Julia Best of Band 201 - Annie West - E-Book

Julia Best of Band 201 E-Book

Annie West

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Beschreibung

GEHEIMNIS EINER WÜSTENNACHT Das muss Schicksal sein! Mitten in der Wüste findet Annalisa einen verletzten Mann, dessen Blicke ihr Herz höher schlagen lassen. Tag und Nacht wacht sie an seinem Lager - und ahnt nicht: Der Mann ist Scheich Tahir, der nächste König von Qusay, und er möchte sie zu seiner Geliebten machen … ZWISCHEN VERNUNFT UND SEHNSUCHT Niemals darf Chloe sich ihren Gefühlen ergeben! Der attraktive Declan Carstairs, zu dem sie sich magisch hingezogen fühlt, ist schließlich ihr Boss und darf um keinen Preis von ihrem Geheimnis erfahren. Doch in einer zärtlichen Nacht ist die Kraft der Gefühle größer als alle Vernunft … ... UND PLÖTZLICH PRINZESSIN! "Ich will keine Prinzessin sein!" Entschieden stellt Luisa sich Raul von Monteregio entgegen, der plötzlich auf ihrer Farm auftaucht. Doch sie hat keine Wahl. Ein altes Gesetz zwingt sie, dem faszinierenden Kronprinzen in sein märchenhaftes Fürstentum zu folgen - als seine Braut …

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Seitenzahl: 567

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Annie West

JULIA BEST OF BAND 201

IMPRESSUM

JULIA BEST OF, erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Ralf MarkmeierRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Erste Neuauflage in der Reihe JULIA BEST OF,Band 201 - 2018 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2010 by Harlequin Books S.A. Originaltitel: „Scandal: His Majesty’s Love-Child“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Gudrun Bothe Deutsche Erstausgabe 2010 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 1947

© 2012 by Annie West Originaltitel: „Undone by His Touch“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Annette Stratmann Deutsche Erstausgabe 2013 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 2067

© 2011 by Annie West Originaltitel: „Prince of Scandal“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Irmgard Sander Deutsche Erstausgabe 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 376

Abbildungen: aghezzi, Vasyl Dolmatov / Getty Images, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2018 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733710682

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

Alles über Roman-Neuheiten, Spar-Aktionen, Lesetipps und Gutscheine erhalten Sie in unserem CORA-Shop www.cora.de

Geheimnis einer Wüstennacht

1. KAPITEL

„Ihre Einsätze bitte, Mesdames et Messieurs.“

Scheich Tahir Al’Ramiz schaute ausdruckslos in die Runde am Spieltisch, während die Umstehenden ihm atemlose Aufmerksamkeit zollten, begierig, seine nächste Aktion zu sehen. Sein Blick blieb an dem Stapel von Jetons hängen, die er innerhalb der letzten Stunde gewonnen hatte.

Ein Kellner bot ihm eine frische Flasche eisgekühlten Champagners an. Tahir nickte und wandte sich der Frau zu, die wie hingegossen neben ihm saß. Blond, attraktiv und willig. Jeder der anwesenden Gäste hatte sich ihr zugewandt, als sie das traditionsreiche, opulent ausgestattete Casino von Monte Carlo betrat.

Sobald sie sich bewegte, funkelte das Vermögen an Diamanten, das sie in Form eines ausgefallenen Halsschmucks trug, im Schein der antiken Kristalllüster mit ihren bemerkenswerten Augen um die Wette. Und ihr extravagantes silbernes Abendkleid war ein Musterbeispiel dafür, was außerordentlicher Reichtum und ein Weltklasse-Designer zusammen bewerkstelligen konnten.

Ihr Lächeln war das gleiche, das ihm alle Frauen zukommen ließen, seit Tahir erwachsen war – sinnlich, intim und voller Versprechen.

Er schenkte ihr ein Glas Champagner ein, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verspürte das gleiche Gefühl wie bereits den ganzen Abend über.

Gähnende Langeweile.

Beim letzten Mal hatte es zwei Tage gedauert, bis er seines Aufenthaltes in Monte Carlo müde wurde. Diesmal war er gerade erst angekommen.

„Letzte Chance für Ihre Einsätze, Mesdames et Messieurs.“

Tahir unterdrückte einen tiefen Seufzer und suchte den Blick des Croupiers. „Quatorze …“, murmelte er träge.

Der Croupier nickte und platzierte seine Jetons. Nach einem kollektiven Atemholen beeilten sich die Spieler auf der anderen Tischseite, seinem Beispiel zu folgen, und in der letzten Sekunde ihre Einsätze zu machen.

„Vierzehn?“, staunte die Blondine mit aufgerissenen Augen. „Du setzt alles auf eine Zahl?“

Tahir hob achtlos die Schultern und griff nach seinem Glas. Gleichmütig beobachtete er, wie das leichte Zittern seiner Hand den Champagner zum Moussieren brachte.

Wie lange hatte er nicht geschlafen? Seit zwei Tagen? Oder drei? Er war zuerst in New York gewesen, wo er endlich diesen Mediendeal abschloss und zur anschließenden Party blieb, dann in Tunesien zum Cross-Over-Rennen, es folgten geschäftliche Meetings in Oslo und Moskau und schließlich die Kreuzfahrt nach Monaco …

Konnte es sein, dass sich sein exzessiver Lebensstil langsam an ihm rächte?

Tahir überlegte flüchtig, ob es sich lohne, ernsthaft darüber nachzudenken oder besorgt zu sein, doch dafür fehlte ihm die Energie.

Mit einer geschickten Drehung seiner Hand brachte der Croupier das Rad und die Roulettekugel zum Rotieren. Tahir spürte den Druck von schmalen Fingern durch den feinen Wollstoff auf seinem Schenkel. Die Atemfrequenz seiner Begleiterin steigerte sich von Sekunde zu Sekunde, und ihre Hand bewegte sich in Richtung seiner Hüfte.

Fühlte sie sich vielleicht durch den Nervenkitzel des Spielens sexuell erregt? Fast beneidete er sie darum. Selbst wenn sie sich hier und jetzt nackt auszöge und über ihn herfiele, würde er nichts empfinden. Sie schenkte ihm ein weiteres schwüles Lächeln, eine unmissverständliche Einladung, und lehnte sich so weit herüber, dass ihre Brüste sich gegen seinen Arm pressten.

Er sollte sich wenigstens an ihren Namen erinnern. Elsa? Erica? Es fiel ihm nicht ein … weil es ihm nicht wichtig genug war, oder ließ sein Gedächtnis vielleicht nach?

Tahirs Mund verzog sich zu einem zynischen Lächeln. Unglücklicherweise funktionierte sein Gedächtnis wie ein Präzisionsuhrwerk. Und es gab Dinge, die würde er nie vergessen.

Egal, wie sehr er es versuchte!

Das war’s … die Blondine hieß Elisabeth. Elisabeth Karolin Roswitha, Gräfin von Markburg …

Applaus brandete um ihn herum auf und riss ihn aus seinen Gedanken. Weiche Lippen streiften erst seine Wange, dann seinen Mund.

„Du hast schon wieder gewonnen, Tahir!“ Ihre Augen funkelten aufgeregt. „Es ist einfach fantastisch!“

Tahir verzog den Mund pflichtschuldigst zu einem Lächeln und hob sein Glas. Er beneidete sie wirklich. Wie lange war es her, dass er sich für etwas derart hatte begeistern können?

Spielbanken reizten ihn nicht mehr, wie er gerade feststellen musste. Dicke Geschäfte abzuschließen? Manchmal. Extremsportarten? Wenn er dabei tatsächlich seinen Hals riskierte, schon. Sex?

Tahir schaute auf und sah, dass ein zweiter weiblicher Gast hinzugekommen war. Eine dunkelhaarige Verführerin mit rubinroten Ohrringen, die bis auf die nackten Schultern reichten. Für das Kleid, das sie trug, wäre sie in einigen Ländern auf der Stelle verhaftet worden.

Und er fühlte nichts …

Sie blieb direkt neben ihm stehen und beugte sich so weit herab, dass sie ihm einen ungehinderten Einblick zwischen ihren prallen Brüsten hindurch bis zum Nabel gewährte.

„Tahir, Darling! Es muss eine Ewigkeit her sein!“

Ihre kirschroten Lippen teilten sich, und mit der rosigen Zungenspitze fuhr sie die Konturen seiner Lippen nach. Aber er war einfach nicht in Stimmung.

Plötzlich fühlte er sich entsetzlich ausgelaugt. Nicht physisch. Es war diese heimtückische graue Belanglosigkeit, die schon seit Langem wie eine erstickende Decke über seiner Seele lag. Tahir war seines Lebens müde …

Abrupt zog er sich von dem aufdringlichen Vamp zurück. Es war erst wenige Monate her, dass er in Buenos Aires eine Nacht mit ihr verbracht hatte, doch ihm erschien es wie in einem anderen Leben.

„Elisabeth …“, wandte er sich an die Blondine neben ihm. „Darf ich dir Natasha Leung vorstellen? Natasha, das ist Elisabeth von Markburg.“ Er gab dem Kellner ein Zeichen, der sofort eine zweite Champagnerflöte hervorzauberte.

„Ah, meine Lieblingsmarke …“, schnurrte Natasha, nachdem sie an der goldenen Flüssigkeit genippt hatte und rückte noch näher an ihn heran. „Danke, Darling.“

Über ihre nackte Schulter hinweg fing Tahir den ausdruckslosen Blick des Croupiers ein.

„Ihren Einsatz, s’il vous plait.“

„Quatorze“, murmelte Tahir.

„Quatorze?“ Der erstaunte Ausdruck in den dunklen Augen des Croupiers strafte seine professionell gelassene Haltung Lügen. „Oui, Monsieur.“

„Noch mal die Vierzehn?“, entsetzte sich Elisabeth mit schriller Stimme. „Du wirst alles verlieren! Die Chance, dass dieselbe Zahl zweimal hintereinander kommt, ist gleich null!“

Tahir zuckte gelangweilt die Achseln und als er den diskreten Klingelton seines Handys hörte, zog er es aus der Tasche. „Dann verliere ich eben.“

Der schockierte Ausdruck auf dem geschminkten Gesicht seiner Begleiterin hätte ihn fast zum Lachen gereizt. Für manche Menschen war das Leben so verdammt einfach.

Er schaute aufs Handydisplay und runzelte die Stirn. Nur sein Anwalt und die vertrauenswürdigsten Broker kannten seine Nummer. Von denen war es niemand.

„Hallo?“

„Tahir?“ Selbst nach der langen Zeit war diese Stimme nicht zu verkennen. Abrupt sprang Tahir von seinem Platz auf.

„Kareef …“

Nur eine außerordentliche Situation würde seinen ältesten Bruder dazu veranlassen, ihn nach so langer Zeit anzurufen. Tahir trat vom Tisch zurück und bedeutete den beiden Frauen mit einer ungeduldigen Geste, ihm nicht zu folgen. Die Menschenmenge um ihn herum teilte sich von allein, wie überall, wo er auftrat. Mit gefurchter Stirn durchquerte er den Spielsalon und zog sich in eine ruhige Ecke zurück, um Privatsphäre zum Telefonieren zu haben.

„Was für eine unerwartete Überraschung …“, murmelte er träge. „Welchem Umstand verdanke ich dieses Vergnügen?“

Stille am anderen Ende der Leitung. So ausdauernd, dass sich Tahirs Nackenhaare vor Unbehagen aufstellten.

„Ich möchte, dass du nach Hause kommst.“ Kareefs Stimme war so ruhig und beherrscht wie immer, als er endlich sprach. Doch was er sagte … nie hätte Tahir geglaubt, es jemals zu hören.

„Ich habe kein Zuhause mehr, schon vergessen?“, gab er sarkastisch zurück und spürte gleichzeitig, wie unfair es von ihm war, seine Bitterkeit an Kareef auszulassen. Sein Bruder war auf keinen Fall für die Schrecken seiner Vergangenheit verantwortlich zu machen. Besser, er hielt ganz den Mund.

„Jetzt hast du eines, Tahir.“

Etwas in Kareefs Stimme brachte seine Nackenhaare erneut dazu, sich zu sträuben. „Ich glaube kaum, dass du damit im Sinne unseres verehrten Vaters sprichst.“

„Unser Vater ist tot.“

Die unerwartete Nachricht schlug wie ein Blitz in Tahirs Hirn ein. Der brutale Despot, der seine Familie gequält und geknechtet hatte, war also für immer von ihnen gegangen. Dieser miese Tyrann, der seine Frau mit Huren und Dauergeliebten hinterging, seine Brut, wie er es nannte, mit Drohungen und drakonischen Strafen regierte und Tahir das Leben zur Hölle gemacht hatte – bis er alt genug war, um sich gegen seinen Vater zu wehren.

Und als er etwas tat, worauf der alte Scheich wahrscheinlich selbst aus gewesen war, schickte er seinen jüngsten Sohn ins Exil.

Tahir hatte es nie fertig gebracht, seinen Vater zufriedenzustellen oder ihm auch nur zu genügen, egal, wie verbissen er sich anstrengte. Seine gesamte Kindheit über marterte ihn die Frage, womit er den unversöhnlichen Hass seines Erzeugers verdiente. Inzwischen hatte er es längst aufgegeben, sich darüber noch Gedanken zu machen.

Langsam wandte er sich um und betrachtete den opulent ausgestatteten Spielsalon, mitsamt seinen vergnügungssuchenden Nachtschwärmern. Doch er sah nicht die elegante Gesellschaft exquisit gekleideter und gut aufgelegter Kosmopoliten, sondern Yazan Al’Ramiz’ blutunterlaufene Augen, die geballten Fäuste und Speichelbläschen in dem struppigen Schnurrbart, wenn er sich einem seiner Tobsuchtsanfälle ergab.

Wahrscheinlich sollte er irgendetwas fühlen, doch die Nachricht vom Tod seines Vaters ließ Tahir völlig kalt. Wäre es nicht angebracht, wenigstens einige Fragen zu stellen? Wann war er gestorben? Woran?

„Dessen ungeachtet verspüre ich keinerlei Verlangen, je nach Qusay zurückzukehren“, informierte er seinen Bruder kühl, und lockte ihn damit unbeabsichtigt aus der Reserve.

„Verdammt, Tahir! Hör wenigstens für einen Moment auf, mir den arroganten, gefühllosen Bastard vorzuspielen! Du wirst hier gebraucht. Es sind Dinge geschehen … ach, verflixt … ich wünsche mir, dass du herkommst.“

Tahir verspürte ein seltsames, unbekanntes Gefühl im Magen. „Wie kann ich dir helfen?“, fragte er rau. Kareef war immer sein Lieblingsbruder gewesen. Das einzige Familienmitglied, zu dem er als kleiner Junge aufgeschaut hatte. „Was ist dein Problem?“

„Eigentlich ist es kein Problem …“ Kareefs Stimme klang angespannt. „Aber unser Cousin hat auf den Thron verzichtet, als er herausfand, dass er gar nicht Xavier ist, sondern der verschollen geglaubte Scheich Zafir Al’Farisi von Calista. Statt seiner werde ich König von Qusay, und ich möchte dich bei meiner Krönung dabeihaben.“

Langsam und völlig in sich versunken, ging Tahir zurück in Richtung des Roulettetisches. Kareefs Neuigkeiten waren kaum fassbar und nur schwer zu glauben. Ihr Cousin, mit dem sie als Kinder gespielt hatten, war nicht der Sohn des alten Königspaares gewesen, sondern ein fremdes Kind, das sie aus unbewältigter Trauer um Xavian an seine Stelle gesetzt hatten.

Hätte ihm jemand anderer als Kareef diese haarsträubende Geschichte erzählt, er hätte ihn einen Lügner genannt. Aber sein Bruder war absolut aufrichtig und verantwortungsvoll. Er würde einen perfekten König abgeben. Beide älteren Brüder!

Glücklicherweise lebte ihr Vater nicht mehr, sonst hätte er Anspruch auf den Thron gehabt! Eine Herzattacke, wie Kareef ihm unaufgefordert informiert hatte. Kein Wunder, dachte Tahir zynisch, der alte Scheich hatte sein ausschweifendes Leben geliebt und auf kein Laster verzichtet.

Am Tisch wurde er von seinem fast vollen Glas Champagner und zwei Frauen erwartet, deren heiße Blicke ihm vermittelten, dass er heute Nacht von ihnen haben konnte, was immer er begehrte. Verächtlich schürzte er die Lippen. War er seinem alten Herrn vielleicht ähnlicher, als er es bisher gedacht hatte?

„Tahir!“ Elisabeth klatschte aufgeregt in die Hände. „Du wirst es nicht glauben, aber du hast schon wieder gewonnen!“

Das Gemurmel in der Menge um ihn herum erstarb. Jedes Augenpaar war erwartungsvoll auf Tahir gerichtet, als sei er ein Magier oder Zauberer. Vor ihm stapelte sich sein Gewinn. Der bis dato gelassene Croupier wirkte ziemlich blass und erschüttert.

„Für die Angestellten.“ Tahir warf ihm einige der höchsten Jetons hin und entzog sich den gierigen Frauenhänden, die ihn zum Sitzen nötigen wollten.

„Merci, Monsieur.“ Wie durch Zauberhand kehrte die Farbe ins fahle Gesicht des Croupiers zurück.

Tahir griff nach seinem Glas, nahm einen großen Schluck und ließ das prickelnde Getränk genüsslich durch seine Kehle rinnen. In dieser Sekunde fühlte er sich fast glücklich. Endlich hatte das Schicksal mal etwas richtig gemacht! Kareef würde der beste König, den das Land je gesehen hatte.

Er stellte das Glas auf den Tisch zurück und nickte den beiden Frauen zu, die ihn aus weit aufgerissenen Augen anstarrten. „Bon Nuit … es tut mir leid, euch verlassen zu müssen, aber wichtige Geschäfte …“ Er zuckte gelangweilt die Schultern und wandte sich ab.

„Warte!“, rief Elisabeth ihm nach. „Du hast deinen Gewinn vergessen!“

Tahir schaute über die Schulter zurück und begegnete gleich mehreren Dutzend Augenpaaren. „Teilt ihn unter euch auf …“

Der Türsteher vollführte eine tiefe Verbeugung, als Tahir an ihm vorbei in die nächtliche Schwüle trat. In diesem Moment kam von der Seeseite eine erfrischende Brise auf. Tahir atmete ein paarmal tief durch, um seinen Mund spielte ein leichtes Lächeln.

Er war auf dem Weg zu einer Krönung …

Tahir flog tief über die Dünen der endlos scheinenden Wüste hinweg. Mit sich allein in seinem Privat-Helikopter gab er sich dem berauschenden Freiheitsgefühl hin, das ihm diese karge und dennoch so majestätische Landschaft vermittelte.

Sein unruhiges Blut floss kühl und gleichmäßig durch die Adern. Er spürte weder Müdigkeit, noch Langeweile. Hier gab es keine Speichellecker, die sich an seine geschäftlichen Erfolge anhängen wollten, keine Vamps mit lockenden Blicken und gierigen Händen. Nicht einmal Paparazzi, die darauf aus waren, über seine nächste Affäre zu berichten.

Lag es wirklich nur an der eigentümlichen Schönheit der Wüste, dass sich seine Lebensgeister so unerwartet gehoben hatten? Er fühlte sich frei wie schon lange nicht mehr. Nicht einmal der Gedanke an Qusay belastete ihn in diesem Moment.

Nicht seine Familie. Nicht seine Vergangenheit.

Wüsten hatte er in den letzten Jahren wahrlich genug gesehen. Er kannte sie alle – von Nordafrika bis Australien und Südamerika. Autorennen, Paragliding, Bungee-Jumping. Immer auf der Suche nach dem ultimativen Kick, nach einer neuen Gelegenheit, sein Leben zu riskieren.

Die seltsame Stimmung, in der er sich befand, hielt an. Irgendwann musste Tahir sich eingestehen, es lag an diesem Land, das er gerade überflog und das bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr seine Heimat gewesen war. Der Platz, den er nie wieder hatte aufsuchen wollen.

Dieser verstörende Gedanke traf ihn wie ein gewaltiger Schlag, der auch den Hubschrauber erfasst zu haben schien, sodass er ins Schlingern geriet. Instinktiv riss Tahir den Steuerknüppel zu sich und zog den Helikopter dadurch hoch über die Sanddünen. Was er aus dieser Position sah, ließ seinen Mund schlagartig trocken werden und pumpte Adrenalin gleich flüssiger Lava durch seine Venen.

Die zunehmende Dunkelheit war keine verfrüht hereinbrechende Abenddämmerung, wie er gedacht hatte, sondern ein ausgewachsener Sandsturm. Hätte er die vorgeschriebene Flughöhe eingehalten, wären ihm die Warnzeichen viel früher aufgefallen. Stattdessen hatte er wieder einmal seinem Abenteurergeist freien Lauf gelassen, war viel zu niedrig geflogen, davon überzeugt, trotz der sich ständig verändernden Wüstenlandschaft, nach Sicht navigieren zu können.

Doch was ihm hier entgegenschlug, wuchs sich in rasender Geschwindigkeit zu einem Sandsturm der Sorte aus, die Straßen untergrub, Flussläufe veränderte, Leben vernichtete und einen Helikopter wie ein Spielzeug herumwirbeln und zu Boden schmettern konnte, wo er in Tausend Stücke zerbrach.

Es war keine Zeit mehr, ihm zu entkommen oder irgendwo sicher zu landen.

Dessen ungeachtet umklammerte Tahir mit aller Kraft das Steuerruder und kämpfte verbissen darum, den Helikopter durch den Sturm voranzutreiben. Automatisch wechselte er in den Gefahrenmodus und setzte ein Notsignal ab, obwohl er wusste, dass es dafür längst zu spät war.

Plötzlich überkam ihn eine kalte Ruhe. Er würde sterben.

Der verlorene Sohn erhielt seine gerechte Strafe …

Er war nicht tot.

So leicht machte es ihm das Schicksal dann doch nicht. Offenbar hielt es noch viel Schlimmeres für ihn bereit – entweder Tod durch Verdursten in der Wüstenhitze, oder er starb an seinen Verletzungen, was angesichts der Schmerzen, die ihn peinigten, noch wahrscheinlicher war.

Das Glück, das ihm am Spieltisch in Monte Carlo noch hold gewesen war, hatte ihn offensichtlich verlassen.

Tahir überlegte, ob er versuchen sollte, in die gnädige Ohnmacht zurückzusinken, die ihn bis eben umfangen hatte. Aber das ließ der höllische Schmerz hinter seinen Schläfen und in der Brust nicht zu. Sogar das Heben der Augenlider erwies sich als eine Tortur. Grelles Licht bohrte sich durch die sandverkrusteten Wimpern direkt in seine Augäpfel.

Gepeinigt stöhnte er auf und versuchte, mit der Zungenspitze die trockenen Lippen zu befeuchten. Doch alles, was er schmeckte, war Sand und der metallisch salzige Geschmack von Blut.

Tahir hatte eine vage Vorstellung davon, dass er sich halbwegs aufrecht im Pilotensitz festgeschnallt befand und versuchte mit hilflosen Bewegungen der zerschundenen Hände, den Gurt zu lösen. Er wollte aufgeben, da streifte ihn mit dem Wind der Geruch von Kerosin, und unter Auferbietung aller zur Verfügung stehenden Kräfte, gelang es ihm, den Gurt doch noch zu öffnen, um sich kopfüber aus dem Helikopter und dem unmittelbaren Gefahrenfeld zu rollen.

Und dann … nichts mehr …

Das Heulen des Windes ließ kontinuierlich nach, und der blaue Wüstenhimmel über ihm schien ihn zu verspotten. Er lebte, aber er war allein, inmitten der Wüste.

Noch dreimal verlor er das Bewusstsein, bevor es ihm gelang, sich mit dem Rücken gegen eine kleine Sanderhebung zu lehnen und in eine halbwegs sitzende Position zu bringen. Er wollte seinen schmerzenden Kopf betasten, doch bevor es ihm auch nur gelang, die Hand zu heben, verlor er erneut das Bewusstsein.

Diesmal wurde er durch ein seltsames Gefühl an seinen Fingern ins Leben zurückgeholt. Es war wie ein raues Streicheln. „Ein Wunder …“, murmelte er, noch völlig benommen.

„Määh …“

„Aber Wunder geben keine Laute von sich …“ Und sie lecken auch nicht, dachte er verschwommen und zwang sich, die Augen zu öffnen. Dicht an ihn geschmiegt lag ein kleines Zicklein, zu jung, um ohne seine Mutter unterwegs zu sein.

Zur Hölle! Konnte er nicht wenigstens in Ruhe sterben?

Das Tier rückte noch näher an ihn heran, und Tahir verspürte ein Druckgefühl an der Hüfte. Vage interessiert schob er eine Hand in die Tasche seiner Jacke und fand eine Wasserflasche. Wasser … ja, er erinnerte sich, dass er instinktiv nach der Flasche gegriffen hatte, als er vom Helikopterwrack wegkroch. Wie hatte er das vergessen können?

Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis es ihm gelang, die Flasche aufzuschrauben und an den Mund zu bringen. Nicht zu viel! ermahnte er sich. Es war zu gefährlich. Nach einem weiteren vorsichtigen Schluck ließ er den Arm wieder sinken.

Etwas zupfte an seinem Ärmel, und als Tahir erneut die Lider hob, sah er die kleine Ziege. In der ungeheuren Weite der Wüste hatte sie ausgerechnet bei ihm Schutz gesucht. Mit knirschenden Zähnen zwang er sich, seinen linken Arm über den Körper zu schieben und etwas von dem Wasser in die hohle Hand laufen zu lassen.

„Hier … trink, Ziege …“, murmelte er heiser.

Das Tier beeilte sich, seiner Aufforderung nachzukommen und mit letzter Energie schaffte Tahir es, die Flasche wieder zu verschließen, ehe sie ihm aus den Händen glitt. Um ihn herum wurde es schwarz, sein Kopf rollte kraftlos zur Seite und … Stille.

Annalisa goss einen Schwall Wasser in die Aluminiumschüssel und besprengte ihr erhitztes Gesicht. Ein himmlisches Gefühl!

Durch den wütenden Sandsturm hatte sich ihr geplanter Wüstentrip um einiges verzögert. Ihre Cousins hatten ohnehin geunkt, die Reise würde sich als ein Flop erweisen. Und zwar als einer, den sie möglicherweise nicht überlebte. Sie verstanden sie einfach nicht.

Gerade mal sechs Monate nach dem Tod ihres Großvaters, dem fast unmittelbar der Verlust ihres geliebten Vaters folgte, bedeutete es alles für sie, hierherzukommen. Denn damit erfüllte Annalisa das letzte Versprechen ihrem Vater gegenüber …

Trotz der Trauer war es wundervoll, wieder an dem Ort zu sein, der für sie und ihn, während ihrer gemeinsamen Reisen, so besonders gewesen war.

Gleich nach ihrer Ankunft heute Morgen hatte sie als Erstes ihre Fotoausrüstung und das Teleskop gereinigt und präpariert. Ein Tag in der Wüste bedeutete einen ganzen Tag Staub und Hitze, und deshalb war die Aussicht, eine Oase ganz für sich allein zu haben, ein ungeheurer Luxus.

Erneut schöpfte sie mit beiden Händen Wasser aus der Schüssel, leerte sie über dem Kopf aus und schauderte wohlig, als das kühle Nass über ihr Haar, Schultern und Rücken herablief. Ein weiterer Schwall für das Dekolleté und die nackten Brüste, und sie fühlte sich wieder sauber und frisch. Lächelnd bohrte Annalisa die bloßen Zehen in den kleinen Sandpool zu ihren Füßen, der schneller austrocknete, als man bis zehn zählen konnte.

Die Sonne versank langsam am Horizont, und wenn sie das Lagerfeuer noch vor Einsetzen der Dunkelheit in Gang haben wollte, musste sie sich beeilen.

Als sie sich umwandte und das restliche Wasser ausschütten wollte, erregte etwas weit hinten am Horizont ihre Aufmerksamkeit. Sie verengte die Augen gegen die immer noch intensive Abendsonne zu einem schmalen Schlitz und konnte nicht glauben, was sie da sah.

Zunächst war es kaum mehr als ein dunkler Schatten, doch im Näherkommen erkannte sie, dass es ein Mensch war. Ein Mann, ziemlich groß und mit breiten Schultern. Nur mit seinem Gang stimmte etwas nicht. Und mit seinem Outfit! Schon komisch, hier, inmitten der Wüste, jemandem zu begegnen, der etwas trug, was wie ein Anzug aussah.

Automatisch griff Annalisa nach ihrem Handtuch und wickelte es um sich. Ihre Bewegungen wurden langsamer, als sie feststellte, dass der Fremde sich offenbar kaum auf den Beinen halten konnte. Er benutzte nicht einmal die Arme, um seinen taumelnden Gang auszubalancieren. Ob er betrunken war?

Annalisa schauderte. Bisher hatte sie in der Wüste nie Angst gehabt. Kein Einheimischer würde ihr etwas tun. Aber dieser Mann gehörte ganz offensichtlich nicht hierher. Woher sollte sie wissen, wie er reagierte, wenn er in dieser gottverlassenen Gegend auf eine einsame Frau traf?

Noch während sich ihre Gedanken überschlugen und sie das Handtuch über der Brust fest verknüpfte, überfiel sie eine seltsame Ruhe. Und ein Instinkt, der sich in den Jahren ausgebildet hatte, in denen sie ihren Vater begleitete, wenn er unterwegs war, um den Ärmsten der Armen zu helfen, sagte ihr, dass mit diesem Mann gesundheitlich etwas nicht stimmte.

Bereits in der nächsten Sekunde durchquerte sie leichtfüßig das Wadi, den kleinen Flusslauf, der das Wasser für die Oase spendete, und lief dem Fremden entgegen. Er sah aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, blieb sie stehen und blinzelte ungläubig. Doch es war keine Fata Morgana, der Mann war echt!

Groß, dunkelhaarig, bekleidet mit einem Smoking und schwarzen Lederschuhen. Sein weißes Hemd war über der muskulösen, tief gebräunten Brust zerrissen, und um den Hals hing etwas, das wohl einst eine Smokingfliege gewesen war. Das schmale Gesicht war derart sand- und blutverkrustet, dass man die Züge kaum erkennen konnte. Bis auf die festen Konturen des Kinns und der hohen Wangenknochen.

Doch es waren seine Augen, die sie von der ersten Sekunde an gefangen nahmen. Sie leuchteten in einem derart intensiven Blau, dass es ihr den Atem verschlug. Wie erstarrt stand sie da, während er die letzten Meter auf sie zugestolpert kam. Trotz seines derangierten Zustandes wirkte er absurderweise elegant und irgendwie weltmännisch.

Dann fiel ihr auf, dass er die Arme seltsam verkrampft vor sich hielt. Rippenbrüche oder andere innere Verletzungen? Das wäre schlecht. Schnitte und Schürfwunden konnte sie verarzten. Immerhin war sie die Tochter ihres Vaters. Aber alles andere …

In diesem Moment sackte der Fremde auf die Knie und streckte ihr unter offensichtlicher Anstrengung die zitternden Arme entgegen. „Hier, Sweetheart …“ Seine Stimme war nur ein heiseres Wispern. Annalisa beugte sich vor, um ihn besser verstehen zu können. „Pass auf sie auf …“

Seine Arme gaben nach, und Annalisa konnte gerade noch ein kleines warmes Bündel auffangen, das sich als ein sehr junges Zicklein erwies, ehe der Fremde vor ihren Füßen ohnmächtig zusammenbrach.

2. KAPITEL

Annalisa hockte sich hin und balancierte auf ihren Hacken, ohne die reglose Gestalt aus den Augen zu lassen. Sie pustete sich eine feuchte Strähne aus der Stirn und stellte fest, dass sie am ganzen Körper zitterte. Die Arme waren weich wie Pudding, sodass sie das kleine Tierchen lieber im Sand ablegte, ehe es ihr entgleiten konnte.

Ihr Puls raste, und das Herz klopfte schmerzhaft in der Brust – vor Schock und Angst, dass sie den Fremden vielleicht nicht retten konnte.

Nach einer flüchtigen Untersuchung entschied sie sich dafür, ihn in ihr Zelt zu bringen. Seine Temperatur war beängstigend hoch. Er musste schon eine ganze Weile in der Wüste herumgeirrt sein, eine weitere Nacht unter freiem Himmel wäre äußerst fatal. Aber wie transportierte man einen Mann von annähernd einem Meter neunzig über weichen Sand in ein Camp, das mindestens dreißig, vierzig Meter entfernt war?

Es kostete sie über eine Stunde und jedes Quäntchen Kraft, den reglosen Körper in ihr Zelt und auf eine Feldliege zu verfrachten. Das Beängstigende war, dass er sich die ganze Zeit über nicht einmal gerührt hatte.

„Jetzt stirb mir bloß nicht unter den Händen weg!“, beschwor sie ihn energisch und tastete zum wiederholten Mal nach dem schwachen Puls des verletzten Mannes. Behutsam begann sie damit, die hässliche, blutverkrustete Wunde an seiner Schläfe zu reinigen. Möglicherweise war es ja gar nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick schien. Trotzdem murmelte Annalisa eine Art Gebet vor sich hin, das sie, gleich einem Mantra, ein ums andere Mal monoton wiederholte. In einem Sprachengemisch aus Arabisch, Dänisch und Englisch, wie ihr Vater es immer gemacht hatte, wenn er sich einer hoffnungslosen Situation gegenübersah.

Der vertraute Singsang beruhigte sie, sodass es ihr sogar gelang, sich die gewohnte Kontrolle über Herz und Verstand zurückzuerobern. Obwohl es nur eine Illusion war, denn dass der Fremde überleben würde, erschien ihr, angesichts seines momentanen Zustands, unmöglich.

„Schon gut …“, drang eine schwache Stimme an ihr Ohr, „… ich weiß, dass ich sterben werde …“

Seine Augen blieben geschlossen, doch eine kaum wahrnehmbare Bewegung der aufgeplatzten, blutverkrusteten Lippen verrieten Annalisa, dass sie nicht fantasierte. Hoffnung, gepaart mit Ärger wallte in ihr auf. „Seien Sie nicht albern! Sie werden auf keinen Fall sterben, verstanden?“

Nach einer atemlosen Pause bewegten sich seine Lippen erneut. „Wenn du es sagst …“, murmelte er kaum vernehmbar. „Aber nicht schimpfen, wenn ich es nicht schaffe. Mir ist es nämlich egal …“ Die Worte verebbten wie der Wüstenwind.

Er lag so still, dass Annalisa unmöglich feststellen konnte, ob er überhaupt ausgeatmet hatte. Mit grimmigem Gesicht tastete sie nach seinem Puls und stieß einen erleichterten Seufzer aus, als sie ihn endlich unter ihren Fingerspitzen fühlte. Sogar stärker als zuvor. Vielleicht war es wirklich besser für ihn, wenn er in die Bewusstlosigkeit zurückfiel, dann spürte er wenigstens keine Wundschmerzen.

Nachdem sie eine Schüssel mit kaltem Wasser geholt und seine brennende Stirn mehrfach mit einem feuchten Lappen abgetupft hatte, fiel ihr plötzlich auf, dass der Fremde in perfektem, akzentfreiem Englisch gesprochen hatte.

Wer war er? Und woher mochte er kommen? Was hatte ein einsamer Ausländer, gekleidet wie ein Superstar, mitten in der Wüste von Qusay verloren?

Tahir wusste nicht, wo die Pein anfing und wo sie aufhörte. In seinem Kopf hämmerte es erbarmungslos, sein Körper fühlte sich wund an, der Hals rau und ausgetrocknet. Wenn er versuchte zu schlucken, war es, als schlössen sich seine Muskeln um Glasscherben.

Diesmal hatte er wirklich die volle Ladung abbekommen, und der alte Mann damit den Bogen endgültig überspannt. War er darauf aus, sein eigen Fleisch und Blut umzubringen?

Tahir bemühte sich, aus tiefer Dunkelheit zum Licht durchzudringen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Instinktiv wusste er, der Schmerz würde ihn überwältigen, wenn er es ernsthaft versuchte.

Seine einzigen Waffen gegen seinen Vater waren von jeher kalter Stolz und vorgetäuschte Gleichgültigkeit gewesen. Dem sengenden Blick seines Erzeugers ohne Wimpernzucken zu begegnen und sich zu weigern, um Gnade zu winseln.

Wie schlimm es auch immer kam, nie hatte er vor ihm eine Träne verloren oder sich Schmerz anmerken lassen, egal, wie erbarmungslos Yazan Al’Ramiz ihn züchtigte. Was für ein Triumphgefühl, seinen Erzeuger, der ihn hasste, solange Tahir sich zurückerinnern konnte, mit Blicken niederringen zu können.

Anfangs hatte es ihn einiges gekostet, seine Gefühle derart auf Eis zu legen, doch mit den Jahren war es eine Frage der Ehre geworden.

Und deshalb durfte er auch diesmal keine Schwäche zeigen, selbst, wenn es ihn umbrachte …

Reine Willenskraft zwang Tahir dazu, sich aufzurichten. Niemals würde er es hinnehmen, als gebrochener Mann zu den Füßen des alten Scheichs zu liegen! Zitternd holte er Atem und keuchte überrascht auf, als ihn ein scharfer Schmerz durchfuhr. Gebrochene Rippen? Diesmal konnte er also nicht hocherhobenen Hauptes davongehen. Das traf ihn an seiner empfindlichsten Stelle – seinem Stolz!

Irgendetwas berührte seinen Nacken. Federleicht und kaum spürbar. So sanft, dass er für einen Moment glaubte, es sich eingebildet zu haben. Da war es wieder! Auf seiner Stirn. Etwas Kühles, Feuchtes rann über seine Wange, den Hals hinab bis auf die nackte Brust. Dann auf seiner anderen Wange … ein wohltuendes Streicheln, das nicht nur seine brennende Haut kühlte, sondern sich auch wie Balsam auf die wunde Seele legte.

Dann war es plötzlich vorbei, und Tahir hörte ein leises Plätschern. Kurz darauf, erneut erfrischende Kühle auf seiner Stirn.

War das ein neuer Trick seines Vaters? Ihm einen kurzen Moment Erholung zu verschaffen, damit die Pein danach umso größer wurde?

„Geh weg …“, knurrte er rau.

Das kühlende Tuch wurde kurz angehoben, dann legte es sich fast zärtlich auf seinen Nacken und bewegte sich in Richtung seiner Schulterblätter.

„Geh weg!“, wiederholte er mühsam und war erbittert darüber, dass er kaum noch die Kraft hatte, sich der sanften Tortur zu entziehen.

„Endlich sind Sie wach“, flüsterte eine Stimme, so leicht und prickelnd, wie der Flügelschlag eines Kolibris. Und gleichzeitig so warm und süß wie flüssiger Honig.

Egal, wie sehr Tahir sich das Hirn zermarterte, er konnte sie einfach nicht unterbringen. Eine Frau mit dieser Stimme würde er niemals vergessen, dessen war er sich ganz sicher. Also kannte er sie nicht.

Vielleicht war es eine der Mätressen seines Vaters? Wieder eine neue?

Tahir spürte einen bitteren Geschmack im Mund bei der Vorstellung, eine von Scheich Yazans Huren könne derartige Gefühle in ihm auslösen. Schreckte der widerliche Despot denn vor gar nichts zurück?

„Geh …“, verlangte er, doch zu seinem Entsetzen hörte es sich eher wie das Wimmern eines Kindes an, anstatt als markiger Befehl rüberzukommen.

„Hier.“ Eine kleine feste Hand stabilisierte seine Schulter, am Kinn spürte er den sanften Druck eines Flaschenhalses. „Ich weiß, es tut weh, aber Sie müssen trinken.“

Er wollte etwas sagen, doch kaum, dass er den Mund öffnete, floss kühles Wasser über seine geschwollene Zunge und die schmerzende Kehle hinab. Viel zu früh versiegte die erfrischende Quelle.

„Sie müssen Geduld haben, bald gibt es mehr.“

Sie war jetzt so nah, dass er ihre Wärme spürte und der Duft ihrer Haut in sein Bewusstsein drang.

„Sie sind halb verdurstet und müssen viel Flüssigkeit zu sich nehmen, aber nicht alles auf einmal.“

„Wie lange dauert es, bis er wiederkommt?“

Stummes Erstaunen. „Er …?“, echote die weiche Stimme schließlich. „Hier ist niemand außer mir und Ihnen.“

Tahir versuchte, auf die Beine zu kommen, doch der sanfte Druck einer weiblichen Hand auf seinem Brustbein reichte aus, um ihn daran zu hindern.

„Verdammt …!“, presste er zwischen den Zähnen hervor. „Ich will wissen, wann er zurückkommt!“

„Wer? War noch jemand mit Ihnen dort draußen in der Wüste?“

„Wüste …?“ Jetzt war es Tahir, der die Stirn runzelte. Die Frau versuchte offensichtlich, ihn zu verwirren. Sein alter Herr war dem Luxus viel zu verfallen, um sich freiwillig in die Wüste zu begeben. „Wo ist mein Vater? Er wird sich doch sicher an meinem Elend weiden wollen.“

„Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass hier draußen niemand außer uns beiden ist.“ Diesmal klang ihre Stimme längst nicht mehr so süß und sanft wie zuvor.

Tahir verzog die schmerzenden Lippen zu einem höhnischen Lächeln. „Ich mag vorübergehend mein Bewusstsein verloren haben, aber nicht meinen Verstand.“ Er hob die Hand und umfasste ihre schmalen Finger, die auf seiner Brust ruhten. Die Haut war zart und glatt. Sie musste sehr jung sein, das verriet auch ihre helle Stimme. Er fühlte ihren Puls unter seinen Fingerspitzen flattern wie das Herz eines verängstigten kleinen Vogels.

„Jemand hat Sie geschlagen?“, fragte sie zweifelnd. „Ich dachte, Ihre Verletzungen seien die Folge eines Unfalls …“

Gegen sein besseres Wissen zwang sich Tahir, die schweren Augenlider zu heben. Um ihn herum war alles dunkel und verschwommen. Er brauchte eine Weile, um seinen Blick zu fokussieren. Als es ihm gelang, sog er scharf den Atem ein.

Verdammt! Sein alter Herr kannte ihn offenbar viel zu gut und wusste besser, was seinem jüngsten Sohn gefiel als er selbst.

Im Schein einer angezündeten Öllampe wirkte das perfekte Oval ihres blassen Gesichts wie das Antlitz einer antiken Statue, allerdings voller Leben und mit einer Spur Mutwillen und Abenteuerlust in den wundervollen dunklen Augen. Jetzt schauten sie allerdings sehr ernst und besorgt drein. Tahir musste aufpassen, sich nicht in ihren unendlichen Tiefen zu verlieren.

Die Nase war gerade und klassisch geformt, der weiche Mund lud eindeutig zum Küssen ein. Trotz seines bemitleidenswerten Zustands fühlte Tahir sich von heißem Verlangen durchflutet, als die schöne Fremde selbstvergessen mit der Zungenspitze über ihre perfekt geschwungene Oberlippe fuhr.

Die ausgeprägten Wangenknochen und das kleine, feste Kinn zeugten von Charakter und einer gewissen Entschlossenheit, die ihn spontan ansprach. Dunkles, schimmerndes Haar war von keinem exklusiven Coiffeur mit Raffinesse und Haarspray zur stylischen Modefrisur betoniert worden, sondern umrahmte ihr reizendes Gesicht in weichen Wellen, wo es sich aus einem nachlässigen Pferdeschwanz gestohlen hatte.

Keine Spur von Make-up verdeckte ihre frischen Züge, und als sich ihre Blicke begegneten, zwinkerte sie verlegen. Das perfekte Bild unschuldiger Verführung.

Tahirs geschundener Körper reagierte überaus heftig auf die ausgesendeten Signale. Wäre er nicht zu schwach dazu, hätte er seinem Vater zu diesem perfiden Geniestreich applaudiert. Woher wusste er, dass mädchenhafte Unschuld ihn weitaus stärker berührte als die Verführungskünste des mondänsten Vamps?

Mit bitterem Geschmack im Mund erinnerte er sich an das erste Mal, als er der Magie süßer, unschuldsvoller Weiblichkeit verfallen war. Wer hätte gedacht, dass er nach all den Jahren immer noch eine Schwäche für diese Märchenfantasie hegte? Dabei hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, nie wieder auf dieses Trugbild hereinzufallen.

Seine Finger schlossen sich noch fester um ihre. Ihr Gesicht blieb unbewegt, doch der rasche Pulsschlag, der sich noch einmal erhöhte, verriet sie. Ob sie Angst vor seinem Vater empfand? Hatte er sie vielleicht zu dieser kleinen Scharade erpresst?

Tahir schnitt eine Grimasse und suchte nach Worten, um sie danach zu fragen. Doch die Aufregung der letzten Minuten forderten ihren Tribut. Seine Augen fielen zu, die Hände öffneten sich und sanken kraftlos zur Seite.

„Gehen Sie …“, murmelte er heiser. „Verschwinden Sie von hier, ehe er auch Sie verletzen kann.“

„Wer?“, fragte sie eindringlich. „Von wem reden Sie?“

„Von meinem Vater natürlich.“ Eine Welle von Schmerz überflutete Tahir und löschte alles andere um ihn herum aus.

Annalisa stützte ihn so gut wie möglich, als er kraftlos auf sein improvisiertes Krankenlager zurücksank. Erst dann wurde ihr bewusst, dass sie vor Schock am ganzen Körper zitterte. In seine blauen Augen zu schauen, war, als starre man zu lange in die Sonne. Wobei sie sich nie so erschüttert und schwach gefühlt hatte, wenn sie den Himmel betrachtet hatte.

Selbst der gebrochene Klang seiner tiefen Stimme, der nur als schwaches Wispern den spröden Lippen entwich, richtete Unglaubliches in ihrem Innern an!

Verspätet suchte sie die nächtliche Wüste außerhalb des Zeltes und jenseits des flackernden Lagerfeuers mit den Augen ab. Hielt sich dort draußen im Dunkel wirklich jemand auf, der ihn so zugerichtet hatte? Ein Fremder? Oder sein Vater, wie er behauptet hatte? Oder waren das nur Fantasien, die man seinem angeschlagenen Zustand zuschreiben musste?

Neben der Wunde an seiner Schläfe hatte Annalisa inzwischen noch eine hühnereigroße Beule an seinem Hinterkopf entdeckt. Jede Stunde überprüfte sie regelmäßig seine Pupillen. Was sie allerdings tun müsste, hätte er tatsächlich eine Hirnblutung, darüber wusste sie nichts. Sie wagte nicht, ihn noch einmal zu bewegen.

Es würde Tage dauern, bis der Kameltrack die Oase erreichte, mindestens bis nächste Woche. Und was die Möglichkeiten moderner Telekommunikation betraf, war dieser Teil des Landes ein weißer Fleck.

Nagende Furcht machte sich in ihr breit. Draußen dämmerte es bereits. Die ganze Nacht über hatte sie sich eingeredet, sie würde mit der Situation klarkommen. Und dass es reichte, wenn sie ihrem Patienten genügend Flüssigkeit zuführte und es schaffte, seine Temperatur zu senken. Doch jetzt begann sie sich vor etwas ganz anderem zu fürchten.

Nur mit Mühe kam Annalisa auf die Füße und dehnte ihre steifen Gliedmaßen. Sie durchsuchte ihre Sachen, bis sich ihre Hand um kühles Metall schloss. Als sie die Hand hervorzog, hielt sie darin eine Pistole. Eine antike Waffe, die dem Vater ihrer Mutter gehört hatte, bis er sie am Hochzeitstag seiner Tochter dem frischgebackenen Schwiegersohn schenkte, Annalisas Vater. Ein traditionelles Geschenk von einem alten Traditionalisten.

Alle Männer in Qusay konnten mit Schusswaffen umgehen, sowie sie das Reiten fast vor dem Laufen lernten. Und viele hegten ein großes Faible für archaische Sportarten wie das Jagen mit Falken.

Annalisas Vater, ein Außenseiter, hatte die Pistole nie benutzt. Er war ein allseits respektierter Arzt gewesen, der es nicht nötig hatte, sich oder seine Familie zu verteidigen. Aber Annalisa fühlte sich irgendwie sicherer, wenn sie sie bei sich hatte. Mitgenommen hatte sie die Waffe aus Sentimentalität, weil sie sich daran erinnert hatte, dass ihr Vater sie immer einsteckte, wenn sie zu ihren Wüstentrips aufbrachen.

Wieder einmal überfiel sie das Gefühl absoluter Verlassenheit und stahl ihr die Ruhe, um die sie seit dem Tod ihres Vaters so sehr gerungen hatte. Was, wenn dort draußen noch jemand umherirrte? Verletzt und verloren oder voller Wut und gewalttätig? Annalisa biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte ihren Patienten nicht allein lassen, um auf die Suche zu gehen. Er könnte an Dehydration oder physischer Erschöpfung sterben.

Seufzend kehrte sie an seine Seite zurück. Seine Temperatur war immer noch viel zu hoch. Annalisa holte frisches Wasser und kühlte erneut seine brennende Stirn.

Abgesehen von den Prellungen und Abschürfungen im Gesicht war er ein ausgesprochen gut aussehender Mann. Attraktiver als jeder, der ihr zuvor begegnet war. Selbst mit den Schatten unter den Augen und der Wunde an seiner Schläfe. Die dunklen Stoppeln betonten fast noch die markanten Züge. Selbst seine Hände, schlank und gleichzeitig kräftig, faszinierten sie.

Annalisa dachte an das prickelnde Gefühl, als er ihr Handgelenk umklammert hatte. Es hatte sie schwach gemacht und gleichzeitig unheimlich erregt. Ihr Blick wanderte zu seiner nackten Brust. Sie hatte sein zerfetztes Hemd noch weiter aufgerissen, um seinen Körper besser kühlen zu können. Er war sehr muskulös, aber wirkte nicht so aufgeblasen wie viele Bodybuilder, sondern athletisch und gut durchtrainiert. Selbst die feinen Härchen auf der bronzefarbenen Haut wirkten auf sie verlockend, und Annalisa wünschte sich, sie hätte den Mut, sie zu berühren.

Fast schüchtern verfolgte sie die schmale Linie der dunklen Löckchen, die sich über den flachen Leib nach unten zogen, wo sie hinter dem Bund seiner Smokinghose verschwand. Annalisas Puls schoss in ungeahnte Höhen, und ihre Wangen brannten vor Scham, als sie registrierte, wohin sich ihre Gedanken verirrten.

Energisch tränkte sie ihr Handtuch mit kaltem Wasser und bedeckte damit die Brust ihres Patienten.

Als Tahir erwachte, war der Schmerz wieder da. Nicht so verheerend wie zuvor, aber heftig genug, um ihn immer noch auf der Stelle festzunageln. Mühsam hob er die schmerzenden Lider und versuchte, sich zu orientieren. Es war nicht Nacht, aber auch nicht Tag … irgendwo dazwischen. Das Licht um ihn herum war seltsam grünlich gefiltert. Er spürte einen leisen Windhauch und atmete ganz tief den unnachahmlichen Geruch ein, der ihm zuwehte: das war Qusay …

Ein Schwall unkoordinierter Emotionen überflutete Tahir, und er spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. „Dann bin ich also nicht tot …“, konstatierte er rau.

„Nein, das sind Sie nicht.“

Tahir hielt den Atem an. Die Stimme einer Sirene, schoss es ihm ungewollt durch den Kopf. Dazu gedacht, einen Mann ins Verderben zu locken. Sie rief eine Empfindung in ihm wach, die er nicht einordnen konnte.

„Es scheint Sie aber nicht besonders zu freuen.“

Tahir zuckte die Schultern, bereute es aber sofort, weil ein stechender Schmerz durch seinen Körper fuhr. Was sollte ihn veranlassen, seine privaten Gefühle mit einer Fremden zu teilen? „Warum ist alles so grün? Wo sind wir?“, fragte er stattdessen und zog es weiterhin vor, die zur Stimme gehörige Person nicht anzuschauen, solange er noch nicht im Vollbesitz seiner Kräfte und seines Verstandes war. Er fühlte sich unsicher und irgendwie verloren. Ein Zustand, den er schon lange nicht mehr erlebt hatte und der ihm absolut nicht behagte.

„Wo sind wir hier?“, fragte er erneut, weil er keine Antwort bekam.

„Wir sind in der Darshoor Oase, im Herzen der Wüste von Qusay.“

Es dauerte eine Weile, bevor die Worte in sein gemartertes Hirn drangen, „In der Wüste …?“, echote er schwach.

„Richtig. Und der grüne Schein kommt daher, dass wir uns in meinem Zelt befinden.“

Ein Zelt in der Wüste. Das machte irgendwo wieder Sinn. Oder nicht? Tahir hob eine zitternde Hand an die Stirn. „Mein Vater …?“

„Ist nicht hier“, unterbrach sie ihn, ehe er seine Gedanken sortieren konnte. „Sie schienen es zu denken, aber ich halte es für eine Fieberfantasie. Es ging Ihnen sehr schlecht. Sie waren immer wieder ohne Bewusstsein, und dazwischen ziemlich verwirrt.“

Tahir krauste die Stirn, aber auch das verursachte ihm nur Pein. Nichts machte Sinn. Sein Vater lebte in der Stadt, wo er alles bei der Hand hatte, was er brauchte, um sich als ganzer Mann zu fühlen … korrupte Geschäftspartner, Spielcasinos und willige Frauen.

„Sie schienen zu glauben, dass man Sie geschlagen hat.“

Augenblicklich gefror sein Blut zu Eis. Niemals hätte er so etwas zugegeben! Nicht einmal gegenüber seinem besten Freund. Und schon gar nicht einer völlig Fremden.

Wer war diese Frau?

Mit unendlicher Mühe hob er erneut die schweren Lider, wandte den Kopf und versank in der warmen Tiefe eines dunklen Augenpaares, das ihn besorgt betrachtete. „Wer sind Sie?“

In kerzengerader Haltung stand sie neben seinem Lager. Das dunkle Haar war straff aus dem reizenden Gesicht frisiert, dem keine Spur von Make-up anhaftete. Statt Seide und Juwelen trug sie ein langärmliges weißes Leinenhemd und beige Safarihosen. Nicht gerade die Kleidung einheimischer Frauen, dennoch gehörte sie irgendwie hierher.

Aus seiner Position heraus erschienen ihm ihre schlanken Beine schier endlos zu sein. Der feste Baumwollstoff umschmeichelte ihre schmalen Hüften, in der Wespentaille wurde die Hose von einem schlichten Gürtel gehalten.

Als sei ihr seine Musterung unangenehm, ließ sie sich abrupt neben ihm auf dem Boden nieder und verschränkte defensiv die Arme vor der Brust. Ein warmer, blumiger Duft streifte Tahir und machte ihn so schwach, dass er wieder die Augen schloss. Als er sie das nächste Mal öffnete, war sie so dicht vor ihm, dass er sehen konnte, wie das Leinenhemd über ihren vollen Brüsten spannte.

Ein heißer Strahl fuhr durch seinen Körper, und nur mit äußerster Willenskraft konnte er ein Aufstöhnen unterdrücken. Oh nein, er war ganz bestimmt nicht tot!

„Mein Name ist Annalisa“, sagte die Erscheinung. „Annalisa Hansen.“ Sie machte eine Pause, als warte sie auf seine Reaktion. Als die ausblieb, sprach sie weiter: „Es ist bereits Tage her, dass Sie fast bewusstlos in mein Camp gestolpert sind.“

„Vor Tagen?“ Tahir versuchte, sich zu erinnern. Wie konnte er so viel Zeit verloren haben?

„Sie waren ziemlich schwer verletzt.“ Sie wies mit dem Kinn in Richtung seines Kopfes und der Brust. „Meine Theorie ist, dass sie auch vorher schon eine ganze Weile in der Wüste unterwegs gewesen sein müssen, weil sie völlig dehydriert waren und immer wieder das Bewusstsein verloren.“ Beim Reden hatte sie instinktiv eine Hand auf seine Stirn gelegt, wie sie es die ganzen letzten Tage getan hatte.

Tahir spürte, wie sein Herz heftig zu schlagen begann. Es fühlte sich kühl, vertraut und verdammt gut an! Als sie die Hand zurückzog, hätte er fast laut protestiert.

„Ihr kleiner Freund hat sich ziemliche Sorgen um Sie gemacht.“

„Freund? Welcher Freund?“, fuhr er misstrauisch auf und schaute sich suchend im Zelt um. Erst jetzt fiel ihm das kühle, sachliche Interieur auf. Die Stapel sorgsam zusammengefalteter Kleidung in einer Ecke, in einer anderen ein aufgeschlagenes Buch, mit dessen Blättern der sanfte Wüstenwind spielte, der, dank der festgezurrten Planen im Eingang, zu ihnen hereinwehte.

„Erinnern Sie sich nicht?“

„Nein.“ Gerade noch rechtzeitig ermahnte sich Tahir, aufs Kopfschütteln zu verzichten. „Ich erinnere mich an gar nichts.“ Und das stimmte leider.

Die fremde Schönheit schien das jedenfalls nicht zu beunruhigen. „Schon in Ordnung“, sagte sie mit einem Lächeln, das ihn traf wie ein warmer Sonnenstrahl. „Sie haben eine ziemlich hässliche Beule am Hinterkopf, die wahrscheinlich die Ursache dafür ist. Aber mit der Zeit wird die Erinnerung sicher zurückkehren.“

„Helfen Sie mir …“, bat er widerstrebend und versuchte, seiner aufsteigenden Unruhe Herr zu werden. Er sah ein Casino vor seinem inneren Auge. Einen Haufen Jetons … gierige Frauenhände, die sich auf ihn und seinen Gewinn legten. Dann erinnerte er sich plötzlich an eine Luxusjacht in einem überfüllten Hafen … an eine Party in einem Penthouse und an ein geschäftliches Meeting in einem nüchternen Konferenzsaal. Aber die dazugehörigen Gesichter blieben verschwommen, die Details unklar. „Was für ein kleiner Freund?“

Die Frau … Annalisa, erinnerte sich Tahir, lächelte erneut. Und wieder war es so, als gehe im Zelt die Sonne auf.

„Sie haben eine kleine Ziege getragen.“

„Eine Ziege?“ Was war das denn für ein Unsinn?

„Ja.“ Jetzt war ihr Lächeln eindeutig ein breites Grinsen. Die dunklen Augen tanzten vergnügt, als sie den Kopf auf die Seite legte und ihm zuzwinkerte. „Ein sehr junges Zicklein. Offensichtlich ist es ein Freund von Ihnen, denn Sie zeigten sich trotz Ihres eigenen kritischen Zustands sehr besorgt um das Tier. Inzwischen ist es ebenso über den Berg wie Sie, würde ich sagen“, stellte sie zufrieden fest. „Momentan hält es ein Nickerchen im Schatten des Zeltes.“

Eine Ziege? Sein Gedächtnis war leer … oder blockiert. Nicht der leiseste Hinweis! „Noch etwas in der Art?“, fragte er zurückhaltend.

Annalisa zuckte die Schultern, aber in ihren Augen flackerte etwas auf, das ihn alarmierte. Was war es? Kummer? Furcht?

„Nichts weiter“, behauptete sie. „Vielleicht können Sie mich ja zur Abwechslung mal aufklären. Zum Beispiel darüber, wer Sie sind, wo Sie herkommen und wo Sie hinwollen.“

„Mein Name ist Tahir …“, murmelte er tonlos.

Annalisa nickte aufmunternd. „Ja, und weiter?“

Tahir spürte, wie sich sein Magen hob. Er hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Ein Kaleidoskop wirrer Farben und Formen versperrte ihm sekundenlang den Blick auf sein Umfeld, dann schien alles in unerreichbare Ferne zurückzuweichen.

„Ich befürchte, mehr kann ich Ihnen nicht über mich sagen“, brachte er heiser hervor und zwang ein Lächeln auf seine Lippen, das sich ganz fremd anfühlte. „Ich befürchte, ich habe mein Gedächtnis verloren …“

3. KAPITEL

Für einen Mann, der sich nur noch an seinen Vornamen erinnerte, reagierte Tahir überraschend cool.

Annalisa hatte den Schock in seinen Augen gesehen, aber auch, wie er ihn nur Sekundenbruchteile später hinter einer gleichmütigen Maske verbarg. Heißes Mitleid und tiefe Sympathie flammten in ihr auf, doch sie kämpfte beides gleich nieder, davon überzeugt, er würde es ohnehin ablehnen.

Obwohl sie Qusay noch nie verlassen hatte, war Annalisa mit ihren fünfundzwanzig Jahren kein bisschen weltfremd. Als Assistentin ihres Vaters musste sie ständig mit ansehen, wie stark das Leben von Menschen durch unvorhersehbare Unfälle oder angeborene Behinderungen beeinflusst und geprägt werden konnte. Und wie sich Schmerz und Angst auch auf extrem starke Charaktere auswirkten.

Dieser ungewöhnliche Mann brachte es allerdings fertig, ihr trotz Wundtrauma und temporärer Amnesie eine Fassade gelassener Indifferenz zu präsentieren. So, als wäre er einer der brillanten Wissenschaftler, mit denen ihr Vater Zeit seines Lebens befreundet gewesen war und sich in ihrer Gesellschaft regelmäßig bei einer Tasse süßen Tees in endlosen Fachdiskussionen verlor.

Doch keiner dieser Freunde hatte ausgesehen wie Tahir! Oder in ihr dieses seltsame Kribbeln hervorgerufen, wie es ein einziger Blick von ihm vermochte.

Es war Jahre her, dass sie bei Toby, dem Mann, den sie hatte heiraten wollen, etwas Ähnliches empfunden hatte. Aber längst nicht so stark, so intensiv und aufregend! Es war etwas an Tahir, das sie im tiefsten Innern berührte. Mehr als sein unleugbar gutes Aussehen, das weltmännische Flair, das ihn umgab oder die teure Kleidung. Etwas, das ihn von allen Männern unterschied, die sie kannte.

Sie fühlte sich von seiner inneren Stärke angezogen und angerührt von der leisen Selbstironie und dem zu erahnenden Humor in seinen ungewöhnlichen blauen Augen, die er trotz Schmerz und Verwirrung nicht zu unterdrücken vermochte.

Er kommt aus einer anderen Welt, mahnte eine kleine Stimme in ihrem Hinterkopf. Aus einer, in die du auf keinen Fall hineingehörst …

Annalisa spürte, wie ein kühler Hauch sie streifte, aber der kam nicht von außen. Ihr Leben lang hatte sie nirgendwo wirklich hingehört. Sie war in Qusay geboren und gleichzeitig zwischen zwei Welten. Und in keine von beiden passte sie hinein. Solange ihr Vater lebte, gehörte sie als seine Tochter, Assistentin und Vertraute in seine Welt. Doch er war gegangen und hatte sie wurzellos zurückgelassen.

„Was ist mit Ihnen?“ Tahirs tiefe Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Alles in Ordnung?“

Unwillkürlich musste Annalisa lächeln. Da lag er lang hingestreckt auf seinem Krankenlager und fragte sie, ob alles in Ordnung sei mit ihr. Beruhigend berührte sie seinen Arm und spürte, wie sich seine Muskeln unter dem dünnen Gewebe anspannten. Es war, als würde sie einen elektrischen Schlag bekommen. Irritiert zog sie ihre Finger zurück und wich seinem fragenden Blick aus.

„Alles bestens. Ihre bruchstückhafte Erinnerung ist eine normale Reaktion auf den Schlag, den ihr armer Kopf abbekommen hat“, lenkte sie ihn geschickt von sich ab. „Sie wird bald wiederkommen.“

„Es hört sich so an, als verfügten Sie über medizinische Kenntnisse“, tastete sich Tahir weiter vor.

„Mein Vater war Arzt, der einzige in dieser Region. Und ich habe ihm seit Jahren assistiert.“ Sie wandte sich ab, bestürzt über die Heftigkeit, mit der bewegende und schmerzhafte Erinnerungen ungefiltert auf sie einstürzten. „Ich habe zwar keine Qualifikation im medizinischen Bereich, aber um Wunden zu verbinden oder Fieber zu senken, dazu reicht es“, erklärte sie spröde.

„Warum schwant mir bloß, dass Sie viel mehr für mich getan haben?“, murmelte Tahir mit einem Anflug von Humor.

Damit brachte er, ganz sicher unbeabsichtigt, eine ganz bestimmte Saite in ihrem Innern zum Klingen. Hatte sie sich nicht ihr Leben lang gewünscht, auf dieser Ebene mit einer verwandten Seele kommunizieren zu können?

„Sie haben mir das Leben gerettet, nicht wahr, Annalisa?“ Diesmal klang seine Stimme warm und ganz ernst.

Ihren Namen aus seinem Mund zu hören, ließ sie sanft erschauern. Um ihre Unsicherheit zu verbergen, schnitt sie eine kleine Grimasse und hob achtlos die Schultern. „Keine Angst, Sie werden schneller wieder auf den Beinen sein, als Sie denken. Alles, was Sie brauchen, ist Ruhe. Versuchen Sie, sich keine Sorgen zu machen und nichts zu erzwingen.“ Es reichte schon, wenn sie sich Sorgen um ihn machte, doch das sprach sie nicht laut aus.

Annalisa konnte es ohnehin kaum fassen, dass sie hier und heute vernünftig miteinander redeten, nachdem Tahir noch vor ein paar Tagen von einer Ohnmacht in die andere gefallen war.

„Ich würde gern ihre Reflexe und körperlichen Reaktionen testen“, kündigte sie sachlich an und kniete sich neben der Pritsche auf den Boden. „Können Sie Ihre Füße bewegen?“ Sie beobachtete, wie er zunächst die Gelenke rotieren ließ, dann bedächtig einen Fuß nach dem anderen von der Segeltuchunterlage anhob.

„Ausgezeichnet. Jetzt halte ich Ihre Füße fest, und wenn ich es Ihnen sage, treten Sie gegen meine Hände, okay?“

„Okay.“

Mit einem ebenso behutsamen wie geschickten Griff hob sie seine nackten Füße an und lagerte sie auf ihren Oberschenkeln. Dann stemmte sie ihre Handinnenflächen gegen seine Hacken. Der ungewohnte Kontakt mit seiner warmen Haut irritierte sie. Annalisa blinzelte verwirrt und versuchte, sich zu konzentrieren. Doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Die braun gebrannten …

„Annalisa?“

„Jetzt versuchen Sie, zuzutreten.“ Augenblicklich spürte sie den Druck in ihren Handflächen. „Bestens!“ Sie war ehrlich erleichtert und schaute lächelnd auf. „Sehr gut“, lobte sie ihren Patienten, legte seine Füße sorgfältig ab und rutschte etwas höher und dichter an ihn heran, damit er sich nicht zu sehr anstrengen musste. „Und jetzt nehmen Sie meine Hände“, befahl sie knapp, um einen professionellen Ton bemüht. Doch angesichts des intensiven Blickes aus seinen unglaublich blauen Augen fiel es ihr enorm schwer.

Es waren schlanke Hände, von Kratzern und Schürfwunden verunziert aber wohlgeformt und vertrauenswürdig. Woran will ich das denn gesehen haben? fragte sich Annalisa errötend und beeilte sich, ihre Hände so zu halten, dass er sie leicht umfassen konnte.

„Und jetzt bemühen Sie sich, zuzudrücken.“

Der Druck war auf beiden Seiten gleich stark, was ein gutes Zeichen war. Erleichtert wollte sie ihre Finger aus seinen lösen, doch das ließ Tahir nicht zu. Ihr Herz machte einen aufgeregten kleinen Hüpfer, als sich ihre Blicke trafen.

„Was versuchen Sie eigentlich herauszufinden?“, fragte Tahir heiser, doch diesmal gefiel ihr der Unterton in seiner Stimme gar nicht. Abrupt zog Annalisa ihre Hände zurück und erhob sich.

„Ich wollte nur sichergehen, dass Ihre Reflexe normal sind, und die Verletzungen keine gravierenden körperlichen Einschränkungen verursacht haben“, erläuterte sie betont sachlich. „Das sind sie, also gehe ich davon aus, dass Sie bald wieder …“

„Gut“, unterbrach er sie unhöflich. „Ich verspüre nämlich ein geradezu brennendes Verlangen, ein Bad zu nehmen. Wir sind hier in einer Oase, sagten Sie?“

„Ja, aber …“

„Dann ist Wasser ja kein Problem. Es müsste mir nur jemand aus Ihrer Truppe auf die Beine helfen.“

Verblüfft starrte sie ihn an. „Hier gibt es nur mich.“

„Was soll das heißen?“, fragte er überrascht. „Reisen Sie etwa allein?“

Sie nickte, und Tahir lachte leise. „Sie sind eine bemerkenswerte Frau, Annalisa!“

Endlich hörte sie wieder den humorvollen Ton in seiner Stimme mitschwingen, den sie eben vermisst hatte.

„Machen Sie das öfter? Mutterseelenallein mitten in der Wüste zu campen?“

Jetzt schüttelte sie den Kopf. „Es … es ist das erste Mal, dass ich allein hier draußen bin …“ Als sie heiße Tränen unter den Lidern spürte, wandte sie sich schnell ab. Fast genau auf den Tag vor sechs Monaten war ihr Vater gestorben. Vielleicht drohte ihre Trauer sie deshalb jedes Mal zu überwältigen, sobald sie daran dachte. Schließlich war sie hierhergekommen, um sich an diesem speziellen Tag ihrem Vater besonders nah zu fühlen.

„Wenn Sie auch nur ahnten, wie viel Sand ich geschluckt habe, würden Sie mir diese Bitte nicht verweigern“, sagte Tahir gedehnt.

Annalisa warf ihm einen scharfen Blick zu. Obwohl sie ihm dankbar für den Themenwechsel war, schien sich hier eine neue Hürde anzubahnen, von der sie sich nicht sicher war, sie nehmen zu können oder zu wollen. Als sie das Zwinkern in seinen Augen sah, musste sie unwillkürlich lächeln. Hatte er ihre Bedrängnis erkannt und wollte sie jetzt nur ablenken, oder erwartete er tatsächlich von ihr …

Tahir schalt sich selbst einen Idioten, als er endlich im Naturpool der Oase saß und das kühle Wasser über seinen geschundenen Körper rinnen ließ. Er hatte geahnt, dass es eine Schnapsidee war, unbedingt aufstehen zu wollen, und bereits reichlich dafür büßen müssen. Doch sich länger als hilfloser Invalide zu fühlen, kam für ihn noch weniger infrage.

Schlimm genug, dass sein Hirn seine normalen Funktionen verweigerte. Dazu kam die Angst, sich bleibende körperliche Behinderungen zugezogen zu haben. Eine Option, mit der er sich niemals abfinden würde.

Und dann war da noch die Erinnerung an den Schmerz und die Trauer in Annalisas warmen braunen Augen, bevor sie seinem forschenden Blick auswich. Trotz der zupackenden, energischen Art, die sie ihm gegenüber an den Tag legte, spürte er hinter all ihrer Stärke und Tapferkeit eine Verletzlichkeit, die einen, ihm unbekannten Beschützerinstinkt in ihm wachrief.

Allein deshalb musste er seine physische Schwäche unbedingt überwinden! Doch als er versuchte, aus eigener Kraft aufzustehen, hätte er vor Schmerz und Anstrengung fast wieder das Bewusstsein verloren, alter Narr, der er war!

Nur mit Annalisas tatkräftiger Unterstützung war es ihm schließlich gelungen, die wenigen Meter bis zum Wasser zurückzulegen. Jetzt saß er, nackt, bis auf seidene Boxershorts, hüfttief im erfrischenden Nass und überlegte, wie er jemals die Kraft aufbringen sollte, ins Zelt zurückzukehren …

Es war eine Tortur der ganz besonderen Art gewesen, ihr zu erlauben, ihm beim Ausziehen zu helfen. Ihr Anblick, als sie vor ihm kniete, mit ihren zarten Händen seine Hose öffnete und über die Schenkel herunterzog, hatte Emotionen in ihm geweckt, die einem Invaliden nicht zustanden. Dann watete sie, ihren Arm um seine nackte Hüfte geschlungen, seinen auf ihrer Schulter mit der anderen Hand fixierend, mit ihm ins Wasser und half ihm, sich hinzusetzen. Freundlich und professionell.

Und alles, woran er denken konnte, war, dass seine Fingerspitzen nur wenige Zentimeter von ihren prallen, runden Brüsten entfernt gewesen waren, die sich unter der dünnen Baumwollbluse, die sie heute trug, herausfordernd abzeichneten! Nachträglich konnte er nur dankbar dafür sein, dass sie seine Hand so fest umklammert hatte.

Wer weiß, was sonst passiert wäre?

Alter Narr! schalt er sich nicht zum ersten Mal. Schwach wie ein Baby, aber schon wieder im alten Fahrwasser!

Dass sein Mund plötzlich ganz trocken war, hatte nichts mit der Wüstenhitze zu tun, die ihn von allen Seiten einhüllte. Anstatt eine Fremde anzuschmachten, wie ein pubertierender Jüngling, sollte er sich lieber darauf konzentrieren, wer er wirklich war. Wo er herkam, und warum das Schicksal ihm diesen bitteren Streich gespielt hatte. Doch trotz intensiver Bemühungen, sein eingefrorenes Gehirn wiederzubeleben, drifteten seine Gedanken erneut zu Annalisa zurück.

Wenn er leicht den Kopf wandte, konnte er sie am Ufer sitzen und die kleine Ziege mit den unglaublich dünnen Beinen streicheln und liebkosen sehen.

Eine Ziege!

Tahir wollte verdammt sein, wenn er sich erinnern konnte, jemals auf eine Ziege eifersüchtig gewesen zu sein! Und noch ein anderer Gedanke beschäftigte ihn. Hatte er sich jemals so schnell und heftig durch die bloße Gegenwart anderer Frauen erregt gefühlt, wie es ihm gerade mit Annalisa Hansen erging …?

Das Bad im Wadi war ein Riesenfehler gewesen!

Annalisa biss sich nervös auf die Unterlippe, während sich Tahir im Schlaf von einer Seite auf die andere warf, jedes Mal schmerzlich das Gesicht verzog und wirr vor sich hinmurmelte. In den letzten Stunden war er zunehmend unleidlicher und sperriger geworden, sodass sie sich ernsthafte Sorgen um ihn machte. Deshalb hatte sie auch ihren Platz am Teleskop mit dem neben seinem Bett getauscht.

Tahir rollte sich auf die Seite, einen Arm weit von sich gestreckt. Dabei verrutschte die Zudecke und bot seine entblößte Brust der kühlen Nachtluft dar. Annalisa versuchte, nicht daran zu denken, dass er unter dem Laken völlig nackt war. Tahir hatte es kaum vom Wasser zurückgeschafft, war auf dem behelfsmäßigen Bett quasi zusammengebrochen und hatte sich seiner Boxershorts entledigt, ohne ihre Anwesenheit überhaupt wahrzunehmen.