Jugenderinnerungen des Geheimrathes Hoefer - Otto Hoefer - E-Book

Jugenderinnerungen des Geheimrathes Hoefer E-Book

Otto Hoefer

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Beschreibung

Geheimrat Otto Hoefer schrieb 1905 seine Jugenderinnerungen in deutscher Kurrentschrift nieder. Der historisch aufschlussreiche Text gibt Einblicke in das ganz normale Leben der Menschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Otto beschreibt darin die unterschiedlichsten Zeitgenossen, ihre Einstellungen und Denkweisen. Er berichtet ausführlich von seiner Schulzeit. Einen großen Teil widmet er seinen Erlebnissen, die er 1870/71 als freiwilliger Soldat bei der Belagerung von Paris und im französischen Umland gemacht hat. Sein Urenkel Otmar Hoefer hat nun gemeinsam mit seinem Bruder Joachim diesen historischen Schatz für die Nachwelt gesichert.

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Seitenzahl: 552

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Der Autor:

Otto Hoefer (1851 − 1928) wuchs in einer Pfarrersfamilie mit sechs Geschwistern auf. Während seiner Gymnasialzeit entschloss er sich bei einer Versammlung auf dem Kyffhäuser zur freiwilligen Kriegsteilnahme in Frankreich. Die dabei gemachten Erfahrungen bewegten ihn dazu, nach seiner Ausbildung zum Jurist, sich als Militärintendant für die Versorgung der deutschen Armee zu engagieren. Wegen seiner Verdienste wurde er 1900 von Kaiser Wilhelm II zum „Wirklichen Geheimen Kriegsrath“ ernannt. Während seines Ruhestands fand er die Zeit, seine Lebenserinnerungen zu Papier zu bringen.

Der Herausgeber:

Otmar Hoefer (*1953), der Urenkel von Otto Hoefer, erfuhr seine Ausbildung zum Schriftsetzer noch mit Bleilettern und im Fotosatz. Damit stieg er ein bisschen in die Fußstapfen seines Vaters, dem Schriftprofessor Karlgeorg Hoefer.

www.kghoefer.de

Otmar studierte Drucktechnik in Stuttgart und war bei der Schriftgießerei D. Stempel AG und dem Setzmaschinenhersteller Linotype u. a. für das Marketing des umfangreichen Schriftenangebots verantwortlich.

Auszug aus dem Stammbaum der Familie Hoefer

erstellt von Otmar Hoefer

FetteVornamenHoefer

FetteNachnamen

Inhalt

Erinnern

:

Widmung

1. Erwachen

2. Großvater Hoefer

3. Großmutter Hoefer

4. Großeltern Renner

5. Eltern

.

6. Craja

7. Gross-Wechsungen

.

8. Vorschule

.

9. Hof und Garten

10. Gute Freunde

11. Getreue Nachbarn

12. Eichsfeld

13. Privatschule, Orgel

.

14. Herr Marschall

.

15. Mahlzeiten

16. Manöver

17. Winter

18. Brüderlein

19. Jahrmarkt

20. Schlimme Streiche. Dr. Unger

21. Gymnasium

22. Wohnung

23. Die Großmutter

24. Bruder Karl

25. Die Lehrer

26. Neuer Kurs

.

27. Reifeprüfung

.

28. Soldat

29. Ins Feld

.

30. Vor Paris

31. Weihnacht

32. Schlacht am Mont Valérien

33. Kapitulation

34. Nach Südwest

35. Präliminarfriede

36. Heimkehr

Wie ging es weiter?

Danksagung

Erinnern:

Manche Ideen reifen Jahrzehnte, bevor sie Wirklichkeit werden. So auch dieses Buchprojekt. Ohne das Zusammentreffen einiger glücklicher Umstände wäre es nie erschienen.

Mein Urgroßvater Wilhelm Otto Hoefer (geb. 25. 9. 1851 in Craja gest. 28. 7. 1928 in Miltenberg) schrieb seine Erinnerungen 1905 nur für seine beiden Söhne Karl und Otto auf, und ließ sie in einem Buch von 700 Seiten kostbar einbinden. Diese Anekdoten aus seinem Leben hielt er handschriftlich in der deutschen Kurrentschrift fest. In Deutschland gibt es verschiedene Initiativen und Vereine, die beim Entziffern von solchen Texten helfen.

Mein älterer Bruder Joachim lernte diese alte Handschrift vor vielen Jahren lesen und schreiben. In den 2020er Jahren nahm er sich die Zeit, die Aufzeichnungen unseres Urgroßvaters in seinen Computer zu tippen und legte damit den Grundstein für dieses Buch.

Nach einigen Jahren bot sich mir endlich die Gelegenheit, dieses Werk historisch interessierten Lesern zugänglich zu machen, da es heute kostengünstige Möglichkeiten gibt, ein Buch zu publizieren. Eine Buch-Plattform im Internet hilft dabei, neue Bücher bekannt zu machen und interessierte Leserinnen und Leser zu erreichen.

Aus Gründen der Authentizität haben wir die Sprache, den Satzbau wie auch die damalige deutsche Rechtschreibung beibehalten.

Das Buch habe ich mit einigen Seiten aus dem Originalbuch und Fotografien aus unserem Familienbesitz ausgestattet. Der Stammbaum hilft beim Verständnis der Hoeferschen Familienverhältnisse

Neben der Familiengeschichte mit den Vorfahren aus dem Südharz erzählt Otto Hoefer von seiner Kindheit mit sechs Geschwistern im Dorf Großwechsungen (Thüringen) und seiner Schulzeit am Gymnasium in Nordhausen. Mit viel Liebe zum Detail schildert er das Leben im Elternhaus, im Dorf und in der Stadt und beschreibt die Denk- und Handlungsweise vieler Zeitgenossen, denen er begegnete. Breiten Raum nehmen seine Erlebnisse als freiwilliger Soldat bei der Belagerung von Paris 1870/71 und seine Truppenverlegung ins französische Hinterland ein.

In der Zeit von 1851 bis 1871 waren die Lebensbedingungen nicht so einfach wie heute. Eisenbahn, Dampfmaschine und Telegrafie gab es zwar schon, aber elektrisches Licht im Haus, das Automobil oder das Telefon kamen erst später. Der Alltag wurde mit einfachen Mitteln bewältigt. Transport und Post wurden noch mit Pferdekutschen erledigt.

Otto berichtet auch über die Erlebnisse eines Zeitzeugen, der 1812 beim Russlandfeldzug Napoleons dabei war.

Der Leser bekommt einen tiefen Einblick in das Geschehen der Stadt Nordhausen und der Lehrerschaft am Gymnasium. Er nimmt den Leser mit auf den Jahrmarkt in Nordhausen mit seinen Attraktionen im Zirkus Hinne und zu Hagenbecks Menagerie.

Seine Berichte aus dem Alltag beim Militär in Sannois während der Belagerung von Paris und besonders die während der anschließenden Verlegung seiner Truppe in das französische Hinterland zeichnen ein Bild vom Leben und Denken der friedlichen und leidenden französischen Bevölkerung, wie wir es uns kaum vorstellen können.

Die Geschichte unseres Urgroßvaters zeigt, wie wichtig es ist, in Frieden zu leben. Unsere heutige Entwicklung mit dem Krieg in der Ukraine und in Nahost führt uns erneut vor Augen, dass Gewalt keine Lösung für Konflikte ist. Mit Zerstörung kommt die Menschheit nicht weiter. Im Frieden entstehen die Dinge, die uns ein freies und besseres Leben bescheren. Daran möchte ich mit dem typografisch gestalteten Vorderschnitt des Buches erinnern.

Ich wünsche viel Freude und Anregung bei der Lektüre meines Urgroßvaters.

Otmar Hoefer, Herausgeber und Gestalter dieses Buchs

Für Anregungen und Kommentare erreichen Sie mich: [email protected]

Oberneisen im Mai 2024

Mehr zu Otto Hoefer: www.kghoefer.de/ottohoefer.html

1. Erwachen

Die erste Erinnerung meiner Kindheit ist ein Moment im Pfarrhause zu Gross-Wechsungen, als ich in meinem Gatterbettchen an Mandelentzündung, die damals allgemein Diphteritis oder fäulige Bräune genannt wurde, krank lag und von Doktor Unger mit einem Stückchen Höllenstein, das er (wie leichtsinnig?) in einer Federpose zu befestigen und an die entzündete Stelle in der Rachenhöhle anzudrücken pflegte, gequält wurde. Milde und besorgt sah die gute Mutter, mein Köpfchen stützend, dieser bei 6 Kindern nicht ungewohnten Manipulation zu, während der Vater in seinem schwarzen Käppchen und dem historischen grauen, mit blauem Flanell gefütterten, bis an die Knöchel reichenden Tüllenschlafrock, die obligate lange Pfeife im Munde, durch einen derben Scherz mir über die Misera des Daseins hinwegzuhelfen suchte.

Über meine Geburt, die erste Zeit meines Daseins Bericht zu erhalten, ist mir versagt, denn ich habe keine Erinnerung an jene Zeit und erst bei späteren Besuchen meine Geburtsstätte, das Pfarrhaus zu Craja bei Bleicherode, Kreis Worbis, kennen gelernt.

In dieses unscheinbare, an der nach Behla führenden Dorfstraße gelegene Häuschen hatte mein Vater, der Anfangs einige Jahre als Substitut des Pastors Müller in Craja und Wallrode gewirkt hatte und dann Nachfolger dieses geistig abgestumpften Geistlichen geworden war, im Jahre 1837 seine junge, fein gebildete, liebreizende Frau Ida, Tochter der verwittwerten Frau Oberförster Renner in Bleicherode – früher auf Amt-Lohra – heimgeführt.

Mein Vater, Carl (Friedrich) Hoefer, geboren 1. 9. 1810, stammte aus Obergebra bei Bleicherode, wo sein Vater ein ansehnliches Bauerngut besaß.

2. Großvater Hoefer

Von diesem ehrwürdigen Manne, also meinem Großvater väterlicherseits, habe ich keine genaue Erinnerung, denn er ist gestorben, als ich ein Knabe von 3 – 4 Jahren war, nur ein traum- und nebelhaftes Bild eines alten Mannes mit auffallend großer Nase in seinem braun geblümten Schlafrocke schwebt mir vor. Ich sehe ihn über den Kirchhof von Gross-Wechsungen gehen. Dort hat er noch kurz vor seinem Tode seinen Sohn besucht, und dies Bild ist in meinem Gedächtnis haften geblieben. Aber von seiner Frau, meiner Großmutter Henriette Hoefer, geb. Hirschfeld, aus der Ammermühle bei Oberdorf (Wipperdorf) kommend, von der ich später berichten werde, habe ich mancherlei über den Großvater erfahren:

Er stammt nicht aus der heimatlichen Gegend, die dort allgemein die Grafschaft (Hohenstein) genannt wird, sondern war eingewandert, hatte sich in Obergebra angekauft und verheiratet. Wo seine Wiege stand, habe ich nicht in Erfahrung bringen können, Großmutter wußte nur, daß er „uß dem Lande“ zugezogen war, ohne daß sie eine nähere Bezeichnung seiner Heimath hätte angeben können. Er war übrigens ein durchaus ehrenwerther, gottesfürchtiger, fleißiger Mann, treuer Ehegatte und tüchtiger Landwirth, hatte sein Gut intelligent bewirtschaftet, hohe Erträge und einen sehr annehmbaren Kaufpreis erzielt, als er sich an seinem Lebensabende zur Ruhe setzte. In seinem Wesen war er streng gerecht, aber kurz angebunden, er war überaus genügsam und hatte nur zwei harmlose Leidenschaften: Schachspiel und Pfeiferauchen. Die Freude am Schachspiel verleitete ihn häufig, länger aufzusitzen, als es seine bessere Hälfte für zuträglich hielt. Letztere pflegte sich, ermüdet von den wirtschaftlichen Geschäften der Hausfrau, nach des Tages Mühen und Last zeitig zur Ruhe zu begeben, während der Großvater in dem Familienzimmer mit dem Dorfschulmeister noch gerne ein Partiechen Schach spielte. Um die überschüssige Wärme des Wohnzimmers für das Schlafzimmer auszunutzen, waren in den meisten Bauernhäusern zu damaliger Zeit diese beiden Zimmer übereinander angebracht und das im ersten Stock gelegene Schlafzimmer durch ein über dem Kachelofen angebrachtes quadratisches Loch mit dem zu ebener Erde gelegenen Wohnzimmer verbunden. Wenn nun meine Großmutter zu Bette ging, pflegte sie die jenes Loch bei Tage abschließende Klappe zu öffnen, sodaß die im unterm Wohnraume aufgespeicherte Ofenwärme ungehindert das gemeinschaftliche Schlafzimmer durchströmen konnte. Gleichzeitig vermochte die aber in den Momenten, wo der Schlaf ihr Auge floh, zu konstatiren, was unten vorging. Bei dem durchaus ruhigen Verlaufe des Schachspieles und da der Großvater ein wortkarger Mann und kein Freund von Lärmen war, wurde sie durch solche Spielabende in ihrem Schlafe selten gestört. Wenn aber nach ihrer Meinung das Spiel zu lange fortgesetzt wurde, so pflegte sie den vor ihrem Bette stehenden mit blau und rosa kariertem Barchend bezogenen Polsterstuhl in rappelnde Bewegung zu setzen, oder auch mit ihrer durchdringenden Stimme durch das Loch zu rufen, daß es nun Zeit sei, das Spiel zu beenden. Großvater ließ sich durch solche Winke mit dem Zaunpfahle nicht aus der Ruhe bringen, antwortete regelmäßig: „komme gleich“ und spielte ungestört weiter. Ja, einmal geschah es, daß der Tag bereits graute und die Arbeiter zum Dreschen auf der Scheune antraten, als der Schulmeister, sich scheu an den Häusern lang drückend nach Hause schlich und der Großvater, ermüdet von allzu langem nächtlichen Spiel, sein Lager aufsuchte. Da hub aber eine Gardinenpredigt an, wie man sie unter Eheleuten wohl selten zu hören kriegt, denn meine Großmutter war eine resolute Frau, hielt auf Ordnung in ihrem Häuschen und es kam ihr bei Ausübung dieser Pflicht auf eine Handvoll mehr oder weniger parlamentarisch zulässiger Kernworte nicht an. Großvater ließ alles geduldig über sich ergehen, kleidete sich ruhig aus, streckte sich auf seinem Lager lang und sprach laut und bestimmt die drei Worte: „nun ist genug!“ Da verstummte wie auf Kommando das berechtigte Klagelied der Ehefrau und nach wenigen Sekunden verrieth ein regelmäßiges mächtig hallendes Schnarchen des Großvaters, daß der eheliche Friede wiederhergestellt sei. Unentbehrlich für ihn war die Tabaks-pfeife, ohne die er nie zu sehen war. Bei der Arbeit und auf dem Felde bediente er sich der kurzen, zu Hause beim Lesen, Schreiben, Spiel und bei der Unterhaltung der langen Pfeife. Immer mußte der Tabak glimmen. Nur zu den Mahlzeiten und beim Schlafengehen wurde im letzten Moment die Pfeife aus dem Munde genommen. Damit der Tabak länger im Pfeifenkopfe stand, d. h. nicht so schnell wegbrannte, wurde der stets in größeren Portionen angeschaffte Vorrath in einem eisernen Kasten im Keller aufbewahrt. Auf diese Weise hielt er sich feucht. Der Tagesbedarf wurde in einem grünlich braunen sämichgaren Tabaksbeutel mitgeführt. Dieser Beutel wurde später seiner ursprünglichen Bestimmung entzogen. Vater hat darin wie er oft scherzend erzählte, sein Erbtheil von Obergebra nach Gross-Wechsungen getragen und hielt ihn stets in Ehren, indem er ihn zur Aufbewahrung der zeitweise im Haushalte entbehrlichen Geldbestände benutzte. Einem gleichwertigen Zwecke dient er noch heute bei mir. So unermüdlich der Großvater in der Handhabung der Tabakspfeife war, so wenig konnte er sich mit der Cigarre, die damals auf dem Lande noch wenig im Gebrauch war, befreunden. Er mochte sie nicht und wenn er sich von seinem Sohne einmal verleiten ließ, eine zu rauchen, so verursachte ihm selbst die leichteste Sorte Übelbefinden. Eine Erklärung für diese Tatsache zu finden ist mir schwer geworden, da es keinem Zweifel unterliegt, daß Pfeifen-rauchen viel schwerer zu vertragen ist wie die kräftigste Cigarre. Ich nehme an, daß Großvater an der ungewohnten Cigarre ebenso nachhaltig und regelmäßig gesogen hat wie man es bei der Pfeife thun muß, wenn man sie im Brande erhalten will. Auf diese Weise hat er eine Cigarre, an der sich der Durchschnittsraucher ½ Stunde lang inhaliert, in wenigen Minuten weggepafft und sich dadurch in kurzer Zeit viel zu viel Nikotin zugeführt, der sich bei der Pfeife im Abguß sammelt und dort regelmäßig ausgegossen wird.

Großvater las gern in der Bibel und einer alten Familienpostille, spielte auf seinem tafelförmigen Pianoforte leidlich gut und verfügte trotz seiner angeborenen Zurückhaltung über Humor und Mutterwitz: Als sein Sohn Carl, der ursprünglich für den landwirtschaftlichen Beruf bestimmt war, bei der Heimkehr von der Feldarbeit aus Unachtsamkeit die seiner Obhut anvertrauten Pferde so dirigierte, daß sie mit der von ihnen gezogenen Ringelwalze gegen einen Grenzstein stießen und die zwei Zugstränge zerrissen, da verabreichte ihm der Vater eine schallende Ohrfeige und sprach gelassen: „Zum Ökonomen bist du zu dumm, du sollst Pastor werden!“ Dies Ereignis war entscheidend für des Sohnes künftigen Beruf.

Als dieser in der Folge auf der Universität Berlin studirte und eines Winterabends aus dem Kolleg heimkehrte, sah er von der Straße aus in seiner Studentenbude Licht, während zu seinem größten Erstaunen wohlbekannte lustige Weisen an sein Ohr schlugen. Erwartungsvoll stürmt der Jüngling die 3 Treppen hinauf und findet vor dem geliehenen alten Klimperkasten den Vater sitzen, der die weite, damals so unbequeme Reise zur Winterszeit unternommen hatte, um seinen Sohn, den fleißigen Studenten, zu überraschen und zu erfreuen. Der einzige, wesentlich jüngere Bruder meines Vaters, Ludwig, war die Freude und der Vorzug seiner Eltern sowohl, wie der einzigen Schwester Emilie, die später als Tante Kunze in der Familie bekannt und geschätzt war. Leider starb der kleine Liebling im Knabenalter eines schnellen Todes an Rachenbräune (Kroup). Um seinen Sohn Carl nicht zu furchtbar zu erschrecken, theilte ihm der Großvater das traurige Ereignis in 2 Briefen etwa folgenden Inhalts mit:

1. „Obergebra, den 14.10.1832. Lieber Sohn! Dein Bruder Ludwig ist sehr krank, er hat die fäulige Bräune.

Bitte den lieben Gott, daß er uns den Liebling am Leben erhalte; Deine Mutter und Schwester sind sehr besorgt und betrübt, ebenso Dein treuer Vater.“

2. „Obergebra, den 15.10.1832. Lieber Sohn! Als ich Dir gestern schrieb, war Dein lieber Bruder Ludwig nicht mehr krank, sondern er war schon todt. Ich wollte Dich aber vorbereiten, deshalb schrieb ich die Wahrheit nicht gleich.“

So sehr der Großvater von den Seinigen, Freunden und Bekannten geschätzt und verehrt wurde, so sehr war er als Logiergast von seinen Zimmernachbarn, zu geschweigen von denen, die verurtheilt waren, mit ihm dasselbe Schlafgemach zu theilen, gefürchtet, denn kaum im Bette ausgestreckt, schlief er sofort ein und schnarchte die ganze Nacht hindurch ohne Unterbrechung ganz gewaltig.

Auf der Taufe meines Bruders Fritz ging es im Pfarrhaus zu Craja hoch und lustig her. Mein Vater hatte zahlreiche Gäste aus Bleicherode und Umgegend geladen, denen es zu gut gefiel, als daß die sich hätten entschließen können, den einstündigen Heimweg am Abend noch zurückzulegen. Die disponiblen Räume im kleinen Pfarrhause wurden daher zu Massenquartieren umgerüstet, und nur die ältesten Gäste bekamen Betten, während die jüngern mit Streu Vorlieb nehmen mußten.

Als meine Eltern am andern Morgen erwachten und die Zurüstungen zum Frühstück für die Taufgäste treffen wollten, ergab sich, daß nur noch der Großvater anwesend war, alle übrigen hatten bei Nacht und Nebel das Taufhaus verlassen. Äußerst vergnügt und herzlich lachend erschien der Dauergast am Frühstückstische, rieb sich die Hände und sagte: „ich habe ja alle furtgeschnarcht“!

Hilfsdatei von Karlgeorg Hoefer für die deutsche Kurrentschrift

Heinrich Hoefer * 1784, † 1853.

Sohn von Heinrich Matthias Höfer (mit ö)

3. Großmutter Hoefer

Die Ehe meiner Großeltern war nach den Begriffen der damaligen Zeit eine durchaus mustergültige. Getragen von wechselseitiger Hochschätzung, einer von des andern Pflichtbewußtsein und Tüchtigkeit überzeugt und gestützt, so ergänzten sich die beiden Eheleute trotz der Verschiedenartigkeit Ihrer Charactere in erfreulicher, ersprießlicher Weise, wenn-schon beide für äußerliche Liebesbeweise und Zärtlichkeiten gänzlich unzugänglich waren.

Es wird mir nicht schwer, ein zutreffendes Bild von der Großmutter Hoefer zu entwerfen, da ich von meiner frühesten Kindheit bis zum Eintritt ins Heer in ihrer Nähe, theilweise unter demselben Dache mit ihr gewohnt habe. Freilich hatte sie damals die Höhe des Lebens überschritten und wirtschaftlicher Thätigkeit entsagt. Sie lebte als Wittwe erst in Gross-Wechsungen, nachher in Nordhausen. Aber aus ihren Erzählungen, aus ihrem Verhalten und Treiben im Ruhestande kann ich mir ein lebensvolles Bild von ihr als schaltende Hausfrau auf dem Gutshofe in Obergebra gestalten.

Wie ich schon andeutete, war sie im Gegensatz zu ihrem Manne eine resolute Frau, die nur in reger Thätigkeit Befriedigung fand und der nichts widerwärtiger war wie Trägheit, zumal wenn sich diese bei ihrem weiblichen Unterpersonal ergab. Wie alle in einer Mühle erzogenen Menschen, so verfügte auch sie über beträchtliche Stimm-Mittel, ein lautes accentuiertes Organ, das wie ein Mühlrad dem Strome der Rede Geltung verschaffte. Ihr Leben im Elternhause mag ein recht freundliches gewesen sein, denn sie hatte eine große Anzahl lieber Brüder und Schwestern, auf die ich im Laufe meiner Erzählung hie und da zurückkommen werde; die Ammermühle selbst, die damals nur Mehl- und Ölmühle war und erst später dank der Betriebsamkeit der Neffen durch einen Anbau zur Werkstätte der Textilindustrie vergrößert wurde, bot bei ihrer freundlichen Lage mancherlei Kurzweil und nachbarlichen Verkehr nach dem nahe gelegenen Städtchen Bleicherode und der Kreisstadt Nordhausen. Herrschaft und Dienstpersonal bildeten nach echt patriarchalischer Sitte eine große Familie, Andachten und Mahlzeiten fanden gemeinschaftlich statt.

Ein Müllerknappe Namens Beelitz war dafür bekannt, daß er Abends ungern zur Ruhe ging und Morgens nicht aus dem Bette finden konnte. In Erinnerung an diesen Knecht im Elternhause pflegte Großmutter uns Knaben, wenn wir Abends den Wunsch äußerten, über die feststehende Stunde hin aus im Kreise der Erwachsenen zu weilen, zuzurufen: „du büst Beelitz, lät sich nich gerne hän und stieht nich gerne uff“.

Ich bemerke, daß Großmutter, obwohl sie sich sehr gut hochdeutsch ausdrücken konnte, mit Vorliebe im hohensteiner Dialekt sprach, den auch mein Vater noch gern anwandte, namentlich wenn er einen lustigen Schwank zum besten gab, oder einer abfälligen Kritik eine freundschaftliche Form geben wollte.

So ganz friedlich scheint es übrigens in der Ammermühle zur Zeit als Großmutter Hoefer noch ein Kind war, doch nicht immer zugegangen zu sein, eine Begebenheit, die in der Familie erzählt wurde, läßt im Gegentheil darauf schließen, daß Großmutters Eltern derb an einander gerathen konnten:

Als seine Frau einst auf Besorgungen in die Stadt gefahren war, hatte der alte Hirschfeld, also Großmutters Vater eine Anzahl trunkfester Freunde aus der Umgegend zu sich geladen und es entwickelte sich, ohne daß die abwesende Hausfrau eine Ahnung von dem Besuche hatte, bald ein wüstes Zechgelage in der Mühle. Als die Zechgenossen im besten Zuge waren und im tollen Übermut der Hausfrau durch Absingung des Spottliedes: „ein Kreuz, ein Leid, ein böses Weib hat mir der Herr beschieden, nimm’s Weib zu dir, nimms Kreuz von mir, dann hab’ ich Ruh’ und Frieden“ freundlich gedacht hatten, trat diese selbst zornbebend in den verblüfften Zecherkreis, schlug mit dem sog. Rührscheite, einem ruderähnlichen Instrumente, womit sie soeben das Spülichtfaß umgerührt hatte, wuchtvoll auf den Kredenztisch, sodaß die Wischplempe den Gästen ins Gesicht hagelte, und bereitete damit dem feuchtfröhlichen Gelage ein jähes Ende. Der als Spaßmacher bekannte Allerweltsonkel Fritz Rüdiger aus Bleicherode berichtete später über diesen Vorfall: „8 Tage mußten wir klubbern, bis wir das Dreckzeug aus dem Bart hatten“. Ein wenig von dem schlagfertigen Wesen ihrer Mutter scheint ja auf meine Großmutter übergegangen zu sein, wenn sich das bei ihr auch niemals in der drastischen Form Kund gab wie in der vorher berichteten Begebenheit. Immerhin hatte sie, wenn schon sie klein von Gestalt, dabei aber etwas vüllig war, einen starken Willen und eine besondere Gabe, ihr Dienstpersonal zu dirigieren, zur Arbeit anzuhalten und zu kommandiren. „Ein guter Kumtör (Kommandeur) ist besser wie zwei fule Arbeiter“, pflegte sie noch in ihrem Alter zu versichern, wobei sie an die von ihr unzertrennliche, an der rechten Taillenseite befestigte Geldtasche, die zur Aufnahme von Silbergroschen und Kupfergeld, aber auch eines Wassers, diente, behaglich klopfte. Ein scharfes Wasser und eine scharfe Zunge müsse eine junge Frau stets bei sich haben, war eine von den Lebensregeln, die sie ihren Enkelinnen einschärfte, wenn diese im Begriff standen, einen eigenen Hausstand zu begründen. Die Redensarten, die sie zur Anfeuerung ihrer Dienstmägde wählte, waren freilich nicht immer salonmäßig. Es setzte auf Seiten der letzteren häufig Thränen und Trotz, der sich durch Verweigerung der Nahrungszufuhr äußerte. Das rührte aber die Großmutter wenig, die schleuderte ihnen dann Bemerkungen ins Gesicht wie: „Was de hühlt, das brucht de nich zu schwitze“, oder „wenn de nischt üßt, da kniepts uch nich im Leibe“. Dabei war sie aber sehr gutmütig und wußte, Fleiß und Accuratesse in der Arbeit durch Wort und That zu belohnen. Die Schätze in der ledernen Geldtasche, mit denen sie gern klimperte, boten ihr reichlich Mittel, um ihrer Zufriedenheit materiellen Ausdruck zu verleihen. Auch bedürftige Leute: Bettler, fahrende Spielleute, Bärenführer, Knaben, die Affen oder Murmelthiere produzirten, gingen nie unbeschenkt von ihrer Thür. Hatte sie einen solchen „Künstler“ belohnt, so pflegte sie im Hinblick auf das Instrument, das jener als Erwerbsquelle benutzte, scherzend zu bemerken: „Wänn der Kerl das Ding nicht hätte, do mitt’e betteln gähn“.

So gern sie bedürftigen und würdigen Leuten, ob jung ob alt, materiell unter die Arme griff, so verlangte sie andrerseits von den Geringeren, daß sie ihr stets mit dem nöthigen Respecte begegneten und war unnachsichtig abweisend, ja argwöhnisch gegen solche, von denen sie sich nicht gebührend honoriert sah. So hatte sie lange Zeit hindurch einen halbwüchsigen zerlumpten Jungen, dessen Eltern als arbeitsunfähige Ortsarme im Hirtenhause (So hieß die als Armenhaus dienende Lehmkathe) wohnten, aus Mitleid dadurch unterstützt, daß sie ihm allwöchentlich einige Kupferdreier zur Anschaffung von Brot schenkte. Diese zur lieben Gewohnheit gewordene Mildthätigkeit nahm aber ein plötzliches Ende durch ein unvorsichtiges Wörtchen, das dem Almosenempfänger offenbar ohne jede Absicht der Kränkung seiner Wohlthäterin entschlüpft war. In der Absicht, seinen wöchentlichen Obolus einzuheimsen, hatte Barfüßle beim Eintritt ins Haus gefragt: „üß dänn de ohle Frau derheime“? Diese nach ihrer Auffassung despectirliche Bezeichnung hatte Großmutter, die sich gerade auf dem Treppenflur aufhielt, gehört, sie ergrimmte ob solcher Achtungswidrigkeit und fertigte für diesmal den kleinen Bettler mit der Zurechtweisung ab: „Wänn de nich oolt wärde willst, mußt de dich jung an den Galgen hängen looße“!

Sie war kindlich fromm und verfügte über einen für ihre Verhältnisse reichen Schatz an Lebensweisheit. Liebeleien und ein unabsehbar langer Brautstand waren ihr verhaßt, sie pflegte sich mit den Worten dagegen auszusprechen: „die lange Zieherei kann ich nich liede“. Für allzureichen Kindersegen hatte sie stets ein bedenkliches Kopfschütteln.

Als meine Schwester Marie Schulz und ziemlich gleichzeitig meine Cousine Marie Ranoch geb. Kuntze wiederholt nach ziemlich kurzen Intervallen die Geburt von Kindern anzeigten, äußerte sie mit süßsauerm Humor: „De beiden Mariens hans met dese veelen Kingern“. Wenn aber eine Frau in der Ehe ihre Stellung zu wahren wußte und nicht alles geduldig von ihrem Eheherrn hinnahm, so fand das ihren vollen Beifall. Mit den Worten: „de üptöchtig die schwiet nich“ pflegte sie sich anerkennend über Marie Rawiz auszusprechen, die ihrem lieben Schnapsbrenner Rawiz tüchtig eins aufzutrumpfen verstand, im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Emilie, die von Natur zurückhaltend, demüthig und bescheiden, unter der Fuchtel ihres aalglatten Mannes, des Weinhändlers Bohnhardt auf dem Lorbeerbaum in Nordhausen ein gedrücktes Dasein führte.

Besonders nachahmungwürdigen Gleichmuth pflegte Großmutter an den Tag zu legen, wenn sie sich von einem Verwandten oder sog. Freunde vernachlässigt sah. Geschah es, daß jemand, von dem sie annehmen durfte, daß er sie aufsuchen würde, achtlos an ihrer Thür vorüberging, so setzte sie sich mit den sanften Worten: „wänn e ich kümmst, do bruchst e nich wädder furtzugähn“ über solche Ungezogenheit hinweg.

Bis in ihr hohes Alter hinein hat sie es aber nicht verwinden können, daß sie nicht mehr Herrin über Haus, Hof und Gut war, sondern die bescheidene Rolle einer auf ihr Altentheil angewiesenen Gutsbesitzerswittwe spielen mußte. Sie mochte nichts davon hören, daß die sie aufsuchenden Leute aus Stadt und Dorf über ihr Geschick jammerten und, ob mit Grund oder nicht, unzufrieden waren.

„s üß mia au nich an der Wiege gesungen, daß ich mohl mitte zu Miethe wohnen“, mit diesen Worten pflegte sie derartige Lamentationen abzuschwächen.

Henriette Hoefer, geb. Hirschfeld *12. 10. 1788 † 06. 1874

4. Großeltern Renner

Den in den vorigen Abschnitten gebotenen Aufzeichnungen gegenüber fallen die Mittheilungen über die Vorfahren meiner Mutter sehr dürftig aus.

Der Großvater Renner war lange vor Mutters Verheiratung, die Großmutter m.W. noch vor meiner Geburt gestorben. Ich kann also aus eigener Wahrnehmung nichts über sie berichten und weiß nur, daß der Großvater Renner, der sich vom einfachen Forstmanne zum königl. Oberförster auf Amt Lohra in der Hainleite emporgearbeitet hatte, ein bescheidener, ernster, sehr fleißiger, aber früh kränkelnder Mann gewesen ist. Sein Unterleibsleiden zwang ihn zu einer sich alljährlich wiederholenden Reise nach Karlsbad, vor deren Antritt er sein Testament zu errichten und sein Haus zu bestellen pflegte. Da damals die Eisenbahnen noch nicht erfunden waren, so benutzte er zur Hin- und Rückreise eigenes Fuhrwerk und blieb daher jedesmal monatelang von Hause abwesend.

Das waren für die im einsamen Forsthause zurückbleibende Familie bange Wochen.

Wegen seiner streng rechtlichen Gesinnung und seiner durchaus unparteiischen Dienstführung stand Oberförster Renner bei Vorgesetzten und Untergebenen in hoher Achtung.

Unter den Revierförstern gab es damals noch echte Waldmenschen, Originale, die man heute in den Forsten leider nicht mehr antrifft. Großvater freute sich an diesen, von der Kultur noch nicht beleckten Naturen, hielt sie möglichst lange im Amte und ergötzte sich gern an ihrem ungezwungenen Geplauder. Ein besonders gutmüthiger und dabei spaßhafter Mann war der Revierförster Settegast. Bevor dieser eines Morgens den gewohnten Gang ins Revier antrat, hatte ihm seine bessere Hälfte verrathen, daß sie im Begriffe sei, Hefen-striezel zu backen und ihm davon einige frische Prachtexemplare durch den Forstlehrling zum Frühstück in den Wald schicken würde. Richtig: zur festgesetzten Stunde traf auch der pausbäckige Lehrling ein, meldete sich zur Stelle, lieferte aber die versprochenen Striezel an den alten Mann nicht ab. Dieser wartete ein Weilchen in der Meinung, daß der Jüngling den Auftrag der Hausfrau vergessen habe. Als dieser aber nach geraumer Zeit immer noch nichts aus der Jagdtasche produzirte, was einem Hefenstriezel ähnlich sah, so fragte ihn sein Brotherr, ob ihm denn die Mutter keinen Auftrag an ihn ertheilt habe. Da erschrak Monsieur Leichtsinn hastig und gestand reumüthig unter Thränen, die ihm von der Frau Förster mitgegebenen Striezel hätten ihm so schön in der Nase geschnuppert, daß er nicht hätte widerstehen können, sie aus dem Ranzen zu nehmen und daran zu riechen. Aus dem Riechen wäre gar bald ein Belecken, aus dem Lecken ein Saugen, aus dem Saugen ein Nagen, aus dem Nagen ein Kauen und Verschlingen geworden, sodaß er nun mit leerer Tasche bei seinem Lehrherrn eingetroffen. Die Befürchtung des Leckermauls, daß es nun mindestens ein paar wohlgezielte Jagdhiebe mit der Hundepeitsche setzen würde, bestätigte sich zum größten Erstaunen des Sünders nicht. Der wohlwollende Alte verschluckte seinen Ärger und entschuldigte resignirt den kleinen Freßsack mit den Worte: „Sich, der ist so weich gewesen, hat er sich so rein gepeppelt“.

Die Großmutter Renner war eine geborene Marlung und stammte aus einer Refugiéfamilie, die in Frankreich das Adelsprädikat besessen hatte, das einer ihrer Neffen, ein Postdirector in Nordhausen später wieder aufgenommen hat, indem er sich des französischen Namens Marlon de Tormais bediente.

Die Großmutter war eine feine, zierlich gebaute, fleißige und hoch gebildete Dame, die es sich selbst mit ihren höchst dürftigen Mitteln als Wittwe angelegen sein ließ, ihren vielen Kindern eine gute Erziehung und Ausbildung zu Theil werden zu lassen. Ich will versuchen, Namen und Stand der Geschwister Renner hier aufzuzeichnen:

Julius Renner, Mühlenbaumeister in Herteliane-Neumark, Vater der bekannten Bäschen in Berlin und der Frau Emmelmann.

Meine Mutter,

Frau Pastor Minna Emmelmann in Stützerbach, Mutter meines Vetters Emmelmann in Deersheim,

Frau Bertha Hertwig, Gattin eines Posthalters in Schloppe,

Frau Emma Wisselinck in Landsberg a/W.

Oberkonsistorialrath Ludwig Renner in Wernigerode.

Von diesen lebt m. W. nur noch Tante Emma Wisselinck. Deren Tochter Marie, genannt Musch, s. gt. ein bildhübsches Mädchen, hat ihren Vetter, den Gutsbesitzer Wisselinck auf Tarihan bei Grandenz geheirathet und mich in Danzig wiederholt besucht, ohne daß wir uns persönlich näher getreten wären.

Frühes Gemälde von Carl (Friedrich) Hoefer

geb. 1.9. 1810 gest. 27.3.1871

5. Eltern

Nachdem der Grenzstein an der Feldscheide zu Obergebra den Entschluß gezeitigt hatte, daß mein Vater den landwirtschaftlichen Beruf nicht ergreifen sollte, wurden sofort die nöthigen Schritte zu seiner Ausbildung für die Aufnahme auf einer Hochschule getroffen. Außer den in der Dorfschule gelehrten Elementarfächern hatte er nur wenige Privatstunden beim Pastor Loci gehabt und mußte daher das Gymnasium von unten auf durchmachen. Das Gymnasium zu Nordhausen, welches zu seiner Ausbildung gewählt wurde, hatte damals ein zum Theil recht mangelhaftes Lehrerpersonal. Neben zwei tüchtigen Altphilologen: dem Director Schirlitz und Dr. Rothmaler, welche beide später auch meine Lehrer waren, amtirte eine Reihe von minderwertigen Kräften, die den Knaben schlechterdings nichts beibringen konnten und zur Zielscheibe des Spottes der Spaßmacher dienten. Dem Lehrmeister der französischen Sprache, Herrn Ehring, hatte es Vater zu danken, daß er sich in diesem Unterrichtsgegenstande nur ganz unzureichende Kenntnisse erwarb, ein Mangel, den er später einmal schmerzlich empfinden sollte: Er hatte es unternommen, einen seiner Zöglinge, Felix Isenburg, zu seinen Eltern nach Luxemburg zu bringen und ihn später von dort wieder abzuholen. Die Zwischenzeit wollte er durch eine Reise an den Rhein und nach Ostfrankreich ausfüllen. Am Rhein ging das ganz herrlich. In zwei ostpreußischen Gutsbesitzern fand er lustige Reisebegleiter, mit denen er in der Natur und ihren Producten schwelgte, sich dabei aber auch das Leben und die Spielsäle der damals weltberühmten Bäder Wiesbaden und Homburg ansah. Alters ‘halber gaben sie sich als Polen aus und auch Vater hatte seinen Namen polonisiert, er nannte sich Hofski. Einer seiner Begleiter trug sein Reisegeld in den Hosenträgern und trennte jeden Morgen einen Doppellouisdor aus, der im Laufe des Tages verjubelt werden durfte. Dementsprechend konnte auch sein Verlust am grünen Tische nicht beträchtlich sein.

Eine ungeahnte Wirkung hatte ein Trinkgelage, das die 3 Reisegenossen auf Schloß Johannisberg abhielten. Wer den Blick von der Schloßterrasse ins herrliche Rheingau kennt, wer dort den echten Johannisberger geschlürft und dabei der Gabe der maitresse Wiener Blut, ins dunkele, glückverheißende Auge geschaut hat, der versteht, daß die 3 Herren sich so schnell nicht von dort trennen konnten, sondern sich erst dann zum Heimwege nach Geisenheim anschickten, als sie eine mächtig Batterie leerer Flaschen vor sich aufgepflanzt hatten. Der Abstieg wurde zwar im Zickzack, aber doch ohne wesentlichen Unfall ausgeführt. Der Schlaf nach dieser Leistung war fest, aber wiederholt durch entsetzliches Durstgefühl unterbrochen. Hofski hatte am andern Morgen keinen Tropfen Wasser in seinem Logierzimmer, die Karaffe mit Trinkwasser, der Krug mit Waschwasser, der Inhalt der Waschschüssel: alles war bis zur Nagelprobe ausgetrunken. Nachdem er sich dann aber von seinen lustigen Reisegesellen getrennt und die französische Grenze überschritten hatte, fühlte er sich kreuzunglücklich, da es ihm trotz dictionnaire de poche nicht gelingen wollte, sich in der Fremdsprache verständlich zu machen. Die Leute, die er anredete, zuckten mit den Achseln und ließen den Prussien stehen. So kam es dann, daß er seine Absicht, bis nach Paris vorzudringen, aufgab und schon in Nancy Kehrt machte. Dort hatte ihn ein alfältiger Fremdenführer, den er zu seiner Freude am Bahnhof entdeckt und mit dem er deutsch reden konnte, den ganzen Tag lang in den überheißen Straßen herum-geschleppt, um ihm die Sehenswürdigkeiten zu zeigen. Hunde-müde kommt Vater gegen Abend wieder am Bahnhof an und fordert am Billetschalter: billet troisième classe pour Aachen. Der Schalterbeamte grinst ihn an und fragt zurück: „Aix la chapelle?“ Darauf Vater: „non, non, pour Aachen“. Der Beamte schüttelt mit dem Kopfe und schließt das Schalterfenster. Jetzt greift Vater endlich nach dem Kursbuche, entfaltet die Karte und bezeichnet dem Beamten mit dem Daumen die Kaiserstadt Aachen, der zustimmend: „oui, oui, Aix la chapelle“ erwidert und das richtige Billet verabfolgt. Vater pflegte noch in späteren Jahren, als 2 seiner Söhne nun im Begriff waren, die französische Grenze zu überschreiten, zu versichern: „keine 10 Pferde bringen mich wieder nach Frankreich“!

Diesen Mißerfolg seiner Expedition ins westliche Grenzland durfte Vater mit Fug und Recht dem mangelhaften französischen Unterrichte, den er in Nordhausen bei Herrn Ehring genossen, zu schreiben. Die Schüler machten sich über diesen und seine Aussprache weidlich lustig und scheuten sich nicht, ihn, wenn er sich auf dem Katheder behaglich zurechtsetzte, anzuschreien: „Uhne bonna Mähre, Herr Ehring sitzt der quere“. Nicht viel besser erging es einem andern, höchst originellen Herrn Namens Dilthey, der bis zur Tertia hinauf den lateinischen Unterricht zu ertheilen hatte. Er tractirte die Fabeln des Phädras, ließ sie aber bei Laibe nicht alle, oder der Reihe nach übersetzen, sein Repertoir beschränkte sich viel mehr auf eine bestimmte Anzahl von Fabeln, die keine besonderen Schwierigkeiten boten und die er zu übersetzen und zu interpretiren verstand. Die übrigen waren für ihn terra incognita. Das hatten seine naseweisen Schüler bald heraus und es machte ihnen ein besonderes Vergnügen, dem alten Herrn aus seiner Unkenntniß Verlegenheiten zu bereiten. Der Haupturheber der letzteren war ein schönes, vorlautes, gewürfeltes Kerlchen, dessen Vater Stadtrath war und der Herrn Dilthey mit Bezug auf den väterlichen Rang scherzweise „Rädchen“ zu nennen beliebte. Wenn es sich nun darum handelte, für die nächste Unterrichtsstunde das Pensum zu bestimmen, da erlaubte sich der kleine Naseweis mit List und Tücke eine Fabel in Vorschlag zu bringen, von der er sicher wußte, daß sie außerhalb Diltheys Repertoir lag. In recht wehleidigem Tone sagte er dann wohl: „Ach, Herr Dilthey, die Fabel vom lahmen Esel geht so schwere, die möchten mer mal gern übersetzen“. Dilthey im Bewußtsein, daß das Ansinnen für ihn unheilvoll werden könne, wehrte ab und sagte: „Rädchen, mi kinn’s nich“! Rädchen ließ sich aber nicht abweisen, sondern bettelte unter den heiligsten Versicherungen, daß er sich vorzüglich präparieren würde, so lange und so eindringlich, bis der alte Dilthey schwach wurde, nachgab und die von Rädchen gewünschte Fabel zur Präparation aufgab. Hatten die Hallunken schon früher auf die Präparation des Phädrus die denkbar geringste Sorgfalt verwandt, so wurde nun erst recht nichts gethan und so geschah es, daß die ränkesüchtigen Tertianer zur Übersetzung des lahmen Esels gänzlich unpräpariert erschienen. Der Unterricht begann und kein Mensch konnte übersetzen, Dilthey selbst natürlich am wenigsten. Da wars aber aus mit seiner Geduld. Rädchen, der ihm zu dem Leichtsinn, eine ihm unbekannte Fabel vorzunehmen, listig verführt hatte, mußte büßen und wurde coram publico mit dem Rohrstöckchen gehörig abgewalkt. Trotz solcher schwachen Lehrkräfte hat Vater doch die Schule leicht und mit gutem Erfolg durchgemacht, das Abturium rite absolvirt und demnächst auf der Universität hervorragendes geleistet, wie die Zeugnisse über die 1. und 2. theologische Prüfung ergaben. Einer studentischen Verbindung gehörte er nicht an, er fühlte sich in dem ungezwungenen Verkehre mit lieben Freunden befriedigt und wohl.

Ida Franziska Hoefer, geb. Renner

geb. 31. Oktober 1819,

gest. 1. Mai 1889

Carl Friedrich Hoefer,

Pastor zu Großwechsungen

geb. 1. September 1810,

gest. 27. März 1871

6. Craja

Eine Hauslehrerstelle hat er nach Abschluß seiner Ausbildung für den geistlichen Beruf nicht angenommen, solche Thätigkeit und namentlich die Abhängigkeit von geistig unter ihm stehen den Gutsbesitzern behagte ihm nicht; er zog die höchst gering dotierte Stelle als Substitut des altersschwachen Pastors Müller in Craja vor und fand in dieser schon als junger Mann Gelegenheit, in Kirche und Gemeinde höchst segensreich zu wirken. Unterkunft und Verpflegung, die er im Pfarrhause nicht erhielt, waren freilich höchst mäßig, seine Nahrung bestand vorzugsweise aus Eierkuchen; aber, von Haus aus bescheiden gewöhnt, macht er sich nicht allzuviel aus diesen materiellen Existenzbedingungen und, wenn er mal ordentlich essen wollte, so unternahm er einen lohnenden Spaziergang über den Crajer Kopf durch den duftigen Wald nach dem Japan, einem von den Bleicherödern gern besuchten Waldwirtshause, wo es außer Kaffee und Bier gutes Essen und einen trinkbaren Rothwein gab. Dieser führte den Vertrauen erweckenden Namen „Langkork“ – Steh-Julichen und Pontet Cantet waren dort nicht zu haben. Im Japan war Vater ein gern gesehener Gast, denn der Wirth, Vetter Krumbein und seine Frau waren, wie die meisten christlichen Einwohner von Bleicherode mit ihm durch einen Scheffel Erbsen verwandt, auch pflegte Vater bei solchen Ausflügen einen unverwüstlichen Humor zu entwickeln. Nachdem er sich verlobt, hatte er häufig auf dem Japan ein Stelldichein mit seiner jungen Braut, die er in Begleitung ihrer Mutter dorthin einlud und tractirte. In seinen Berufsangelegenheiten hatte er schon als Substitut große Selbständigkeit, denn der Pastor Müller, ein alter Rationalist, wie die meisten Geistlichen jener Zeit, war schon recht stumpf und zufrieden, wenn er mit Amtsgeschäften möglichst wenig behelligt wurde. Wenn er am Sonntage einmal gepredigt hatte, glaubte er, für die Woche genug gethan zu haben. Höchst originell war die Art seines Predigens. Hatte er den Text verlesen, so klappte er die Bibel zu, legte sie auf das Kanzelpult und berührte sie mit seiner Stirne. In dieser Stellung beharrte er während der ganzen Predigt, die er extemporrend in Hexametern stoßweise skandierte.

Ob das Metrum stimmte, ob die Worte in den Hexameter hineinpaßten, oder darüber hinausragten, war ihm höchst gleichgültig. Der Inhalt war fade und wurde wohl von keinem der Andächtigen verstanden, wenn auch Einzelne behaupteten, der alte Herr predige jeden Sonntag dasselbe. Gleichwohl waren die Gemeindeglieder mit dieser Art der Erbauung durchaus einverstanden, ja sie hielten ihren alten Pastor sogar für einen höchst bedeutenden Kanzelredner, der so leicht nicht zu übertreffen sei.

Zu jener Zeit galt der Bischof Drärecke, der Generalsuper-intendant der Provinz Sachsen, für den bedeutendsten Prediger in Preussen. Mit einem in der evangelischen Kirche wenig üblichen Pomp, den übrigens Vater durchaus billigte, in 4 spänniger Galakutsche, pflegte er die Provinz zu bereisen, Kirchenvisitationen abzuhalten und in den größeren Gemeinden zu predigen. Für die auf einsamer Landpfarrer vegetirenden Theologen war eine solche Predigt ein wahres Labsal, und wer sich irgend frei machen konnte, eilte von weither herbei, um den berühmten Mann zu hören. Auch Vater war zu einer solchen Predigt nach Bleicherode gekommen und hatte eine Anzahl kirchlich gesinnter Gemeindemitglieder aus Craja und Wall-rode mitgebracht. Truppweise seien die Leute – Männer und Frauen – über die Berge gezogen, pflegt Mutter zu erzählen, um dem angekündigten Gottesdienste des Bischofs beizuwohnen. Drärecke predigte gewaltig und mustergültig wie immer. Nicht allein die dicht gedrängt in der Kirche versammelte Gemeinde, sondern auch Hunderte von Andächtigen, die im Gotteshaus keinen Platz gefunden hatten und vor den geöffneten Kirchenthüren standen, erfaßten jedes Wort.

Als Vater nach dem Gottesdienste einige seiner Dorfbewohner auf dem Heimwege traf und sie fragte, was denn die Predigt des Bischofs für einen Eindruck auf sie gemacht hätte, antwortete ihm unus pro multis: „’s wor ja ganz schöne, übber bie unsen kämmet e doch nich“. In solchen Ehren stand der alte Rationalist bei seinen Beichtkindern!

War es bei dieser Kirchenvisitation, oder bei einer anderen Gelegenheit: Einmal hatte der Bischof bestimmt, daß Vater vor ihm predigen sollt und gleichzeitig als Text die Bibelstelle vor dem Gastmahle, das der Herr gab und zu dem schließlich Krüppel und Lahme geladen wurden, vorgeschrieben.

Tage lang ging Vater mit sich zu Rathe, wie er die Predigt wohl am besten anfassen solle und verfiel schließlich auf den Gedanken, sich bei seinem Amtsbruder Biebeler in Klein Berndten, der in dem Rufe eines großen Kirchenlichtes stand, eine passende Disposition auszubitten. Als Vater im Pfarrhause zu Klein Berndten, eintraf, war Biebeler, der sich in seinem weitab vom Verkehr gelegenen Dörfchen mehr auf practische Landwirtschaft, als auf practische Theologie gelegt hatte, gerade im Begriffe, den Schweinestall auszumisten, fand sich aber doch sofort bereit, seinem Amtsbruder in dessen Nöthen beizustehen. Er begab sich mit ihm in seine Studierstube, setzte sich rittlings auf einen Rohrstuhl, preßte die Stirn gegen die Stuhllehne und hielt wohl 1 Stunde lang eine gelehrte Auseinandersetzung über Gastmähler im Allgemeinen und jenes Gastmahl, was die Bibel erzählt, im Besondern, über Gastgeber im Allgemeinen und über den Herrn als Gastgeber im Besondern. Als er endlich mit seiner Schwafelei zu Ende und Vater mit Dank für die freundliche Belehrung zur Thür hinaus war, schlug sich dieser vor die Stirn und schluchzte: „Da steh’ ich nun, ich armer Thor und bin so klug als wie zuvor“. Gänzlich muthlos und gebrochen kam er zu Hause wieder an, schloß sich in sein Kämmerlein ein verharrte lang in inbrünstigem Gebete mit seinem Heilande. Dann setzte er sich an seinen Schreibtisch, schrieb die ganze Nacht hindurch, und am andern Morgen war die Predigt fix und fertig, eine Predigt, mit der er nicht allein bei seiner Gemeinde, sondern auch beim Bischof, der fortgesetzt dem Prediger freundlich zunickte, den größten Beifall erntete. Er hatte seine Disposition ganz eigenartig gewählt, er fragte: was setzt denn der Herr seinen Gästen vor? Und führte nun die einzelnen Gerichte des Gastmahls an: Glaube, Liebe, Hoffnung, Hingabe an Ihn, Samariterworte etc. daß ihm diese Predigt für seine spätere Laufbahn von wesentlichem Nutzen gewesen sei, davon war Vater fest überzeugt.

Bei all’seinen Wunderlichkeiten war Pastor Müller doch ein wohlwollend ernster Mann, der in seinem Berufe volle Befriedigung fand und keine Auffassung hatte für menschliche Größe, Eitelkeit und Ehrgeiz.

Als ihm sein Ephorus Superintendant Hahn, zu seinem 50jährigen Amtsjubiläum gratulierte und den rothen Adlerorden 4. Klasse mit der Zahl 50 überreicht, legte der Jubelgreis das kleine mit rothem Saffianleder überzogene Kästchen vor den Augen des Superintendanten lächelnd in den Glasschrank. Auf die erstaunte Frage seines Vorgesetzten, ob er sich denn gar nicht über den Allerhöchsten Gnadenbeweis freue, öffnete er das Kästchen, ließ das glänzende Silberkreuzlein am Ring hin-und herbaumeln und sprach mit wehleidiger Miene: „Herr Suppertante, klingelingeling“! Nach dem Tode des alten Müller wurde Vater Nachfolger dieses Ehrenmannes und bezog das kleine mit dem Giebel an der Hauptstraße von Craja gelegenePfarrhaus, in dem wir Geschwister alle mit Ausnahme des jüngsten Bruders Hans geboren sind.

Entsprechend dem geringen Einkommen dieser Pfarrstelle konnte der Haushalt meiner Eltern, die kurz nach Vaters Ordination die Ehe geschlossen hatten, nur sehr vorsichtig und sparsam eingerichtet und geführt werden. Aber die Lebenshaltung war zu seiner Zeit noch nicht so unerschwinglich theuer wie heute, Vater besaß von Natur aus hervorragend wirtschaftliches Talent, Mutter war eine überaus sorgsame, tüchtige Hausfrau und beide befolgten gewissenhaft den Grundsatz: „Kräk, kaak, Ofengabel, nach dem Beutel richt den Schnabel“. So kam es, daß die Eheleute mit dem geringen Einkommen doch gut haushielten; und Vater hat später noch oft versichert, daß er in keiner Periode seines Ehestandes so regelmäßig gespart habe, wie in den ersten Jahren auf der kärglichen Pfarre in Craja. Das junge Paar fühlte sich trotz nothgedrungener Einschränkungen zufrieden und glücklich im Hause, im Amte und im Umgange mit lieben Freunden. Kleinere Mißgeschicke und Verstimmungen blieben ihnen freilich nicht erspart: Mutter hatte, um billiger zu wirtschaften, eine Kuh angeschafft, mußte sie aber bald wieder mit Schaden verkaufen, weil das Thier unbändig war und die Gewohnheit hatte, den Melkeimer, wenn er mühsam gefüllt war, hinterrücks mit dem Fuße umzuwerfen.

Um bequemer in sein Filial Wallrode zu gelangen, glaubte Vater ein Reitpferd nöthig zu haben und er wandte sich daher an seinen Vater, der damals noch das Gut in Obergebra bewirtschaftete, mit der Bitte, ihm leihweise ein geeignetes Reitthier aus dem Bestande seiner Ackergäule zu überlassen. Listig schmunzelnd übergab ihm der alte Hoefer eins von seinen besten Pferden mit dem Hinzufügen, daß er es ihm zurückbringen möge, wenn er es nicht mehr brauchen könne. Leider war mein Vater ein sehr schwacher Reiter. Trab reiten bedeutete für ihn bei seinem ansehnlichen Bäuchlein eine große körperliche Anstrengung und er pflegte, weil das auch seiner geistlichen Würde mehr entsprach, stets nur in laufendem Schritt zu reiten. Nun gar das Futtern, Pflegen und Putzen des Pferdes, das doch alle Tage in Ermangelung eines Dieners von dem Herrn Pastor in Person besorgt sein mußte, verursachte dem dicken Herrn eine so unsägliche Mühe, daß er sehr bald aufhörte, sich über den Besitz des Rosses zu freuen. Als nun gar noch in Folge einer Mißernte die Haferpreise ins Ungemessene stiegen, und der Gaul, den bei der unzureichenden Arbeitsleistung der Hafer stach, aus Übermuth den an seinen Hinterbeinen beschäftigten Herrn Pastor mit den Zähnen empfindlich in den Hintern zwickte, da war es mit dem Reitsport im Pfarrhause zu Craja rasch zu Ende. Kurz entschlossen legte Vater den Sattel auf und brachte das kostspielige, widerspenstige Thier nach Obergebra zu seiner gewohnten Beschäftigung zurück. Großvater aber, der durchs Fenster seinen geistlichen Herrn Sohn auf dem mit Stallhalfter, Wassertränke und Futtersack beschwerten Braunen im Schritt anreiten sah, sagt zu seiner auf den rittlichen Sohn stolzen Frau: „Ich habe mir gleich gedacht, daß die Freude nicht lange währen würde“.

Auf einem mäßig großen Platze an der Dorfstraße unmittelbar neben dem Pfarrhause steht eine alte Linde, deren Zweige weit herabhingen und im Sommer kühlenden Schatten spendeten. Unter dieser Linde fanden nach althergebrachter Sitte die Volksbelustigungen der Dorfbewohner statt. Unmittelbar um den Stamm gruppierten sich die Musikanten, der weitere Ring diente als Tanzboden und im Kreise um diesen herum saßen oder lustwandelten die Zuschauer, aus einer fliegenden Cantine Schnaps, Bier, nach dem Schlachtefeste auch wohl Bratwürste genießend. Diese Volksbelustigungen, die sich in der guten Jahreszeit alle Sonntage wiederholten, waren die Quelle fortgesetzten Verdrusses für die Pastorenfamilie, die an solchen Tagen auf’s unangemessenste gestört und in der Nachtruhe beeinträchtigt wurde. Aber trotz aller Vorkehrungen war gegen diesen althergebrachten Brauch nichts zu machen und es blieb dem Vater, der am liebsten mit der Peitsche dazwischen gefahren wäre, um dem Höllenspektakel ein Ende zu machen, nichts übrig, als sich ins Unvermeidliche zu schicken und eine Faust in der Tasche zu machen. Am schlimmsten aber empfand diese Störung meine gute Mutter, wenn sie, was sich in Craja 7mal ereignet hat, ihr Wochenbett aushalten mußte.

Solches duldend sich bescheiden war Vaters Sache durchaus nicht, er war eine cholerische Natur, brauste leicht auf und zeigte sich unerbittlich, wo es galt, Gutes zu fördern und Unrecht zu verhindern. Er war ein glühender Patriot von streng monarchistischer Gesinnung und hatte 1848 für die Nachgiebigkeit Friedrich Wilhelms IV ebenso wenig Auffassung wie für die Notwendigkeit einer Verfassung. Das Revolutionsjahr bezeichnete er stets für einen Schandfleck in der preußischen Geschichte und er vermochte sich nie mit den Consequenzen dieser Epoche zu befreunden. Unerschrocken und unermüdlich für die absolute Monarchie begeistert, scheute er sich selbst in der Periode des schlimmsten Aufruhrs nie, mit seiner königstreuen Gesinnung offen auf den Plan zu treten, ja er kennzeichnete dieselbe äußerlich dadurch, daß er vom Beginn des Aufstandes an und noch viele Jahre danach an seinem obligaten Cylinderhute eine große schwarz weiße Kokarde trug. Sein Beispiel und Eifer wirkte in günstigster Weise auf die Gemeinde ein und nur ihm ist es zu danken, daß es in Craja und Wallrode nicht zu einer Zusammenrottung der aufgeregten Massen gekommen ist. Kurz angebunden und entschlossen wie er war, ging er ohne Besinnen zur That über, wo es galt, seinen Gemeinden die streng patriotische Gesinnung zu erhalten und er machte sich kein Gewissen daraus, einem auswärtigen jungen Manne, der mit einer großen schwarz rot goldenen Kokarde an der Mütze auf den Gassen von Craja einherstolzierte, die verhaßten Farben mit dem Taschenmesser abzuschneiden. Wie in seiner politischen Richtung, so war er auch im Amte ein Mann der That, dem langes Fackeln und Trägheit in den Tod zuwider war. Zuwider war dem eifrigen jungen Geistlichen vor allem der damals allgemein übliche, überaus schleppende und einschläfernde Kirchengesang. Nach seiner Meinung sollte das Kirchenlied frisch und rythmisch herausgesungen werden, wie es Luther haben wollte, dessen feste Burg nur in lebhaftem Tempo gesungen werden darf. Aber die alte, langsame Gesangsmethode hatte ungeahnt viele Anhänger nicht allein bei den Gemeindemitgliedern, die bei regelmäßigem Gesang den liebgewonnenen Kirchenschlaf beeinträchtigt sahen, sondern auch bei seinen Amtsbrüdern, die der irrigen Ansicht waren, daß das rasche Tempo der Würde des Kirchengesanges Eintrag thun könne. Aber Vater ließ sich durch solche Einwendungen in seiner positiven Überzeugung, daß die Gemeinde durch lebhaftheren Gesang aufgerüttelt und hingerissen würde, nicht irre machen, er fand in einzelnen jüngeren Organisten begeisterte Anhänger seiner Idee und reiste mit diesen von Ort zu Ort in der Grafschaft umher, um für die offizielle Einführung des rüthmischen Gesanges Stimmung zu machen. Zu seiner Freude hatte er Erfolg.

Daß heute in keiner Kirche der Grafschaft Hohenstein der schleppende Gesang gehört wird, ist sein Werk, das ihm manche Anerkennung und Freundschaft einsichtsvoller hochgestellter Persönlichkeiten in Kirchlicher Gesinnung einbrachte. Am begeistertsten waren natürlich seine eigenen Gemeinden für die neue Methode eingenommen. Dort erklang jeden Sonntag frisch und fröhlich der Kirchengesang zu Ehre des Heilandes von begeisterten Lippen. Die Leute sangen gerne und nicht allein in der Kirche, sondern auch daheim und werktags bei der Arbeit im Felde und in der Werkstatt die schönen evangelischen Kirchenlieder. In der löblichen Absicht, Lust und Liebe zum Gesange zu wecken, drückte Vater aber auch gern ein Auge zu, wenn mal einer seiner Kantoren bei dem Bestreben der Gemeinde etwas Apartes zu bieten, zu weit ging und vorbei haute. In letzterer Beziehung leistete der Kantor seines Filialdorfs Wallrode Erstaunliches, ohne daß es ihm Vater besonders übel genommen, oder gar nachgetragen hätte; Als eine Witwe, die den Vornamen Susanne trug, zum 3ten Male vor den Altar trat und als Herzliebsten den Arbeiter Hebestreit heimzuführen im Begriff stand, begleitete der Männerchor der Gemeinde das denkwürdige Ereigniß mit dem 4stimmigen Cantus: „Susanne kommt zum 3tenmal, zum 3tenmal, zum 3tenmal – wen hat sie denn gefreit? – einen Hebestreit“.

Herrn von Berlepoct, dem Patron der Kirche, fiel es nicht ein, an der seiner Fürsorge anvertrauten geweihten Stätte zu erscheinen. Das Freudenfest feierte der compositionslustige Kantor durch die kräftig in die Kirche hineingesungene Fanfare: „Guten Morgen, Herr von Berlepoct, guten Morgen, Herr von Berlepoct-Ber, Ber, Ber, lepoct lepoct, lepoct, Ber, Ber, Ber, lepoct, lepoct, lepoct – Guten Morgen Herr von Berlepoct“!

In seiner Gemeinde war mein Vater wegen seiner Leutseligkeit und weil er, ein echt volksthümlicher Pastor, als Sohn der Grafschaft mit den Leuten im Hohensteinschen dialect sprach, besonders geachtet und geliebt.

Gerade wegen dieser ihm eigenthümlichen, für ein fremdes Ohr ungewohnt und hart klingenden Dialects, der sich auch in der hochdeutschen Aussprache auffällig bemerkbar machte, den aber Vater liebte und pflegte, hätte er, wie er selbst sagte, in einer Stadt oder einer fernab liegenden Gemeinde nicht amtieren können. Aus diesem Grunde wies er auch den Gedanken, Superintendant zu werden, weit von sich ab; in dieser Stellung hätte er ja häufig der Regierung Bericht erstatten müssen, und das war ihm sehr zuwider: einmal weil er mit den Auffassungen und Maßnahmen dieser Behörde in kirchlichen Dingen durchaus nicht immer einverstanden war, andererseits weil er den Herren vom grünen Tisch überhaupt nicht grün war, ihnen wenigstens einen maßgebenden Einfluß auf die Thätigkeit eines im Volke stehenden Pastors nicht einräumen mochte. So geschah es dann, daß, wenn er mal amtlich genöthigt war, etwas Schriftliches an die Regierung loszulassen, seine Berichte jedes-mal einen sarkastischen, wenn nicht gereizten Ton annahmen.

Seine innigen Beziehungen zur Gemeinde hegte und pflegte er aber nicht nur in der Seelsorge, sondern auch durch mittelbare oder auch unmittelbare Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen jedes Einzelnen. War er auch kein ausgesprochener Antisemit, so mußte er doch den unheilvollen Einfluß der Schacherjuden auf den Wohlstand des kleinen Mannes bald erkennen. Hatte er es doch in seiner Heimath erlebt, daß die bleicheröder Juden wohl situierte Bauern durch Darlehnsgewährungen in liberalster Weise ganz allmählich ruiniert und von Haus und Hof gebracht hatten. Diesen Einfluß hat er meisterhaft beseitigt und erreicht, daß sich in seiner Gemeinde kein Jude mehr sehen ließ. Gar manchen hat Vater vorm Bankrott gerettet, indem er ihm das nöthige Geld zu mäßigen Zinsen vorschoß, damit er sich aus den Klauen der Juden befreien konnte. Die von ihm auf diese Weise wirtschaftlich über Wasser gehaltenen Leute sind ihm großentheils lebenslang dankbar geblieben. das rührendste Beispiel solcher Dankbarkeit bot der auf dem Hinterdorfe in Craja wohnendeLeinenweber Heise, allgemein „der kleine Heise“ genannt, weil er in der That ein ganz kleines Männchen war. Als ältester Sohn hatte er das kleine Anwesen bei der Eltern Tode übernommen und war durch vorübergehende Arbeitslosigkeit und die Notwendigkeit, seinen Geschwistern ihr Erbtheil herauszuzahlen, in drückende Schulden geraten. Vater hatte ihm durch eine im Verhältniß zum Werthe des Grundstücks bedeutend hohe Hypothek und durch Fristgewährung für die Zinszahlung in entgegenkommender Weise aus der Verlegenheit geholfen und es dadurch bewirkt, daß der fleißige Mann nach einer Reihe von Jahren wieder zu Wohlstand gekommen war. Dafür blieb der kleine Heise dankbar und an unsere Familie anhänglich, solange Vater lebte und wir in seiner Gegend wohnten.

So regelmäßig die Schwalbe zum Sommer in die nordischen Gefielde zieht, so sicher traf der kleine Heise eines Sonntags im Juli, wenn die Sommerbirnen reif waren, im Pfarrhaus Gross-Wechsungen ein. Vor Tau und Tag machte er sich von Craja auf, warf den mit Sommerbirnen wohl gefüllten Quersack über die Schulter und leget mehr tippelnd als gehend mit seinen kleinen Tackelbeinchen den 3 Stunden weiten Weg über Lipprechtrode, Kehmstedt, Fronderode so zielbewußt zurück, daß er noch vor Beginn des Gottesdienstes in Gross-Wechsungen eintraf und mit uns zur Kirche gehen konnte. Die Birnen, die er den weiten Weg für uns Kinder angeschleppt brachte, waren kleine gelbe Frühbirnen, also eine keineswegs werthvolle Sorte. Aber ich erinnere mich nicht, daß mir jemals in meinem Leben eine Birne so fein und gut geschmeckt hatte, wie die kleinen Sommerbirnen, die uns der kleine Heise alljährlich zu verehren pflegte.

Kam er nun, wenn wir uns für den Kirchgang rüsteten, über den alten Kirchhof angewetzt, da brach die Kinderschaar in hellen Jubel aus. Mit Hurra wurde er empfangen und ins Pfarrhaus geleitet, wo mein Vater – es war rührend anzuschauen – den einfachen Leineweber in die Arme schloß und küßte, selbst wenn er schon den Talar für den bevorstehenden Gottesdienst angelegt hatte. Mittags aß der Gast dann selbstverständlich mit uns am Tische, nahm noch den Nachmittagskaffee mit uns ein und wurde bei sinkender Sonne vom Vater und uns Kindern bis zum Fronderöder Holze auf den Heimweg gebracht. Die Besuche Heises waren aber nicht allein wegen der ihn begleitenden Birnen für uns Kinder ein Fest, sondern der Mann war uns auch im Übrigen besonders sympathisch und interessant, weil er so spaßhaft erzählen und so herzlich lachen konnte. Er schüttete sich förmlich aus, wenn er lachte und faltete dabei die Hände unterhalb der Knie. Das war sehr drollig anzusehen. Wollte er bei Tische ausdrücken, daß er satt sei und der Aufforderung, noch zuzulangen, nicht entsprechen könne, so bediente er sich der Redensart: „ich bin vergnügt“. Um zu kennzeichnen, daß er seinen Kaffeedurst befriedigt habe, stellte er die Obertasse verkehrt auf die Untertasse, sodaß ein erneutes Eingießen unmöglich war. In seinem eigenen Hause verstand er aber das Bewirthen und Nöthigen meisterhaft.

Als einst in Craja Missionsfest stattfand, zu dem unsere ganze Familie per Leiterwagen dort eingetroffen war, ließ er es sich nicht nehmen, wenigstens uns Geschwister in sein Haus zu führen.

Das war freilich nicht besonders einladend, denn es war ein kleines, unansehnliches in Lehmfachwerkwänden ausgeführtes Arbeiterhüttchen, das nur einen Raum hatte, in den man allenfalls Gäste einführen konnte. Diese mit zerklüftetem Estrichfußboden ausgelegte Stube war zur Hälfte durch das Leinenwebergestelle versperrt, auf welchem der fleißige Weber Werktags von früh bis spät sein lustiges: „Der Kopp, der Schwanz, das Mittelstück“ erklingen und das flinke Schifflein schießen ließ. Verbreitete auch die für den Weber unentbehrliche Apparatur, die sog. Schlichte, die in einem hölzernen Kübel unterm Gestelle aufbewahrt wurde, einen für die Laiennase empfindlichen Duft, so war doch der Aufenthalt in diesem Raume ein freundlicher, und die Bewirthung eine originelle. Frau Heise, die in Anwesenheit der Gäste die blitzsauber gescheuerten Holzstühle eiligst mit der Schürze abgewischt hatte, trug den obligaten Cicchoriekaffee in einem dick schwarz berußten Kaffeekessel auf, stellte Milch und auf großen runden Kuchenbrettern 2 mächtige, selbst bereitete Kuchen dazu und schickte sich an, letztere in Stücke zu zerschneiden. Das geschah in der Weise, daß nach Feststellung des Centrums von dort aus Radien geschnitten und soviel Sectoren hergestellt wurden, als Theilnehmer am Caffetische waren. Zur Vermeidung ernstlicher Verstimmung auf Seiten der Gastgeber war jeder Gast gehalten, eine solchen mächtigen Sector zuzulangen und zu verzehren. Bei dem nicht allzu dicht belegten Zwetschgenkuchen ging das zur Noth; als aber der trockene Kuchen an die Reihe kam, ergab es sich, daß er in seiner natürlichen Lage aller Bemühungen ungeachtet nicht in den Mund hineinpaßte, denn er war mit 2½ Zoll Dicke für das normale menschliche Gebiß etwas reichlich zu hoch angelangt.

Missionsfeste waren zu jener Zeit für die betr. Gemeinde arbeits- und ereignisreiche Tage, denn es strömten zu diesen Festen von weit und breit hunderte, ja tausende von Theilnehmern zu Fuß und zu Wagen herbei, deren Bewirthung der Privatwohlthätigkeit zufiel; namentlich in den Pfarrhäusern war bis in die finsterste Nacht hinein für Jedermann, ob er bekannt war oder nicht, offene Tafel. Aber auch die sonstigen Ortsbewohner wetteiferten, ihren wirthschaftlichen Verhältnissen entsprechend zahlreichen Besuch aufzunehmen und zu bewirthen.

Abgesehen von dem Pfarrhause übte in Craja die Familie Stenber die uneigennützigste Gastfreundschaft. Der dicke Julius Stenber war ein gebildeter Landwirth und Besitzer des vornehmsten Gutshofes im Dorfe. Mit dieser Familie pflegten meine Eltern regen, freundschaftlichen Verkehr, der auch noch später aufrecht erhalten wurde, als wir Craja längst verlassen hatten. Eine in der Wirthschaft hervorragend thätige ältere Dame, die Pathe Schneppe, war auch bei uns die allgemeine Familientante, die überall gern zufaßte und mit Rath und That da aushalf, wo es nöthig war.

Die Familie Stenber war im Besitz eines alten berühmten Geheimmittels, des sog. Stenber’schen Pflasters, mittelst dessen man nach allgemein verbreiteter Ansicht Wunden, die sich von selbst nicht schließen wollten, Entzündungen der Epidermis, ja selbst Knochenfraß heilen konnte. Aus welchen Bestandtheilen das Allerweltspflaster hergestellt wurde, erfuhr man nicht, es war eine schmutzig gelbe, harzige, stark nach Terpentin duftende Schmiere, die von Stenbers jedem der darum bat, gegen Erstattung der Selbstkosten abgegeben wurde. Auch in unserer Familie wurde das Wundermittel vielfach bei Panaritium, oder veralteten Schnittwunden angewandt und soll gute Dienste geleistet haben.

Ich selbst habe noch nach vielen Jahren, als mein Sohn Otto an chronisch eiternden Fingernägeln litt, und kein gegen dies Übel angewandtes Mittel helfen wollte, von den mühsam ermittelten Rechtsnachfolgern der Stenber’schen Familie einen großen Topf dieses Pflasters bezogen und Ottos Finger damit verkleistert, ohne den geringsten Heilerfolg zu erzielen.

Nachdem meinen Eltern zuerst ein Töchterlein geboren war, das todt zur Welt kam, schien es längere Zeit, als wenn dem jungen Ehepaare der Kindersegen überhaupt versagt bliebe. Mein Vater, der am liebsten sämtliche Pfarrstellen der Grafschaft mit Pastoren seines Geblütes besetzt hätte, war hierüber untröstlich und allen Ernstes drauf und dran, ein Kind zu adoptieren. Meine Mutter mußte gut zureden, daß er nur noch einige Jahre warten möge und sie behielt recht, denn in einem Zeitraume von 10 Jahren von 1841–51 brachte der Klapperstorch 6 Geschwister ins Pfarrhaus: Karl, Marie, Paul, Johanne, Fritz und Otto, meine Winzigkeit.

Daß bei einem so reichen Kindersegen das kümmerliche Einkommen der Pfarre Craja bald unzulänglich wurde, liegt auf der Hand. Trotz der größten Sparsamkeit, deren sich die Eltern befleißigten, fehlte es oft am Nöthigsten. Die Mutter sorgte zwar unausgesetzt dafür, daß die Kinder stets reinlich und anständig angezogen waren, aber die Kleiderstoffe waren zu seiner Zeit kostspieliger wie heute und wurden dadurch nicht haltbarer, daß sie gewohnheitsmäßig von dem Älteren auf den Jüngeren vererbt wurden je nach dem fortschreitenden Wachsthume. Wenn den älteren Brüdern gefällig aussehende Anzüge geschenkt wurden, so war das jedesmal auch für mich, als dem prädestinierten künftigen Besitzer derselben eine besondere Freude.

Wurde aber mal ausnahmsweise für mich selber ein neues Stück angeschafft, so mußte der Schneider so reichlich Maß nehmen, daß der Anzug, solange er neu, mir viel zu groooß war und ich mich erst mühsam hineinwachsen mußte. Sehr traurig war aber die viel beschäftigte Mutter, wenn die wilden Buben von ihren Raufereien und Kletterübungen an Bäumen, Hecken und Mauern mit zerrissenen Hosen und Jacken heimkehrten. Zagend beichtete man den Defect und war entsetzt ob der Drohung, daß man im Wiederholungsfalle vom Tischler schwarz angestrichen und mit gelben Sophanägeln verziert werden solle.