dort drin sollte die Arbeit in der Hand haben, ehe er ihn, Ulrich, vergessen hatte.
Mit offener Jacke – er hatte sich nicht die Zeit genommen zuzuknöpfen – eilte er durch die Straßen. Abgetippt mußte der Roman noch werden, er hatte ihn erst handschriftlich fertig, das heißt, auch das noch nicht ganz. Aber wenn er die Nächte zu Hilfe nahm – und auch sonst konnte er schließlich ab und zu einmal schwänzen. Natürlich! Im Eingang der Uni rannte er fast an Josi an, die gerade die Stufen herabgesprungen war. So war sie die erste, die es erfuhr, und sie freute sich, mein Gott, wie sie sich freute!
„Ich könnte kopfstehen, Ulrich“, versicherte sie immer wieder, „nein, so ein Glück, so ein Glück! Gigantisch einfach!“
Er fand es auch. Sie standen und priesen das Geschick und vergaßen Ort und Zeit.
„Natürlich muß der Roman sofort raus“, sekundierte Josi eifrig, „dauert es lange, bis er getippt ist? Vielleicht braucht ihn der Zwerg gerade für die nächsten Hefte? Du mußt dich furchtbar beeilen, das ist eine einmalige Chance.“
„Klar will ich mich beeilen...“
„Kann ich dir nicht helfen? Ich tippe sehr schnell, hab’ doch für Vater lange Zeit alles geschrieben. Sicher geht es schneller, wenn du diktierst und ich schreibe.“
Ulrich strahlte sie an. „Wenn du das tätest!“
„Gerne! Wir fangen heute schon an. Oder mußt du erst noch den Schluß ganz fertig schreiben?“
„Im Kopf hab’ ich ihn druckfertig. Inzwischen diktiere ich dir den Anfang und schreib’ den Schluß, wann es eben einmal geht. Paß auf, Josi, es klappt, es muß einfach klappen!“
Sie zappelte genauso wie er, während sie auf die andern warteten. Ulrich versprach, alle zum Essen einzuladen. Einträchtig steuerten sie dem „Mathäser“ zu. Das war ein Rahmen, würdig des großen Ereignisses, und außerdem gab es dort reichliche Portionen. Den Kaffee würden sie nachher in der „Maxburg“ nehmen. Nicht trinken, nehmen, betonte Josi. So sagte man es auf feine Art.
„Du hast das natürlich nie geglaubt“, sagte Ulrich triumphierend zu Leo, „immer hast du mich ausgelacht. Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterhaus.“
„Na, auch eine blinde Henne findet mal ein Korn.“
„Na, weißt du, blinde Henne! Was meinst du, Helga?“
„Doch, warum sollst du nicht auch einmal Glück haben?“
„Glück?“ Ulrich war beinahe ernstlich beleidigt. „Glück! Als ob das ein bloßer Zufall wäre, so tust du. Weißt du nicht, daß Glück auf die Dauer nur der Tüchtige hat?“
„Auf die Dauer. Aber...“
„Kein Aber! Ihr seid Spießer! Und außerdem Kleingläubige! Ist doch klar, daß unser Roman nun auch funkt!“ flammte Josi. Ulrich war ganz ihrer Meinung. „Unser Roman“, nett war das von ihr, ihn so zu nennen. Obwohl es ihm einen feinen Stich gab: Noch netter wäre es zweifellos gewesen, wenn Helga es so formuliert hätte. Aber schließlich, sie meinte es sicher auch, und es war nur Zufall, daß Josi es ausgesprochen hatte. Nichts sollte ihm den heutigen Tag trüben! Sie traten ein und suchten sich einen Tisch. Es sollte ein Festmahl werden.
Der Tag war ein einziger Glanz. Die ganze Woche über hatte es geschneit, man mußte es einfach ausnutzen. Leo und die beiden Mädchen stiegen bergan. Der Schnee konnte nicht besser sein. Sie wollten nicht Pisten rutschen, sondern eine Tour machen. Ulrich war zu Hause geblieben, er wollte arbeiten. Am Übungshang konnten sie nicht widerstehen, die sommersteifen Skibeine erst einmal auszuprobieren, sie fuhren ab und versuchten ein paar Schwünge.
„Ich kann gar nicht mehr!“ schrie Josi den beiden andern zu, und auch Helga machte die erste Bekanntschaft mit der Erde. Leo fuhr zu ihr hin, um ihr aufzuhelfen.
„Wirklich, man hat alles verlernt, es ist eine Schmach“, sagte er. „Aber das gibt sich. Wir kommen schon wieder rein.“
Sie stiegen weiter auf. Der Lift wäre außerdem zu teuer gewesen, redeten sie sich ein. Helga prustete.
„Wirklich, man ist eingerostet.“ Sie stand still und wischte sich die Stirn. Josi war wieder ein Stück voraus. Sie stieg leichter als Helga, aber unregelmäßig. Gerade schwatzte sie mit ein paar halbwüchsigen Buben, in die sie vorhin hineingesaust war. Beinahe sah sie aus wie einer von ihnen.
Leo sagte das und lachte. Helga sah ihn nachdenklich an.
„Ihr hängt sehr an Josi. Ulrich und du“, meinte sie dann. Er lachte und nickte unbefangen.
„Natürlich. Wir waren doch die ganze Kindheit über zusammen, sie und wir“, sagte er. „Ich könnte mir gar nicht vorstellen, wie es ohne sie gewesen wäre. Sie hatte immer die schönsten Einfälle und machte alles um sich her lebendig. Das ist jetzt noch so. Mutter mag sie auch.“
„Jaja.“ Helga stand und sah Josi nach, die wieder ein Stück bergab gesaust war. „Ich wünschte, ich wäre auch wie sie – manchmal“, fügte sie hinzu. Es klang fast ärgerlich. Leo wunderte sich. „Helga, du? Das ist ja komisch. Wo du doch...“
„Was denn?“ fragte sie ungeduldig.
„Du bist doch viel – viel hübscher als sie, ich meine...“ Er stockte. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, Helga und Josi zu vergleichen. Sie waren so verschieden, aber jede in ihrer Art gut zu leiden, und außerdem war es bei ihnen nicht üblich, über so etwas zu sprechen. Deshalb sprach er unsicher und etwas verlegen.
„Ach, hübscher! Als ob es darauf ankäme!“ sagte Helga und stieß mit ihrem Stock nach einem Schneebatzen. „Danach geht es doch nicht. Sag mal – nein, sag mal ganz ehrlich: Ist es nicht anders bei uns, seit Josi da ist?“
Er war auch stehengeblieben. „Wie meinst du das?“
„Ich meine – ach, ich meine gar nichts. Wenn du es nicht selbst merkst.“ Sie hatte sich abgewandt und stand jetzt, dem Tal zugekehrt, auf ihre Stöcke gestützt und sah hinunter. Die Hangwiese unter ihnen wimmelte jetzt von Skiläufern, überall war es bunt und lebendig.
„Vielleicht liegt es auch nur an mir“, sagte sie grübelnd. „Überhaupt – nein, komm, wir wollen weiter. Es hat keinen Zweck, wenn man über so etwas spricht.“
„Gefällt es dir nicht, Helga?“ fragte Leo nach einer Weile wieder. „Oder ist es, weil Ulrich nicht mit ist?“
„Ach, Unsinn. Überhaupt – aber du hast recht, etwas gefällt mir nicht mehr an unserm Leben“, sagte sie plötzlich. „Du mußt nicht denken, daß ich – daß ich was gegen Josi hab’.“
„Nein“, sagte er, „das denke ich nicht. Komm, die Sonne ist so schön, wir wollen uns einen Augenblick setzen.“
Er half ihr die Bretter abzuschnallen, steckte sie in den Schnee und schob die Stöcke durch die Bindungen.
„So, jetzt kannst du dich setzen. Ich mach’ es auch so. Willst du eine Zigarette? Nein, nimm ruhig, ist nicht die letzte. Ja, ich versteh’, was du meinst. Mir geht es ähnlich in letzter Zeit.“
„Dir auch?“ fragte Helga ein wenig ungläubig und sah ihn von der Seite an. Er erwiderte ihren Blick sekundenlang. Ihr schönes, schwermütiges Gesicht tat ihm weh, es riß etwas in ihm auf, was eigentlich tiefer lag, tief innen in ihm, selbst noch beinah fremd und neu. „Ja, mir auch“, sagte er und senkte die Augenlider, schlug die Stiefelspitzen zusammen, so daß es metallisch klirrte. „Es ist so – ich frage mich manchmal, was es eigentlich für einen Sinn hat, dies alles.“
„Ich auch, oft“, sagte sie leise. „Aber ich dachte, als Junge weiß man, was man will.“
„Natürlich weiß man das“, gab er heftig zurück. „Ich zum Beispiel will den Diplomlandwirt machen und Ulrich ein großer Schriftsteller werden. Aber das ist alles noch so – so weit entfernt.“
„Ja, nicht wahr?“
„Helga“, sagte er plötzlich, und es war ihm selbst nicht klar, woher er den Mut nahm, vor sich selbst und vor ihr – es war wohl ihr leidvolles Gesicht. „Helga, dabei hab’ ich doch ein Ziel. Ich weiß genau, was ich will. Nur, ob du willst, das weiß ich noch nicht.“
„Leo...“
„Aber wenn ich das wüßte, wenn du mir sagen würdest – Helga, sag mal, wäre es dann nicht viel leichter für uns beide? Wenn du – wenn wir beide wüßten...“
Er hielt inne, vollkommen festgefahren. Er konnte doch, um alles in der Welt, Helga jetzt keinen Heiratsantrag machen, plötzlich aus heiterem Himmel. Was war er denn? Und was war sie? Nein, er mußte erst etwas werden, ach, die alte, die uralte Leier!
„Helga, sag mir’s!“ bat er leise.
„Was soll ich denn sagen?“ fragte sie hilflos und sah ihn einen Augenblick lang an. Auch sein Gesicht brannte, es war solch ein gesundes, breites, gutes Jungengesicht, der ganze Kerl war so, zuverlässig und gesund und gerade. Er würde einmal sehr männlich werden, wenn er älter war, sie fühlte es deutlich. Sie wurde immer verwirrter, während ihr dies alles durch den Sinn ging.
„Sag mir wenigstens das: Ist es wegen Ulrich?“ fragte er nach einer Weile. „Magst du Ulrich lieber?“
„Ich dachte übrigens in der letzten Zeit, ihr mögt mich beide nicht mehr“, sagte Helga nach einer Weile und strich das Haar aus der Stirn, richtete sich auf. Ihre Stimme klang wieder ruhiger, viel mehr so wie sonst. Er hatte sie überhaupt noch nie so hilflos und verstört gesehen, sie, die sichere, ruhige und vornehme Helga Martens. Jetzt war es, als habe sie sich gleichsam wiedergefunden. „Immer habt ihr es mit Josi. Ulrich hilft sie tippen, du unternimmst nichts ohne sie, ich dachte immer, Josi ist für euch zehnmal so wichtig wie ich. Etwa nicht?“
„Aber Helga. Wir gehören doch zusammen!“
„Ja, ihr und Josi!“
„Und du etwa nicht? Gehörst du nicht zu uns?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß es manchmal wirklich nicht“, wiederholte sie heftig. „Ihr habt mir so viel voraus. Schon, daß ihr Geschwister habt. Euch ist das so selbstverständlich, daß ihr bei allem ‚wir‘ sagt und nie ‚ich‘. Immer habt ihr das gekonnt, ihr wißt gar nicht, wie das ist, allein zu sein. Von klein auf wart ihr immer zu mehreren. Das ist wie eine Hülle, die einen schützt. Nur ich...“
Leo schwieg erschrocken. Es war so: Ein einzelnes Kind steht nie so naturhaft fest im Leben wie eins, das unter einem „Wir“ aufwuchs. Aber daß sie es fühlte und aussprach...
„Du kannst doch nichts dafür“, sagte er zaghaft.
„In einer Art doch. Ich weiß auch, daß ich Mutter – daß ich meine Eltern enttäuschte. Sie hatten sich sicher einen Sohn gewünscht.“
„Helga! Welch ein Unsinn! Als ob du etwas dafürkönntest!“
„Nein, aber sie meinen es.“
„Ein Sohn könnte doch auch – anders geworden sein, als sie dachten“, versuchte es Leo ungeschickt.
„Ja, aber das sagt sich Mutter nicht. Überhaupt...“
„Quäl dich doch nicht damit!“ Er warf seinen Zigarettenrest in den Schnee. „Ich finde deine Mutter übrigens fabelhaft.“
„Jaja. Daß sie reitet und Tennis spielt und all dies“, sagte Helga, plötzlich müde und unwillig. Das ist es ja, aber das versteht ihr alle nicht. Es hat keinen Zweck, dachte sie.
Nein, es hatte keinen.
„Sei nicht böse, daß ich dir den Tag verpatzt hab’“, sagte sie, stand auf und probierte ein Lächeln. Ihr Gesicht war nun wieder wie meist: schön, verschlossen und still. „Denk nicht mehr dran.“
„Aber Helga!“
„Bitte, vergiß es. Das sind so Stimmungen...“
„Das sind doch nicht nur Stimmungen...“
„Doch“, sagte sie bittend, „vergiß es. Bei dem herrlichen Wetter – es ist doch eine Schande. Wollen wir abfahren? Wo steckt übrigens Josi?“
„Dort! Sie winkt uns gerade. Wollen wir?“
Sie beugten sich über ihre Bindungen. Nein, er konnte ihr nicht helfen. Es blieb, wie es war. Sie war allein...
„Renn doch nicht so, Ulrich, man kommt ja kaum mit!“
Sie waren im Theater gewesen, alle vier, es hatte den Faust gegeben, mit einem sehr guten Gretchen. Josi war ganz hingerissen, auch die andern beeindruckt. Sie gingen zu Fuß heim, um noch darüber sprechen zu können. Ulrich strebte heim. Am nächsten Abend sollte es „Die Hebamme“ von Hochhuth geben. Die wollten sie auch sehen.
„Seid nicht böse, aber ohne mich. Ich muß...“
„Ach, Ulrich, wir hatten es doch verabredet!“
„Ich muß mit meinem Roman weiterkommen!“ Das war sein A und O, heute wie immer. Josi sah ihn bittend an.
„Und wenn wir heute abend noch was täten? Du diktierst mir? Wie wäre das?“ fragte sie vorsichtig.
„Wenn du magst? Haben wir noch was zu heizen?“ Sie kauften die Kohlen selber, um ja recht sparsam zu wirtschaften.
„Doch, Kohlen sind noch da. Ich mach’ Feuer, vielleicht mögt ihr einen Tee?“ fragte Leo.
„Ach ja, herrlich. Wir fangen inzwischen an.“
Das Zimmer der Jungen war relativ groß und wurde nur langsam warm, aber man konnte ja erst einmal die Mäntel anbehalten. Josi wuchtete die Schreibmaschine auf den Tisch, während Ulrich sich am Ofen abmühte, bis Leo ihn gähnend, aber gutmütig von dort vertrieb. „Nun hol schon dein Zauberzeug, ich werde anzünden. Damit ihr gleich loslegen könnt.“ Ulrich ließ sich das nicht zweimal sagen. „Warte, das letzte müssen wir ändern“, sagte er, Josi über die Schulter guckend, die den Bogen eingespannt hatte, „fang am besten hier noch mal an, bei diesem Abschnitt.“
Er diktierte, sah dabei das Getippte an. Helga hatte sich auf das Ende der Liege gehockt, die das zweite Bett ersetzte und auf der die Jungen abwechselnd schliefen, und wartete. Aber Ulrich war völlig von seiner Arbeit in Anspruch genommen, und Leo knurrte und fluchte am Ofen. Ich hab’ recht, dachte sie, ich stehe außerhalb. Keinem von ihnen bin ich wichtig.
Daß sie schließlich auch den Tee hätte aufbrühen und auch sonst mit Hand anlegen können, darauf kam sie gar nicht. Es war kein böser Wille, aber es lag ihr unendlich fern. In jeder Frau sieht man bis zu einem gewissen Grade die Mutter, und Helgas Mutter war zwar nach Leos Meinung ganz famos, aber am Herd stand sie nie.
„Weißt du, wie ich mir die Frau Irmelin vorstelle?“ fragte Josi in diesem Augenblick, während sie einen falsch getippten Buchstaben ausradierte, sorgfältig ein Stück Pappe zwischen Blaupapier und Durchschlag klemmend. „Wie Helgas Mutter. Auch äußerlich. So schlank und groß und vornehm. Und daß sie auch reitet und das alles...“
„Ja?“ fragte Ulrich und stand hinter ihrem Stuhl still. „Ja, Josi? Ist sie so geworden?“ Seine Stimme klang anders als sonst, gepreßt und so, als geniere er sich ein bißchen, aber es war auch ein Frohlocken darin, ein verhaltener Jubel.
„Ja“, sagte Josi unbefangen. „und so was könnte sie glatt gesagt haben...“ Sie las einen Satz halblaut vor. „Findest du nicht?“
Ulrich sah ein wenig vorsichtig zu Helga hinüber, die außerhalb des Lichtkreises der Lampe saß, noch in der Jacke. Ihr Haar schimmerte matt. Er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.
„Und ich? Komme ich auch in eurem Roman vor?“ fragte Leo jetzt herzerfrischend unbefangen in die Stille hinein. Ulrich lachte erlöst. „Du möchtest wohl gern?“ fragte er.
„Wenn ihr mich nicht zu blöd hinstellt – übrigens, der Tee ist fertig. Ulrich, du mußt das Zahnputzglas nehmen, nein, laß den Löffel drin, sonst springt es, der Tee ist heiß. Die Tasse muß Helga haben, unsere einzige vornehme mit Untertasse.“
„Ach ich – ich brauch’ doch keinen“, sagte Helga und stand auf, „ich wollte sowieso hinauf.“
„Nanu, warum denn?“ fragte Ulrich so erstaunt, daß sie sich schämte.
„Ich meine, ich arbeite doch nicht, und der Tee soll doch bei der Arbeit munter halten“, sagte sie leise und rasch.
„Ach deshalb – ich tu’ ja auch nichts“, meinte Leo gemütlich und goß ein, „hier ist der Zucker. Nein, Josi, du hast schon, ich hab’ ihn dir gleich reingetan. Du bekommst meinen Löffel. Und nun wird’s auch allmählich warm. Gib die Jacke her, Helga, ich häng’ sie auf.“
Helga hatte sich, halb widerstrebend, wieder gesetzt. Er ließ sich mit einem Plumps neben sie fallen, so daß sie, die Tasse in der Hand, auf der schlecht gefederten Liege zur Seite sank. „Hoppla, entschuldige, hast du geschwappt? Ja, die sogenannte Gute-Stuben-Couch! Erst war sie ein Bett, dann ein Diwan, und nun wird sie den Ehrennamen Couch tragen. Was den Federn nicht viel ausmacht, denen kann nichts mehr schaden.“
„Du bist wohl wieder dran?“ fragte Josi lachend, während sie einen neuen Bogen einspannte. „Weil du so schmähst.“
„Ich bin meistens dran. Jetzt jedenfalls, wenn ihr schreibt. Da penne ich zu guter Letzt hier ein, und wenn ich irgendwann einmal wach werde, liegt Ulrich im Bett und ist nicht zu erwecken.“
„Wir werden ein zweites Bett organisieren“, versprach Josi im Ton einer Mutter, die dem kleinen Jungen auf den verletzten Finger pustet, „heile, heile, Segen. Nun aber schön Ruhe, wir müssen arbeiten...“
Ulrich lachte und diktierte weiter. Seine anfängliche Scheu, den Roman vor anderen laut zu lesen, begann sich zu legen. Josis unbefangene Teilnahme tat ihm wohl, er fragte sie auch hie und da um Rat. Sie bezwang tapfer ihre Müdigkeit. Es war doch etwas Großartiges, hier mitzuschaffen an einem Werk, das Ulrich berühmt machen würde. Und sie war in dem Alter, in dem man eine Nacht durchschuften kann, sich dann die Augen wäscht und in den neuen Tag startet, als habe man acht Stunden tief geschlafen. Außerdem hält es wach, wenn man tätig ist. Helga dagegen fielen die Augen allmählich buchstäblich zu. Sie merkte es und riß sich ärgerlich hoch. Irgend etwas trieb sie, wach zu bleiben, solange Josi wach war. Leo war längst sanft entschlummert, er lag halb sitzend quer über der Liege und schnarchte vernehmlich. Endlich legte Ulrich die handgeschriebenen Blätter weg, zufrieden aufseufzend.
„Ich glaube, wir machen Schluß. Wann hast du denn morgen Kolleg?“
„Schon ab acht. Aber nur bis elf“, sagte Josi. „Wenn du willst, können wir in der Mittagsstunde weitermachen.“
„Wirklich? Au fein, du! Da kommen wir vorwärts. Wenn wir erst über die Stelle hier weg sind – hier...“ Er las murmelnd ein paar Sätze, griff nach dem Bleistift und strich durch, schrieb darüber und strich wieder aus. Josi stützte den Kopf in beide Hände und starrte auf die Buchstaben der Tastatur. Sie schlief fast sofort ein, wie sie so dasaß, todmüde und erschöpft. Er merkte es nicht. Als sie hochfuhr, hatte sie noch die Erinnerung an einen langen und bunten Traum.
„Entschuldige, hab’ ich gepennt? Na so was, jetzt aber in die Falle! Helga, kommst du mit?“ – Sie ließ die Maschine stehen, wo sie stand, und schob den Stuhl zurück, endlos gähnend. „Nein, steck die Zigarette wieder ein, Ulrich, rauch sie lieber morgen.“ Sie lachte ihm zu, taumelig vor Müdigkeit.
„Na gut, meinetwegen.“ Er steckte die Packung wieder ein. „Und schönen Dank auch.“
„Gefällt dir der Roman? Ich finde ihn fabelhaft“, sagte Josi, als sie oben vor ihren Zimmertüren standen.
„Sicher. Ich würde ihn gern mal ganz lesen“, sagte Helga.
„Ja, tu das nur. Die Hälfte haben wir jetzt.“ Josi gähnte wieder, am liebsten wäre sie in den Kleidern ins Bett gekrochen. Helga stand eine Weile allein im Dunkeln.
„Wir“, hatte Josi gesagt. Es war vielleicht nur ein Zufall.
Nein, das war es nicht. Helga stand und fühlte Tränen in den Augen. Immer wieder „wir“. Und ich? Wer fragt nach mir, wer bezieht mich mit ein, wer kümmert sich um mich?
Frau Martens stand am Fenster ihres Zimmers und sah hinaus in den Schnee. Die Dämmerung hing weich und lila über dem schlafenden Garten, kein Windhauch regte sich. Auf den allerkleinsten Ästen lag die Schneelast noch, man konnte glauben. Bäume und Sträucher hielten den Atem an. Übermorgen war Heiligabend. Wenn es doch kalt bliebe! Wie lang hatte es keine weißen Weihnachten mehr gegeben!
Es war unglaublich gemütlich im kleinen Zimmer mit dem halbhohen, weißen Kachelofen. Nicht einmal eine Zigarette mochte sie rauchen, so wohlig war ihr. Die Hyazinthen am Fenster standen still und verheißungsvoll unter ihren Hütchen. Im Februar, wenn sie anfangen würden zu duften...
Nein, im März erst. Ende März. O du gütiger Himmel, gab es denn solch ein Glück? Es war keine vage Hoffnung, kein Traum, hundertmal geträumt in mehr als zwanzig Jahren und nun am Wahrwerden! Sie war so sicher, daß es ein Sohn sein würde. Bei Helga hatte sie keinen Augenblick daran gezweifelt, daß sie eine Tochter bekommen würde, eine große Schwester für die kleinen Brüder, die folgen würden. Diesmal wurde es ein Sohn. Sie war so sicher.
Helga – heute sollte sie kommen. Was würde sie sagen? Die Tür ging auf, es war ihr Mann.
„Du sitzt hier im Dunkeln, ist dir nicht gut?“ fragte er erstaunt. Sie lachte. Sie hatte noch jenes merkwürdig junge, jungmädchenhafte Lachen von früher.
„Doch, sehr gut, Lieber. Soll ich Licht machen?“
„Wolltest du nicht Helga abholen? Der Schlitten ist draußen. Oder möchtest du lieber nicht?“
„Ich möchte am allerliebsten hier auf Helga warten“, sagte sie und griff nach seiner Hand. Sie war kalt und frisch, er kam von draußen. „Fahr du, das freut sie sicherlich!“
„Na schön. Josi Fischer nehm’ ich dann auch gleich mit...“
„Ja, und die beiden Jungen vom Förster“, sagte Frau Martens, „Helga schrieb, daß sie alle vier zugleich kämen.“
„Die beiden Giesekings? Meinetwegen. Du, sag mal, wie steht Helga eigentlich zu den beiden jungen Männern? Weißt du etwas darüber?“
„Ich? Nein. Jedenfalls nicht mehr als du. Helga läßt ja nicht viel verlauten. Aber ich denke, sie halten gute Kameradschaft miteinander. Eigentlich sind es wohl mehr Josis Freunde.“
„Josis? Hm. Hast vielleicht recht. Der eine studiert wohl Landwirtschaft, oder?“
„Ja, der Jüngere. Warum fragst du?“
„Ich meine nur. Man macht sich manchmal so Gedanken. Also mehr Josis Freunde. Ich fahre dann also. Wartest du mit dem Tee?“
„Ich denke. Grüß Helga inzwischen schön, und die andern natürlich auch. Josi wird ja spätestens morgen hiersein.“
Ob der Junge ihrem Mann ähnlich sein würde? Sie lachte leise in sich hinein. Da benahm sie sich doch wirklich wie eine ganz junge, noch nicht ein Jahr lang verheiratete Frau und hatte schon eine so große Tochter! Sie freute sich auf Helga, sie freute sich auf Weihnachten, sie freute sich auf das neue Jahr. Sie stand noch einmal auf der Schwelle des Glücks, und sie wußte um das Glück, das in diesem Freuen lag.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag, vormittags, genau zur vorgeschriebenen Besuchszeit, erschien Ulrich auf dem Gut. Helga hatte lange geschlafen und war dann mit dem Vater ausgeritten, so traf er nur ihre Mutter an.
Sie saß in ihrem Zimmer und begrüßte ihn freundlich, und er bekam eine Tasse Kaffee und Zigaretten, jene mit dem merkwürdig langen Pappmundstück, die sie immer rauchte. Sie rochen gut und hatten ihn schon als Jungen begeistert, wie so vieles an dieser Frau.
Josi hatte recht, seine „Frau Irmelin“, die seinem Roman den Titel gab, war, kaum nur mit Mühe etwas verändert, Frau Martens. Sie war der Schwarm seiner Knabenjahre gewesen, und auch jetzt noch meinte er oft die Mutter, wenn er an Helga dachte. Deshalb war er auch so fest entschlossen, etwas „Großes“ zu werden. Es schien ihm unmöglich, eine solche Frau in kleine Verhältnisse zu bringen. Noch immer fühlte er das Lampenfieber wie einen halb schlimmen, halb angenehmen Rausch in sich, wenn er mit Frau Martens sprach.
„Nun, da haben wir ja unseren kommenden Dichter, Helga hat mir erzählt“, begrüßte sie ihn. Ihre Stimme hatte noch immer den Tonfall jener östlichen Mundart, die sie als Kind gesprochen hatte. Ulrich fand auch das ungeheuer reizvoll.
„Bekomme ich die Novelle zu lesen, wenn sie gedruckt ist?“
„Natürlich gern, wenn Sie möchten!“ Ulrich bedauerte im stillen, daß sie hinzugefügt hatte: wenn sie gedruckt ist. Denn ein sauberer Durchschlag des Manuskripts steckte in der Innentasche seiner blauen Jacke. Aber natürlich machte es mehr Eindruck, wenn er wartete und dann das gedruckte Exemplar vorlegen konnte: Druckerschwärze macht viel aus, sie steht vor allem dem Erstling.
Frau Martens fragte dies und jenes. Ulrich erzählte; er wußte, daß sie Gedichte liebte, und kam wie von ungefähr darauf, kürzlich die Bekanntschaft eines bedeutenden Lyrikers gemacht zu haben. Sie ging in ihrer lebhaften Art auf das Thema ein und vergaß fast, daß sie, als sich Ulrich verabschiedete, ihn eigentlich ein bißchen darauf ansehen wollte, wie er zu Helga stand. Ihr Mann hatte doch neulich so eine Bemerkung gemacht.
Aber er erwähnte Helga mit keinem Wort. So schwieg sie. Er saß da und sprach, und sein lebhaftes junges Gesicht unter dem dunklen Haar gefiel ihr. Er war noch ein bißchen wie Most, unausgegoren, aber allerlei versprechend. Und er brachte mit, was sie hier auf dem Land eben doch trotz allem entbehrte: geistigen Austausch, Anregung, den Hauch der Welt, in der das geschriebene Wort wichtig ist. Sie ließ sich von ihm über das Theater berichten, über Bücher, schrieb sich ein paar Titel von Neuerscheinungen auf und war fast enttäuscht, als Helga kam.
Ulrich stand auf und ging ihr entgegen. Sie hatten sich seit dem Vormittag des Vierundzwanzigsten nicht mehr gesehen.
Helga schien, als sei das sehr lange her.
„Ach, da bist du ja, Ulrich...“ Sie gab ihm die Hand, war noch im Reitanzug. Ihr Gesicht hatte von der scharfen Kälte im Freien tiefe Farben, sie sah sehr hübsch aus. Aber es gab ihr irgendwie einen kleinen Stich, Ulrich und Mutter so im Gespräch zu treffen.
Das war natürlich dumm von ihr. Überhaupt – sie fand sich selbst nachgerade unmöglich in letzter Zeit. Was auch geschah, sie bezog es immer auf das eine, auf sich selbst. Diese Sache mit Mutter – sie verstand sich selbst nicht. Hatte sie nicht noch vor kurzem laut beklagt, daß sie keine Geschwister habe? Und nun, da sie dies erfahren hatte, müßte sie ja eigentlich in den Himmel springen. Daß sie das nicht tat, schien Mutter weniger zu wundern als sie selbst. Mutter konnte ja nicht ahnen, wie zurückgesetzt sie sich anderen gegenüber gefühlt hatte als einziges Kind. Aber statt einer grenzenlosen Freude empfand sie eigentlich nur eine große Hilflosigkeit. Sie war nicht eifersüchtig auf dieses Kind, auf das sich Mutter so offensichtlich freute. Aber sich von Herzen freuen, das konnte sie auch nicht.
Und nun saß Ulrich hier im guten Anzug, rauchte Mutter das Zimmer voll und erzählte von seinem Roman. Er merkte übrigens gleich, daß es ihr nicht recht war, ohne daß sie ein Wort gesagt hatte. Es war, als könnte er ihre Stimmung genau wittern.
„Ich wollte dich fragen, Helga, ob du Silvester zu uns kommen möchtest“, sagte er, gleichsam erklärend, warum er da war, „Josi soll auch dabeisein, wir wollen Blei gießen, und Mutter hat versprochen, wieder mal Waffeln zu backen, die ganz richtigen alten. Und Punsch soll es geben, den macht Vater.“
„Ja, ich weiß nicht...“
„Aber, Helga, das weißt du nicht?“ fragte Frau Martens. „Wenn Sie mich einladen würden, Ulrich, ich käme sofort.“ Sie lachte über seine Verlegenheit ihr kleines, klingendes Lachen.
„Nun, wie wäre es, wenn ihr alle vier nachmittags zu mir kämt an Silvester? So was wie Waffeln kann ich euch ja nicht bieten...“
Ulrich wurde noch röter. Er hätte sich gern unsinnig gefreut über diese Einladung. Als er später mit Helga über den Hof ging, fragte er sie, ob sie denn keine Lust hätte und was denn überhaupt wäre. Er fragte sonst nie so etwas, sondern pflegte sich, wenn er etwas Ähnliches merkte, stets zurückzuziehen und abzuwarten.
„Ach, gar nichts“, sagte sie aufgebracht. Sie gingen ein Stück schweigend. Dann blieb er plötzlich stehen.
„Wenn es dir nicht paßt, brauchst du nicht zu kommen, Helga“, sagte er leise und verbissen, „das möchte ich dir nur gesagt haben. Ich habe keine Lust...“
„Wozu hast du keine Lust?“ fragte sie scharf.
„Mich behandeln zu lassen wie – wie – du weißt ganz genau, was ich meine, Helga. Irgend etwas stimmt doch nicht bei dir“, fuhr er beschwörend fort, „schon lange. Sag doch, was los ist!“
Sie waren in den Pferdestall getreten und lehnten an der Box, in der Helgas Schill stand. Er war nicht angebunden, kam sofort heran und hob den Kopf über die Holzwand, um mit weichem Maul Zucker zu erbetteln. Helga nahm ein paar Stück aus der Tasche und hielt sie ihm auf der flachen Hand hin.
„Weißt du noch. Helga“, sagte Ulrich leise, ganz anders als vorhin, wo er gepreßt und böse gesprochen hatte, „erinnerst du dich daran, als dich einmal ein Gewitter im Wald überraschte? Es war im Sommer, und nachher goß es. Wir waren auch eingeregnet, Leo und ich, und hockten vorm Herd, um uns zu trocknen. Mutter backte Waffeln.“
Helga nickte stumm, ein wenig schüchtern.
„Du standest am Waldrand mit dem Schill, und ich lief hinaus und wollte ihn in den Stall führen. Aber er wollte nicht. Damals merkte ich das erstemal so richtig...“
„Was merktest du?“ fragte Helga scheu. Sie wußte genau, was er meinte. Ihr Herz klopfte so sehr, daß sie ihre Hände auf den Rand der Box legen mußte, damit er nicht sah, daß sie zitterten.
„Ich merkte, daß – und ich wußte auch, daß es für immer sein würde. Aber ich sah und wußte auch gleichzeitig immer das andere, das, wie verschieden wir sind, du und ich. Daß du aus einem ganz anderen Kreis kommst. Ich sah, daß der Schill nicht in unsern Stall wollte. Wahrscheinlich hatte er ganz recht damit, euer Schill.“
Helga stand und riß kleine Splitter aus dem Holz der Boxenwand. Sie sagte nichts. Ulrich blickte auf ihren gesenkten Nacken mit dem hellen Haaransatz. Auch sein Herz klopfte schnell, oben im Hals. Er glaubte, Helga müsse sein Herzklopfen hören.
„Siehst du, Helga, damals beschloß ich – damals sagte ich mir, daß ich etwas Besonderes werden müßte, unbedingt. Und das habe ich seit damals keinen Tag vergessen. Aber ich weiß nicht...“
„Was weißt du nicht?“ fragte Helga leise. Sie bemühte sich, sosehr sie konnte, ruhig und sachlich zu sprechen, aber sie konnte die Worte kaum herausbringen.
„Ich weiß nicht, ob es richtig ist, so etwas zu wollen“, schloß er zaghaft. Er hatte etwas anderes sagen wollen, aber es kam nicht über seine Lippen. Es verwandelte sich gleichsam, während er es auszusprechen versuchte.
„Ach, es ist wohl immer gut, etwas Großes zu wollen“, sagte sie schwach. Sie standen und sahen einander nicht an. Plötzlich hob Helga den Kopf.
„Ich weiß das auch noch von damals. Es war das erstemal, daß ich bei euch war. Als ich hereinkam, war auch Josi da.“
„Ja“, sagte Ulrich und sah sie an. Ihr Gesicht rötete sich, als sie weitersprach. Aber sie wollte nun sprechen.
„Sie stand am Herd. Und ich – deine Mutter nahm mir die Jacke ab und führte mich in die Schlafstube, brachte warmes Wasser, damit ich mich waschen konnte, ich war ganz durchgefroren, obwohl es August war. Und als ich wieder in die Küche kam, hatte Josi das Waffeleisen in der Hand und backte weiter.“
„Ja und?“ fragte Ulrich.
„Verstehst du das denn nicht? Josi war bei euch, immer. Damals backte sie weiter, und ich, ich wurde als Besuch behandelt. Und jetzt tippt sie deinen Roman ab.“
„Ja, aber Helga – das wollte sie doch...“
„Natürlich. Aber ich?“
„Was hast du denn damit zu tun?“ fragte er langsam. Er begann etwas zu ahnen.
„Gar nichts. Das ist es ja. Du hättest ja auch mich bitten können“, sagte sie. Nun war schon alles gleich, fand sie. Ulrich begriff endlich, es verschlug ihm den Atem.
„Ist es – wegen Josi?“ fragte er. Helga sah ihn einen Augenblick an, ihr Gesicht war nahezu fassungslos. Er hatte sie noch nie so gesehen.
„Aber Helga, nein, bist du dumm!“ stammelte er dann und umfaßte sie. Sie ließ die Stirn an seine Schulter fallen.
Er gehörte ihr doch, er gehörte doch zu ihr, sie fühlte es auf einmal deutlich. Nicht zu Josi, zu ihr. Daß er das alles noch wußte, daß er es ihr darbrachte: Sieh, ich habe es für dich bewahrt. Sie stand ganz still und fühlte seinen Arm um ihre Schultern liegen, erst nach einer Weile sprachen sie weiter. Es war sehr schwer, jetzt die richtigen Worte zu finden. In beiden zitterte die Angst, den andern zu erschrecken, zu verprellen.
„Wenn mein Roman erst gedruckt ist“, sagte Ulrich. Sie nickte. „Er wird bestimmt angenommen. Und du kommst doch Silvester zu uns?“ fragte er noch.
„Ja, selbstverständlich. Und du – und ihr – zu uns, vorher. Weißt du, Mutter findet das bestimmt sehr nett von sich.“ Sie zog mit der Fußspitze Striche auf dem Boden entlang.
„Du nicht?“ fragte er vorsichtig.
„O ja, ich auch. Nur...“ Schon wieder waren Zweifel in ihr, kaum daß er die Arme von ihr genommen hatte. Warum küßt er mich nicht? Hat er Angst, jemand könnte kommen, oder...
Er dachte dasselbe. Aber was war er denn? Der Roman war ja noch nicht angenommen, und es gibt auch Zufallstreffer. Ein einziger Erfolg war ja noch kein Wechsel auf die Zukunft...
„Komm, ich muß gehen“, sagte schließlich Helga. Sie traten aus der Wärme des Stalles in die sonnenlose Schneehelle hinaus. Zwei kleine Jungen bemühten sich drüben, die Scheunenbrücke hinunterzurodeln. Aber der Schnee war zu tief. Helga sah geistesabwesend zu.
„Hallo? Kommt ihr herein? Ulrich, Helga?“
„Ach, ihr dummen kleinen Kerle, das geht natürlich nicht“, rief Josi und rannte in langen Sprüngen vom Inspektorhaus herüber. Hopp, sprang sie über die aufgeschaufelten Schneewälle vor dem Stall.
„Wartet, ich schieb’ euch. Seht ihr, so geht es.“
Die beiden Kleinen lachten und kreischten, während Josi sie über den Hof zog, in vollster Karriere. Vor Ulrich und Helga bremste sie atemlos ab.
„Nanu? Was macht ihr denn für Gesichter? Wißt ihr überhaupt, was Großvater mir geschenkt hat? Sporen! Nein, wirklich, ich hab’ mich halb krankgelacht. Das wichtigste für meine Reitkünste! Kommt, ihr müßt sie euch unbedingt ansehen.“
Sie ließen sich ins Inspektorhaus ziehen. Josi riß die Tür zum Wohnzimmer auf. Frau Fischer deckte gerade den Tisch.
„Oh, wir wollen nicht stören“, sagte Helga betreten.
„Ach, die Jungen sind auch noch nicht da“, sagte Josi und kam mit ihren Sporen an. Die „Jungen“ waren zwei ihrer Brüder, die zu Weihnachten heimgekommen waren. Ulrich sprach noch wegen Silvester mit Josi, dann gingen sie beide wieder. Josi war am Fenster stehengeblieben und sah ihnen nach. Ihr Gesicht war nachdenklich geworden.
Sie steckt ihn richtig an mit ihrer Miesepeterei, dachte sie und fühlte einen plötzlichen Ingrimm in sich aufsteigen. Ingrimm, Helga gegenüber? Nein, es war etwas anderes, es war nicht zu greifen, aber da... Sie warf die Sporen achtlos aufs Fensterbrett und wandte sich um. Das Lachen war ihr vergangen.
An einem regnerischen, unfreundlichen Tag im Januar fing Josi Leo im Treppenhaus ab.
„Männe“, so nannte Frau Gieseking ihren Jüngsten manchmal noch, und Josi zuweilen auch, „kannst du nicht mal hier hereinkommen? Ich bin eingebrochen bei Sasses, und so recht wohl ist mir dabei nicht...“
„Eingebrochen?“ fragte Leo belustigt.
„Na ja, ich hab’ ewig geschellt, bis die Kinder schließlich aufmachten. Drinnen brüllte es, als würde eins geschlachtet, und als ich endlich reinkonnte, sah ich die Bescherung. Die Küche überschwemmt, Renate, die Kleinste – es sind zwei Jungen und ein Mädel, ich hab’ sie schon öfter gesehen –, saß mitten in der Nässe und schrie, und...“
„Aber geschlachtet war keins?“ fragte Leo und lachte.
„Nein. Ich hab’ also aufgewischt, und dann dachte ich, ich bleib’ lieber, bis die Mutter wiederkommt. Im Kindergarten, in den sie sonst gehen, scheint Scharlach zu sein, Jürgen sagte so etwas...“ Sie zog ihn mit sich. „Es ist sicherlich besser, wenn wir hier zu zweit hocken, meinst du nicht? Einzubrechen ist so eine Sache, ich hab’ da doch keine Erfahrung drin...“
Leo folgte. In der Küche saßen die drei Kinder jetzt zufrieden am Tisch und malten. Josi hatte ihnen Papier und Stifte gegeben. „So was! So kleine Kinder sich selbst zu überlassen. Aber es ging vielleicht nicht anders. – Hast du heute nicht Schwimmen?“
„Ja, ich hätte, aber ich trau’ mich nicht weg. Könntest du nicht was zu essen holen, ein paar Hefestücke vom Bäcker gegenüber? Kochen möchte ich lieber nicht...“
Leo nickte und ging. Dann schmausten sie alle zusammen. Am Herd trockneten die Sachen von Renate, der Kleinsten, die Josi umgezogen hatte. Es war eigentlich sehr gemütlich. Gottlob war Frau Sasse, als sie heimkam, nur dankbar und fand Josi nicht eigenmächtig, daß sie sich eingemischt hatte. Sie fragte sogar, ob sie ihr einen zweiten Schlüssel geben dürfte, damit sie in Notfällen einspringen könnte. Darüber war Josi sehr froh.
„Ich seh’ dann ab und zu nach“, versprach sie, „wenn ich zwischen den Vorlesungen mal heimkomme. Jetzt kennen mich die Kinder ja.“
„Das kam bestimmt davon, daß du da warst“, behauptete sie, als sie neben Leo die Treppe hinaufsprang, vergnügt und sehr erleichtert, daß alles gut abgelaufen war. „Deinen himmelblauen Kinderaugen widersteht keine Frau.“
„Auch du nicht?“ fragte er lachend.