Jugendgerichtsgesetz - Andreas Hennemann - E-Book

Jugendgerichtsgesetz E-Book

Andreas Hennemann

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Beschreibung

Der Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz ist konkret auf das Bedürfnis von Praktikern im Jugendgerichtsverfahren zugeschnitten. Hierzu werden primär für die tägliche Entscheidungspraxis relevante Normen in den Fokus genommen und konkrete Formulierungsvorschläge für Beschlüsse, Urteile und Verfügungen präsentiert. Dabei ist auch aktuelle Rechtsprechung Leitbild der Kommentierung, um eine sichere Verwendbarkeit vor Gericht zu garantieren. Weiter sind Kriterienkataloge für die schnelle Entscheidungsfindung bei Gericht in die Kommentierung integriert.

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Jugendgerichtsgesetz

Praxiskommentar

herausgegeben von

Prof. Dr. Dr. Christoph NixStrafverteidiger, Professor an der Universität Bremen

Simon PschorrStaatsanwalt; Abgeordneter Praktiker an der Universität Konstanz

bearbeitet von

Vera EberzRechtsanwältin

Ruben FranzenJugendrichter

Lena GmelinWiss. Mitarbeiterin

Andreas HennemannRechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht

Verlag W. Kohlhammer

Um die Repräsentation der Geschlechter im Text abzubilden ohne die Leserlichkeit zu beeinträchtigen, wurden in diesem Werk weibliche und männliche Person abgewechselt. Intersexuelle Menschen und Personen anderen Geschlechts sollen hierdurch nicht ausgeschlossen werden und sind ausdrücklich mit angesprochen.

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-038053-0

E-Book-Formate:

pdf: 978-3-17-038054-7

epub: 978-3-17-038055-4

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro­verfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Der Kommentar zum Jugendgerichtsgesetz ist konkret auf das Bedürfnis von Praktikern im Jugendgerichtsverfahren zugeschnitten. Hierzu werden primär für die tägliche Entscheidungspraxis relevante Normen in den Fokus genommen und konkrete Formulierungsvorschläge für Beschlüsse, Urteile und Verfügungen präsentiert. Dabei ist auch aktuelle Rechtsprechung Leitbild der Kommentierung, um eine sichere Verwendbarkeit vor Gericht zu garantieren. Weiter sind Kriterienkataloge für die schnelle Entscheidungsfindung bei Gericht in die Kommentierung integriert.

Herausgegeben von: Prof. Dr. Dr. Christoph Nix, Strafverteidiger, Professor an der Universität Bremen; Simon Pschorr, Staatsanwalt; Abgeordneter Praktiker an der Universität Konstanz.

Bearbeitet von: Vera Eberz, Rechtsanwältin; Ruben Franzen, Jugendrichter; Lena Gmelin, Wiss. Mitarbeiterin; Andreas Hennemann, Rechtsanwalt, Fachanwalt für Strafrecht.

Vorwort

Ein Vierteljahrhundert nachdem der Kurzkommentar zum JGG erschien1, habe ich mich noch einmal aufgemacht, mit jungen Leuten die Normen neu zu kommentieren. Was die Herausgeber angeht, ist daraus ein Wir geworden: Ein junger Jurist, Jugendrichter dann Staatsanwalt, jetzt abgeordneter Praktiker an der Universität Konstanz hat die Feder in die Hand genommen. Die Gruppe der Autor*innen wird komplettiert mit zwei Strafjuristinnen, einem Fachanwalt für Strafrecht und einem Strafrichter. So unterschiedlich wir sind, fühlen wir uns doch einer demokratisch-rechtspositivistischen Gesetzesauslegung, die Rechtsgeschichte nie aus dem Blick verliert, verbunden. Am frühen Morgen deutscher Demokratie2 wird das RJGG am 16.2.1923 von Justizminister Gustav Radbruch in das deutsche Parlament eingebracht: Bildung, Liebe und Erziehung sind Leitmotive der Reformpädagogik, eigene Fachgerichte entstehen und die Täterbeurteilung wird in die Hände von Jugendämtern gelegt. Keine zwanzig Jahre später wird dieses Gesetz durch den nationalsozialistischen Staat für seine Terrorherrschaft instrumentalisiert: Die Strafmündigkeit wird auf zwölf Jahre herabgesetzt, das allgemeine Strafrecht wird wieder auf 18-jährige Menschen angewandt, sobald es das „gesunde Volksempfinden“ erfordert.3 Bis zum Versuch der Rückkehr zu einem humanen Strafrecht dauert es wiederum 29 Jahre in der DDR und 30 Jahre in der Bundesrepublik Deutschland und man besinnt sich zurück auf die Radbruch’schen Grundideen. 2022, hundert Jahre nach der Verabschiedung des ersten JGG, erscheint ein neuer Kommentar zu ebendiesem Gesetzeswerk. Wir hätten den Zeitpunkt nicht besser wählen können. Die Ihnen vorliegende Kommentierung soll praxisorientiert und nachdenklich sein, sie soll in Ihren Verhandlungssälen und Büros, in der Kanzlei sowie für die Jugendgerichtshilfe von Nutzen sein. Deswegen bemühen wir uns, Ihnen Formulierungen und Schemata an die Hand zu geben, die das abstrakte Gesetzeswort handhabbar machen. Der Kommentar erscheint in einer handlichen Druckfassung, damit das Denken nicht zu einem rein digitalisierten Akt verkommt. Denn wenn wir ehrlich sind: Kaum ein Rechtsgebiet setzt so auf den Menschen, seine Besonderheiten und Fehler, seine Identität und deren Vereinbarkeit mit der Gesellschaft wie das Jugendstrafrecht. Zwar beabsichtigen wir, mit einer Bearbeitung auf dem Stand der jugendstrafrechtlichen Forschung zuallererst einen Beitrag zur Normauslegung zu leisten. Aber: Auslegung und Verknüpfung von Gesetzen, Spüren nach dem Geist, der darin steckt, gelingt nur, wenn die Grundintention eine demokratische Fantasie hat, die unverbrüchliche Hoffnung, dass er gut ist, der Mensch, und dass deshalb manchmal auch begrenzt werden muss. Wir hoffen, Ihnen mit diesem Werk bei der Suche nach dem Geist des Gesetzes behilflich zu sein – und wünschen Ihnen zur Ergründung des Besonderen Ihrer Verfahrensbeteiligten Fingerspitzengefühl, Geduld und Offenheit für Neues.

Konstanz, im Juni 2023Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Verzeichnis der Bearbeiterinnen und Bearbeiter

Einleitung

Kapitel 1:Das Jugendstrafrecht als besonderes Erziehungs­strafrecht

§ 1Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich

§ 2Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts

Kapitel 2:Strafrechtliche Verantwortlichkeit

§ 3Verantwortlichkeit

Kapitel 3:System der Jugendsanktion

§ 5Die Folgen der Jugendstraftat

Kapitel 4:Anwendbare Nebenfolgen

§ 6Nebenfolgen

Kapitel 5:Maßregeln der Besserung und ­Sicherung

§ 7Maßregeln der Besserung und Sicherung

§ 81aVerfahren und Entscheidung

Kapitel 6:Verbindung von Maßnahmen und Jugendstrafe

§ 8Verbindung von Maßnahmen und Jugendstrafe

Kapitel 7:Erziehungsmaßregeln

§ 9Arten

§ 10Weisungen

§ 11Laufzeit und nachträgliche Änderung von Weisungen; ­Folgen der Zuwiderhandlung

§ 12Hilfe zur Erziehung

Kapitel 8:Zuchtmittel

§ 13Arten und Anwendung

§ 14Verwarnung

§ 15Auflagen

§ 16Jugendarrest

§ 16aJugendarrest neben Jugendstrafe

§ 52Berücksichtigung von Untersuchungshaft bei Jugendarrest

Kapitel 9:Jugendstrafe

§ 17Form und Voraussetzungen

§ 18Dauer der Jugendstrafe

Kapitel 10:Bewährung

§ 21Strafaussetzung

§ 22Bewährungszeit

§ 23Weisungen und Auflagen

§ 24Bewährungshilfe

§ 25Bestellung und Pflichten des Bewährungshelfers

§ 26Widerruf der Strafaussetzung

§ 26aErlaß der Jugendstrafe

Kapitel 11:Aussetzung der Entscheidung (§§ 27 ff. JGG)

§ 27Voraussetzungen

§ 28Bewährungszeit

§ 29Bewährungshilfe

§ 30Verhängung der Jugendstrafe; Tilgung des Schuldspruchs

Kapitel 12:Einheitssanktion

§ 31Mehrere Straftaten eines Jugendlichen

§ 32Mehrere Straftaten in verschiedenen Alters- und Reifestufen

§ 66Ergänzung rechtskräftiger Entscheidungen bei mehrfacher Verurteilung

Kapitel 13:Sachliche Zuständigkeit

§ 33Jugendgerichte

§ 33bBesetzung der Jugendkammer

§ 34Aufgaben des Jugendrichters

§ 36Jugendstaatsanwalt

§ 37Auswahl der Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte

§ 39Sachliche Zuständigkeit des Jugendrichters

§ 40Sachliche Zuständigkeit des Jugendschöffengerichts

§ 41Sachliche Zuständigkeit der Jugendkammer

Kapitel 14:Jugendgerichtshilfe

§ 38Jugendgerichtshilfe

Kapitel 15:Örtliche Zuständigkeit

§ 42Örtliche Zuständigkeit

Kapitel 16:Umfang der Aufklärungspflicht

§ 43Umfang der Ermittlungen

Kapitel 17:Frühzeitige Vernehmung

§ 44Vernehmung des Beschuldigten bei zu erwartender ­Jugendstrafe

Kapitel 18:Diversion

§ 45Absehen von der Verfolgung

§ 47Einstellung des Verfahrens durch den Richter

Kapitel 19:Persönlichkeitsermittlung und ­Anklage

§ 46Wesentliches Ergebnis der Ermittlungen

§ 46aAnklage vor Berichterstattung der Jugendgerichtshilfe

Kapitel 20:Anwesenheitsrechte

§ 48Nichtöffentlichkeit

§ 50Anwesenheit in der Hauptverhandlung

§ 51Zeitweilige Ausschließung von Beteiligten

Kapitel 21:Urteilsgründe

§ 54Urteilsgründe

Kapitel 22:Rechtsmittel gegen das Urteil

§ 55Anfechtung von Entscheidungen

§ 56Teilvollstreckung einer Einheitsstrafe

§ 59Anfechtung

Kapitel 23:Entscheidungen zur Bewährung und Vorbewährung

§ 57Entscheidung über die Aussetzung

§ 58Weitere Entscheidungen

§ 59Anfechtung

§ 60Bewährungsplan

§ 61Vorbehalt der nachträglichen Entscheidung über die ­Aussetzung

§ 61aFrist und Zuständigkeit für die vorbehaltene Entscheidung

§ 61bWeitere Entscheidungen bei Vorbehalt der Entscheidung über die Aussetzung

Kapitel 24:Verfahren zur vorbehaltenen ­Jugendstrafe

§ 62Entscheidungen

§ 63Anfechtung

§ 64Bewährungsplan

Kapitel 25:Erziehungsberechtigte und ­gesetzliche Vertreter

§ 67Stellung der Erziehungsberechtigten und der gesetzlichen Vertreter

§ 67aUnterrichtung der Erziehungsberechtigten und der ­gesetzlichen Vertreter

Kapitel 26:Notwendige Verteidigung

§ 68Notwendige Verteidigung

§ 68aZeitpunkt der Bestellung eines Pflichtverteidigers

§ 68bVernehmungen und Gegenüberstellungen vor der ­Bestellung eines Pflichtverteidigers

§ 51aNeubeginn der Hauptverhandlung

Kapitel 27:Mitteilungen an amtliche Stellen

§ 70Mitteilungen an amtliche Stellen

Kapitel 28:Unterrichtung, Belehrung und Vernehmung des ­Jugendlichen

§ 70aUnterrichtung des Jugendlichen

§ 70bBelehrungen

§ 70cVernehmung des Beschuldigten

Kapitel 29:Vorläufige Anordnungen und Untersuchungs­haft

§ 71Vorläufige Anordnungen über die Erziehung

§ 72Untersuchungshaft

§ 72aHeranziehung der Jugendgerichtshilfe in Haftsachen

§ 72bVerkehr mit Vertretern der Jugendgerichtshilfe, dem Betreuungs­helfer und dem Erziehungsbeistand

Kapitel 30:Unterbringung zur Beobachtung

§ 73Unterbringung zur Beobachtung

Kapitel 31:Kostenentscheidung

§ 74Kosten und Auslagen

Kapitel 32:Vereinfachtes Jugendverfahren

§ 76Voraussetzungen des vereinfachten Jugendverfahrens

§ 77Ablehnung des Antrags

§ 78Verfahren und Entscheidung

Kapitel 33:Privat- und Nebenklage, Adhäsions­verfahren

§ 80Privatklage und Nebenklage

§ 81Adhäsionsverfahren

Kapitel 34:Vollstreckung jugendgerichtlicher Entscheidungen

§ 82Vollstreckungsleiter

§ 83Entscheidungen im Vollstreckungsverfahren

§ 84Örtliche Zuständigkeit

§ 85Abgabe und Übergang der Vollstreckung

Kapitel 35:Umwandlung des Freizeitarrestes

§ 86Umwandlung des Freizeitarrestes

Kapitel 36:Vollstreckung des ­Jugendarrestes

§ 87Vollstreckung des Jugendarrestes

Kapitel 37:Besonderheiten der Vollstreckung der Jugendstrafe

§ 88Aussetzung des Restes der Jugendstrafe

§ 89Jugendstrafe bei Vorbehalt der Entscheidung über die ­Aussetzung

§ 89aUnterbrechung und Vollstreckung der Jugendstrafe neben Freiheitsstrafe

Kapitel 38:Ausnahme vom Jugend­strafvollzug

§ 89bAusnahme vom Jugendstrafvollzug

Kapitel 39:Vollstreckung der ­Untersuchungshaft

§ 89cVollstreckung der Untersuchungshaft

Kapitel 40:Jugendarrest und Rechtsbehelfe im Vollzug

§ 90Jugendarrest

§ 92Rechtsbehelfe im Vollzug

§ 93gerichtliche Zuständigkeit und gerichtliches Verfahren bei Maßnahmen, die der vorherigen gerichtlichen Anordnung oder der gerichtlichen Genehmigung bedürfen

§ 93aUnterbringung in einer Entziehungsanstalt

Kapitel 41:Beseitigung des Strafmakels

§ 97Beseitigung des Strafmakels durch Richterspruch

§ 98Verfahren

§ 99Entscheidung

§ 100Beseitigung des Strafmakels nach Erlaß einer Strafe oder ­eines Strafrestes

§ 101Widerruf

§ 111Beseitigung des Strafmakels

Kapitel 42:Heranwachsende

§ 105Anwendung des Jugendstrafrechts auf Heranwachsende

§ 106Milderung des allgemeinen Strafrechts für Heran­wachsende; Sicherungsverwahrung

Kapitel 43:Vollstreckung und Vollzug der Sanktion gegen ­Heranwachsende

§ 110Vollstreckung und Vollzug

Kapitel 44:Bewährungshilfe

§ 113Bewährungshelfer

Kapitel 45:Vollzug von Freiheitsstrafen in der Jugendvollzugs­einrichtung

§ 114Vollzug von Freiheitsstrafe in der Einrichtung für den ­Vollzug der Jugendstrafe

Stichwortverzeichnis

Verzeichnis der Bearbeiterinnen und Bearbeiter

Vera Eberz

studierte Rechtswissenschaften an der Universität Konstanz und ist Rechtsanwältin für Strafrecht in Konstanz.

  §§ 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 89a, 89b, 89c

Ruben Franzen

ist Jugendrichter am Amtsgericht Eilenburg und Sprecher des Landesverbands Sachsen der Neuen Richtervereinigung.

  §§ 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 26a, 27, 28, 29, 30, 52a, 57, 58, 59, 60, 61, 61a, 61b, 62, 62, 64, 113

Lena Gmelin

studierte Rechtswissenschaften an der Universität Konstanz. Seit Abschluss des Studiums mit dem Ersten Juristischen Staatsexamen ist sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am strafrechtlichen Lehrstuhl von Prof. Dr. Liane Wörner an der Universität Konstanz tätig und forscht zu Geschlechtsbezügen im Strafrecht. Ihr gebührt der herzliche Dank der Herausgeber für die Erstellung der Graphiken und Schemata.

  §§ 48, 50, 51, 67, 67a, 70, 70a, 70b, 70c, 80, 81, 110

Andreas Hennemann

studierte Rechtswissenschaften an der Universität Konstanz. Er ist als Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in der Konstanzer Kanzlei Rohrer & Kollegen tätig.

  §§ 90, 92, 93, 93a

Christoph Nix

Prof. Dr. jur. Dr. phil., studierte Rechts- und Politikwissenschaften an den Universitäten Gießen und Bremen, weiterhin Theaterwissenschaften an der Universität Bern. Er war zugelassener Rechtsanwalt am OLG Frankfurt, Kammergericht Berlin und dem BayObLG München, außerdem Vorsitzender einer Beschwerdekammer nach SGB II von 1985–2018. Er lehrt an den Universitäten Bremen und Zürich. Derzeit ist er Strafverteidiger in der Kanzlei Derdus, Kraemer und Nix.

  Einleitung; §§ 1, 2, 3, 7, 8, 38, 43, 46, 81a, 73, 97, 98, 99, 101, 105, 106, 111, 114

Simon Pschorr

studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Regensburg und Konstanz. Er war Jugendrichter am Amtsgericht Villingen-Schwenningen und ist Staatsanwalt bei der Staatsanwaltschaft Konstanz. Als abgeordneter Praktiker lehrt und promoviert er an der Universität Konstanz.

  §§ 5, 6, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 16a, 31, 32, 33, 33a, 33b, 34, 35, 36, 37, 39, 40, 41, 42, 45, 47, 47a, 51a, 53, 54, 55, 56, 65, 66, 68, 68a, 68b, 71, 72, 73, 74, 76, 77, 78, 79, 102, 103, 104, 107, 108, 109, 112

Einleitung

Warum wir strafen

Warum strafen wir? Diese Fragen stellen wir uns zu Beginn des Studiums der Rechte und später nur noch selten. Entweder haben wir ein pragmatisches Verhältnis zur Strafe und zu unserem Beruf entwickelt und halten derlei Grundfragen für naiv; oder wir haben resigniert und überlassen den Sinn und die Formen von Strafe dem Gesetzgeber und dem gesellschaftlichen Dialog. Aber so einfach kommen wir nicht davon. Winfried Hassemer1 hat sich am Ende seines Berufslebens als Bundesverfassungsrichter die Frage noch einmal neu gestellt. Das Strafrecht sei ein mächtiges Institut mit scharfen Instrumenten, die Menschen tief verletzen und sie ruinieren können. Es habe die Aufgabe, dort, wo gesellschaftliche soziale Kontrolle nicht mehr funktioniere, fundamentale Interessen der Person und der Gesellschaft zu schützen, dabei aber so wenig Schaden anzurichten wie möglich.2 Die Formalisierung sozialer Kontrolle, zum Schutz von Täter und Opfer, Zeugen und Angehörigen, Bürgern, in deren Freiheitsrechte der strafende Staat eingreift, braucht einen gelingenden Prozess von Interaktion, der das letzte Mittel, zu dem wir greifen, täglich rechtfertigen muss: die Strafe, die immer auch zu den ungeeignetsten Mitteln der Beeinflussung und Formung der Persönlichkeit zählen wird. Wenn wir anderen Pein zufügen, auch wenn wir meinen, die anderen hätten den Konsens verlassen, dann darf das nicht ohne die letzte Instanz menschlichen Handelns erfolgen, über die wir verfügen: Vernunft und Liebe.

Wenn im Jugendstrafrecht auch noch erzogen werden soll,3 so haben wir uns daran zu erinnern, dass dieser Gedanke Einfallstor einer gefährlichen Ideologie wurde. Die reformerische Idee der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts, statt (nur) zu strafen die Persönlichkeit Jugendlicher und Heranwachsender positiv zu formen, wurde von den Nationalsozialisten in ihr Gegenteil verkehrt. Pestalozzi4 hat Erziehung auf einen einfachen Nenner gebracht, sie sei Bildung und Liebe. So verstanden ist Erziehung mit dem Strafrecht nicht ohne weiteres in Einklang zu bringen: Beabsichtigen wir mit Jugendsanktionen nicht selten, die Normunterworfenen zu bilden, so ist doch Strafen selten ein Ausdruck von Liebe und Zuwendung, sondern degradiert, erniedrigt, unterwirft. Insoweit stellen sich die Praktikerinnen des Jugendgerichtsgesetzes, ob als Richterinnen, Staatsanwälte, Verteidigerinnen oder Sozialarbeiter, einem inneren und äußeren Widerspruch, den sie zugunsten von Freiheit in schwierigen Verhältnissen aufzulösen aufgerufen sind. Jugendstrafrecht ist in seiner täglichen Praxis immer zugleich die Quadratur des Kreises: Jugendliche fördern und doch Schuld zu sühnen. Damit ist Jugendstrafrecht gelebte, tätige Rechtsphilosophie. Womit wir bei Gustav Radbruch angekommen wären, etwas vereinfacht gesprochen, dem Lehrer, Minister und Reformer eines neuen, 100 Jahre alten Jugendstrafrechts.

Kapitel 1:Das Jugendstrafrecht als besonderes Erziehungsstrafrecht

§ 1Persönlicher und sachlicher Anwendungsbereich

(1) Dieses Gesetz gilt, wenn ein Jugendlicher oder ein Heranwachsender eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist.

(2) Jugendlicher ist, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn, Heranwachsender, wer zur Zeit der Tat achtzehn, aber noch nicht einundzwanzig Jahre alt ist.

(3) Ist zweifelhaft, ob der Beschuldigte zur Zeit der Tat das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat, sind die für Jugendliche geltenden Verfahrensvorschriften anzuwenden.

§ 2Ziel des Jugendstrafrechts; Anwendung des allgemeinen Strafrechts

(1)1Die Anwendung des Jugendstrafrechts soll vor allem erneuten Straftaten eines Jugendlichen oder Heranwachsenden entgegenwirken. 2Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Rechtsfolgen und unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts auch das Verfahren vorrangig am Erziehungsgedanken auszurichten.

(2) Die allgemeinen Vorschriften gelten nur, soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist.

Übersicht

Rn.  

I.

Kurze Geschichte des JGG

1–14

II.

Internationales Recht

15

III.

Ziele des Gesetzes

16, 17

IV.

Anwendungsbereich und Ziel des Jugendstrafrechts

18–39

1.

Sachlicher Anwendungsbereich

18–29

2.

Persönlicher Anwendungsbereich

30–34

3.

Ziele des Jugendstrafrechts

35–39

I.Kurze Geschichte des JGG

1Das JGG vom 16.2.19231 war als Entwurf von Gustav Radbruch in das deutsche Parlament eingebracht worden. Materiell-rechtlich entkriminalisierte es die 12- und 13-Jährigen. Bereits zehn Jahre vorher hatte die Fortschrittspartei einen Antrag gerichtet auf den Erlass eines ersten Jugendstrafgesetzbuchs eingebracht, der durch niemand Geringeren als Franz von Liszt begründet wurde.2 Von Liszt war bemüht, Strafmündigkeit erst mit 16 Jahren zu normieren. Vorher, so war er sich sicher, reichten die Erziehungsmöglichkeiten der Gesellschaft aus. Die Vorschläge der Deutsch-Nationalen zu einer unbestimmten Jugendstrafe waren vom Reichstag abgelehnt worden. Das JGG 1923 institutionalisierte zum ersten Mal in der Geschichte Jugendgerichte als Fachgerichte und legte die Beurteilung junger Täter in die Hände der Jugendämter. Damit war die Jugendgerichtshilfe geboren. Die Jugendhilfe wurde bereits ein Jahr vorher durch das Jugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) von 1922 gesetzlich geregelt. Die Angebote sollten vielfältig sein und als Ausfluss des Wohlfahrtsstaates verstanden werden. Das RJWG enthielt zahlreiche Eingriffstatbestände, vor allem bei Gefährdungen des Kindeswohls. Neue Sanktionen wurden eingeführt und es entwickelten sich Alternativen zur Freiheitsstrafe. Letztere konnte zum ersten Mal in der Geschichte des Strafens zur Bewährung ausgesetzt werden.

2Das erste deutsche Jugendgericht wurde bereits im Jahre 1907 in Frankfurt eingerichtet. Frankfurt war ein liberaler Ort, was sich auch nach Gründung der Bundesrepublik 1949 immer wieder bewies: 1968 weigerten sich hier sieben Jugendrichter in Strafprozessen ihre schwarze Robe zu tragen, um Jugendliche nicht einzuschüchtern.3 1912 gab es in Deutschland bereits 1.283 Jugendgerichte. Eigene Jugendgerichtshilfen wurden aufgebaut und ein spezieller Jugendstrafvollzug wurde eingeführt. Die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts revolutionierten das Jugendstrafrecht. Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hatte hierbei große praktische Implikationen: Als Justizminister verantwortete er das JGG, das bis heute den Grundstein des Jugendstrafrechts bildete.

3Nach dem liberalen Frühling der Weimarer Republik zerstörte der Nationalsozialismus ein Denken, dass dem Strafen entgegengesetzt war und schlug dem Jugendstrafrecht eine Wunde, die bis heute klafft. Die Verordnung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts vom 4.10.19404, die Durchführungsverordnung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts vom 28.11.19405 und letztlich das RJGG vom 6.11.19436 infizierten das Jugendstrafrecht mit der faschistischen Erziehungsideologie. Die Strafmündigkeit wurde wieder auf 12 Jahre gesenkt (§ 3 Abs. 2 RJGG vom 6.11.1943). Das allgemeine Strafrecht fand auf Jugendliche im Einzelfall „wegen der besonders verwerflichen Gesinnung des Täters und wegen der Schwere der Tat“ (§ 20 Abs. 1 RJGG vom 6.11.1943) Anwendung. Auch die Möglichkeit der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung wurde wieder aufgehoben und es wurden Tatbestandsmerkmale eingeführt, die dem faschistischen Sprachduktus entstammten: „frühreife Personen“ (§ 20 Abs. 1 RJGG) oder „charakterlich, abartige Schwerverbrecher“ (§ 20 Abs. 2 RJGG). Jugendschutzlager, in denen Jugendliche nach der Verbüßung ihrer Strafe verwahrt werden konnten, wurden errichtet. Als neue Sanktionsform wurden Zuchtmittel und damit auch der Jugendarrest als eine Spielart faschistischer Disziplinierung ergänzt, um im Sinne der menschenverachtenden Ideologie „die Spreu vom Weizen zu trennen“. Die Polizei wurde dazu ermächtigt, diese Sanktion selbst zu verhängen (§ 52 RJGG 1943). Während des gesamten Strafprozesses durfte die Hitler-Jugend (HJ) neben der Jugendgerichtshilfe zur Mitarbeit herangezogen werden.7

4Nach den Untersuchungen von Wolff8 wurden von 1939 bis 1943 in der „ordentlichen Strafgerichtsbarkeit“9 61 Todesstrafen gegen Jugendliche vollstreckt. Die Nazis und die Deutschnationalen warfen den demokratischen Parteien der Weimarer Republik vor, ihr Reformgesetz von 1923 habe die Eindämmung von Jugendkriminalität nicht verhindert und deshalb müsse jetzt der Staat zu mehr Härte greifen.10 Dieses Argumentationsmuster begegnet dem Rechtspraktiker im Jugendstrafrecht in regelmäßigen Abständen. Der Ruf nach Härte gegenüber einer verrohten Jugend taucht in den rechtspolitischen Diskursen in Intervallen immer wieder von Neuem auf, ob sie von der AfD11 oder dem Vorsitzenden der GdP12 erhoben werden.13

5Die heutige Dreiteilung der Sanktionen von Erziehungsmaßregel, Zuchtmittel und Jugendstrafe findet sich erstmals in der Jugendstrafrechtsverordnung vom 6.11.1943,14 deren § 2 dem heutigen § 5 JGG im Wortlaut gleicht. Die Geschichte des jugendstrafrechtlichen Rechtfolgensystems zeichnet sich durch Kontinuität aus. Insgesamt zeigte das Jugendstrafrecht eine Resistenz gegenüber gesellschaftspolitischen Umwälzungen im 20. Jahrhundert. Es erscheint angesichts der heute maßgeblichen Pluralität von Lebensstilen und Weltanschauungen und den damit notwendig verbundenen Statusunsicherheiten mehr als fraglich, ob die zu sanktionierende Jugend unverändert geblieben ist.15

6Das JGG von 195316 hatte in der BRD die Aufgabe, das Jugendstrafrecht wieder auf das Niveau der Weimarer Republik zurückzuführen. Es wurde vom faschistischen Gedankengut befreit, die Strafmündigkeit auf 14 Jahre angehoben Die Strafaussetzung zur Bewährung und die obligatorische Bewährungshilfe durch ausgebildete Sozialarbeiter kamen zurück. Außerdem stellte man die Heranwachsenden unter den Schutz des § 105 JGG. Jedoch blieben die Instrumente der Zuchtmittel, insbesondere der Jugendarrest, und die unbestimmte Jugendstrafe erhalten. Die Grundstruktur der Sanktionen wurde nicht angetastet.

7Während das RJGG von 1923 Strafe strikter vom Erziehungsgedanken trennte, förderte das JGG von 1953 die Vermischung von Strafe und Erziehung. Der Erziehungsgedanke im Jugendstrafrecht ist bis heute ein ungelöstes normatives und ideologisches Problem.17

8In der DDR wurde im Jahr 1952 ein Jugendstrafrecht eingeführt, das, moderner als im Westen, eigene Ansprüche von Jugendlichen auf Resozialisierung formulierte. Als sich seit 1968 in der DDR wieder eine restaurative Politik durchsetzte, wurden diese liberalen Ansätze eines aufgeklärten Jugendstrafrechts wieder abgeschafft und Sonderregelungen im Erwachsenenstrafrecht der DDR normiert.18 Die Zustände in den Jugendhöfen waren von Willkür und Missbrauch bestimmt und standen den Erziehungsheimen in der Bundesrepublik in Gewalt und Brutalität in nichts nach.

9An das 1. JGGÄndG von 199019 zur Vereinheitlichung des Jugendstrafrechts nach der Wiedervereinigung hatte man große Erwartungen geknüpft, aber Freude wollte sich damals im Fachpublikum nicht einstellen. Selbst Böhm20 war tief enttäuscht. Hervorzuheben ist jedoch, dass die Einflussmöglichkeiten der Jugendgerichtshilfe durch die Novellierung des § 38 und die Einfügung eines § 72a gestärkt wurden. Andererseits erlebten wir in den 90er Jahren massive Stellenkürzungen bei den Jugendämtern, von denen sich die Jugendgerichtshilfe bis heute nicht erholt hat. Der Maßnahmenkatalog des § 10 wurde um einige Weisungsmöglichkeiten erweitert, der Täter-Opfer-Ausgleich vom Gesetzgeber anerkannt.

10Außerdem wurde der umstrittene Freizeitarrest auf die Dauer von zwei Freizeiten reduziert. Möglichkeiten der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung wurden erweitert und die Untersuchungshaft gegen 14- und 15-Jährige beschränkt. Als bedeutendste Reform aber muss anerkannt werden, dass die Jugendstrafe von unbestimmter Dauer abgeschafft wurde. Die Jugendstrafe wegen „schädlicher Neigungen“ wurde trotz massiver Kritik beibehalten. Die Floskel, mit der in der Strafrechtspraxis weiterhin Freiheitsentzug begründet wird, die aber auch von der Sozialarbeit zunehmend unkritisch übernommen worden ist, hat jedoch weder etwas mit erziehungspsychologischen Erkenntnissen noch mit einer präzisen Strafrechtsdogmatik zu tun. Mit Wirkung vom 3.10.1990 galt das JGG mit kleinen Modifikationen auch für das Gebiet der ehemaligen DDR. Jugendarrest gab es mit Rücksicht auf die faschistische Vergangenheit dieses Institutes hier nicht. Bereits 1965 forderte Karl Peters beim 13. Deutschen Jugendgerichtstag ein umfassendes Jugenderziehungsrecht.21 Jugendhilfe und Jugendstrafrecht sollten seiner Meinung nach zusammengeführt werden. Diese Idee wurde vor allem von der Arbeiterwohlfahrt in einem Reformvorschlag aufgegriffen. Erziehungshilfen vom Erziehungskurs über die ambulante Ersatzerziehung bis zum „Werkhof“ für über 16 Jahre alte Straffällige sollten Maßnahmen nach dem JGG überflüssig machen. Dem schloss sich 1973 ein differenzierter Diskussionsentwurf des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit an.22

11Mit Einführung des SGB VIII sollte die Verzahnung von Jugendhilfe und Jugendstrafrecht verfeinert werden; Ausdruck davon sind die §§ 36a, 52 SGB VIII.23

12Das Zweite Justizmodernisierungsgesetz vom 30.12.200624 führte die Zuständigkeit der Jugendkammer aus Opferschutzgründen (§ 41 Abs. 1 JGG) und das Anwesenheitsrecht der Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter des Verletzten in der Hauptverhandlung (§ 48 Abs. 2 Satz 1 JGG) ein. Gleichzeitig wurde die Vorführung im vereinfachten Jugendverfahren möglich (§ 78 Abs. 3 Satz 3 JGG). Ebenso wurden eine modifizierte Nebenklage und das Adhäsionsverfahren gegen Jugendliche bzw. Heranwachsende eingeführt.

13Das Zweite Gesetz zur Änderung des JGG und anderer Gesetze vom 13.12.200725 definierte zum ersten Mal das Ziel des Jugendstrafrechts in § 2 Abs. 1 JGG: Spezialprävention durch Erziehung. Die bisherigen Regelungen zum Jugendstrafvollzug in den §§ 91 ff. JGG wurden gestrichen und eigene Landesgesetze zum Jugendstrafvollzug formuliert. Zuletzt wurde noch mit dem Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht vom 8.7.200826 die nachträgliche Sicherungsverwahrung27 unter besonderen Voraussetzungen bei Jugendlichen und Heranwachsenden eingeführt (§ 7 Abs. 2–4 JGG). Das BVerfG28 stellte 2011 die Verfassungswidrigkeit dieser Regelungen fest. Dies führte zum AbstandsG vom 5.12.2012,29 welches wiederum die vorbehaltene Sicherungsverwahrung für „Neufälle“ im JGG normierte.30

14Alle Versuche, eine engere Verbindung zwischen Jugendhilfe und Jugendstrafrecht zu knüpfen, sind gescheitert. Das wird an der kurzen Gesetzgebungsgeschichte des § 37a JGG deutlich. Hiermit sollte eine stärkere Zusammenarbeit zwischen Jugendrichtern, Jugendstaatsanwältinnen und Jugendämtern etabliert werden. Der Bundesrat hat eine solche Initiative am 22.9.2017 gestoppt und die Beratungen dauerhaft von der Tagesordnung genommen.31 Seinen vorläufigen reformerischen Abschluss hat das JGG mit dem Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vom 16.12.201932 gefunden. Die notwendige Verteidigung wurde ausgeweitet und die Rechte und Pflichten der Jugendgerichtshilfe neu geregelt.

II.Internationales Recht

15Trotz der in seiner Bilanz eher tristen Reformanstrengungen in Deutschland seit 1990 lässt sich auf der europäischen Ebene doch eine gewissen Entwicklung und Stärkung der Rechte Jugendlicher im Strafverfahren erkennen.33 Sowohl die UN-Kinderrechtskonvention, als auch die RL (EU) 2016/800 des Europäischen Parlaments haben zu letzterem beigetragen.34 So werden durch das (Umsetzungs-)Gesetz zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Jugendstrafverfahren vor allem die Jugendgerichtshilfe gestärkt, Unterrichtungspflichten wurden ausgebaut (§§ 51, 67 und 70a JGG), vor allem aber wurde die notwendige Verteidigung in Jugendstrafsachen stärker ausgeweitet. Obwohl die Kinderrechtskonvention und die RL zunächst nur für Jugendliche Geltung haben, müssen sie innerstaatlich natürlich auch auf die Heranwachsenden Anwendung finden.35

III.Ziele des Gesetzes

16Dem Gesetzgeber ist es bis heute nicht gelungen, das Spannungsverhältnis von Erziehung und Strafe aufzulösen. Noch immer beinhaltet das JGG nationalsozialistische Formulierungen wie den Begriff der „schädlichen Neigungen“. Da dieser aber zudem eine der Voraussetzungen ist, Jugendstrafe zu verhängen, lavieren Richter, Staatsanwältinnen und Sozialarbeiterinnen mit einem Konstrukt, hinter dem sich Stigmatisierung und das Kernwort „Schädling“ verbergen. So bleibt den Praktikern eines demokratischen Strafprozesses, wenn schon der Geist des Gesetzes mit seiner Geschichte frei geschaufelt werden muss, das Wissen, dass Strafe Gesellschaft schützen und im Jugendstrafrecht vor allem Hilfen zur Erziehung bereitstellen soll, wo Gesellschaft und Familie längst versagt haben.

17Nirgendwo aber im Gesetz steht, dass in Wiederholungsfällen die Repressionsschraube anzudrehen sei. Manchmal ist „paradoxe Intervention“ eben wirkungsvoller als härtere Bestrafung. Abschließend vermerkt Hassemer: „Das Jugendstrafrecht unterscheidet sich markant vom Strafrecht für Erwachsene. Man merkt ihm noch den Reformeifer an, der es ins Leben gerufen hat. Es verfolgt – auch außerhalb des Jugendstrafvollzuges – das Ziel, die Jugendlichen und Heranwachsenden für ein gelingendes Leben zu erziehen. Dazu vereinfacht es die Verfahren und bietet eine große Palette von Sanktionsmöglichkeiten an, die auf die jeweiligen Lebensalter antworten sollen.“36

IV.Anwendungsbereich und Ziel des Jugendstrafrechts

1.Sachlicher Anwendungsbereich

18Das JGG findet nach § 1 Abs. 1 Anwendung, wenn ein Jugendlicher oder Heranwachsender eine „Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist“.

19Das Gesetz vermeidet den Begriff der Straftat und ersetzt ihn durch den der Verfehlung, dem eine weniger stigmatisierende Bedeutung beigemessen wird. Sachlich ist unter einer „Verfehlung“ eine rechtswidrige Tat i. S. d. § 11 Abs. 1 Nr. 5 StGB zu verstehen. Mit der Formulierung, dass die Verfehlung „nach den allgemeinen Vorschriften“ mit Strafe bedroht sein muss, wird nur klargestellt, dass es keine besonderen, jugendspezifischen Straftatbestände gibt. Das JGG befasst sich grundsätzlich (nur) mit den Rechtsfolgen der Straftat.

20Diese Konstruktion eines für Jugendliche, Heranwachsende und Erwachsene gemeinsamen Katalogs von Straftatbeständen ist nicht zwingend. Es wäre auch vorstellbar, de lege ferenda, bestimmte jugendtypische Verhaltensweisen, die einen Straftatbestand erfüllen, wie Diebstahl, Leistungserschleichung oder einfache Körperverletzung, sprich Bagatell- und Konfliktkriminalität, von einer strafrechtlichen Sanktionierung auszunehmen oder solches Verhalten nicht erst in der Rechtsfolge, sondern bereits auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit abweichend vom Erwachsenenrecht zu umschreiben und zu qualifizieren. Dies wird vor allem unter Hinweis auf die Einheitlichkeit der Rechtsordnung sowie mit dem Argument abgelehnt, dass es keine unterschiedliche Normierung von Unrecht geben könne.37Da die Verfehlung nach dem Wortlaut des Gesetzes „mit Strafe bedroht“ sein muss, genügt es, dass die Tat zum Zeitpunkt ihrer Begehung (Art. 103 Abs. 2 GG) einen Straftatbestand erfüllt.38

21Andererseits ist aber die Anwendung des JGG auf andere normierte Unwerturteile durch § 2 Abs. 1 JGG nicht angeordnet. Dies gilt insbesondere für Ordnungswidrigkeiten nach dem OWiG, das aber seinerseits Sonderregelungen hinsichtlich der Verantwortlichkeit Jugendlicher (§ 12 Abs. 1 Satz. 2 OWiG), der Zuständigkeit des Jugendrichters (§ 68 Abs. 2 OWiG) und der Vollstreckung von Geldbußen gegen Jugendliche und Heranwachsende (§ 98 OWiG) enthält und im Übrigen in § 46 Abs. 1, 6 OWiG hinsichtlich des Verfahrens pauschal auf das JGG verweist.39

22Den sachlichen Anwendungsbereich im weiteren Sinne betrifft auch § 2 Abs. 2 JGG, nach dem die allgemeinen Vorschriften nur gelten, soweit im JGG nichts anderes bestimmt ist. Die Norm korrespondiert mit § 10 StGB, wonach das Strafgesetzbuch für Jugendliche und Heranwachsende nur gilt, soweit das JGG nichts anderes bestimmt. Aus beiden Vorschriften ergibt sich, dass das JGG das Spezialgesetz für die Reaktion auf Jugendverfehlungen ist,40 es allerdings keine abschließenden Regelungen enthält. Soweit seine Bestimmungen reichen, ist die Anwendung der allgemeinen Vorschriften gesperrt. Trifft das JGG keine Regelung, sind die allgemeinen Vorschriften subsidiär anwendbar.

23Danach stellt sich zunächst die Frage, welche die „allgemeinen Vorschriften“ sind, von denen hier gesprochen wird. Allgemeine Vorschriften sind jedenfalls das Strafgesetzbuch, das sogenannte Nebenstrafrecht (etwa Strafbestimmungen im BtMG, im AufenthG oder im IfSG) sowie die Strafprozessordnung. Allgemeine Vorschriften enthält ferner das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG).

24Fraglich ist weiter, wann denn im JGG „etwas anderes bestimmt ist“, das die Anwendung der allgemeinen Vorschriften ausschließt. Etwas anderes ist sicher dann bestimmt, wenn das JGG die Anwendung von Vorschriften oder Instituten des Erwachsenenstrafrechts ausdrücklich ausschließt. Das ist etwa in § 79 JGG der Fall, nach dem kein Strafbefehl (§§ 407–412 StPO) gegen einen Jugendlichen erlassen werden darf und das beschleunigte Verfahren des allgemeinen Verfahrensrechts (§§ 417–429 StPO) unzulässig ist. Nach § 80 Abs. 1 JGG kann gegen einen Jugendlichen Privatklage (§§ 374–394 StPO) nicht erhoben werden. Nach § 81 JGG werden die Vorschriften der StPO über die Entschädigung des Verletzten (§§ 403–406c StPO), das sogenannte Adhäsionsverfahren, im Verfahren gegen einen Jugendlichen nicht angewendet.

25Umgekehrt sind Vorschriften des allgemeinen Strafrechts dann anzuwenden, wenn das JGG auf sie ausdrücklich verweist oder sie für anwendbar erklärt. So richtet sich nach § 4 JGG die Einordnung der Verfehlung eines Jugendlichen als Verbrechen oder Vergehen (vgl. § 12 StGB) und deren Verjährung (vgl. §§ 78 ff. StGB) nach den Vorschriften des allgemeinen Strafrechts. §§ 45 Abs. 1, 47 Abs. 1 Nr. 1 JGG nehmen Bezug auf § 153 StPO und inkorporieren dessen Voraussetzungen.

26Unproblematisch sind auch die Fälle, in denen das JGG die Anordnung bestimmter Maßnahmen des allgemeinen Strafrechts erlaubt. Wenn § 7 JGG die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt, die Führungsaufsicht oder die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 61 Nr. 1, 2, 4 und 5 StGB) als Maßregeln der Besserung und Sicherung erlaubt, so ergibt sich daraus zugleich, dass die in der Vorschrift nicht genannte Maßnahme des Berufsverbots (§ 61 Nr. 6 StGB) gegen Jugendliche nicht angeordnet werden darf.

27Methodisch gesehen handelt es sich dabei um einen Umkehrschluss. Nicht zulässig wäre es, in diesem Fall dem Gesetzgeber zu unterstellen, er habe „vergessen“, die übrigen Nummern des § 61 StGB aufzunehmen, also eine „Lücke“ hinterlassen, die der Rechtsanwender ausfüllen dürfe oder gar müsse. Dasselbe galt bis zur Gesetzesänderung vom 08.07.200841in dieser Allgemeinheit auch für die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung. Mit der Änderung hat der Gesetzgeber nach Maßgabe der Abs. 2 bis 4 die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auch gegenüber Jugendlichen für zulässig erklärt; im Übrigen blieb es aber bei dem Umkehrschluss der Unzulässigkeit einer Anordnung der Sicherungsverwahrung im Strafurteil. Inzwischen hat die Rechtsprechung des EGMR zur Sicherungsverwahrung nach deutschem Strafrecht eine grundlegende Diskussion über dieses Rechtsinstitut, seine Zulässigkeit und seine Grenzen ausgelöst, die auch das Jugendstrafrecht nicht unberührt lassen kann. Auf die Problematik der Sicherungsverwahrung wird deshalb in V gesondert eingegangen.

28Vergleichbares lässt sich zu § 80 Abs. 3 JGG sagen: Während bis zum 31.12.2006 jegliche Nebenklage (§§ 395–402 StPO) unzulässig war, lässt die durch das 2. Justizmodernisierungsgesetz vom 22.12.200642 (es handelt sich dabei um einen weiteren Stein im sich seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ausbreitenden Mosaik der Opferrechte im Straf- und Strafprozessrecht) geänderte Fassung nunmehr die Nebenklage in den genannten Fällen zu. In allen anderen Fällen ist sie nach wie vor unzulässig.

29Probleme ergeben sich jedoch, soweit das JGG zur Anwendung allgemeiner Vorschriften gänzlich schweigt. Ist etwa das Absehen von Strafe nach § 60 StGB auch im Bereich des Jugendstrafrechts anzuwenden? Hier ist in jedem Fall durch Auslegung der jeweiligen Vorschrift zu ermitteln, ob die Anwendung der allgemeinen Vorschrift mit dem Wesen und den Grundprinzipien des Jugendstrafrechts vereinbar ist. Dem zufolge ist nach herrschender Auffassung die Anwendbarkeit von § 60 StGB zu bejahen, da die Vorschrift der spezialpräventiv ausgerichteten Zielsetzung des JGG entspricht.43

2.Persönlicher Anwendungsbereich

30Nach § 1 Abs. 1 JGG gilt dieses Gesetz, „wenn ein Jugendlicher oder ein Heranwachsender“ eine Verfehlung begeht. „Jugendlicher“ ist nach Absatz 2, wer zur Zeit der Tat vierzehn, aber noch nicht achtzehn Jahre alt ist. Mithin sind Menschen unter 14 Jahren, also Kinder, schuldunfähig (§ 19 StGB). Deshalb dürfen Strafverfolgungsbehörden Kinder auch nicht festzunehmen oder als Beschuldigte vernehmen.44 Straffällige Kinder sind der Jugendhilfe zu überantworten. Ein Urteil gegen ein Kind ist nichtig.45

31Gebräuchlich ist insoweit der Begriff der Strafunmündigkeit. Es handelt sich hierbei um eine strikte gesetzliche Grenze, von der auch bei Vorliegen entsprechender Reife im Einzelfall unter keinen Umständen abgewichen werden darf. Demgegenüber sind in anderen Gesetzen enthaltene Altersgrenzen für das Jugendstrafrecht ohne Bedeutung. Insbesondere das Zivilrecht zieht hinsichtlich der Deliktsfähigkeit andere Grenzen: Wer das siebente Lebensjahr nicht vollendet hat, ist nach § 828 Abs. 1 BGB nicht verantwortlich („nicht deliktsfähig“), wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug, einer Schienenbahn oder einer Schwebebahn einem anderen zufügt, nicht verantwortlich, soweit er nicht vorsätzlich handelt (§ 828 Abs. 2 BGB). Darüber hinaus ist nach § 828 Abs. 3 BGB bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres für einen Schaden nicht verantwortlich, wer bei der Begehung der schädigenden Handlung nicht die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht hat. Für das Jugendstrafrecht irrelevant sind auch die in § 7 SGB VIII definierten Begriffe des jungen Volljährigen und des jungen Menschen.

32Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Strafmündigkeit ist der der Tat. Auf den Zeitpunkt etwa der Entdeckung, der Anklageerhebung oder gar der gerichtlichen Ahndung kommt es nicht an. Stehen mehrere Taten in Rede, ist die Strafmündigkeit für jede prozessuale Tat gesondert zu prüfen. Sowohl § 1 Abs. 1 JGG als auch § 19 StGB stellen auf das Begehen der Tat ab. Nach § 8 StGB ist die Tat zu der Zeit begangen, zu welcher der Täter gehandelt hat oder im Fall des Unterlassens hätte handeln müssen. Wann der Erfolg, also etwa im Fall des § 223 StGB die Körperverletzung, im Fall des § 212 StGB der Tod oder im Fall des § 263 StGB der Vermögensschaden, eintritt, ist nicht maßgebend.

33Problematisch sind die Fälle, in denen das Alter nicht feststeht. § 1 Abs. 3 JGG legt fest, dass in Zweifelsfällen Jugendstrafrecht Anwendung findet.46 Die häufigsten Fälle sind eingereiste unbegleitete Ausländer, die über keine Papiere verfügen. In den §§ 42 f. SGB VIII ist für das Jugendhilferecht genau geregelt, wie bei einer Inobhutnahme die Altersfrage zu klären ist. Zwar gilt diese Norm nicht für das Jugendstrafverfahren, sie gibt aber Kriterien an die Hand, wie im Rahmen ärztlicher Untersuchungen zur Altersbestimmung verfahren werden kann.47 Die Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin nennt folgende Methoden:48

–  Röntgenuntersuchung der linken Hand.

–  Zahnärztliche Untersuchung.

–  Allgemeiner ärztlicher Befund zu Gewicht, Größe, Körperbau, Haarwuchs, sexueller Reife und entwicklungspsychologischer Störungen.

–  Schlüsselbein mittels CT und Roentgen.

34Damit verbundene körperliche Eingriffe können sich auf § 81a StPO stützten. Es ist zu berücksichtigen, dass auch hier das Verhältnismäßigkeitsprinzip die Grenzen des Eingriffs bestimmt und Röntgenuntersuchungen mit gesundheitlichen Folgen verbunden sein können.49 Nach dem 13. Erwägungsgrund der zugrunde liegenden Richtlinie 2016/800 EU ist die körperliche Untersuchung zur Altersfeststellung ultima ratio.50 Lässt sich das Alter nicht aufklären oder die Tatzeit nicht konkretisieren – sodass keine Altersbestimmung möglich ist, ist in dubio pro reo anzunehmen, dass die Tat vor Vollendung des 14. Lebensjahr begangen wurde. Das Verfahren ist dann umgehend einzustellen.

3.Ziele des Jugendstrafrechts

35Der unmissverständlich formulierte Grundsatz, dass das Jugendstrafrecht vor allem spezialpräventiv ausgerichtet sei, wurde in § 2 Abs. 1 JGG durch das Zweite Gesetz zur Änderung des JGG und anderer Gesetze vom 13.12.2007 implantiert.51 Das Jugendstrafrecht will den Rückfall in alte Muster vermeiden und das Aufbrechen langjährig eingeübte Konfliktstrukturen verhindern. Hinter der Formulierung „vor allem“ haben all die alten Gedanken von Vergeltung und Schuldausgleich ihren Platz behalten. Ostendorf spricht dabei harmlos von den sog. Nebenzielen.52 Die erfahrenen Strafrechtspraktiker werden im Zweifel auch im Jugendstrafrecht die Norm des § 46 StGB kaum aus dem Auge verlieren, obwohl der Wortlaut des Gesetzes eindeutig ist.

36§ 2 Abs. 1 S. 2 JGG formuliert die Wege zur Zielerreichung. Wenn auch nunmehr das Ziel die Individualprävention sein soll, so hat der Gesetzgeber sich keineswegs vom Erziehungsgedanken im Strafrecht befreit.53 Erziehungsgedanke und Individualprävention werden dementgegen weitgehend synonym verstanden.

37Ob Jugendstrafrecht Erziehungsstrafrecht sei, gehört zu den Grundfragen dieses Rechtsgebietes. Sie bleibt umstritten,54 gerade weil der Gesetzgeber jetzt den Gedanken positiv formuliert. Die Verknüpfung der Sätze 1 und 2 verdeutliche, so die Gesetzesbegründung, dass „nicht Erziehung selbst Ziel oder Anliegen des Jugendstrafrechts“ sei, sondern die Bedeutung des Erziehungsgrundsatzes vielmehr darin liege, dass zur Erreichung des Ziels künftiger Legalbewährung primär erzieherische Mittel eingesetzt werden sollen. Zudem sei der neue Abs. 1 zugleich eine Orientierungshilfe bei der Auslegung all jener Bestimmungen des JGG, die sich der Begriffe „Erziehung“ oder „erzieherisch“ bedienen.55 Die Formulierung, dass das Verfahren unter Beachtung des elterlichen Erziehungsrechts am Erziehungsgedanken auszurichten ist, geht auf eine Entscheidung des BVerfG zurück.56 Das Gericht hat klargestellt, dass die Zurückdrängung des elterlichen Erziehungsrechts durch das Strafrecht zum Erziehungsbedarf gegen Art. 6 GG verstößt. Wenn also Erziehung selbst nicht Ziel, sondern Weg zur Zielerreichung Legalbewährung sein soll, kommt man bei aller Zurückhaltung um eine zumindest rudimentäre Inhaltsbestimmung nicht herum.

38Putzke bemüht sich: Auszuprägen gälte es vor allem die Fähigkeit zur Empathie, es gehe aber auch um Verantwortungsübernahme, die das „Normenlernen“ beinhalte.57 Insoweit seien vor allem pädagogische, jugendpsychologische und kriminologische Erkenntnisse zu berücksichtigen.58

39Es bleibt das Problem, dass die konkret handelnden Juristen im Strafprozess ihr persönliches und privates Erziehungsziel, in der Regel geprägt von der eigenen zumindest mittelständischen Herkunft bar eines Migrationshintergrundes, zum Königsweg erklären. Ostendorf formuliert klar, dass unter den drei Arten der Individual- oder Spezialprävention (positives Einwirken im Sinne von Resozialisierung, negatives Einwirken im Sinne von Abschreckung, negatives Einwirken im Sinne von Wegschließen), der positiven, weil am Erziehungsgedanken orientiert, de lege lata der Vorzug zu geben sei.59 Er plädiert daher für den Vorrang von erzieherisch begründeten Interventionen,60 während Eisenberg/Kölbel61 den Erziehungsgedanken auf ein allein regulatives Prinzip mit Orientierungswirkung reduzieren. Dass ein Gericht die Höhe einer Jugendstrafe damit zu begründen versucht, wieviel Erziehungszeit notwendig wäre, dürfte dann der Vergangenheit angehören. Die Kommentierung hier beschränkt sich – wissend, dass Erziehung im Strafrecht ohnehin seit dem Nationalsozialismus ideologisch benutzt wurde – darauf, die einzelnen Sanktionen und Sanktionsarten auf ihren positiv individualpräventiven Gehalt62 zu überprüfen. In jedem Falle entspricht es nicht dem Geist dieses Gesetzes, gegen Jugendliche im Ergebnis längere Freiheitsstrafen zu verhängen als gegen vergleichbare erwachsene Straftäter, wie es zahlreiche empirische Forschungen nachgewiesen haben.63

Kapitel 2:Strafrechtliche Verantwortlichkeit

§ 3Verantwortlichkeit

Ein Jugendlicher ist strafrechtlich verantwortlich, wenn er zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug ist, das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Zur Erziehung eines Jugendlichen, der mangels Reife strafrechtlich nicht verantwortlich ist, kann der Richter dieselben Maßnahmen anordnen wie das Familiengericht.

Übersicht

Rn.  

I.

Anwendungsbereich und kriminalpolitischer Hintergrund

1–4

II.

Historische Entwicklung des § 3 JGG

5, 6

III.

Tatbestandsvoraussetzungen

7–26

1.

Sittliche und geistige Entwicklung

8, 9

2.

Praktische Handhabung des Prüfungsmodells nach Eriksons Lebenszyklen

10–20

3.

Einsichtsfähigkeit

21, 22

4.

Steuerungsfähigkeit

23, 24

5.

Im Zweifel für den Angeklagten – Einstellung, Ablehnung der Eröffnung, Freispruch oder § 47 I 1 Nr. 4 JGG

25, 26

IV.

Kriterien und Indikatoren einer mangelnden Verantwortungsreife

27–37

1.

Elternhaus und (frühe) Kindheit

28–32

2.

Schule und Sekundärsozialisation

33–35

3.

Maßgeblicher Zeitpunkt: Tatzeit

36, 37

V.

Das Verhältnis des § 3 JGG zu anderen tat- und schuldrelevanten Normen

38–45

1.

§ 20 StGB

39–41

2.

§ 21 StGB

42, 43

3.

Verantwortung und Irrtum

44, 45

VI.

Rechtsfolgen bei Fehlen der Verantwortungsreife

46, 47

VII.

Kriminalpolitische Diskurse

48

I.Anwendungsbereich und kriminalpolitischer Hintergrund

1Die Vorschrift gilt für Jugendliche auch vor der allgemeinen Gerichtsbarkeit. Dies ergibt sich aus § 104 Abs. 1 Nr. 1 JGG. Für Heranwachsende gilt sie nicht; die §§ 105 ff. JGG verweisen nicht auf § 3 JGG.

21969 belegten die Untersuchungen von Keller/Kuhn/Lempp,1 dass die Rechtsprechung vor einer einfachen Rechtsvorschrift zu kapitulieren droht. Formelhaft und standardisiert würde ausgeschlossen, was nie festgestellt, aber positiv hätte festgestellt werden müssen: Die Verantwortlichkeit von Jugendlichen, die strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden sollten. Cabanis hat die rechtswidrige Praxis aus forensisch-psychiatrischer Sicht immer wieder kritisiert.2

3In der Praxis findet eine sorgfältige Prüfung des § 3 JGG oft nicht statt, anstelle dessen werden in der Anklageschrift, den Plädoyers, den Jugendgerichtshilfeberichten und dem Urteil häufig genug formelhafte Redewendungen gebraucht.3 Man mag die Ursache für eine derart lapidare Anwendungsweise von § 3 JGG auf Hilflosigkeit oder auf mangelnde Fähigkeiten zur Operationalisierung des Reifebegriffs zurückführen. Es lässt sich jedenfalls konstatieren, dass Stimmen der Strafrechtsliteratur eine deutlich restriktivere Praxis wünschen.4

4Alle empirischen Arbeiten der folgenden Jahre haben diese Befunde wiederholt bestätigt.5 Wir erleben einen Rechtsverstoß einer großen Koalition von Sozialarbeitern, Staatsanwältinnen und Richtern, zugleich gibt es keine einzige Initiative aus den Verbänden der Rechtsanwälte in Jugendstrafsachen, die diesen Sachverhalt zum Thema macht. Ostendorf vermutet als Gründe für die Nichtbeachtung Schwierigkeiten bei der Normanwendung und verfahrensökonomische Überlegungen.6 Letztlich dürfte aber das alltagstheoretische Denken, genauer das kriminalpolitische Vorverständnis, entscheidend sein. Denn zweifellos hätten wir bei einer korrekten Anwendung des § 3 JGG, also der positiven Prüfung der Reife, mehr Freisprüche oder Verfahrenseinstellungen im Jugendstrafprozessen und damit mehr Verantwortung der Erwachsenen für das kollektive Tun ihrer Jugend.

II.Historische Entwicklung des § 3 JGG

5Während in Frankreich der Code Pénal die Strafmündigkeit mit Vollendung des 16. Lebensjahres annehmen wollte, wurde im RStGB von 18717 die Altersgrenze auf 12 Jahre festgesetzt. Die Liberalität hatte in Deutschland Grenzen, dafür war hier das Schuldgefühl zu Hause. Allerdings ging mit der Normierung einer frühen Strafmündigkeit auch die Einsicht einher, dass in diesem Alter nicht alle Beschuldigten bereits reif genug sind, um Schuld auf sich zu laden: So normierte § 55 RStGB die Altersgrenze für die Strafmündigkeit mit 12 Jahren und § 56 RStGB wollte einen Jugendlichen freisprechen lassen, wenn ihm bei Begehung der Tat die zur Erkenntnis ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht fehlte. Diese Konstruktion machte es möglich, dass in den Jahren 1908 und 1912 knapp 4.200 12- und 13-Jährige zu Kerkerstrafen verurteilt wurden.8

6Das RJGG 19239 hob die Strafmündigkeit auf 14 Jahre an und in § 3 JGG wurden als weiteres Kriterium für die strafrechtliche Verantwortlichkeit auch das sittliche Urteilsvermögen sowie die entsprechende Willenskraft aufgenommen. Ähnlich § 20 StGB wurde die Verantwortlichkeit vermutet, sodass Anhaltspunkte gegen ebendiese erforderlich waren. Das RJGG 1943 ausgerechnet war es, das scheinbar eine Bestrafung von Jugendlichen erschweren sollte. Aus der Vermutung der Verantwortlichkeit wurde die heutige Regelung, die eine positive Feststellung der Verantwortlichkeit verlangt.10 Im Gegensatz zum RJGG 1923 wurde jetzt auf das „Unrecht der Tat“ Bezug genommen, während vorher das „Ungesetzliche der Tat“ erkennbar sein musste. Zugleich erweiterten die Nationalsozialisten die Bestrafungsmöglichkeiten: So sollten in schweren Fällen auch Kinder ab 12 Jahren zu bestrafen sein und auf „jugendliche Schwerverbrecher“ unter 18 Jahren Erwachsenenstrafrecht angewendet werden.11 Die Aufweichung der Altersgrenzen war im faschistischen Menschenbild begründet. Einerseits wurden normative Prozesse fortgeschrieben, die rechtsstaatlich erschienen, zumindest staatlich verfasst waren; andererseits betrieb der Leviathan-Staat die völlige Auslöschung des Subjekts, wenn sich dieses nicht in die selbst konstruierte „Volksgemeinschaft“ einordnen ließ.12 Die heutige gültige positive Grundformulierung des § 3 JGG wurde demnach aus nationalsozialistischer Ideologie geboren, dann 1953 wörtlich übernommen, und in der Bundesrepublik erstmals durch das Kindschaftsreformgesetz vom 16.12.199713 geändert. Mit Wirkung zum 17.12.200814 wurde § 3 Satz. 2 JGG um die Kompetenzen des Familiengerichts erweitert.

III.Tatbestandsvoraussetzungen

7Unbestritten ist, dass bei Tatbegehung ein Jugendlicher über (1.) die Einsichtsfähigkeit („das Unrecht der Tat einzusehen“), (2.) die Steuerungsfähigkeit („nach dieser Einsicht zu handeln“) sowie (3.) über die explizit genannte sittliche und geistige Entwicklung verfügen muss. Die sittliche und geistige Entwicklung können (4.) wiederum die erstgenannten Fähigkeiten (1. und 2.) nur prägen und beeinflussen. Keineswegs unbegründet wäre die Frage, ob diese Prüfung nicht bereits im subjektiven Tatbestand stattfinden sollte, aber selbst der letzte Finalist15 dürfte angesichts einer solchen Übermacht in Literatur und Rechtsprechung § 3 JGG als Schuldausschließungsgrund einordnen.

1.Sittliche und geistige Entwicklung

8Es entspricht der h. M.16, dass der Maßstab für die Beurteilung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit die sittliche und geistige Entwicklung des Jugendlichen ist. Geht man vom Wortlaut der Norm aus, so ist dieser Entwicklungsbefund an den Anfang aller Überlegungen zu stellen und wirkt zugleich dialektisch auf Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zurück. Natürlich haben wir es mit normativen Begriffen zu tun. Da aber die Rechtswissenschaft, im Gegensatz beispielsweise zur Theologie, zwar über eine eigene Methodik verfügt, aber stets auf andere Hilfswissenschaften zurückgreifen muss, wird die Frage der Verantwortung des jugendlichen Menschen zu einer Frage nach dem anthropologischen Vorverständnis.

9Kein anderer entwicklungspsychologischer Ansatz mag so umstritten17 sein, zugleich aber so fein und differenziert die Entwicklung des Menschen im 20. Jahrhundert beschrieben haben, wie die Psychoanalyse Sigmund Freuds:18 Für das Menschenbild unserer Zeit und seine Hinfälligkeit hinsichtlich devianten Verhaltens scheint mir die Entwicklungspsychologie von Erikson19 eine Weiterentwicklung darzustellen. Wir alle treffen täglich kleine und große Entscheidungen, die auf der Matrix von Gut und Böse, Macht und Herrschaft Grundentscheidungen darstellen, wohin die Welt sich bewegen mag, ob sie menschlicher oder kriegerischer werden wird. Erikson führte zwar den Freudschen Ansatz fort, betonte aber die Funktionen des „Ich“ mehr. Bei der Entwicklung berücksichtigt er außer den psychosexuellen auch die psychosozialen Gegebenheiten. Den Entwicklungsbegriff hat er auf die gesamte Lebensspanne ausgeweitet: Jedem Lebensabschnitt ordnet er spezielle eigene Probleme zu. Damit sind Konflikte des Jugendlichen oder des Erwachsenen keine „Aufgüsse“ frühkindlicher Störungen mehr, wie dies noch Freud sah, sondern sie zeigen ihre eigene Dynamik. Die positive Bewältigung einer vorangegangenen Entwicklungsphase erachtet er nicht zwingend als Voraussetzung, um die nächsthöhere zu erreichen. Ein erfolgreiches Durchlaufen einer Phase erhöht jedoch die Wahrscheinlichkeit, die darauffolgende ebenso positiv zu bewältigen.20

2.Praktische Handhabung des Prüfungsmodells nach Eriksons Lebenszyklen

10Urvertrauen versus Misstrauen: Der Säugling macht im ersten Lebensjahr eine grundlegende Erfahrung. Er kann seiner Umwelt vertrauen oder nicht. Diese soziale Erfahrung aus der sich später Misstrauen, Unsicherheit, Angst und Rückzug speisen werden, erwirbt er für sein ganzes Leben.

11Autonomie versus Scham und Zweifel: Im zweiten und dritten Lebensjahr entdeckt das Kind seine Möglichkeit und seine Fähigkeiten, das Leben auszuprobieren. Es entstehen erste Formen von Selbständigkeit und Autonomie. Wird es dagegen ständig kritisiert oder bestraft, (z. B. für selbstbewusstes Verhalten, das sich als ‚Trotz‘ äußert), so zweifelt es an sich selbst. Gerade die falsche Reinlichkeitserziehung überfordert das Kind, so entwickelt es eine Schamhaltung oder einen aggressiven analen Charakter.

12Initiative versus Schuldgefühl: Im vierten und fünften Lebensjahr zeigt das Kind immer mehr Eigeninitiative in seinem sozialen Umfeld (z. B. im Kindergarten). Die Eltern können diese Ablösung von zuhause begrüßen und somit die Initiative verstärken oder durch Verbote einengen, ihm Selbstwert nehmen und so Schuldgefühle erzeugen.

13Kompetenz versus Minderwertigkeitsgefühle: Zwischen dem sechsten und elften Lebensjahr interessiert sich das Kind dafür, wie die Dinge, wie die Welt, wie Zusammenhänge funktionieren. Erfährt sich hier das Kind als dumm oder störend, so entwickelt es Minderwertigkeitsgefühle. Es neigt zu Entschlusslosigkeit, Trägheit und Langeweile. Die Versagensängste nehmen zu und können zu anderen devianten Identitäten führen. Diese Erfahrung macht es vor allem außerhalb des Elternhauses, z. B. in der Grundschule oder in Vereinen.

14Identitätsfindung versus Rollendiffusion: Der Jugendliche (12 bis 18 Jahre) erfährt eine neue Welt. Er verhält sich in verschiedenen Situationen anders und probiert somit unterschiedliche Rollen aus. Dies hilft ihm zur Antwort auf seine Frage, wer er eigentlich ist (Identitätsfindung). Entwickelt er hierzu keine Antwort, so lernt er nicht, „seine Rolle“ zu finden. Das Selbstbewusstsein schwankt, der Jugendliche nimmt sein Selbst als bruchstückhaft wahr, ist verwirrt und übernimmt vollends oder episodenhaft auch „negative“ Rollen, die von der Gesellschaft abgelehnt werden.

15Intimität versus Isolation: Die junge Erwachsene (19 bis 29 Jahre) sucht den Kontakt zu anderen Personen, insbesondere zum anderen Geschlecht (Partnerschaft und Bindung). Daraus kann sich eine Intimität in sexueller, gefühlsmäßiger und moralischer Hinsicht entwickeln. Sie kann vom „Ich“ zum „Wir“ kommen, ohne sich selbst aufzugeben. Scheitert jedoch die Kontaktaufnahme, so droht sich die Erwachsene in die Isolation zurückzuziehen. Sie leugnet ihre Bedürfnisse nach Nähe und kann eine pathologische Exklusivität und Extravaganz entwickeln.

16Schaffenskraft versus Stagnation: Im mittleren Erwachsenenalter (ca. 30 bis 50 Jahre) richtet sich das Interesse über die eigene Person hinaus auf die Familie, auf die Gesellschaft, auf zukünftige Generationen. Man will sich und seine Fähigkeiten an die Nachkommen weitergeben. Erlebt man dabei die Enttäuschung, dass der eigene Beitrag bei den anderen nicht hinreichend ankommt, so erfolgt ein Rückzug auf sich selbst, z. B. ein Sich-beschränken auf den rein materiellen Besitz. Der Mensch hat dann selbstbezogene Interessen, fehlende Zukunftsorientierung und eine ablehnende Grundhaltung; die sog. Midlife-Crisis verstärkt solche Tendenzen. Löst man sie, lösen sich Konflikte auf.

17Ich-Integrität versus Verzweiflung: Ab ca. 60 Jahren steht der Erwachsene vor einem Entwicklungsabschnitt, den er regelmäßig als Abstieg erlebt: Verlust der Berufstätigkeit und somit von sozialer Anerkennung, körperlicher und geistiger Abbau, Orientierung auf den Tod hin. Hieraus kann Verzweiflung folgen, wenn das Leben insgesamt als unbefriedigend erlebt wurde. Sieht er dementgegen sein Leben als erfüllt an, so empfindet er sich als eine Ich-Integrität – das Gefühl von Ganzheit und grundlegender Zufriedenheit.

18Man kann darüber streiten, ob man ein psychoanalytisches Entwicklungsmodell bei der Frage der sittlichen und geistigen Entwicklung zugrunde legen sollte. Es ist aber im Gegensatz zu unvalidierten empirischen Ansätzen oder der höchstpersönlichen Intuition einer Jugendrichterin eine verifizierbare Struktur, die man sowohl durch intensives Selbststudium als auch durch fachliche Fortbildung21 weiterentwickeln kann.

19Kurzgefasst setzt die sittliche und geistige Entwicklung als Basis für eine gelingende Einsichtsfähigkeit voraus, dass ein Jugendlicher ein Mindestmaß an Urvertrauen gewonnen hat, damit ihm erste Formen von Autonomie möglich sind. Initiative, Kompetenz und Identitätsfindung sind auf dem Lebensweg junger Erwachsener notwendige Voraussetzung zur Ich – Entwicklung. Das Fehlen einer dieser Aspekte22 indiziert mangelnde Verantwortungsreife.

20Dieser Ansatz begegnet der Kritik Kölbels,23 dass allgemein entwicklungspsychologische Fragestellungen nach psychiatrischen Kriterien bewertet werden, indem er ein eigenes Modell entgegengesetzt.

3.Einsichtsfähigkeit

21Die Reife kann sich immer nur auf die vom Tatbestand geforderte Einsichtsfähigkeit, einen inneren Vorgang, der emotionale und kognitive Qualität erfordert, beziehen. Genauer: der Jugendliche muss wissen, dass sein Verhalten zur Rechtsordnung im Widerspruch steht.24 Aber dieses Wissen kann nur haben, wer autonom und emotional denken kann. Darin liegt die Krux: Wie viel Konstruktion ist nötig, um Wissen unterstellen zu können, ohne neurobiologische Axiome zu bemühen. Will sagen: Nimmt man die Neurobiologie in der Strafrechtswissenschaft ernst, so ist mit dem Diskurs über das Bereitschaftspotential25 des Gehirns der freie Wille des Menschen und damit auch des Täters einer Revision zu unterziehen. Dafür bietet wiederum § 3 JGG einen praktischen Diskursraum. Auch Ostendorf betont, dass die juristische Entscheidung über die Einsichtsfähigkeit im Sinne des § 3 JGG auf einer Sozialisationstheorie gründen muss, die Erziehungsmängel subjektiver (falsche Erziehungsziele und Methoden) und objektiver Art (Wechsel oder Mangel von Bezugspersonen, erziehungshinderndes Milieu) zu prüfen hat.26 Für die feine Analyse des § 3 JGG können die groben Exkulpationsmöglichkeiten der §§ 20, 21 StGB nicht herangezogen werden. Da wir Juristen Formeln lieben: Es wird nicht vorausgesetzt, dass ein Jugendlicher um die Strafbarkeit weiß oder gar Kenntnis von der Strafnorm hat,27 es genügt das Wissen, dass das konkrete Verhalten Unrecht ist. Dieses Unrechtsbewusstsein setzt wiederum voraus, dass die jugendliche Täterin die tatsächlichen Umstände begreift, aus denen sich die Strafbarkeit ihres Tuns ergibt.28 Aber man bedenke: Bewusstsein ist mehr als Wissen, es setzt eine verarbeitete Form von Wissen voraus (Wissen, wer man ist).

22Zweifellos werden wir bei Auftragstaten aus dem Milieu feudaler Sozialstrukturen, beispielsweise der Mafia oder fundamentalistisch-religiöser Gemeinschaften, die größten Schwierigkeiten haben, zu erkunden, wie viel Ich-Identität ein jugendlicher Straftäter aufweist. Wie viel eigenen Anteil an Wissen und Bewusstsein hatte er, wenn er Taten im Interesse seiner Gemeinschaft ausführt. Auch wenn das Modell vom Lebenszyklus, das Erikson entwickelt hat, eine europäische Zentrierung hat, gestattet es, interkulturelle Diffusionen zu berücksichtigen. Der gesellschaftliche Kontext mit seinen Vorstellungen eines ‚richtigen‘ Lebens prägt die Reifeentwicklung maßgeblich und muss deshalb bei der Feststellung von Reifedefiziten in seiner konkreten Gestalt Berücksichtigung finden. Das kann den Jugendrichter vor die Aufgabe stellen, Kultur und Gemeinschaft, aus der die Jugendliche stammt, kennen zu lernen. Sich allein auf zentraleuropäische Lebensmodelle zurückzuziehen wird einer pluralistischen Gesellschaft nicht gerecht.

4.Steuerungsfähigkeit

23Der Wortlaut der Norm verlangt des Weiteren Steuerungsfähigkeit: Die eigenverantwortliche Entscheidung über das Tun oder Unterlassen.29 Um selbst handlungsfähig zu bleiben, haben sich die meisten von uns auf den normativen Schuldbegriff geeinigt, ein Mindestmaß an Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln.30 Es ist weniger als Minima Moralia.31 Es ist, wenn wir so wollen, Minima Juris, das Mindestmaß, damit wir sozial funktionieren.

24Zwar setzt eine gesteuerte Handlung Einsicht über die Erlaubtheit der Handlung voraus. Die Steuerungsfähigkeit aber verlangt mehr als die Einsichtsfähigkeit, daher ist ihr Erfordernis kumulativ. Dementsprechend wird eingeräumt, dass es trotz bestehender Reife zur Einsichtsfähigkeit an der Steuerungsfähigkeit fehlen kann, wenn sich zeigt, dass Hemmungsvorstellungen und Widerstandselemente nicht so abgerufen werden können, um sich gegen ein strafrechtlich relevantes Verhalten zu entscheiden.32 Eher kasuistisch widmet sich auch Streng33 dem Thema: Mehr Trieb als Wille in der Adoleszenz und Pubertät oder besonders große Abhängigkeiten von Bezugspersonen oder peer-groups können zu einem Mangel an Handlungsfähigkeit führen.34

5.Im Zweifel für den Angeklagten – Einstellung, Ablehnung der Eröffnung, Freispruch oder § 47 I 1 Nr. 4 JGG

25Die Voraussetzungen des § 3 JGG sind im Wege des Strengbeweises aufzuklären.35 Bestehen unausräumbare Zweifel, auch nach einer Begutachtung, muss nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ vom Fehlen der Verantwortlichkeit ausgegangen werden. Für die Praktiker stellt sich die Frage, wer denn überhaupt geeignet ist, ein Gutachten zur Frage der Verantwortungsreife zu erstellen. Dies ist sowohl eine Frage nach dem wissenschaftlichen Standard der Gutachter, aber auch dem entwicklungspsychologischen Menschenbild. Haben Jugendrichterinnen und Jugendstaatsanwältinnen Zweifel an der Verantwortungsreife, so können sie durchaus im Vorfeld, auch im Wege des Freibeweises, bei niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychotherapeutinnen, bei systemisch und tiefenpsychologisch ausgebildeten Familientherapeutinnen oder bei den lokalen psychoanalytischen Vereinigungen Rat einholen. Der Rückgriff auf die klassischen Psychiater ist nicht mehr hilfreich, soweit sie keine Beziehung zum fraglichen Lebensalter haben.

26Wie bei allen anderen Voraussetzungen der Strafbarkeit auch bedienen sich Staatsanwaltschaft und Gericht der prozessualen Möglichkeiten der §§ 170 Abs. 2, 204 StPO; es besteht aber auch die Alternative, in Ausnahmefällen aus Opportunitätsgesichtspunkten das Verfahren nach § 47 Abs. 1 Nr. 4 JGG36 einzustellen. Es gilt aber das rechtsstaatliche Prinzip: Freispruch geht vor Einstellung, Gerechtigkeit vor Opportunität.

IV.Kriterien und Indikatoren einer mangelnden Verantwortungsreife

27Bevor Gericht, Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe oder Strafverteidigung zu einem Sachverständigengutachten greifen können (und müssen), müssen alle eigenen Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft werden. Eine eigene Prüfung ist nur anhand anerkannter Kriterien sinnvoll, die sich aufgrund eigener Kompetenz in der Hauptverhandlung abprüfen lassen. Der folgende Fragen- bzw. Kriterienkatalog zur Verantwortungsreife, der entwicklungspsychologisch einem humanistischen Menschenbild entspringt, beansprucht keinesfalls Vollständigkeit, sondern soll einen Anstoß bieten, eigene weiterführende Fragen zu entwickeln. Er kann nur beispielhaft sein, erleichtert aber jungen Richtern und Staatsanwälten die Indikationserstellung des § 3 JGG.

1.Elternhaus und (frühe) Kindheit

28Gab es im Leben des Kleinkindes Situationen, in denen sein Grundvertrauen erschüttert oder gar zerstört wurde? Gab es Verluste durch Tod oder Trennung? Lebenssituationen wie mangelnde Pflege, Hunger, Gewalt, Formen von Macht- oder sexuellem Missbrauch? Gibt es hierfür dokumentierte Anhaltspunkte? Bestehen Anknüpfungstatsachen aus Akten zur Inobhutnahme, Trennung, Scheidung oder Sorgerechtsentscheidungen mit nachhaltigen Vertrauensverlust?

29Wie, wann und von wem wurde der betreffende Jugendliche in früher Kindheit getrennt und erzogen? Lassen sich übertriebene Reinlichkeitsübungen feststellen? Herrschte mangelnde Geduld im Erlernen von häuslichen Regeln? Gab es regelmäßige Essens- und Nachtzeiten, Vorlesestunden, Lieder, die gesungen wurden, inklusive (etwa religiöser) oder exklusiv-zwanghafter Rituale? Wie weit durfte sich das Kind und später der Jugendliche in den ersten Lebensjahren ausprobieren, alleine zur Schule gehen, Freunde mitbringen, einkaufen, Kleider selbst aussuchen, Freunde aussuchen? Bestanden stabile Beziehungen zu Gleichaltrigen?

30Hat der Jugendliche eine Art von Schuldempfinden? Ist dieses Empfinden überhöht? Kann der Jugendliche Empathie mit anderen Menschen entwickeln? Lachen, weinen? Identifikation mit Helden wie beispielweise Schauspielerinnen oder Fußballstars? Kann der Jugendliche soziale Verantwortung übernehmen? Zu viel Verantwortungsübernahme für ein Elternteil?37 Zeigt er Formen von Co-Alkoholismus? Gibt er sich gar hin, Getränke einzukaufen oder Stoff für abhängige Eltern zu besorgen? Wurde ihm die Verantwortung für traumatisierende Verluste, für suizidale Angehörige oder drogensüchtige Geschwister zugeschrieben? Leidet der Jugendliche an Schuldgefühlen?

31Ist der Jugendliche grundsätzlich misstrauisch? Wenn ja, so können wir es gerade mit einer nicht gelungenen, frühkindlichen Entwicklung zu tun haben. Wie viel Scham und Selbstzweifel sind in ihm angelegt? Gibt es biographische Anhaltspunkte für tiefe Schuldgefühle? Wie viel Schuld wird daher auf andere abgeladen? Was ist mit dem Selbstwertgefühl des jugendlichen Täters?

32Allein der Versuch, die Lebenssituation bezogen auf die Kategorie der Verantwortung konkret zu beschreiben, für andere verständlich zu machen, tatsächlich nach Kompetenzen zu suchen und dabei möglicherweise auf mehr Minderwertigkeitsgefühle zu stoßen und diese zu benennen, schult die junge Juristin und den jungen Sozialarbeiter über eine rein intuitive Diagnostik hinaus. Die Notwendigkeit der Konkretion der Schuld oder des Schuldgefühls – des Minderwertigkeitskomplexes – verhindert die Bildung von Floskeln durch Institutionen der strafenden Gesellschaft.

2.Schule und Sekundärsozialisation

33Inwieweit verfügt eine Jugendliche überhaupt über kognitive Fähigkeiten? Sind neurologische Defizite bekannt? Besteht eine messbare Intelligenzminderung? Gibt es ein Zusammenhangserkennen von Naturgewalten: z. B. von Ebbe und Flut? Besteht ein Verständnis für menschliche Emotionen wie Trauer, Liebe oder Wut? Wurde die Jugendliche häufig bzw. stigmatisierend öffentlich als dumm dargestellt, als Versagerin oder Idiotin? Wurde die Jugendliche wegen angeblicher Minderleistungen oder wiederholter ‚Renitenz‘ aus dem Schulunterricht ausgeschlossen? Wurde sie aus öffentlichen Verkehrsmitteln verwiesen, weil sie keine Fahrkarte hatte – konkreter: keine Eltern, die darauf geachtet haben, dass sie eine Fahrkarte hat? Gab es erinnerungswürdige Momente von Demütigung oder Alleinsein? Ist der Jugendlichen häufig langweilig? Zeigt sie keinen Eigenantrieb, ergreift sie kein Hobby, hat sie keine Vorlieben oder Interessen? Ist sie dementgegen auffällig rastlos und getrieben?

34Hat die Jugendliche Helden? Wenn ja, welche? Edle Helden, Aggressoren, väterliche oder mütterliche Helden? Kann der Jugendliche in Abstand gehen, sich betrachten? In welchem Verhältnis bewertet er sich zu den Eltern und zu Autoritäten: übertrieben, überlegen, hoffnungslos unterlegen? Schwankt sein Selbstbewusstsein extrem zwischen Überhöhung und Diminuierung? Hat er ein erkennbares, ausgeformtes Selbstbild? Wenn ja, welches? Gibt es ein Minimum an Identität? Kann er diese selbst oder mithilfe eines Gutachters formulieren?

35Welche Bindungen oder Beziehungen wurden entwickelt? Wie ist das Verhältnis zum eigenen und zum anderen Geschlecht? Hasst die Jugendliche das eine oder das andere? Ist sie ihm zugetan? Kann die Jugendliche andere liebevoll mitdenken, Intimität entwickeln oder werden Dritte objektifiziert? Ist eine Form pathologischer sexueller Devianz bekannt? Formuliert sie keinerlei Bedürfnisse nach Nähe bzw. leugnet sie diese? Exkludiert oder isoliert sie sich bewusst?

3.Maßgeblicher Zeitpunkt: Tatzeit

36Entscheidend ist der Tatzeitpunkt, sodass man ggfs. Rückschau halten muss. Umso erfreulicher ist es also, wenn die Jugendgerichtshilfe unmittelbar nach der Tat, aber jedenfalls so nah an der Tat wie möglich, die Reife eines Jugendlichen prüft oder Anhaltspunkte ermittelt, die für oder gegen eine Reife i. S. d. § 3 JGG sprechen. Vielleicht ist es gerade für Berufsanfänger in der Jugendgerichtshilfe angezeigt, sich einen Katalog von Kriterien oder Indizien zusammenzustellen; leichter ist es, wenn man sich z. B. am Reifebild von Erikson oder auch anderen entwicklungspsychologischen Theoretikern orientiert.

37Im Folgenden soll eine Übersicht über relevante Kriterien präsentiert werden, ohne damit Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Indikationen →

Kriterien/Indizien

Beispiele

Lebensphase ↓

Elternhaus und (frühe) Kindheit38

–  Situationen im Kleinkindalter, die sein Grundvertrauen erschüttert oder zerstört haben

–  mangelnde Pflege/Grundbedürfnisbefriedigung

–  Gewalt, Macht- oder sexueller Missbrauch

–  dokumentierte Anhaltspunkte/Anknüpfungspunkte aus Akten

–  zur Inobhutnahme, Trennung, Scheidung oder Sorgerechtsentscheidungen

–  Art und Weise der Erziehung, Bezugsperson

–  übertriebene Reinlichkeit

–  mangelnde Geduld in der Erziehung

–  regelmäßiger Alltag, Beschäftigung und spielerisch-kulturelle Ansprache (Lesen, Musik, Religion) vs. zwanghafte Rituale

–  keine emotionale Bezugsperson

–  Zeitpunkt und Art der „Abnabelung“; Möglichkeiten des Kindes oder Jugendlichen, sich auszuprobieren, die eigene Persönlichkeit auszudrücken

–  eigene Auswahl der Kleidung und des Umgangs

–  selbstständige Freizeitgestaltung

–  Stabilität der Beziehungen zu anderen Gleichaltrigen

–  Schuldempfinden des Jugend­lichen

–  Übernahme von (sozialer) Verantwortung

–  Aufzwingen von Verantwortung/Schuldzuschreibungen

–  Suchtverhalten

–  Vorliegen/Überhöhung des Empfindens

–  Empathieempfinden

–  Fähigkeit zum Zeigen von Emotionen (Lachen/Weinen)

–  Identifikation mit Vorbildern

–  Zu viel Verantwortungsübernahme für ein Elternteil/Familienangehörige oder familiäre Traumata, Schuldgefühle

–  Co-Alkoholismus, „Unterstützung“ der Eltern in ihrer Sucht zB durch Beschaffung von Betäubungsmitteln, ­Ersatz für verlorenen Partner in der ­Libido

–  Grundeinstellungen, Grundvertrauen

–  Grundsätzliches Misstrauen

–  Vorliegen von Scham oder Selbstzweifeln, biographische Hintergründe Selbstwertgefühl des Jugendlichen

–  Abladen von Schuld auf andere

Schule und Sekundärsozialisation39

–  Kognitives Wissen des Jugend­lichen

–  Vorliegen neurologischer Defizite

–  Vorliegen einer messbaren Intelligenzminderung

–  Zusammenhangserkennen von Naturgewalten, zB Ebbe und Flut

–  Verständnis für menschliche Interaktionen/Emotionen wie Trauer, Liebe, Wut

–  Stigmatisierung/Demütigung

–  Exklusion/Einsamkeit

–  Stigmatisierung als „dumm“ oder „Versagerin“

–  Ausschluss aus dem Unterricht oder aus öffentlichen Räumen

–  Zusammenhänge mit Nachlässigkeit oder finanzieller Situation der Eltern

–  Mangel oder Überschuss an Eigenantrieb

–  Hobbies, Vorlieben, Interessen vs. Rastlosigkeit

–  Eigenschaften der Vorbilder des Jugendlichen

–  Idealisierung edler Helden vs. Aggressoren/elterlicher Vorbilder

–  Reflektionsfähigkeit des Jugendlichen

–  Selbstbewusstsein

–  Bewertung des eigenen Verhältnisses zu den Eltern/Autoritäten: übertrieben, überlegen, hoffnungslos unterlegen

–  Vorliegen eines erkennbaren Selbstbildes, einer Identität

–  Entwicklung von Bindungen oder Beziehungen

–  Entwicklung von Intimität

–  Verhältnis zum eigenen und zum anderen Geschlecht

–  Empathie gegenüber anderen vs. Objektifizierung anderer

–  Vorliegen pathologischer sexueller Devianz

–  Fähigkeit zur Formulierung von Bedürfnissen nach Nähe vs. Leugnen dieser

–  Bewusste Selbstisolation

V.Das Verhältnis des § 3 JGG zu anderen tat- und schuldrelevanten Normen

38Mit dem Begriff der strafrechtlichen Verantwortlichkeit hat der Gesetzgeber einen besonderen, über den allgemeinen Schuldbegriff hinausweisenden, diesen ergänzenden Schuldbegriff des Jugendstrafrechts normiert. Die Schuldausschließungsgründe des Erwachsenenstrafrechts sind von § 3 JGG abzugrenzen.40 Darüber hinaus ergeben sich Überschneidungen mit § 16 StGB.

1.§ 20 StGB

39§ 3 JGG ist im Verhältnis zu § 20 StGB überzeugenderweise lex specialis.41 Fehlt die Verantwortungsreife, entfallen weitere Prüfungsschritte. Der Jugendliche ist freizusprechen oder das Verfahren einzustellen. Ostendorf prüft § 20 StGB und § 3 JGG zwar hinsichtlich der Schuldvoraussetzungen nebeneinander.42 Er erachtet allerdings § 3 Satz 2 JGG als in den Rechtsfolgen mildere Norm und gewährt ihr deshalb im Zweifel den Vorzug.43Albrecht bleibt inkonsequent, wenn er dem Gericht eine Wahlmöglichkeit aus Gerechtigkeitsgründen einräumen will.44 Die Rechtsprechung will dementgegen § 20 StGB den Normvorrang einräumen, um auch im Falle fehlender Reife eine Unterbringung nach § 63 StGB zu ermöglichen.45

40Folgt man der Auffassung, die Verantwortungsreife