Juli verteilt das Glück und findet die Liebe - Tanja Kokoska - E-Book

Juli verteilt das Glück und findet die Liebe E-Book

Tanja Kokoska

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit Blumen macht sie andere glücklich, doch ihre eigene Liebe hat sie noch nicht zum Erblühen gebracht

Juli Mahlo ist nicht ganz von dieser Welt. Sie liebt es, inmitten vertrauter Dinge zu sein, besonders in ihrem Blumenladen, eingehüllt von tausenderlei Farben und Düften. Und sie fürchtet das Schweigen nicht, das sie umgibt. So still sie selbst ist, so groß ist ihre Gabe, andere zum Sprechen zu bringen. So gelingt es ihr immer wieder, Menschen von einer dunklen Erinnerung zu befreien. Nur ihrem eigenen Glück steht Juli im Weg. Dann lernt sie Oskar kennen, der so schön ist wie Gregory Peck. Bei ihm fühlt sie sich geborgen, und es scheint, als wäre für Juli die Zeit des Alleinseins endlich vorbei. Doch sie ahnt nicht, dass die Liebe sie zu einem Geheimnis aus ihrer eigenen Familie führen wird.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 412

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Juli Mahlo ist nicht ganz von dieser Welt. Sie liebt es, inmitten vertrauter Dinge zu sein, besonders in ihrem Blumenladen, eingehüllt von tausenderlei Farben und Düften. Und sie fürchtet das Schweigen nicht, das sie umgibt. So still sie selbst ist, so groß ist ihre Gabe, andere zum Sprechen zu bringen. So gelingt es ihr immer wieder, Menschen von einer dunklen Erinnerung zu befreien. Nur ihrem eigenen Glück steht Juli im Weg. Dann lernt sie Oskar kennen, der so schön ist wie Gregory Peck. Bei ihm fühlt sie sich geborgen, und es scheint, als wäre für Juli die Zeit des Alleinseins endlich vorbei. Doch sie ahnt nicht, dass die Liebe sie zu einem Geheimnis aus ihrer eigenen Familie führen wird.

Die Autorin

Tanja Kokoska ist Redakteurin bei der Frankfurter Rundschau und verantwortlich für das Wochenendmagazin FR7. »Juli verteilt das Glück und findet die Liebe« ist ihr erster Roman bei Heyne.

TANJAKOKOSKA

Juli verteilt das Glück und findet die Liebe

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Originalausgabe 12 / 2018

Copyright © 2018 by Tanja Kokoska

Copyright © 2018 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Susann Rehlein

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur unter Verwendung von mauritius images / dieKleinert / Ann-Kathrin Busse

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 9978-3-641-22478-3V001www.heyne.de

Für den Mann.Für immer.

Juli verteilt das Glück und findet die Liebe

ZUMGLÜCKMUSSTEJuli nicht niesen. Sie balancierte in der Speisekammer auf dem kleinen Schemel, fast auf den Zehenspitzen, und streckte sich bis ans oberste Regalbrett. Dort stand die Suppenschüssel. Juli nahm sie vorsichtig, beinahe andächtig, herunter und umschlang sie mit einem Arm. Dann hob sie den Deckel und senkte die Nase in das Porzellan, das blütenweiß war und kunstvoll verziert mit zarten Rosenknospen. Juli atmete tief ein: Mandeln, Vanille, gebräunte Butter. Sie seufzte. Der Duft war immer noch da. Aber er wurde schwächer. Juli ahnte, dass er eines Tages verschwinden könnte und dass sie dann selbst daran schuld sein würde. Als gäbe es nur eine bestimmte Menge Duft, von dem sie jedes Mal, wenn sie den Deckel hob, etwas aufbrauchte, bis er für immer verloren war. Das war ihre Angst, größer noch als damals die bei »Peter und der Wolf«. Diese Klänge würde sie nie vergessen, die Melodie der drei Hörner, die den Wolf ankündigten, dazu musste sie die Platte gar nicht mehr auflegen. Am meisten aber fürchtete sie sich vor etwas anderem.

Seit jeher hatten sie Weihnachtsplätzchen in dieser Suppenschüssel aufbewahrt, die Urgroßmutter, die Großmutter und die Mutter auch, Jahr um Jahr, und immer Spritzgebackenes, ein heller Mürbeteig, den sie durch den Fleischwolf drehten. Juli besaß ihn noch, diesen harmlosen Wolf, ein wuchtiges Ding aus Gusseisen, mit Handkurbel. Wie sie überhaupt fast alles behalten hatte, was je in dieses Haus gelangt war, das nur stand, weil die Urgroßmutter es vor mehr als siebzig Jahren nach dem Krieg wiederaufgebaut hatte, mit starkem Willen und bloßen Händen, wie sie gern gesagt hatte. Juli besaß die hauchdünnen Mokkatassen in der Vitrine. Das aufklappbare Nähkästchen mit den bunten Garnspulen. Die Garderobe in der Diele, die zu locker eingedübelt und deshalb ein bisschen windschief war, besonders, wenn man einen schweren Mantel daran aufhängte, dann fiel sogar mal ein Hut herunter. Aber Juli trug nur selten Hut. Sie besaß die Küchenwaage mit den kegelförmigen Gewichten. Die Waschmaschine, die im Bad spazieren ging und so donnernd schleuderte, dass man sich kaum unterhalten konnte. Aber Juli unterhielt sich nur selten.

Sorgfältig schloss sie den Deckel der Suppenschüssel, hob sie wieder auf ihren Platz auf dem obersten Regalbrett. Sie mochte das schabende Geräusch, das dabei entstand. Da läutete es an der Tür.

Juli erschrak. Sie erschrak immer, wenn es läutete. Sie wusste ja nicht, wer es war. Vielleicht der Briefträger oder jemand von der Volkszählung? Aber die letzte hatte es, Juli konnte sich kaum erinnern, in den Achtzigerjahren gegeben. Und der Briefträger kam nie so spät, das war doch das Gute an dem Beruf, dass man früh Feierabend hatte. Außerdem bekam Juli nur selten Post.

Sie stand noch immer reglos auf dem Schemel und horchte. In der Kammer war es kühl, dunkel und auch ein bisschen staubig. Aber Juli kannte sich hier aus. Nur mit Besuch, der läutete, kannte sie sich nicht aus, schon gar nicht, wenn sie Trost brauchte. Dann half bloß der Plätzchenduft, der in der Suppenschüssel war. Und Julis Angst-Almanach. Das war ein Notizbuch, so groß wie ein halbes Frühstücksbrettchen, mit dunkelblauem Einband und liniertem Papier. Jedes Mal, wenn ihr eine Angst begegnete, wurde die Sammlung um zwei, drei Zeilen reicher: ein Kind auf einem Friseurstuhl, das beim Anblick der Schere zu schreien begann. Ein Mann, der zitternd die Leiter an einem Apfelbaum emporstieg. Eine Frau, die aus einem Abflussschacht den Schwanz einer Ratte ragen sah, unfähig, daran vorbeizugehen.

Manchmal entdeckte Juli in ihrem alten, fünfundzwanzigbändigen Lexikon sogar den Fachbegriff: Platzangst (Agoraphobie), Angst in geschlossenen Räumen (Klaustrophobie), Angst vor Spinnen (Arachnophobie). Manchmal nicht. Dann schrieb sie einfach: »Die Angst, einem Schokoladenosterhasen die Ohren abzubeißen.« Oder: »Die Angst, beim Knopfannähen eine Nadel auf den Teppich fallen zu lassen und nicht wiederzufinden.« Oder: »Die Angst vor den drei Hörnern in ›Peter und der Wolf‹.« Und wenn sie durch den Almanach blätterte, war ihr das eine Beruhigung – wie viele Ängste gab es auf der Welt, da erschienen ihr die eigenen gleich etwas unbedeutender.

Vor dem Alleinsein fürchtete sich Juli nicht, im Gegenteil, sie war gern allein, besonders inmitten der Dinge in ihrer Wohnung, die altmodisch und gestrig sein mochten, an denen sie aber hing und die sie brauchte. Doch wenn es klingelte, war man in den meisten Fällen gleich nicht mehr allein.

Sie wartete. Wenn es etwas Wichtiges war, würde es noch einmal läuten, dachte sie, das war wie in der Kirche, dort läutete es auch mehrmals, wenn es wirklich wichtig war. Aber es regte sich nichts mehr.

Seit die Mutter gestorben war, im Mai, fast sieben Monate war das her, hatte Juli öfter Trost gebraucht. Sogar im Sommer, als die Sonne so ofenheiß gebrannt hatte, dass der Gedanke an Weihnachtsplätzchen selbst Juli absurd vorgekommen war, hatte sie Sehnsucht nach dem Duft gehabt. Sie allein würde dieses Jahr wohl keine backen, auch wenn es längst Zeit dafür war; in den Fenstern der Nachbarn leuchteten Schwibbögen und glitzerten Sterne aus Goldpapier, und der Christbaumhändler, der wie jedes Jahr an der Ecke zum Parkfriedhof stand, hatte die schönsten Tannen längst verkauft.

Alleine Spritzgebäck zu backen ist nicht dasselbe, dachte Juli, einer muss kurbeln und der andere den Teig in hübschen Kringeln und Kreisen und Achten auf das Blech legen. Alleine geht das nicht.

Ein Jahr und acht Monate hatte es gedauert, dann war die Mutter nicht mehr aufgewacht. Während das Leben aus ihr gewichen war, hatte sie auch tagsüber allein in dem großen Doppelbett gelegen, in dem schon die Großmutter und die Urgroßmutter geschlafen hatten, und Juli hatte gekocht, geputzt, die Kissen aufgeschüttelt. Und gelächelt hatte sie, bis die Mundwinkel schmerzten, denn wenigstens eine in diesem Haus hatte doch lächeln müssen. Nur wenn sie sicher gewesen war, dass die Mutter schlief, hatte Juli manchmal am Fenster gestanden und ernst in die Nacht geschaut.

Juli war weder groß noch klein. Genau einhundertsiebenundsechzig Zentimeter. Weder dick noch dünn. Genau einhundertvierunddreißig Pfund. Weder hässlich noch schön. Die Augen blank und federgrau, die Nase ein bisschen krumm, die Haut ein bisschen blass. Die dunklen Locken band sie zu einem kurzen Zopf. Im Frisiertisch der Mutter hatte sie einst ein rundes, flaches Farbdöschen entdeckt. Aber mit roten Wangen fand sie sich albern, wie das dralle Kind auf der Zwiebackschachtel. So blieb ihr Lächeln ungeschminkt. Nur ein feiner Schatten verdunkelte es, von dem sie nicht sagen konnte, woher er kam. Er war einfach da, so wie sie selbst, und gehörte zu ihr wie der kleine, kreisrunde Leberfleck rechts über der Lippe, der aussah wie hingemalt.

Bis Juli drei Jahre alt gewesen war, war sie kaum anderen Kindern begegnet. Im Haus hatte es keine gegeben, und die Mutter und die Großmutter hatten fast nie Besuch gehabt. Dann, als Juli in den Kindergarten gekommen war, hatte sie sich vor den anderen gefürchtet. Laut waren sie gewesen, sie hatten gelacht und gejohlt und Juli angefasst, sie hatten sie umgestoßen und ihr das Spielzeug weggenommen. Am dritten Tag im Kindergarten hatte Juli plötzlich zu schreien begonnen und nicht mehr aufgehört. So gellend und durchdringend, dass die Mutter es zu Hause hatte hören können, sogar bei geschlossenem Fenster, denn der Kindergarten war nur eine Straße entfernt gewesen. Als die Mutter gekommen war, um sie abzuholen, war Juli verstummt.

So war es drei Tage gegangen, dann hatte die Mutter beschlossen, dass ihre Tochter nicht mehr dorthin musste. Fortan war Juli daheimgeblieben, und viel lieber als in ihrer winzigen Kammer hatte sie auf dem Dielenboden in der Küche gesessen und lautlos und verträumt mit dem gespielt, was sie gerade fand: mit einer Garnspule, mit den Gewichten der Waage, mit der Fleischwolfkurbel. Der Mutter und der Großmutter war es nur recht gewesen – so hatten sie Zeit gehabt, sich um alles andere zu kümmern.

Als Juli drei Jahre später in die Schule kam, schrie sie nicht mehr. Aber sie sprach auch kaum. Sie war ein stilles, in sich gekehrtes Kind, das niemandem auffiel. Und weil das so war, machte sich auch kaum jemand die Mühe, sie zu loben oder zu hänseln. Das Stuckrelief an der Wohnzimmerdecke oder das Sprossenmuster im Glas der Haustür wurden ja auch nicht gelobt oder getadelt. Juli blieb für sich, saß allein in ihrer Schulbank und schwieg. In den meisten Fächern bekam sie trotzdem eine Drei, weil sie gute Arbeiten schrieb. Dafür musste sie ja nicht sprechen.

Geboren wurde sie im Februar 1979, es war ein Freitag, und es war so eisig, dass weiße Blumen an den Fensterscheiben wuchsen, draußen und auch drinnen. Die Mutter gab ihrem einzigen Kind den wärmsten Namen, der ihr einfallen wollte; wäre Juli ein Junge geworden, hätte sie August geheißen. Die Mutter war eine kränkliche Frau gewesen, schwach und bleich, die Hände immer kalt, und gegen ihr Ende hin wirkte es, als lösten ihre Konturen sich auf, als würde sie eins mit den steifen Kissen, auf denen sie lag. Juli hatte früh gelernt, für die Mutter zu sorgen und auch für sich selbst. Juli war Julis einzige Freundin, so gut das eben ging. Mit den Jahren ging es immer besser. Zum Beispiel mit Graupensuppe.

Niemand liebte Graupensuppe außer Juli, und niemand wusste, nicht mal sie selbst, warum das so war. Schon als Kind hatte sie am liebsten nur diese Suppe essen wollen, ob sie nun krank war oder nicht, und besonders gerne mit Bauchfleisch, aber nur vom Metzger Saltzmann. Der hatte sein Geschäft vier Häuser weiter, und Juli erinnerte sich noch genau, wie sie das erste Mal dorthin gegangen war. An der Hand der Mutter war sie drei Stufen hinaufgestiegen, und schon in der Tür hatte sie die Kälte gespürt, die aus dem Laden gekommen war. Diese Kälte hatte seltsam gerochen, metallisch und roh. Juli hatte zu den Hinterköpfen der Menschen aufgeschaut, die vor ihnen an der Reihe gewesen waren, und sich ausgemalt, wovor sie wohl Angst hatten. Vor Spritzen, vor Gewitter oder vor Kreide, die über eine Wandtafel schrammte. Sich das vorzustellen war gar nicht so einfach, wenn man den Menschen nicht in die Augen sah.

Das tat Juli heute noch. Ein- oder zweimal die Woche ging sie zum Metzger Saltzmann, kaufte hundertfünfzig Gramm Bauchfleisch, schaute auf Hinterköpfe und überlegte, ob die Frau mit der blondierten Turmfrisur, die gerade ein Pfund Kalbsgeschnetzeltes bestellte, niemals ins Varieté ging, weil sie fürchtete, einen Artisten vom Hochseil stürzen zu sehen. Oder ob der kahlköpfige Mann, der eine daumendicke Scheibe Leberkäse verlangte, niemals badete, weil er den Anblick seiner verschrumpelten Fingerkuppen nicht ertrug. Aber nie hatte Juli gewagt, jemanden zu fragen, ob es wirklich so war.

Jetzt nahm sie den Suppentopf aus dem Kühlschrank, stellte ihn auf den Herd und zündete die Flamme an. Sie goss Milch in einen Becher und rückte ihn auf dem Küchentisch zurecht, genau neben die Serviette und den alten Silberlöffel, in den herrlich viel Suppe passte. Dann streichelte sie die Kerbe, die der Fleischwolf in das weiche Holz des Tisches gegraben hatte, dabei sah sie zum Fenster hinaus und fand den Mond, der halb im Himmel steckte wie ein weißer Knopf.

Neben dem Becher, der Serviette und dem Suppenlöffel stand die Weihnachtspyramide, auch die besaß Juli noch, ein hohes, hölzernes Gestell aus dem Erzgebirge, das zur Adventszeit gehörte, schon immer. Sie zündete die vier Kerzen an, und dann drehten sich Josef, Maria, das Jesuskind und der Ochse im Kreis, gemütlich sah das aus, und Juli schaute zu. Nur der Esel drehte sich nicht mit, eines Tages war er fort gewesen und nicht wieder aufgetaucht. An der Stelle, an der er all die Jahre gestanden hatte, glänzte noch etwas getrockneter Leim.

Die Suppe begann zu köcheln. Juli nahm einen Löffel davon, pustete hinein und probierte, dabei schlürfte sie, aber das störte keinen, denn außer ihr war ja niemand da. Dann tauchte sie drei Finger in die Schütte Salz und würzte noch ein bisschen nach.

Kaum hatte sie die erste dampfende Kelle über den Teller gehoben, läutete es wieder und nun sogar zweimal. Juli erschrak, denn sie erschrak immer, wenn es läutete. Aber wenn es zum zweiten Mal läutete und dann sogar doppelt, musste es wichtiger Besuch sein, obwohl Juli sich damit gar nicht auskannte.

Also goss sie die Suppe zurück in den Topf und trocknete die Hände an ihrem blauen Glockenrock. Wenn sie zur Tür wollte, und sie wollte jetzt zur Tür, dann musste sie durch den Flur. Dort lag eine Diele, die besonders schön knarrte, ein Knarren wie aus dem Bilderbuch, wenn es so etwas denn geben würde. Auf diese Diele trat Juli gern und freute sich an dem Knarren. Aber in dem Flur stand auch der Schrank, hoch und drohend. Er stand dort schon immer, seit Juli denken konnte. Und seit sie denken konnte, fürchtete sie sich vor ihm, eigentlich ohne Grund. Da war nur das Gefühl, als gingen mächtige Kräfte von ihm aus, als würde er sie, sobald sie ihn öffnete, in einen tiefen Schlund hineinzerren. Er war der Grund, weshalb Juli begonnen hatte, Ängste zu sammeln. Weil sie nicht verstand, wie man sich vor etwas so Harmlosem wie einem Schrank erschrecken konnte. Niemand sonst fürchtete sich davor, nicht die Mutter, nicht die Großmutter und auch nicht der Briefträger, wenn er, was kaum vorkam, ein Päckchen bis in die Wohnung brachte. Aber dann hatte Juli eines Tages auf der Straße einen Mann beobachtet, der es vermied, auf die Spalten zwischen den Pflastersteinen zu treten. Und dann hatte sie gedacht, dass sie mit ihrer sonderbaren Furcht vor einem Möbelstück vielleicht doch nicht allein auf der Welt war. Die zweite Zeile in ihrem Almanach lautete: »Die Angst, zwischen die Fugen zu geraten.« Und die erste: »Die Angst vor dem großen, dunklen Schrank, der bei uns im Flur steht.« Der Urgroßmutter hatte er gehört, und Juli hatte keine Vorstellung, was sich in ihm verbarg. Nie hatte sie ihn geöffnet, und sie wagte auch nicht, ihn fortbringen zu lassen, als fürchtete sie, er könne eines Tages dafür Rache nehmen. Wenn Juli zur Wohnungstür wollte oder musste, dann machte sie sich so klein, wie es ging, und duckte sich an ihm vorbei.

Dann stand sie vor der Tür und war wieder groß, genau einhundertsiebenundsechzig Zentimeter.

Sie sah den Schatten, der sich durch die Milchglasscheibe abzeichnete. Sie kannte diesen Schatten. Sie drehte den Schlüssel um, einmal, noch mal, und begrüßte Frau Jakobi.

»Guten Abend.«

Der Schatten war nicht schwer zu erkennen gewesen, denn Frau Jakobi hatte einen beträchtlichen Busen, den sie auch im Winter nicht gerade versteckte. Und langes, wild gelocktes Haar, das sie zu einer feuerroten Palme oben auf ihrem Kopf zusammenband. Eigentlich war ihr Haar gar nicht rot, sondern irgendwie blond. Aber Frau Jakobi strich eine Paste darauf, die die Haare rot färbte, obwohl sie grün war und nach Kuhmist roch. Eine merkwürdige Sache, besonders, weil Frau Jakobi sich vor Kühen fürchtete. Das war eine Angst, die in Julis Liste noch nicht vorkam, im Gegensatz zu der Furcht vor Katzen (Ailurophobie), vor Mäusen (Murophobie) und vor Fröschen (Bufonophobie). Die Angst vor Clowns allerdings, die Frau Jakobi seit ihrer Kindheit verspürte, teilte sie mit vielen anderen.

»Ich hoffe, ich störe nicht?« Frau Jakobi hatte zwar den Eindruck, dass es nichts gab, bei dem sie Juli wirklich hätte stören können, vor allem nicht, seit deren Mutter gestorben war. Aber sie war eben ein höflicher Mensch.

»Nein, ich wollte gerade Graupensuppe essen.«

»Ah.«

»Möchten Sie auch? Es ist genug da.«

»Oh nein, vielen Dank!« Frau Jakobi hob beide Hände, die Falten darin waren schwarz von Blumenerde. »Ich habe schon gegessen. Ich wollte Sie nur etwas fragen.«

»Ja?«

»Max ist krank geworden …«

»Oh weh. Und so kurz vor Weihnachten.«

»Es ist nur eine Grippe, er hat Fieber und muss im Bett bleiben. Aber ich kann ja den Laden nicht alleine lassen, und da dachte ich, vielleicht hätten Sie Zeit, die Blumenlieferung zu übernehmen?«

»Natürlich!«

Das war das Schöne an Blumen, man konnte Menschen damit überraschen, das machte Juli besonders gerne. Und sie war auch gut im Überraschen. Sie läutete nicht einfach und sagte: »Guten Tag, ich habe Blumen für Sie.« Sie läutete und sagte: »Guten Tag, ich habe eine Überraschung für Sie.« Und dann holte sie den Strauß mit Schwung hinter ihrem Rücken hervor, fast wie Zauberei sah das aus. So machte das nicht jeder, das musste man können.

Juli gehörte der Blumenladen im Erdgeschoss. Seit einiger Zeit führten Frau Jakobi und ihr Mann Max das Geschäft und wohnten auch dort, direkt nebenan lag ihre Wohnung, und das war praktisch. Denn manchmal machten Herr und Frau Jakobi eine Pause und saßen in der Stube bei einem Cappuccino. Und wenn die Ladenklingel ging, das Glockenspiel über der Tür, hörten sie es und taten so, als hätten sie nicht gerade Pause gemacht.

Juli gehörte jedoch nicht nur der Laden, sondern auch das ganze Haus. Es war zwar nicht sehr groß, über dem Geschäft gab es nur noch den ersten Stock, in dem sie selbst lebte, und einen Dachboden, den sie vielleicht einmal ausbauen würde. Aber das Haus war etwas Besonderes, mitten in der Stadt mit ihren grauen Wohnblöcken aus den Sechzigerjahren. Juli mochte den roten Backstein, die braunen Schindeln und das holprige Steinpflaster, das in den Hinterhof führte. Dort standen zwei gläserne Pflanzenhäuser für Orchideen und Setzlinge.

Frau Jakobi war froh darüber, dass Juli ihre Verpächterin war. Mit ihr war alles anders. Die Mutter und die Großmutter hatten das Geschäft nie wirklich hergegeben, auch wenn sie so getan hatten, als ginge es sie nichts an, wie Frau Jakobi und ihr Mann das Schaufenster schmückten, wie sie putzten, wie sie die Sträuße banden. In Wahrheit aber hatten die Mutter und die Großmutter gemeint, es ginge sie sehr wohl etwas an. »Wir wollen uns ja nicht einmischen«, hatten sie dann zu Herrn und Frau Jakobi gesagt, »aber Freesien und Sonnenblumen passen nicht wirklich zusammen.« Oder: »Es ist ja Ihre Entscheidung, aber Zierkohl? Wir verkaufen doch kein Gemüse!« Oder: »Uns kann es ja egal sein, aber blaue Orchideen sind im Einkauf viel zu teuer.« Und schon gar nicht war ein anderer Name infrage gekommen, der Laden hieß, wie er immer geheißen hatte: Blumen Mahlo. So wie die Urgroßmutter, die ihn wiederaufgebaut hatte, mit starkem Willen und bloßen Händen.

Auf eine Weise hatte Frau Jakobi das verstanden, und auf eine andere Weise hatte es ihr sogar imponiert, so ein Haus voller Frauen, die den Laden zusammenhielten. Was hätten sie auch sonst tun sollen? Der Großvater war aus dem zweiten Krieg nicht zurückgekehrt und der Urgroßvater nicht aus dem ersten. Und der Vater, Julis Vater, war sehr krank gewesen, er starb, als sie noch ein Baby war. Ein Krebsgeschwür, bösartig und schnell, so hatten sie es Juli später erzählt.

Das tat Frau Jakobi leid. Aber sie tat sich selbst auch leid und eben ein bisschen mehr. Denn sie versuchte doch nur, genau das zu tun, was auch Julis Mutter und Großmutter getan hatten: Sie wollte ihr eigener Herr sein. Deshalb wäre es Frau Jakobi eigentlich nie in den Sinn gekommen, ausgerechnet eine Frau von Blumen Mahlo um Hilfe zu bitten. Aber Juli war anders, und so, wie sie jetzt strahlte, dachte Frau Jakobi, wäre es sogar möglich, dass sie Juli einen Gefallen tat und nicht umgekehrt.

»Wunderbar. Ich habe Ihnen die Liste mitgebracht, bisher sind es acht Aufträge, vor allem Weihnachtssterne.«

»Dann habe ich ja besonders schöne Mitfahrer.«

Frau Jakobi bedankte sich noch einmal, dabei schüttelte sie Juli kräftig die Hand, ihr Busen wogte, die Palme wackelte, und dann ging sie die Treppe hinunter zu ihrer Wohnung und zu ihrem Mann.

Juli stand in der Tür, sie ließ sie einen Spalt offen stehen, und zählte die Stufen, die Frau Jakobi nahm, zwölf, dreizehn, vierzehn … Dann hielt Frau Jakobi inne. Juli hörte, wie sie auf die Taschen ihrer Jeans klopfte, wie sie sich umdrehte und noch einmal klopfte. Wie sie vier Stufen wieder hinaufstieg, stehen blieb, noch einmal klopfte, hinunterging, zögerte, und wie sie dann die Treppe wiederum heraufkam.

Juli lächelte und verbarg ihre Hände hinter dem Rücken. Jetzt würde sie Frau Jakobi überraschen, denn Frau Jakobi war zwar noch nicht alt, im Gegenteil, sie war nur drei, vier Jahre älter als Juli, und sie war eifrig darin, noch jünger auszusehen. Aber sie war doch ein bisschen kopflos. Da hatten die Mutter und die Großmutter schon recht gehabt.

»Haben Sie sich mal wieder ausgesperrt?«, fragte Juli, bevor Frau Jakobi etwas sagen konnte. Und dann zauberte sie etwas hinter ihrem Rücken hervor, mit Schwung. Es war ein Schlüssel, der in die Tür vom Blumenladen passte.

»Dann müssen Sie nicht läuten. Bestimmt würde Ihr Mann erschrecken, wenn es jetzt läuten würde, denn er liegt sicher im Bett und schläft schon, wenn er doch Grippe hat. Ich nehme ihn morgen wieder mit.« Juli lachte. »Den Schlüssel. Ihren Mann natürlich nicht.«

Frau Jakobi lachte auch. Dabei wäre es gar keine schlechte Idee gewesen, hätte Juli mal wieder einen Mann mit nach Hause gebracht. Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht, es gab ja immer so viel zu tun.

Eines Abends, als Juli schon sechsundzwanzig gewesen war, da waren die Mutter und die Großmutter nicht zu Hause geblieben, sondern in der Operette gewesen, »Die Fledermaus« hatte es gegeben, und das war gut, denn die dauerte fast drei Stunden. Und in dieser Zeit hatte Juli mit einem Mann in dem schmalen Bett in ihrer winzigen Kammer gelegen. Martin hatte er geheißen, stattlich hatte er ausgesehen in seinem karierten Anzug, den er bei dieser Gelegenheit aber ausgezogen und sehr ordentlich über einen Stuhl gehängt hatte. Er hatte alle Filme geliebt, die Juli auch liebte, besonders »Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin«. Juli hatte richtig geschwärmt für den Martin. Genug jedenfalls, dass er sie küssen durfte. Und an diesem Abend sogar noch mehr als sonst.

Schon oft hatte Juli sich vorgestellt, wie es wäre, mit einem Mann zu sein. Innig, hatte sie gedacht, innig müsste es sein und behutsam. Und der Mann wäre ein Mann von Welt, und er wüsste, was Juli gefiele, denn sie selbst wusste das gar nicht so genau. Aber Martin hatte vor allem gewusst, was ihm gefiel. Er hatte auf ihr gelegen und sich hastig bewegt, viel zu hastig, und sie hatte seine Augen nicht sehen können, weil er sie zugemacht und die ganze Zeit nicht wieder geöffnet hatte. Juli hatte nicht gewagt, etwas zu sagen, sie hatte nur still dagelegen und zugesehen, was er tat, und behutsam war es nicht. Nach einer Weile hatte Martin laut gestöhnt und war auf Juli zusammengesackt, und er war so schwer gewesen, dass sie hatte lachen müssen, obwohl sie kaum Luft bekam. Und das Lachen, das sich aus ihrem Bauch nach oben gekämpft hatte, hatte schal und trocken geschmeckt wie altbackenes Brot.

Martin hatte sich auf die Seite gedreht, und Juli hatte seinen Rücken gesehen und ein Ohr, das genauso rot gewesen war wie das Haar von Frau Jakobi. Darüber hatte sie noch ein bisschen weiterlachen müssen, und auf einmal hatte das Lachen nicht nur schal geschmeckt, sondern auch so geklungen. Martin hatte sie immer noch nicht angesehen, er hatte nur mit dumpfer Stimme in das Kissen gemurmelt, dass sie jetzt gehen müsse. Doch es war ja Julis Bett gewesen, in dem sie gelegen hatten, und deshalb war es Martin gewesen, der hatte gehen müssen. Juli hatte ihn nie wiedergesehen. Vielleicht hatte er den Esel von der Weihnachtspyramide mitgenommen.

So in Gedanken versunken, merkte Juli gar nicht, dass Frau Jakobi längst die Hand nach dem Blumenladenschlüssel ausgestreckt hatte.

»Dann gehe ich mal wieder.« Frau Jakobi nahm den Schlüssel und hob ihn zum Gruß in die Höhe.

»Gute Nacht«, sagte Juli, »und gute Besserung!« Sie schloss ab, einmal, zweimal. Im Treppenhaus machte es leise »Klack«, und das Licht war aus. Juli drehte sich um und sah den Schrank, der riesig und finster vor ihr aufragte. Sie starrte hinauf. Der Schrank war zwei Meter breit und fast drei Meter hoch, er füllte die Wand bis zur Decke aus, und Juli war so klein, sie wurde noch kleiner, wie sie so vor ihm stand und von seinem Schatten verschluckt wurde. Sie fühlte, wie die Angst ihren Nacken hinaufkroch wie eine schwarze Spinne, die aus dem Keller kam. Juli wusste, dass es kindisch war, sich vor einem Schrank zu fürchten. Aber dieses Wissen half nicht, die Angst war stärker.

Sie fröstelte. Doch dann musste sie an die Graupensuppe denken, die auf dem Herd stand, und schon wurde ihr ein bisschen wärmer. Sie machte einen Bogen um den Schrank, soweit der Flur das zuließ, und folgte dem Duft, der aus der Küche kam. Wenigstens hatte die Diele wieder so schön geknarrt.

* * *

HANSHABAKUKWARder letzte Name auf ihrer Liste. Es hatte geschneit, Flocken, so groß wie Zuckerwürfel. Doch jetzt, am späten Nachmittag, als Juli den Lieferwagen in der Richard-Wagner-Straße parkte, hörte es endlich auf. Das Klingelschild war von innen beschlagen und der Name kaum zu lesen. Aber Juli hatte ihn trotzdem gefunden und auf den Knopf gedrückt, und nun wartete sie geduldig.

Es dauerte eine Weile, bis sich etwas tat, zuerst knarrte es in dem Kästchen, das an der Hauswand hing, und Juli hörte ein schwaches, blechernes »Ja?«. So klang ein Mensch, der den ganzen Tag noch nicht gesprochen hatte.

»Guten Tag, ich habe etwas besonders Schönes für Sie dabei«, sagte Juli in das Kästchen.

»Oh«, erwiderte Herrn Habakuks Stimme, und Juli spürte, dass ein kleines Lächeln darin war, »ich würde ja herunterkommen, aber ich wohne im vierten Stock, wissen Sie, und ich bin nicht mehr gut zu Fuß, ich fürchte mich davor zu fallen.«

Die Angst vor Treppen, notierte Juli im Kopf und fragte sich, ob man sie nur beim Hinuntergehen verspürte oder auch, wenn man hinaufstieg.

Herr Habakuk räusperte sich. Er hatte außerdem noch große Furcht vor Wildschweinen, aber das hatte er noch nie jemandem gesagt.

»Ich bringe es Ihnen gerne hoch«, antwortete Juli, und da ging auch schon die Tür auf.

Ordentlich säuberte sie ihre Stiefel an der Fußmatte, und dann trug sie den Weihnachtsstern, der in rotes Seidenpapier eingeschlagen war, die Stufen hinauf, so vorsichtig, als sei er aus Biskuitporzellan. Juli hörte das Echo ihrer Schritte, sie hallten an den gekachelten Wänden wider, und das gefiel Juli nicht, es erinnerte sie an das Schwimmbad, in dem sie als Kind hatte schwimmen lernen sollen. Eines Morgens waren sie in das tiefe Becken gegangen, in dem man mit den Füßen nicht mehr auf den Boden kam, nicht mal mit den Zehenspitzen. Der Lehrer hatte eine Trillerpfeife gehabt und gesagt, sie sollten alles genauso machen, wie sie es in dem flachen Becken gelernt hatten. Das hatte Juli auch getan, aber niemand hatte auf sie geachtet, so wie immer, und deshalb war es auch niemandem aufgefallen, als Juli plötzlich verschwunden war. Auf einmal hatte sie nicht mehr gewusst, wo oben und unten war, alles hatte gleich ausgesehen, eine gurgelnde, schwankende Welt. Sie war immer tiefer gesunken, und irgendwie hatte sich das sogar gut angefühlt, dieses langsame Sinken, und Juli hatte sich ihm hingegeben, diesem Gefühl zu fallen, lautlos und frei. Aber dann hatte sie keine Luft mehr bekommen, und ihr Körper hatte angefangen zu strampeln, wie wild mit Armen und Beinen, er machte das ganz von alleine, und Juli hatte Panik gespürt. Die Angst zu ersticken. Doch dann hatte sie die Schwimmbaddecke gesehen, die türkisblau gewesen war wie das Wasser, und da hatte sie gewusst, dass sie wieder atmen konnte.

So sollte es nicht in einem Wohnhaus sein, dachte Juli jetzt, als sie Stufe um Stufe hinaufstieg und dabei ein bisschen keuchte, und die Decke hing so tief wie eine Wolke im November. Wäre Herr Habakuk zwei Meter groß, müsste er sich immer krumm machen.

Aber Herr Habakuk war nicht zwei Meter groß, ganz und gar nicht, zumindest in der Höhe gelangte er mühelos durch seine Wohnungstür, trotz der Pelzmütze, die tief in seine Stirn gerutscht war, fast bis auf die Augenbrauen. Herr Habakuk trug auch noch einen Schal, einen Seemannspullover und noch einen, darüber eine grobe Strickjacke, der Knopf über dem Bauch hatte Mühe, das alles zusammenzuhalten. Und die Tür schien gar nicht breit genug zu sein, damit er in all diesen Kleiderschichten hindurchpasste. Die Hände aber waren zierlich, fast zart, so wie der Körper, der in der ganzen Wolle steckte. Herr Habakuk stützte sich auf einen Stock.

Juli war verwirrt. »Ist Ihnen kalt?«

Herr Habakuk lächelte gequält. »In diesem Haus funktioniert einfach gar nichts. Erst der Fahrstuhl und jetzt auch noch die Heizung.« Seine Stimme war heiser, in den Augen schimmerte ein trüber Glanz.

Vielleicht hat er Fieber, dachte Juli, Herr Jakobi hat ja auch welches.

»Sie bringen mir meinen Weihnachtsstern?«

»Woher wissen Sie das?« So geht das nicht, dachte Juli, so macht das Blumenliefern keinen Spaß.

Herrn Habakuks Lachen klang, als könne man damit Kartoffeln reiben. »Weil ich ihn mir selbst geschickt habe.«

»Ach?« Juli betrachtete das Paket in ihren Händen, das jetzt gar keine Überraschung mehr war.

»Das mache ich jedes Jahr.« Er blickte zu Boden, die Pelzmütze rutschte noch ein Stück tiefer in seine Stirn. »Nun ja, seit … seit ein paar Jahren jedenfalls.« Er hob den Kopf, und Juli konnte sehen, dass ein Gedanke ihn bekümmerte.

»Weihnachtssterne sind wirklich sehr schön«, versuchte sie ihn aufzumuntern und sich selbst gleich mit. »Wenn Sie möchten, bringe ich ihn noch hinein. Der ist nämlich auch ganz schön schwer.«

»Das würden Sie tun?« Herr Habakuk schaute ungläubig. »Aber nur, wenn es Ihnen keine Mühe macht.« Doch schon trat er zwei, drei Schritte zurück, damit Juli und der Weihnachtsstern an ihm vorbei durch die Tür kamen. »Gehen Sie einfach geradeaus durch.«

Dann stand Juli in Herrn Habakuks Wohnzimmer, es war groß und karg, und es roch nach nichts, was sonderbar war, weil es doch in allen Wohnungen irgendwie roch. Aber sosehr sie sich bemühte und Herrn Habakuks Wohnzimmerluft einatmete, sie konnte nichts riechen, nicht mal ein bisschen. Es gab einen Sessel und eine Kommode, darauf einen Fernseher. Es gab ein kleines Sofa, einen Tisch dazu, eine Vitrine, einen Teppich auf Linoleum. Und alles war grau, obwohl es gar nicht grau war.

Juli fror. Doch nicht vor Kälte, wenngleich es wirklich kalt war in Herrn Habakuks Wohnzimmer. Sie fror, weil es trostlos war.

Sie schaute auf den Fernseher, er zeigte Tiere im Zoo, aber ohne Ton, und wenn etwas Helles zu sehen war, etwa ein Eisbär auf einem Felsen, der wie ein Eisberg wirken sollte, dann wurde es auch in Herrn Habakuks Wohnzimmer ein bisschen heller. Und dann konnte Juli die drei Fotos erkennen, die an der Wand neben dem Fernseher hingen. Ein kleines Natursteinhaus. Ein Strand. Ein schneebedeckter Gipfel. An dem Strand stand eine Frau, sie blinzelte gegen die Sonne und lachte. Ein buntes Tuch bedeckte ihre Haare, man sah, dass es im Wind flatterte. Eine schöne Frau, dachte Juli.

»Teneriffa«, erklärte Herr Habakuk.

Juli drehte sich zu ihm um. »Es ist kalt.«

Er wies mit dem Stock auf die drei Bilder. »Dort sind es jetzt fünfundzwanzig Grad.«

Einen Moment standen sie so voreinander und schauten sich an, unschlüssig, was sie nun tun sollten. Herr Habakuk kratzte sich unter der Pelzmütze, nahm sie aber nicht ab. Und dann wusste Juli wieder, warum sie hier war. »Möchten Sie Ihren Weihnachtsstern selbst auspacken?«

»Nein, danke.« Herr Habakuk ließ sich in den Sessel fallen, er ächzte, und der Sessel ächzte auch. »Ich weiß ja, was drin ist.«

»Ich stelle ihn auf die Kommode, dann können Sie ihn von überall sehen.«

Doch Herr Habakuk hörte gar nicht zu, er war zu alt, um zwei Dinge auf einmal zu tun, und jetzt war er damit beschäftigt, die Wolldecke, die auf den Boden gefallen war, wieder auf seinen Knien auszubreiten.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen.«

Juli konnte das gut, Zudecken, sie hatte die Mutter oft zugedeckt, und jetzt deckte sie Herrn Habakuk zu. Sie wollte die Decke sogar um seine Beine wickeln, aber das mochte er nicht, er wedelte mit einer zierlichen, zarten Hand und sagte mit seiner Kartoffelreibestimme, es sei ja schon gut, schon gut.

Juli stand auf und betrachtete den verpackten Herrn Habakuk, aber warm war ihm nicht, das sah sie genau. »So geht das nicht. Ich schau mal nach der Heizung.«

»Aber bitte, nein!« Herr Habakuk fuchtelte mit den Armen, und das war gar nicht so einfach mit dem Pullover und noch einem Pullover und der Strickjacke, und dann fiel die Wolldecke wieder herunter. »Das müssen Sie nicht, ehrlich nicht, ich komme allein zurecht, wirklich, das ist … das ist nicht nötig … Lassen Sie nur!«

Aber Juli achtete gar nicht auf Herrn Habakuk, auch das konnte sie gut. Wie oft hatte sie auch gar nicht auf die Mutter geachtet, wenn diese gemeint hatte, sie käme allein zurecht. Juli kniete vor der Heizung, legte ein Ohr daran und horchte.

»Die gluckert«, verkündete sie.

»Was? Wirklich?« Herr Habakuk lauschte in die Stille. »Ich höre nichts.«

»Doch, und wie die gluckert.« Juli erhob sich, sie wusste, was jetzt zu tun war. »Haben Sie so ein Ding?«

»Was für ein Ding?«

»So ein Ding, mit dem man die Heizung entlüften kann. Das sieht aus wie ein kleiner Schlüssel.«

»Ach so, ja, der ist irgendwo da in der Vitrine, glaube ich.«

Und das war eigenartig, denn die Vitrine war leer, bis auf ein einziges Fach, in dem Kaffeegeschirr stand, mit Goldrand und ordentlich aufgereiht, und staubig war es, so staubig wie Kaffeegeschirr war, das schon lange niemand mehr benutzt hatte. Juli dachte an die Vitrine, die bei ihr zu Hause in dem Raum stand, den die Mutter und die Großmutter immer »das mittlere Zimmer« genannt hatten, weil es zwischen Wohn- und Schlafzimmer lag. Es wurde nur benutzt, wenn Gäste da waren, aber es waren ja fast nie Gäste da gewesen. Mit Martin hatte Juli manchmal dort gesessen, jeder in einem Ohrensessel, obwohl es auch ein Sofa gab, auf dem man hätte nebeneinander sitzen können. Die Rückenlehnen waren steif und die Gespräche auch, und sie hatten Kaffee aus den Mokkatässchen getrunken, die Juli immer noch besaß. Sie hatte das nie gemütlich gefunden, viel lieber hätte sie mit Martin in der Küche am Tisch gesessen und die Fleischwolfkerbe gestreichelt und manchmal auch Martins Hand. Aber die Mutter und die Großmutter hatten das auch so gemacht, wenn sie einen Verehrer mit nach Hause gebracht hatten, so hatten sie das gesagt, Verehrer, und dass er bloß nicht zu schön sein durfte, mit schönen Männern hatte man nur Kummer. Juli hatte den Verdacht, dass sie heimlich hinter der Tür des mittleren Zimmers gestanden und gelauscht hatten, wenn sie mit Martin dort gesessen und Kaffee getrunken und nicht gewusst hatte, was sie reden sollte.

Der Heizungsschlüssel lag in einer Goldrandtasse, Juli pustete hinein und musste ein bisschen husten. Und dann sah sie etwas, ganz hinten in dem Fach, es war flach und hell wie Perlmutt. Juli zog es vorsichtig ein Stück zu sich heran. Es war ein Album aus Karton, und auf dem Einband stand in geschnörkelter Schrift: »Hans Habakuk, 1950«. Juli hob den Deckel etwas an, und dann erkannte sie, dass Bilder darin waren, die meisten schwarz-weiß, und handgeschriebene Notizen.

Herr Habakuk bemerkte es nicht, er saß noch immer in seinem Sessel und fuchtelte noch immer mit den Armen. »Machen Sie sich bloß keine Umstände!«

Juli hätte gar nicht sagen können, was das war, Umstände. Sie wusste nur, dass die Menschen, die davon sprachen, meistens etwas ganz anderes meinten. So wie die Mutter. Als sie gespürt hatte, dass sie auf Juli angewiesen war, hatte sie Julis Hilfe noch energischer verweigert.

Juli schob das Album wieder an seinen Platz, dann nahm sie den Schlüssel und eine Tasse und sagte: »Das haben wir gleich.« So sagten das die Handwerker auch immer, wenn sie etwas zu reparieren hatten, den Abfluss oder das Dach, sie schauten nur einmal darauf und sagten, das haben wir gleich.

Aus dem Heizungsventil kam ein Zischen, erst leise, dann lauter, und schließlich war es so laut, dass auch Herr Habakuk es hören konnte.

»Oh«, sagte er.

»Oha«, sagte Juli. »Da ist aber viel Luft drin.«

Es zischte weiter, dann kam ein Gurgeln, als würde ein leeres Fass im Meer versinken, das Zischen wurde leiser, noch leiser, und dann kam ein schwarzes, moderiges Rinnsal. Aber Juli wusste, das musste so sein. Sie drehte das Ventil wieder zu, legte eine Hand an das Rohr, das aus dem Boden kam, und wartete.

»Es wird warm!«

»Wirklich?« Herr Habakuk war so verblüfft, dass er die Pelzmütze abnahm.

»Ja, wirklich.« Juli strahlte. »War doch ganz einfach.«

Und da ging ein Leuchten über Herrn Habakuks Gesicht, kurz nur, als risse der Wolkenhimmel auf.

»Ich schau mal in den anderen Räumen nach, wenn es Ihnen recht ist.«

»Ja«, murmelte Herr Habakuk, »ja, äh, ich weiß nicht, ich meine, das wäre … das würden Sie für mich tun?«

»Das haben wir gleich.« Juli ging ins Bad, in die Küche und ins Schlafzimmer, auch dort zischte und gluckerte es, und dann wurde es warm. Nur Juli war immer noch so kalt wie zuvor. Aber jetzt im Bauch, es war, wie von innen zu frieren. Sie stand vor Herrn Habakuks Bett, einem Doppelbett, auf dem Kissen war noch der Abdruck von seinem Kopf zu sehen, die Decke lag am Fußende zu einem Bündel verknäult. Juli schüttelte das Kissen auf, das ging automatisch, sie dachte gar nicht darüber nach, und dann schüttelte sie auch die Decke auf und legte sie ordentlich hin. Auf der anderen Seite war keine Decke und auch kein Kissen, da war nur ein Laken, weißes Leinen, es wirkte nackt und stumpf. Juli stellte sich vor, wie Herr Habakuk im Schlaf nach einem Körper tastete, der nicht mehr neben ihm lag. Wie er morgens aufwachte und das Erste, was er sah, war diese Leere neben ihm.

Juli wusste, dass man Kraft brauchte, um das auszuhalten, so ein nacktes, stumpfes Laken. Dass es viel verlangt war, sich gegen die Einsamkeit zu stemmen. Wenn die Arme müde wurden und vor allem das Herz, dann war man verloren. Sie wusste, wie es war, wenn der Tod an ein Bett trat. Aber das war nicht das Schlimmste. Auch nicht das Schweigen, das er zurückließ. Das Schlimmste war das Schweigen, das ihn ankündigte. Juli hatte es auf dem Gesicht der Mutter gesehen, wie einen düsteren Schleier, der sich über ihre Züge gelegt hatte. Nie hatten sie über die Zeit gesprochen, in der sie mit Juli schwanger gewesen war. Und auch nicht über die Zeit davor. Juli hatte gespürt, welche Macht das Schweigen hatte und dass die Mutter nicht genug Kraft besaß, sich dagegenzustemmen. Auch deshalb hatte Juli nie nach dem Vater gefragt. Sie wusste, dass er ein paar Jahre älter als die Mutter gewesen und krank geworden war. Schon damals, als sie noch ein Baby gewesen war, war der Vater schwach gewesen. Einmal, so hatte es die Mutter erzählt, hatte er Juli fallen lassen, nicht aus großer Höhe, denn er hatte schon nicht mehr stehen können. Es war nichts weiter passiert, hatte die Mutter gesagt, nur eine Wunde am Kopf, die schnell verheilt war.

Vielleicht aber war Juli damals auch ein bisschen aus der Zeit gefallen.

Sie ging zurück ins Wohnzimmer. Herr Habakuk war aus dem Sessel aufgestanden, hielt die Pelzmütze in der Hand, und es sah aus, als stünde er vor einem Grab. Dabei betrachtete er nur den Weihnachtsstern.

Er hat noch Kraft, dachte Juli. Jemand, der sich selbst einen Weihnachtsstern schenkte, war noch nicht verloren. Obwohl die Möbel, die Wände, die tiefe Decke, sogar das Licht und die Luft, die nach nichts roch, obwohl das alles wirkte, als glaube Herr Habakuk, es geschähe ihm recht, das Verlorensein.

»Wie weich das ist.« Er strich vorsichtig über ein Blütenblatt.

»Ja.« Juli wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen, wie damals, als sie neben Martin gesessen und sein Knie kurz ihr Knie berührte hatte. Sie sah nach draußen, das Fenster ging in einen kleinen, engen Hinterhof, die Wohnung gegenüber lag im Dunkeln. Es schneite schon wieder. Juli sah den Flocken beim Fallen zu und fragte sich, wie es wohl kam, dass man sich bei Schnee einsam fühlte.

»Ich könnte uns Tee machen«, sagte Herr Habakuk in die Stille. Es war, als habe er sich selbst angeknipst. »Möchten Sie einen Tee? Ich habe vielleicht auch noch ein paar Plätzchen da, ich muss mich doch irgendwie bei Ihnen bedanken, ohne Sie würde ich immer noch in der Kälte sitzen, das war wirklich sehr freundlich von Ihnen, ich weiß ja gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, mögen Sie Pfefferminz? Oder lieber Kamille? Hagebutte habe ich nicht, ich mag Hagebutte nicht.«

Juli schmunzelte. »Ich auch nicht.«

»Gut. Sehr gut.«

Herr Habakuk lächelte, aber das Lächeln ging nicht bis zu den Augen, die blieben trüb wie angelaufenes Silberbesteck.

Man müsste sie polieren, dachte Juli. Doch sie wusste nicht, wie das ging.

»Bitte, setzen Sie sich«, er nahm seinen Stock, um Juli zu zeigen, wohin, »und dann bleiben Sie sitzen, ich gehe nur schnell in die Küche und mache Tee, und Sie warten hier so lange, ja?«

Juli ließ sich auf dem Sofa nieder.

»Gut. Sehr gut.«

Dann lief er los. Erst setzte er den Stock ein Stück nach vorne, dann tat er einen Schritt und noch einen, bis er mit dem Stock auf gleicher Höhe war. Und so ging es weiter, bis er in der Küche verschwunden war. Juli hörte, wie er Wasser in einen Kessel laufen ließ, wie er mit Geschirr klapperte, wie er Schranktüren öffnete und wieder schloss.

Juli zog ihren Mantel aus, die Mütze und den Schal.

»Ja, machen Sie es sich bequem.« Herr Habakuk trug einen Becher, aus dem es dampfte, er stellte ihn vor Juli hin, und sie sah, dass es Pfefferminz war. Dann ging er zurück in die Küche, erst der Stock, dann ein Schritt, noch einer und immer so weiter, und kam mit einem zweiten dampfenden Becher zurück. Er blieb vor dem kleinen Tisch stehen, sah auf Juli und die beiden Becher und war noch nicht zufrieden. »Möchten Sie Zucker? Ich habe auch Zucker. Oder Honig. Und Milch, möchten Sie vielleicht Milch?«

»Pfefferminztee mit Milch?« Juli lachte. »Nein, vielen Dank.«

»Leider habe ich keine Plätzchen.« Herr Habakuk ließ sich in den Sessel fallen, er war ganz außer Atem. »Dabei war ich mir so sicher, dass ich noch welche habe, aber ich finde keine mehr. Lebkuchen auch nicht, mögen Sie Lebkuchen? Aber davon sind leider auch keine mehr da.«

»Das macht nichts.«

»Doch, doch, ich muss mich bei Ihnen bedanken …«

»Das ist schon in Ordnung.«

»Nein, wirklich, ich muss … ich glaube, ich habe noch …«

Herr Habakuk wollte wieder aufstehen, aber das war nicht so einfach, der Sessel war tief, und Herr Habakuk versank fast darin. Er versuchte, Schwung zu holen, er lehnte sich vor und zurück, vor und zurück, und das sah ein bisschen so aus, als säße er in einer Achterbahn. Martin war mit Juli einmal auf den Rummelplatz gegangen, er hatte ihr Zuckerwatte gekauft und ein Herz aus Pfefferkuchen, und er hatte unbedingt mit ihr Achterbahn fahren wollen. Das hatten sie dann auch gemacht, sie hatten beieinandergesessen in einem engen Waggon, ganz nah, viel näher als in dem mittleren Zimmer bei ihr zu Hause. Und als es hinunterging, rasend schnell, und Juli ihren Bauch gespürt hatte, ganz tief drinnen, so tief drinnen wie noch nie, da hatte Martin laut geschrien, viel lauter noch als an dem Abend, an dem er mit Juli in ihrem Bett gelegen hatte. Danach war Juli nie wieder auf dem Rummelplatz gewesen. Das war so ähnlich wie Weihnachtsplätzchen backen, alleine machte das keinen Spaß.

Daran musste Juli denken, als sie Herrn Habakuk jetzt beim Schwungholen zusah. Sie legte sanft eine Hand auf seinen Arm. »Ich möchte gar keine Lebkuchen, vielen Dank, wir trinken einfach den Tee.«

Herr Habakuk schnaufte. Unter der Pelzmütze war sein Haar strähnig geworden, feucht klebte es ihm am Kopf, graues Haar, dem man ansah, dass es einst blond gewesen war. Juli betrachtete seine Ohrläppchen. Sie mochte es nicht, wenn sie angewachsen waren. Als junger Mann hatte Herr Habakuk bestimmt sehr gut ausgesehen und viele Verehrerinnen gehabt.

Er pustete in seinen Becher aus blauer Keramik. »Mein Schatz« stand in geschwungenen Buchstaben darauf.

»Wird es Ihnen jetzt nicht zu heiß in all den Sachen?«, fragte Juli.

»Nein, nein.«

»Soll ich Ihnen helfen?« Sie zupfte an seinem Jackenärmel.

»Nein, danke, ich friere sowieso immer, ich weiß auch nicht, woher das kommt.« Herr Habakuk schaute Juli an, und so wie er schaute, dachte sie, dass er genau wusste, woher das kam. Und dann schaute Herr Habakuk nach innen, in sich hinein, vielleicht dorthin, wo das Frieren saß. Juli fragte sich, woran es lag, dass man einem Blick genau ansehen konnte, ob er nach drinnen oder nach draußen ging.

»Auf Teneriffa würden Sie jetzt nicht frieren.«

Herr Habakuk drehte sich zur Seite, sein Blick ging wieder nach draußen, er schaute zu den Fotos an der Wand, zu dem Strand, den Palmen und der schönen Frau mit dem bunten Tuch. »Ja, das ist der einzige Ort auf der Welt, an dem mir nicht kalt ist.« Er nahm einen Schluck Tee. »Wir haben jedes Jahr im Winter Urlaub gemacht, bis sie … Nun ja. Seitdem war ich nicht mehr dort.«

Juli verstand. »Deshalb der Weihnachtsstern.«

Herr Habakuk nickte. »Dort blühen sie wild und üppig, und sie sind so groß wie Bäume, nicht so ein kleiner Kamerad wie der hier. Aber immerhin.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Besser als gar nichts, würde Irene sagen.«

Juli sah, dass Herrn Habakuk die Augen zufielen. Sie nahm den Becher aus seiner Hand und stellte ihn auf den kleinen Tisch. Dann wartete sie, es dauerte nicht lange, und sie hörte ihn atmen im Schlaf. Da stand sie leise auf und öffnete die Vitrine.

* * *

JULIERKANNTEIHNsofort. »Hans Habakuk, 1950«: ein pickliger Junge in kurzen Hosen. Blonde Locken, Sommersprossen, eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Er hätte einer der Lausbuben aus den Kinderbüchern sein können, die Juli früher gelesen hatte. Aber da war etwas an ihm, Juli sah es auf seinem Gesicht, damals und heute. Etwas Dunkles. Eine Scham. Und eine Schwermut.

Hans, dachte Juli. Hans im Glück. Der Name passt nicht zu ihm.

Es war ein Fototagebuch, die Zwischenblätter aus Pergamin, das leise knisterte wie Butterbrotpapier. Es begann mit einem Geburtstag, Herrn Habakuks elftem. Das erste Bild, mit Fotoecken auf den Karton geklebt, zeigte ihn an einem großen, festlich gedeckten Tisch. Die Mutter war eine grazile Frau, sie trug ein Kleid mit weißen Tupfen und das Haar hochgesteckt, sie kniete neben ihrem Sohn und sah zu ihm auf. Der Vater, hager, mit Kragen und Krawatte, Hornbrille, stand steif daneben, die Hände ineinander verschränkt, und schaute, als ginge ihn das alles nichts an. Mit am Tisch Hans’ Freunde, fünf Jungen, die meisten wohl im selben Alter wie er. Nur einer nicht, Hermann Nachtwey hieß er, das hatte Herr Habakuk krakelig danebengeschrieben. Hermann Nachtwey sah älter aus als die anderen Buben, zwei oder drei Jahre, er hatte etwas Verschlagenes, eine Härte, die vielleicht aus der Not erwachsen war. Alle sahen mit gierigem Blick auf die Torte. Bestimmt war es ein Schokoladenkuchen, dachte Juli, Schokoladenkuchen gab es auch in Schwarz-Weiß. Darunter stand: »4. März 1950, mein elfter Geburtstag. Ich habe einen neuen Fußball bekommen, wie ich es mir gewünscht habe. Und das größte Stück von meinem Lieblingskuchen.«

Im Hintergrund schnarchte Herr Habakuk.

Aber das war es nicht, was Juli irritierte. Da war etwas auf dem Bild, sie hielt das Album näher an den Fernseher, der noch immer lief, und schaute genau hin. Und wirklich: Jemand fehlte. Neben Hans Habakuk saß noch eine Person, aber zu sehen war nur eine Hand, die eine Kuchengabel hielt. Juli dachte, es sei ein Mädchen, weil die Hand so schlank war und die Glieder so fein, aber dann sah sie den Namen, den Herr Habakuk neben das Foto geschrieben hatte. Dieter Vallentin. Vallentin mit zwei l. Jemand, vielleicht war es Herr Habakuk selbst gewesen, hatte das Bild an dieser Stelle abgeschnitten.

Juli sprach den Namen lautlos vor sich hin. Dieter Vallentin, Vallentin mit zwei l, das war leicht zu merken, und der Name war jetzt in ihrem Kopf, sie konnte gar nichts dafür.