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1001 SINNLICHE TAGE UND NÄCHTE? Den Palast von Scheich Kahlil im fernen Abadan neu gestalten – für Lucy wird ein Traum wahr. Doch als sie dem attraktiven Herrscher vorgestellt wird, traut sie ihren Augen nicht: Sie kennt ihn bereits! Und sie weiß, er könnte ihr das Liebste nehmen, was sie hat … 1001 NACHT – UND DIE LIEBE ERWACHT Scheich Ra’id traut seinen Augen kaum: Von Piraten überfallen, kommt eine bildschöne Frau an Bord seiner Motorjacht! Sofort weckt die temperamentvolle Antonia heißes Verlangen in Ra’id, und ihm wird klar, dass er sie haben muss! Doch ihre Liebesnacht bleibt nicht ohne Folgen … VERFÜHRT IN ALLER UNSCHULD? Der Sandsturm lässt ihr keine Wahl: Zara ist mit Scheich Shahin in seinem Zelt gefangen. Bezaubert von seinem orientalischen Feuer gibt sie sich ihm hin – und weiß nicht, dass sie sich gerade an den Mann schmiegt, den sie seit Langem sucht, um sich an ihm zu rächen!
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Seitenzahl: 561
Susan Stephens
JULIA BEST OF BAND 253
IMPRESSUM
JULIA BEST OF erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Neuauflage in der Reihe JULIA BEST OF, Band 253 06/2022
© 2005 by Susan Stephens Originaltitel: „The Sheikh’s Captive Bride“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Christiane Kuhrt Deutsche Erstausgabe 2006 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe ROMANA, Band 1617
© 2010 by Susan Stephens Originaltitel: „Master Of The Desert“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Trixi de Vries Deutsche Erstausgabe 2011 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 1962
© 2006 by Susan Stephens Originaltitel: „Bedded By The Desert King“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Helga Meckes-Sayeban Deutsche Erstausgabe 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe JULIA EXTRA, Band 271
Abbildungen: Harlequin Books S.A., Getty Images / VUSLimited, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 06/2022 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751511698
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Der königliche Ratssaal im Goldenen Palast von Abadan, in den Scheich Kahlil ben Saeed Al-Sharif seinen Rat zu einer Besprechung einberufen hatte, erstrahlte in hellem Licht.
„Eure Hoheit …“
Fragend richtete Kahlil seinen Blick auf Abdul Hassan, den treuesten seiner Berater.
„Haben Sie eine Entscheidung getroffen, was Ihren neuen Palast betrifft, Eure Hoheit?“
Bei dieser Frage leuchteten die Augen aller um den Tisch Versammelten erwartungsvoll auf. Denn selbst innerhalb dieser unermesslich reichen Gruppe herrschte starke Rivalität, und jeder Anwesende wünschte sich die Verantwortung für den Auftrag, der mit einem enorm hohen Prestigewert verbunden war. Aber seine Entscheidung würde alle enttäuschen.
„Ich werde meinen neuen Palast nicht in Abadan errichten.“ Kahlil wartete, bis sich das Raunen gelegt hatte. „Ich habe mich für einen Ort in Europa entschieden … und eine angemessene Residenz.“ In Gedanken schweifte er zu der kleinen englischen Ortschaft Westbury und dem dortigen Herrenhaus, das er erwerben wollte. Allerdings gab es noch ein Problem – ein kleines zwar, aber dennoch ein Problem, das mit dem Namen Lucy Benson verbunden war.
In den Unterlagen über Westbury hatte das Foto einer jungen Frau in einer Lokalzeitung seine Aufmerksamkeit erregt. Laut Bildunterschrift handelte es sich um Lucy Benson, Innenarchitektin und seit jüngstem auch Immobilienentwicklerin. Vor allem aber hatte sie Westbury Hall gekauft – also sein Herrenhaus.
Zum wiederholten Mal musste Kahlil an das Bild der jungen Frau denken: Langes goldblondes Haar umschmeichelte in weichen Wellen ein zartes, herzförmiges Gesicht, das schlichte Sommerkleid, das sie auf dem Foto trug, schmiegte sich eng an die verführerischen Rundungen ihrer perfekten Figur. Ihre vollen und sinnlich roten Lippen luden geradezu dazu ein, sie leidenschaftlich zu küssen. Wenn er sich vorstellte, wie Lucy Benson nackt in seinen Armen lag, musste er seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, um sein Verlangen nach einer völlig Unbekannten zu unterdrücken.
Doch die Kamera hatte mehr als das Abbild einer begehrenswerten Frau eingefangen. Neben ihrer Schönheit verrieten die Haltung ihres Kopfes und der Blick aus den tiefblauen Augen Eigenwillen und Zielstrebigkeit. Als Sohn eines Scheichs besaß Kahlil alles, was man mit Geld kaufen konnte, und als Nachfahre eines Kriegervolkes lag ihm die Herausforderung im Blut. Umso mehr, da Lucy Benson ihm sicher mutig die Stirn bieten würde. Er konnte es kaum erwarten, sie sich gefügig zu machen. Was für ein viel versprechender zusätzlicher Reiz neben dem Vergnügen, ihr Westbury Hall zu entwinden!
„Westbury hat eine ausgezeichnete Lage“, fuhr er an den Rat gewandt fort. „Es liegt am Meer, sodass wir es mit der Jacht erreichen können, und nur eine kurze Autofahrt von einem Flughafen entfernt, auf dem unser Jet landen kann. Dort einen Wohnsitz zu errichten wird ein absolutes Novum sein.“
Dieses Argument verstand jeder, und sofort löste sich die Anspannung. Denn für Männer, die schon alles besaßen, war einzig und allein das Unbekannte, Exotische und Neue von großem Wert.
„Westbury ist eine sehr gute Wahl, Eure Majestät“, sprach Abdul Hassan für den gesamten Rat, und Kahlil nickte gnädig.
„Das Dorf floriert und besitzt Charakter“, ergänzte Abdul Hassan, „wobei es auf einigen Gebieten noch gewisser Verbesserungen bedarf.“
„Auf anderen wieder nicht“, murmelte Kahlil und dachte an Lucy Benson.
„Ganz recht, Eure Majestät“, pflichtete Abdul Hassan ihm respektvoll bei. „Wie können wir Ihnen in dieser Sache weiter zu Diensten sein?“
„Bereiten Sie alles für einen Besuch in Westbury vor“, wies Kahlil an. „Ich werde mir persönlich vor Ort ein Bild von dem Projekt machen.“
Endlich allein. Mit einem tiefen Seufzer verschränkte Lucy Benson die Hände hinter dem Kopf und blickte zur Decke. Schrecklich genug, dass sie Westbury Hall verlor, aber noch schlimmer war, sich ihren Gläubigern stellen zu müssen. Ihre Pläne, das prachtvolle alte Haus, in dem sie aufgewachsen war, instand zu setzen, hatten sich wegen einer vergleichsweise geringfügigen zusätzlichen Summe zerschlagen. Nachdem die Baufirma einige bauliche Mängel entdeckt hatte, hatten die Banken urplötzlich einen Rückzieher gemacht.
Natürlich war es ein kühner Aufstieg gewesen von der Tochter der Haushälterin in Westbury Hall zur Eigentümerin und Immobilienentwicklerin. Doch einige Monate hatte es so ausgesehen, als wäre es durchaus machbar gewesen. Alles hatte sie riskiert, um das Herrenhaus wieder in seinem früheren Glanz erstrahlen zu lassen, als Tribut an die liebenswerte alte Dame, die dort gelebt hatte. Doch ich habe auch Tante Grace enttäuscht, dachte Lucy, während sie sich ein letztes Mal umblickte. Und diese Tatsache schmerzte sie am meisten.
Energisch kämpfte sie gegen die Tränen. Wie konnte sie weinen, wenn die Sonne strahlend hell durch die Buntglaskuppel in die Eingangshalle fiel? Ein grau verhangener Himmel und Regen hätten eher zu ihrer Stimmung gepasst.
„Verzeihen Sie …“
Erschrocken fuhr Lucy herum. Sie hatte geglaubt, allein zu sein. Im Halbschatten des Eingangs stand ein Mann. Groß und dunkelhaarig war er, wie die meisten ihrer Gläubiger, zwanglos gekleidet. Kein Anlass, sich herauszuputzen, dachte sie ironisch.
„Ich wollte Sie nicht erschrecken“, sagte er mit leicht fremdländischem Akzent.
Doch Lucy war sich da nicht so sicher. Etwas an seiner Haltung ließ vermuten, dass er es gewohnt war, sein imposantes Erscheinungsbild zu seinem Vorteil einzusetzen.
„Ich dachte, alle wären bereits gegangen“, erwiderte sie kühl.
„Bin ich zu spät?“
„Nein, natürlich nicht. Kommen Sie herein, und ich werde Ihnen sagen, was ich den anderen gesagt habe.“
„Den anderen?“
„Gläubigern“, ergänzte Lucy, durchquerte die in schwarz-weißem Marmor geflieste Eingangshalle und öffnete die Tür zu ihrem improvisierten Besprechungszimmer. „Kommen Sie, nehmen Sie Platz.“ Mit einem ernsten Gesichtsausdruck reichte sie dem Mann, der ihr in den Raum gefolgt war, die Hand. „Lucy Benson.“
„Kal“, erwiderte er die förmliche Begrüßung. Als er ihre Hand ergriff, durchzuckte es Lucy wie bei einem elektrischen Schlag.
Hastig zog sie sie zurück. „Möchten Sie sich nicht setzen?“ Dabei deutete sie auf einen der Stühle, die um einen Tapeziertisch gruppiert standen. Wenn erst der Tisch zwischen ihnen stehen würde, würde sie sich sicherer fühlen.
„Nach Ihnen.“ Aufmerksam rückte er ihr einen Stuhl zurecht.
Verunsichert und misstrauisch nahm Lucy Platz. Bisher hatten die Gläubiger keinerlei Zugeständnisse an die Tatsache gemacht, dass sie eine Frau war, und sie nicht mit ihrer Wut verschont. Dafür hatte Lucy Verständnis, und damit konnte sie auch umgehen. Doch dieser Mann war zu ruhig, und das machte ihr mehr Angst als das Toben der anderen. Außerdem strahlte er neben seiner arroganten Gelassenheit so viel Sex-Appeal aus, dass es ihr den Atem verschlug. Dunkle Augen glühten in einem scharf geschnittenen, markanten Gesicht. Unwillkürlich weckte sein Gesicht in Lucy Assoziationen an einen Krieger, an einen Mann der Tat. Gleichzeitig hatte er etwas an sich, was sie automatisch mit immensem Reichtum verband. Sein leichter Akzent war schwer zu bestimmen. Türkisch? Arabisch? Spanisch? Wer war er? Abgesehen von der Tatsache, dass er vermutlich der am besten aussehende Mann war, der ihr je begegnet war.
Lautlos wie eine Raubkatze nahm er ihr gegenüber Platz. Seinem Aussehen nach schätzte Lucy ihn auf etwa Mitte dreißig. Dunkles Haar, dunkle Augen, dunkler Teint … und sehr exklusiv gekleidet. Wie für Architektur hatte Lucy auch ein sehr gutes Auge für Mode, und seine Jeans waren ebenso von ausgesuchter Qualität wie der schlichte schwarze Pullover, den er trug.
Sie zwang sich, seinem forschenden Blick standzuhalten. Neben der überraschend sinnlichen Wirkung seines Mundes registrierte sie auch einen harten und unerbittlichen Zug um die Mundwinkel. Vermutlich würde dieser Mann nicht so leicht wie die anderen Gläubiger zu überzeugen sein, dass sie ihre Schulden zurückzahlen würde. Bei aller Zwanglosigkeit konnte seine Kleidung nicht verbergen, wie breitschultrig und athletisch er gebaut war. Mit gesenktem Blick betrachtete Lucy seine Hände. Auch sie wirkten kraftvoll, allerdings nicht so, als würde er seinen Lebensunterhalt damit verdienen. Als er sie nun hinter dem Kopf verschränkte, fiel ihr Blick unwillkürlich auf seinen flachen Bauch.
Schluss damit! Er war ein Gläubiger wie all die anderen. Und sie war es ihm schuldig, die Situation offen darzulegen. „Nun, Mr …?“
„Kal. Nennen Sie mich einfach Kal“, unterbrach er sie.
Bei der Form seiner schwarzen Brauen über den dunklen Mandelaugen musste Lucy unwillkürlich an einen Tartaren denken. Ob er aus der russischen Steppe stammte und reiten konnte wie die Tartaren? Als sie sich vorstellte, wie er mit seinen kraftvollen Schenkeln einen wilden Hengst umfing – oder eine Frau –, lief Lucy ein heißer Schauer über den Rücken.
„Sie haben mir ein Angebot zu machen?“
Lucy errötete, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Ich beabsichtige, alle voll auszuzahlen“, antwortete sie rasch. „Alles, was ich Ihnen schulde, werde ich Ihnen zurückzahlen“, wiederholte sie, als er sie nur unbewegt ansah. „Finden Sie das eigentlich komisch?“
„Ganz und gar nicht“, wehrte er ab und bedeutete ihr mit einer Geste fortzufahren.
Auch wenn sein überhebliches Verhalten sie ärgerte, war es für sie eine Ehrensache, auch diesem Mann gegenüber ihren Verpflichtungen nachzukommen. Erneut schweifte ihr Blick über seine markanten Züge. Er war einfach so überwältigend männlich, dass all ihre weiblichen Instinkte Amok liefen. Aber sie war entschlossen, diesen ungebetenen Gefühlen zu widerstehen.
„Sie gehören vermutlich zu den Architekten?“, riet sie, weil er in diese Gläubigergruppe am besten zu passen schien.
„Also sind Ihre beeindruckenden Pläne für Westbury Hall gescheitert?“, antwortete er mit einer Gegenfrage, ohne auf ihre Annahme einzugehen.
Wie wundervoll tief und schmeichelnd seine Stimme klang … und mit dem leichten Akzent irgendwie aufregend exotisch. Um Himmels willen, sie musste sich zusammenreißen! Allein der Ausdruck in seinen Augen sollte sie warnen, sich besser im Griff zu haben.
„Es tut mir leid, aber ich war gezwungen, alle Verträge zu stornieren“, räumte sie unverblümt ein und klappte ihren Aktenkoffer auf, um nach seinen Papieren zu suchen. „Ihren Vertrag müsste ich eigentlich auch hier haben …“
„Das bezweifle ich.“
„Ich habe einen genauen Entschädigungsplan erstellt …“ Da sie den fraglichen Vertrag nicht fand, reichte sie ihm eine Kopie des Plans. „Werfen Sie einen Blick hierauf. Dann können Sie nachlesen, wie ich alle Beteiligten für die bereits geleisteten Dienste entlohnen werde. Sie können die Kopie behalten.“
„Ich werde sie mir später ansehen“, antwortete er, faltete die Blätter zusammen und stand halb auf, um sie in die Gesäßtasche seiner Jeans zu stecken.
Unwillkürlich folgte Lucys Blick seinen Bewegungen, und sie errötete, als er aufsah und sie dabei ertappte, wie sie ihn anstarrte. „Es tut mir leid. Mehr kann ich Ihnen leider nicht anbieten.“
Mit einem leichten Schulterzucken setzte er sich wieder.
„Das wäre dann alles“, meinte sie, als er keine Anstalten machte, sich zu verabschieden. Erwartete er etwa noch mehr? Ihr Herz klopfte aufgeregt. „Hatten Sie eine weite Anreise?“, fragte sie, um Höflichkeit bemüht und weil sie nicht wusste, wie sie mit diesem Mann umgehen sollte.
„Etwa einen halben Tag.“
„Einen halben Tag! Das tut mir wirklich leid“, antwortete sie aufrichtig. „Kann ich Ihnen einen Drink anbieten?“
„Es ist fast Mittagszeit.“
„Natürlich. Sollen wir vielleicht irgendwo ein Sandwich essen gehen?“
„Der Dorfpub ist wegen Renovierungsarbeiten geschlossen.“
Zu dumm! Das hatte sie vergessen. Dafür entging ihm anscheinend nichts.
„Ich bin hungrig“, räumte er ehrlich ein und lehnte sich zurück, ohne sie dabei aus den Augen zu lassen.
Dermaßen in die Enge getrieben, entschied Lucy sich zu etwas, was vermutlich völlig verrückt war. „Warum kommen Sie nicht mit zu mir? Dann mache ich uns ein Sandwich.“
Ohne ein weiteres Wort stand er sofort auf, kam um den Tisch und rückte Lucy den Stuhl zurück, als sie sich erhob.
Zweifellos war sie völlig verrückt.
Um nicht gegen die Deckenbalken zu stoßen, zog Kal den Kopf ein, als er Lucy in die niedrige Bauernküche folgte.
„Der Bauer muss viel kleiner gewesen sein als Sie“, versuchte Lucy scherzend ihre Nervosität zu überspielen.
„Sieht ganz so aus.“
Während sie übertrieben gründlich den Inhalt ihres Kühlschranks inspizierte, spürte Lucy seinen Blick. „Käse? Gurken?“
„Was immer Sie dahaben“, antwortete er.
„Bier oder Kaffee?“
„Kaffee wäre schön – oder einfach Wasser.“
Wasser. Natürlich. Immerhin war es ziemlich heiß für Anfang Mai. Doch dass die Luft zu knistern schien, lag wohl eher an der erotischen Ausstrahlung des exotischen Fremden.
„Sie sollten sich lieber setzen“, schlug Lucy vor und drehte sich zu ihm um, „sonst verletzen Sie sich noch den Kopf.“
„Danke.“ Er setzte sich auf die Bank am Küchentisch.
Schlagartig wurde Lucy bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, wer dieser Mann war. Trotzdem hatte sie ihn in ihr Haus eingeladen! So etwas hatte sie noch nie getan. Aber es geschah auch nicht jeden Tag, dass all ihre Träume zerbrachen. Kein Wunder, dass sie aufgewühlt und völlig durcheinander war.
„Wollen Sie nichts essen und trinken?“, fragte er sie.
„Ich bin nicht hungrig“, erwiderte sie und reichte ihm einen Teller. „Hören Sie, ich möchte nicht unhöflich sein, aber welche Firma repräsentieren Sie eigentlich?“
„Warum setzen Sie sich nicht auch?“, schlug er freundlich vor.
„Also?“ So weit wie möglich von ihm entfernt, nahm sie auf einem Hocker an der Frühstücksbar Platz. „Für welche Firma sagten Sie, arbeiten Sie?“
„Ich habe gar nichts gesagt.“ Kal lehnte sich zurück und sah sie offen an. „Laden Sie oft Männer zu sich nach Hause ein, die Sie gar nicht kennen?“
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet.“
„Und Sie meine nicht“, entgegnete er unbeirrt.
„Nein, nicht oft … ich meine, eigentlich nie.“ Wollte sie sich etwa vor ihm rechtfertigen?
„Das ist gefährlich.“
„Ich kann Ihnen versichern, dass es nicht meinen Gewohnheiten entspricht, aber …“
„Aber?“ Eindringlich sah er sie an.
„Heute ist eine Ausnahme.“
Damit gab er sich zunächst zufrieden. „Sie möchten wissen, für welche Firma ich arbeite?“
„Ja.“ Er hatte recht: Es war gefährlich. Schließlich wusste sie überhaupt nichts von ihm.
„Ich arbeite für mich selbst.“
„Verstehe.“
„Das bezweifle ich.“
Mehr und mehr machte seine Selbstsicherheit sie nervös. Fast schien es, als hätte er das alles geplant.
„Ich mache Ihnen einen Kaffee. Zucker? Milch?“
Höflich lehnte er beides ab. Mit vor Aufregung leicht zitternden Fingern kochte Lucy Kaffee, goss ihn in zwei Becher und reichte Kal einen davon. Als sich ihre Finger dabei zufällig berührten, zuckte sie wie elektrisiert zurück.
„Haben Sie sich verbrannt?“, fragte er besorgt.
„Nein, nein, alles in Ordnung.“
„Setzen Sie sich.“ Er wies auf den Stuhl ihm gegenüber.
Stumm folgte sie seiner Aufforderung. Aber der Küchentisch war schmal, und Kals Beine waren lang. Unter dem Tisch stießen ihre Beine gegeneinander und verhedderten sich sogar ineinander. Doch als Lucy panisch versuchte, ihre Füße zurückzuziehen, umschloss Kal ihre Beine mit seinen und hielt sie fest.
Sofort pochte ihr Herz schneller, und sie wagte kaum zu atmen. Mit großen Augen blickte sie ihn an und fühlte sich für einen Moment versucht, ihn zurückzustoßen und mit beiden Fäusten gegen seine starke Brust zu schlagen. Bereits nach einigen Sekunden verflüchtigte sich dieser Wunsch wieder, die Berührung war einfach zu erregend. Wehrlos und verloren fühlte sie sich seiner berauschenden Anziehungskraft ausgesetzt.
„Fühlen Sie sich immer noch sicher?“, fragte er leise.
„Ja“, schwindelte sie nach einem tiefen Einatmen. Gleichzeitig war sie sich aber tatsächlich sicher, dass er sie nicht überwältigen würde – zumindest nicht, solange sie es nicht wollte. Glühend heiß schoss ihr das Blut in die Wangen.
Wohingegen Kals Miene unergründlich war. Offensichtlich wartete er auf etwas. Vielleicht darauf, dass sie den ersten Schritt tat? Ohne Frage war er eine unwiderstehliche Versuchung – serviert auf einem Silbertablett. Sündhaft attraktiv und mit dem gewissen Etwas, das ihr verriet, dass er genau wusste, wie man eine Frau glücklich machte. Aber es war der Ausdruck in seinen dunklen Augen, der die Sache entschied. In seinem Blick lag das Versprechen, dass sie in seinen Armen alles andere vergessen würde. Für ein paar Stunden könnte sie ihren Kummer und ihre Enttäuschung vergessen. Warum eigentlich nicht? Schließlich waren sie beide erwachsen und wussten, worauf sie sich einließen. Und Kal bot ihr genau die Flucht, die sie in diesem Moment brauchte.
Einen völlig Fremden zu lieben war eine unglaublich erregende Vorstellung. Für Lucy war es zudem gänzlich neu, denn bisher war Sex für sie etwas gewesen, das einen festen Platz in Beziehungen hatte, wo man sich gut kannte, einander vertraute und sich sicher fühlte. Gerade aber wurde sie von ihrem wachsenden Verlangen nach diesem Mann verzehrt. Längst hatte ihr Körper die Gewalt über ihre Entscheidung übernommen, längst beherrschte ihre Leidenschaft ihr Handeln. Wie gebannt sah sie in Kals samtbraune Augen und hatte das Gefühl, sich in ihren Tiefen zu verlieren. Ihr ganzer Körper sehnte sich danach, seinen sinnlichen Mund zu küssen und seinen athletischen Körper zu liebkosen, bis er schwach werden würde. Das war reine, unverhüllte Lust. Selbst Worte waren überflüssig, denn sie kommunizierten jetzt auf einer anderen, ganz elementaren Ebene.
Mit einer geschmeidigen Bewegung erfasste Kal ihre Handgelenke, zog Lucy vom Stuhl und dirigierte sie um den Tisch zu sich. Sinnlos, jetzt noch zu bereuen, dass sie nur ein dünnes Sommerkleid und einen Hauch von Spitzendessous darunter trug – oder dass sie anscheinend keinerlei Willenskraft mehr besaß. Berauscht atmete Lucy den Duft seines exklusiven Aftershaves ein, als er sie auf den Mund küsste. Verlangend schmiegte sie sich an ihn und spürte seinen kraftvollen Herzschlag, während ihr eigenes Herz wie wild pochte. Nicht in ihren kühnsten Träumen hatte sie sich jemals eine derartige Lust ausgemalt.
Sie stieß einen überraschten und leisen Schrei aus, als Kal sie unvermittelt hochhob und auf die Tischkante setzte. Vorsichtig stellte er die Kaffeebecher und den Teller weg, drückte Lucy sanft zurück und stellte sich zwischen ihre Beine. Fast andächtig schob er ihr Kleid hoch und zog ihr den Spitzenslip aus. Einen Augenblick später ließ er Lucy spüren, wie hart und groß er wirklich war. Die Welt der Lust, in die er sie dann entführte, überstieg alles, was sie je erlebt hatte. Im wachsenden Rhythmus ihrer Leidenschaft umfasste Lucy seine Hüften und bog sich ihm gierig entgegen. Schon glaubte sie den Gipfel der Lust zu erreichen und schrie vor Lust auf, als Kal plötzlich innehielt.
„Nein!“, flehte sie inständig. Offenbar hatte er ihren Schrei missverstanden. „Hör nicht auf! Bitte hör nicht auf …“ Und sie lachte zufrieden und sinnlich, als er sein Liebesspiel wieder aufnahm.
Wenige Sekunden später führte er sie zum Höhepunkt und folgte ihr sogleich, und für einen Moment fand Lucy die ersehnte Erfüllung und das Vergessen, das sie sich so gewünscht hatte. So intensiv und überwältigend waren ihre Gefühle, dass sie fast die Besinnung verlor.
„Geht es dir gut?“
Kal hielt sie fest in seinen Armen und hatte ihr die Frage ins Ohr geflüstert. Befangen barg Lucy ihr Gesicht an seiner Schulter und bemühte sich, wieder zu Atem zu kommen. Nun, da die Nachwehen ihrer Lust verebbten, konnte sie nicht glauben, was sie gerade getan hatten.
„Geht es dir gut?“, wiederholte Kal und ergriff ihr Kinn, sodass sie ihn ansehen musste.
„Ja, alles in Ordnung“, antwortete Lucy heiser, doch sie fühlte sich völlig entblößt, als könnte er bis in ihre Seele sehen.
Unverwandt ruhte sein Blick auf ihr. „Ins Bett?“, schlug er vor, und als sie schwieg, fügte er hinzu: „Du hast doch eins?“
„Ja … natürlich.“ Scheu richtete sie sich auf und ordnete ihre Kleider. „Du musst sehr müde sein.“
„Ganz und gar nicht“, widersprach er lächelnd. „Ich habe gerade erst angefangen.“ Dabei presste er sie fest an sich.
„Nun, wenn das so ist …“ Auch Lucy spürte sofort, wie ihr Verlangen nach ihm erneut erwachte. Sie hatte noch lange nicht genug von ihm. Ohne ein weiteres Wort ergriff sie seine Hand und zog ihn hinter sich in den Flur. An der Schlafzimmertür zögerte sie jedoch, weil sie es nicht gewöhnt war, den Vamp zu spielen.
„Wenn du willst, dass ich gehe, musst du es nur sagen.“ Kal zog sie in seine Arme.
„Nein“, antwortete Lucy sofort. „Ich möchte nicht, dass du gehst.“
„Wenn du dir dessen also sicher bist …“ Lächelnd beugte er sich herab.
„Ganz sicher“, antwortete sie und kam seinem Kuss entgegen.
Als Lucy aufwachte, rekelte sie sich im ersten Moment wohlig und zufrieden. Doch schon in der nächsten Sekunde war sie hellwach, beschämt und entsetzt. Sie war allein! Natürlich, dachte sie voller Selbstverachtung. Was hatte sie denn erwartet? Ein One-Night-Stand – auch wenn es der denkwürdigste aller Zeiten gewesen sein mochte – war noch lange keine Beziehung.
Um ihre Blöße zu bedecken, zog sie die Bettdecke hoch und verbarg das Gesicht im Kissen. Allein bei der Erinnerung an diese unvergessliche Liebesnacht durchzuckte es sie heiß. Nie wieder würde sie einen so selbstlosen, zärtlichen und leidenschaftlichen Liebhaber wie Kal finden, dessen war sie sich sicher. Und jetzt war er fort.
Angestrengt kämpfte sie gegen die Tränen. Die Schuld lag ganz allein bei ihr. Schließlich hatte sie niemand gezwungen, mit ihm zu schlafen. Mit offenen Augen hatte sie sich in ein weiteres Desaster gestürzt, das sie sicher noch eine ganze Weile verfolgen würde.
Traurig stand sie auf und ging ins Bad, um ausgiebig zu duschen und anschließend den Tag in Angriff zu nehmen. Das Leben ging zum Glück weiter.
Und dann sah sie die Blumen in einer Glasvase auf dem Tisch. Kal musste sie in ihrem Garten geschnitten haben – ihre Lieblingsrosen, früh blühend, zartrosa und sanft duftend. Gerührt streichelte Lucy die noch vom Tau feuchten, kühlen Blätter und erschauerte in einer seltsamen Vorahnung.
Seit Lucy den Design-Wettbewerb gewonnen hatte, hatte ihr Leben sich zweifellos enorm verändert. Sie hatte ihre Gläubiger auszahlen können und etablierte sich wieder neu im Geschäft.
Wie gut zu wissen, dass sich harte Arbeit und Zielstrebigkeit gelegentlich doch bezahlt machen, dachte sie und blickte sich unter ihren Mitreisenden in der Erste-Klasse-Kabine des Flugzeugs um. Normalerweise litt Lucy unter Flugangst und vermied es zu fliegen. Doch die Chance, erster Klasse mit Air Abadan zu fliegen, war einfach zu verlockend gewesen, und die charmante Flugbegleiterin hatte sich vom ersten Moment so aufmerksam um sie gekümmert, dass sie nicht eine Sekunde Angst gehabt hatte.
Abadan. Allein der Name regte Lucys Fantasie an. Und das war gut so, denn der erste Preis bei dem Design-Wettbewerb bestand in einem lukrativen Vertrag für die Renovierung eines Empfangssaals im Goldenen Palast. Bevor sie aber mit der eigentlichen Einrichtung und Gestaltung beginnen konnte, würde einiges an restauratorischer Vorarbeit erforderlich sein. Glücklicherweise liebte Lucy Herausforderungen wie die Suche nach Handwerkern, die die goldenen Filigranarbeiten restaurieren konnten, die dem Palast seinen Namen gegeben hatten.
Noch wichtiger als der Gewinn selbst aber war, dass sie durch dieses Projekt eine zweite Chance bekommen hatte. Darüber hatte sie sogar ihren Zorn auf die Bank vergessen. Wider Erwarten hatte sie für den Verkauf von Westbury Hall wesentlich mehr Geld bekommen als erwartet, sodass sie nicht nur sämtliche Schulden bezahlen, sondern auch noch etwas für die Zukunft anlegen konnte. Nun aber war sie entschlossen, sich geschäftlich auf das zu konzentrieren, was sie am besten konnte: Inneneinrichtung.
Bei der Preisverleihung in einem Londoner Luxushotel hatte der abadanische Gesandte erklärt, sie habe gewonnen, weil ihr für seinen Klienten keine Mühe zu groß gewesen sei. So habe sie historische Tatsachen entdeckt, die sogar der königlichen Familie unbekannt gewesen waren. Noch bei der Erinnerung daran musste Lucy lächeln.
Über die „königliche Familie“ selbst hatte sie nur wenig in Erfahrung bringen können. Trotz aller Recherchen waren der Scheich und sein Sohn für sie schattenhafte Gestalten geblieben. Vermutlich aus Sicherheitsgründen. Aber sie erwartete sowieso nicht, einem von ihnen persönlich zu begegnen.
Da die Vorgaben für den Wettbewerb sehr eng gewesen waren, hatte sie sie bereits mit eigenen Vorschlägen erweitert. Heutzutage war es kein Problem, solche Vorschläge per E-Mail durchzuführen, und alles, was sie bisher eingereicht hatte, war positiv aufgenommen worden. Daher erwartete Lucy keine Schwierigkeiten in Abadan.
„Umso besser für uns beide, Darling“, sagte sie liebevoll und überprüfte zur Sicherheit noch einmal das Gurthalfter des Babysitzes an ihrer Seite. „Denn schließlich wirst du in Abadan deinen ersten Geburtstag feiern.“
Als die Abgesandte des Scheichs – eine elegant gekleidete Frau mittleren Alters – ihr fast entschuldigend eröffnet hatte, sie sei in einem der älteren Teile des Palasts untergebracht, hatte Lucy es anfangs gar nicht glauben können.
Im Palast! Eigentlich hatte sie erwartet, in einem nahe gelegenen Hotel einquartiert zu werden. Zu den Räumlichkeiten im Palast, die man für sie vorgesehen hatte, gehörte sogar ein Kinderzimmer.
„Es ist wirklich alles wundervoll. Vielen Dank“, versicherte sie der Frau. Wenn dies der „schäbige“ Teil des Palastes war, wie die Angestellte angedeutet hatte, konnte Lucy es kaum erwarten, die prächtigeren Räume zu sehen.
Sichtlich erleichtert lächelte die Frau sie an. „Leila wird sich um Ihren Sohn kümmern.“ Dabei deutete sie auf eine junge Frau, die bislang im Hintergrund gestanden hatte.
Das unverkennbare „B“ der Barton-Kindermädchen auf dem weißen Poloshirt von Leilas zwangloser Uniform beruhigte Lucy sofort, da es die erstklassige Ausbildung verriet. Ursprünglich hatte Lucy vorgehabt, Edward in England bei seiner Großmutter zu lassen, doch ihre Mutter hatte unerwartet eine schwere Grippe bekommen. Aber die Angestellten des Scheichs hatten ihr versichert, dass ihr kleiner Sohn in Abadan bestens versorgt werden würde und sie ihn problemlos mitbringen könnte. Im Grunde war es ihr auch lieber so, da sie nun Edwards ersten Geburtstag nicht verpassen würde. Denn von Anfang an hatte dieser Gedanke ihre Freude über den Auftrag getrübt.
„Wie gefällt Ihnen Abadan denn bisher?“, fragte Leila freundlich.
„Es ist wundervoll“, antwortete Lucy ehrlich. „Die Landschaft auf der Fahrt vom Flughafen zum Palast war einfach traumhaft – wogende Sanddünen bis zum Horizont.“ Ihre Augen leuchteten. „Und als die Sonne tiefer sank, tauchte auf den Hügelkämmen eine Kamelkarawane auf – wie eine schwarze Silhouette gegen einen zinnoberroten Himmel!“
„Es gefällt Ihnen anscheinend wirklich.“ Leila lachte. „Darf ich ihn nehmen?“ Dabei lächelte sie Edward an, der ihr Lächeln sofort erwiderte.
Nur für eine Sekunde zögerte Lucy. „Natürlich. Wie es scheint, haben Sie sein Herz schon erobert, Leila.“ Wenn Edward zufrieden war, würde auch alles andere kein Problem sein. Wie es aussah, würde der erste Geburtstag ihres Sohnes genauso denkwürdig verlaufen, wie sie es sich immer für ihn erhofft hatte.
Trotz einer unruhigen Nacht fühlte Lucy sich so glücklich wie seit Langem nicht mehr. Noch im Schlafanzug tappte sie barfuß mit Edward auf dem Arm durch ihr geräumiges Quartier und erkundete so mit ihm zusammen die in orientalischer Pracht ausgestatteten Räume.
Lächelnd blies Lucy sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Diese Reise markierte einen neuen Anfang in ihrer beider Leben. Denn das Prestige, das mit dem Gewinn des Wettbewerbs verbunden war, bedeutete mehr Sicherheit für ihre berufliche Zukunft und damit auch für die Zukunft ihres Sohnes. Allerdings durfte sie sich nicht auf ihren Lorbeeren ausruhen. Bei ihrer ersten Besprechung an diesem Morgen durfte nichts schiefgehen. Nicht umsonst war sie während der letzten Nacht ihre Präsentation in Gedanken immer wieder durchgegangen.
Aber sie war nicht die einzige Frühaufsteherin im Palast. Bei Morgengrauen hatte sie aus einem Fenster, das auf einen Innenhof hinausging, gerade noch eine schattenhafte Gestalt durch eine der bogenförmigen Türen gegenüber ihrer Suite verschwinden sehen. Kurz darauf war der ganze Palast zum Leben erwacht – wahrscheinlich, weil es später am Tag für viele Aktivitäten zu heiß sein würde. Als ihr die schattenhafte Gestalt wieder einfiel, erschauerte sie unwillkürlich. Sofort verstummte Edwards fröhliches Plappern.
„Schon gut, Darling“, beruhigte sie ihn und lenkte seine Aufmerksamkeit auf ein Vasenpaar, die größer waren als sie, um ihn wieder zum Lachen zu bringen.
Vermutlich war der Schatten ein Bediensteter gewesen, der früher als die anderen aufgestanden war.
„Miss Benson?“
Lächelnd drehte Lucy sich zu Leila um und beruhigte das besorgte Kindermädchen sofort, dass es keinesfalls zu spät sei, sondern Edward und sie einfach vor Aufregung nicht länger hatten schlafen können.
Mit viel Spaß planten sie zusammen Edwards Tag. Lucy wollte nach ihrer Besprechung mit den Palastbeamten einige Vorbereitungen für seine Geburtstagsfeier am nächsten Tag treffen. Doch sie merkte schnell, dass ihr keine Zeit mehr blieb, um die Einzelheiten mit Leila zu klären, denn sie war noch nicht einmal geduscht und angezogen. Lucy bat Leila, mit Edward unbedingt zum Spielen nach draußen zu gehen, solange es noch kühl genug dazu war.
Als Lucy schon halb auf dem Weg ins Badezimmer war, rief Leila sie zurück. Mit Edward auf dem Arm stand sie an dem Fenster zum Innenhof.
„Kommen Sie, und schauen Sie. Schnell.“
„Was ist denn?“ Lucy eilte zu dem offenen Fenster und folgte dem Blick ihres kleinen Sohnes, der sichtlich staunend und ungewöhnlich still in den Hof hinuntersah. Eine Gruppe von Männern in wehenden Gewändern, den so genannten Dschellabas, überquerte den Platz mit eiligen Schritten. Aufgeregt hielt Lucy den Atem an. Wie stolz und majestätisch sie wirkten und dabei so romantisch. Zum ersten Mal seit ihrem Besuch in Abadan wurde ihr bewusst, dass sie sich in einem Wüstenreich befand. Die Männer sahen beeindruckend aus mit ihren weißen Kopfbedeckungen, den Gutrahs, gehalten von schwarz-goldenen Bändern, Agals genannt, und der Mann an ihrer Spitze war besonders imposant. Zweifellos stand er ihnen in jeder Hinsicht voran. Lächelnd beobachtete sie, wie ein wesentlich kleinerer Mann an seiner Seite sich bemühte, mit ihm Schritt zu halten, während der große konzentriert in ein winziges schwarzes Diktiergerät sprach.
„Das ist Prinz Kahlil ben Saeed Al-Sharif, der Sohn des regierenden Scheichs“, erklärte Leila, der Lucys Interesse nicht entging. „Tatsächlich regiert er Abadan inzwischen. Sein Vater ist gesundheitlich angegriffen und zieht sich zunehmend aus dem öffentlichen Leben zurück. Wie es heißt, wird Scheich Kahlil schon bald die ganze Regierungsverantwortung übernehmen. Und dank Scheich Kahlil wird Abadan dann endlich ins einundzwanzigste Jahrhundert befördert. Schon jetzt ist er in der internationalen Geschäftswelt sehr erfolgreich, und er ist ein so wundervoller Mann …“
„Ich sollte mich jetzt besser für meine Besprechung fertig machen“, unterbrach Lucy sie diplomatisch. Denn sie musste ihre Professionalität wahren und durfte sich nicht in den Palastklatsch hineinziehen lassen.
Elegant und kühl gekleidet mit einer langärmeligen Tunika und einer weiten Hose aus cremefarbenem Leinen, war Lucy für die Besprechung mit den Offiziellen des Palastes bereit. Auf dem Weg dorthin brauchte sie nicht einmal ihre Entwurfsmappe zu tragen, denn der westlich gekleidete junge Mann, der sie zu der Besprechung führte, nahm ihr die Mappe ab. An so viel Luxus sollte ich mich besser nicht gewöhnen, dachte sie amüsiert, während sie ihm durch die hallenden Palastkorridore folgte.
Trotz allem war sie natürlich nervös, als ihr Begleiter schließlich die Tür zu dem gewölbten Ratssaal öffnete. Alle Anwesenden verstummten, als Lucy den Saal betrat. Im nächsten Moment ertönte das Scharren von Stühlen auf dem Marmorboden, als sich alle zugleich erhoben. Stolz aufgerichtet ging Lucy auf den schätzungsweise neun Meter langen, rautenförmigen Konferenztisch zu, um den Araber in ihren Dschellabas standen und auf sie warteten.
Angesichts der tatsächlichen Größenordnung des Projekts kam ihr das morgendliche Hochgefühl plötzlich etwas voreilig vor. Doch bevor ihr ernsthafte Zweifel kommen konnten, rückte der junge Begleiter einen Stuhl für sie zurecht und legte ihre Entwurfsmappe auf den Tisch. So würdevoll wie möglich nahm Lucy Platz. Die Männer folgten ihrem Beispiel. Dann beugte sich ein älterer Mann zu ihr vor.
„Seine Hoheit lässt sich entschuldigen“, erklärte er. „Er kommt etwas später. Wenn Sie so freundlich wären, seinem Rat inzwischen schon einen kurzen Einblick in Ihre Pläne zu geben, wird er, sobald es ihm möglich ist, dazukommen.“
Auch wenn es ihr lieber gewesen wäre, alle Begrüßungsfloskeln auf einmal hinter sich zu bringen, nickte Lucy zustimmend. Augenscheinlich musste sie ihren Vortrag mit dem Wissen beginnen, dass sie jeden Moment vom Scheich oder seinem Sohn unterbrochen werden konnte. Das war nicht gerade hilfreich, aber sie konnte es nicht ändern.
Tatsächlich hatte sie gerade erst die Einleitung ihrer Präsentation abgeschlossen, als die prachtvolle Doppeltür feierlich von zwei Bediensteten aufgestoßen wurde. Unwillkürlich fingen Lucys Knie an zu zittern. Rund um den Tisch erhoben sich alle Männer und wandten sich zum Eingang des Saals. Das ist doch lächerlich, ermahnte sich Lucy. Derart aufgeregt war sie das letzte Mal gewesen, als …
„Seine Hoheit.“
Als ein Höfling die Ankunft des Scheichs auf Englisch ankündigte – sicher mit Rücksicht auf sie –, blieb Lucy absichtlich seitlich zur Tür stehen. Aber ihre Neugier veranlasste sie dann doch, den Kopf zu wenden.
Um der regierende Scheich von Abadan zu sein, war der beeindruckende Mann, der jetzt mit seinem Gefolge den Saal betrat, eindeutig zu jung. Es musste also sein Sohn sein. Instinktiv erinnerte Lucy sich an die Gestalt im Hof, und ihr Herz pochte schneller. Der junge Thronfolger besaß eine beeindruckende Ausstrahlung, und sein Auftritt im Ratssaal glich einer Hollywood-Inszenierung über einen arabischen Prinzen, mit dem einzigen Unterschied, dass dieser Prinz echt war und auf sie zukam.
Geblendet durch die Sonne, die durch die Glasfenster über den Eingangstüren hereinschien, konnte Lucy den Scheich nicht genau erkennen. Doch sie spürte auch so die Aura von Macht, die ihn umgab. Sicher war er ein harter Mann, denn Scheich Kahlil von Abadan war ein Wüstenprinz, Abkömmling eines alten Kriegervolkes, und bedurfte einer starken Persönlichkeit, um den Respekt seines stolzen Volkes zu gewinnen.
Mit wenigen Schritten durchquerte er den großen Raum, wobei seine schwarze Dschellaba eindrucksvoll hinter ihm her wehte. Seine schwarze Gutrah, gehalten von einem goldenen Agal, verdeckte, was Lucy trotz der blendenden Sonne von seinem Gesicht hätte sehen können.
„Miss Benson“, begrüßte er sie höflich und reichte ihr nach westlicher Art die Hand.
Er war viel größer, als sie erwartet hatte. Beklommen ergriff Lucy die dargebotene Hand, doch bei der ersten Berührung durchzuckte es sie wie elektrisiert. Sie hielt den Atem an. „Eure Hoheit“, erwiderte sie heiser und zog schnell ihre Hand zurück. Instinktiv vermied sie es, den Scheich direkt anzusehen.
„Gentlemen“, hörte sie ihn sagen, „nehmen Sie bitte Platz. Lassen Sie sich durch mich nicht stören. Bitte fahren Sie fort“, fügte er mit einer eleganten Geste an Lucy gewandt hinzu und nahm am Kopf des Tisches Platz.
Etwas in seinem Ton ließ Lucy aufhorchen. Als sie deutlich sichtbar nach Atem rang, merkte sie, dass alle Anwesenden sie besorgt anblickten, und versuchte, sich zu fassen. „Ja, natürlich“, flüsterte sie heiser.
„Ein Glas Wasser für Miss Benson“, befahl Scheich Kahlil sofort.
Himmel, das kann einfach nicht wahr sein, dachte Lucy verzweifelt. Dankbar nahm sie das Glas Wasser, das ein Bediensteter ihr reichte, und trank hastig einen Schluck. Konnte Kal einen Doppelgänger in Abadan haben? Zugegeben, höchst unwahrscheinlich. Scheinbar zuversichtlich lächelte Lucy in die Runde.
„Danke, Gentlemen, ich bin jetzt bereit fortzufahren.“ Zu ihrer großen Erleichterung klang ihre Stimme fest und souverän. Doch in Gedanken war sie nicht bei der Sache. War Scheich Kahlil tatsächlich Kal? Tief im Inneren kannte sie die Antwort bereits. Der Mann am anderen Ende des Tisches, der seelenruhig die Falten seines Gewandes ordnete, war Edwards Vater. Und er wusste nicht einmal, dass er einen Sohn hatte.
Eisige Panik packte sie. Was würde ein so mächtiger Mann wie Scheich Kahlil tun, wenn er entdeckte, dass er einen Sohn hatte? Ohne es zu wissen, hatte sie Edward in Gefahr gebracht.
„Miss Benson? Würden Sie jetzt bitte fortfahren?“
Der sachliche Ton des Scheichs machte sie nur noch nervöser. Außerdem war sie sich sicher, dass auch er sie wiedererkannt hatte. Wie viel Zeit blieb ihr, bis jemand ihm mitteilte, dass sie nicht allein hier war, sondern ihren kleinen Sohn mitgebracht hatte? Den forschenden Blick des Scheichs auf sich gerichtet, riss sie sich zusammen.
„Ja, natürlich … verzeihen Sie, Gentlemen. Die Hitze …“ Die Hitze! Ausgerechnet! Der Palast war voll klimatisiert. Eine lahmere Ausrede hätte ihr kaum einfallen können. Aber Lucy hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Dabei musste sie irgendwie ihre Präsentation überstehen. Schon allein Edward zuliebe. Sobald die Besprechung vorbei und sie wieder allein in ihrer Suite sein würde, musste sie sich einen Plan einfallen lassen, wie sie Abadan mit Edward so schnell wie möglich wieder verlassen konnte.
Nachdem sie jetzt die wahre Identität des Mannes kannte, der sich ihr als Kal vorgestellt hatte, war ihr klar, dass sie rechtlichen Beistand brauchte. Natürlich sollte Edward wissen, wer sein Vater war, und sowie der richtige Zeitpunkt gekommen war, würde sie es ihm auch sagen. Wie vor den Kopf geschlagen blickte Lucy sich in dem prachtvollen Ratssaal um. Wie sollte sie damit konkurrieren? Durfte sie ihrem Sohn ein solches Erbe vorenthalten? Trotz ihrer fürchterlichen Angst ließ sie sich nichts mehr anmerken und konzentrierte sich scheinbar ganz auf ihre Präsentation.
Wie sie den Rest des Vormittags hinter sich gebracht hatte, wusste sie anschließend nicht mehr. Ein paarmal sprach Kahlil sie direkt an, aber seine Fragen bezogen sich auf das Projekt. Doch sein Scharfsinn beunruhigte sie und machte ihre Angst noch größer.
Innerlich kochte Kahlil vor Wut. Normalerweise entging seiner Aufmerksamkeit nichts. Aber diesen Wettbewerb hatte er einem seiner Berater anvertraut. Die Besprechung war nur angesetzt worden, damit er dem Preisträger gratulieren und ihn persönlich kennenlernen konnte und natürlich als Zeichen seiner Beteiligung an einem Projekt, das das Emirat Abadan in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit rücken sollte. Seine Erben sollten einmal ein Land übernehmen, das zu den bevorzugten exklusiven Ferienzielen zählen würde, und für diese Pläne war die Werbung durch den Design-Wettbewerb zusammen mit der Öffnung des Goldenen Palasts für die Öffentlichkeit ein zentraler Punkt.
Und nun war das dabei herausgekommen! Wie hatte das nur passieren können? Er hatte den besten Designer verlangt, und sie hatten ihm Lucy Benson gebracht! Misstrauisch warf er Lucy einen Blick zu. Unmöglich, sie konnte nichts geahnt haben, weil er bislang nur dem Namen nach und nicht persönlich in Erscheinung getreten war, und vor zwanzig Monaten hatte er sich ihr in Westbury als Kal vorgestellt.
Fraglos hatten sie sehr viel Spaß miteinander gehabt. Aber damit hätte es auch erledigt gewesen sein sollen. Er halste sich nicht gern unnötige Probleme auf.
Ganz bewusst war der Wettbewerb auf größtmögliche Publicity angelegt gewesen und hatte eine sehr breite Zielgruppe angesprochen, nicht nur die bekannten Topdesigner. Kahlil hatte gehofft, ein neues Talent zu entdecken. Nun, das war ihm allerdings gelungen. Mit ihrem preisgekrönten Entwurf und dem damit verbundenen, lukrativen Vertrag hatte Lucy Benson zweifellos einen Überraschungscoup gelandet – kaum zwei Jahre, nachdem sie als Immobilienentwicklerin gescheitert war.
Plangemäß hätte der Wettbewerb ein neues Talent weltweit bekannt machen und gleichzeitig Abadan in den Blickpunkt der Weltöffentlichkeit rücken sollen. Allerdings hatte Kahlil mit seinem Wettbewerb junge Designer-Talente anlocken wollen und keinesfalls Frauen von zweifelhafter Moral! Obwohl, was diesen Punkt betraf, war Lucy tatsächlich unübertroffen. Allein bei der Erinnerung, wie er sie, kaum dass sie sich kennengelernt hatten, auf dem Küchentisch geliebt hatte, durchzuckte Kahlil heißes Verlangen. Zwischen ihnen hatte eine knisternde, unwiderstehliche Anziehung bestanden, der er einfach nicht hatte widerstehen können. Wild und wie von Sinnen hatten sie sich geliebt, ungeachtet aller möglichen Konsequenzen. Noch nie hatte er bei einer Frau derart die Kontrolle verloren, so etwas würde ihm nie wieder passieren, das hatte er sich geschworen.
Im Verlauf der Besprechung konnte er seinen Zorn, sich dieser peinlichen Situation ausgesetzt zu sehen, nur mit Mühe beherrschen. Immer wieder kreisten seine Gedanken um die Frau am Besprechungstisch. Hatte der Zufall oder Berechnung sie nach Abadan gebracht? Er war an dem Tag in England gewesen, als sich all ihre Träume zerschlagen hatten. In allen Einzelheiten musste sich dieser Tag in ihr Gedächtnis eingebrannt haben. Hatte sie nach der kurzen, leidenschaftlichen Liebesnacht vielleicht doch seine wahre Identität erfahren? Ziemlich unwahrscheinlich, aber die Geschichte hatte immer wieder gezeigt, wozu gerissene Frauen in der Lage waren, wenn es um Macht und Reichtum ging. Er würde jedenfalls auf der Hut sein und abwarten, ob sie noch weitere Überraschungen für ihn in petto hatte. Ob sie tatsächlich arglos und unschuldig war, würde die Zeit schon weisen.
Als sich die Besprechung dem Ende zuneigte, war Lucy froh und erleichtert. Trotz der verheerenden Begegnung war es gut für sie gelaufen. Keiner, nicht einmal Kahlil, hatte an ihrer sorgfältig vorbereiteten Präsentation etwas kritisieren können. Während sich der Saal allmählich leerte, sammelte sie bewusst langsam ihre Unterlagen ein. Zuletzt war sie mit Kahlil und dem jungen Mann, der sie zu der Besprechung gebracht hatte, allein.
„Sie können jetzt auch gehen“, wandte Kahlil sich an seinen jungen Angestellten. „Ich werde Miss Benson selbst zur Hand gehen.“
Lucy stockte der Atem. Aber noch bevor sie protestieren konnte, war der junge Mann schon auf dem Weg zur Tür.
„Vielen Dank, aber ich komme allein zurecht“, wehrte sie ruhig ab, richtete sich auf und sah Kahlil an.
„Ich wünsche, mit dir zu sprechen.“ Sein gebieterischer Ton verriet jedoch unmissverständlich, dass es sich keineswegs nur um einen „Wunsch“ handelte. In Abadan war Kahlils Wunsch Befehl.
Weil sie keinen Fehler machen wollte, hielt Lucy es für klüger, sich ihm nicht noch offen zu widersetzen.
„Natürlich“, antwortete sie ruhig.
„Wir werden zusammen Mittag essen“, fuhr Kahlil fort, doch es klang wenig einladend. „In der Stadt.“
Erleichtert atmete sie auf. Ihr war alles recht, solange es nur weit weg vom Palast und von Edward passierte. Bis sie und ihr Sohn Abadan wieder sicher verlassen hätten, musste sie Kahlil unter allen Umständen von Edward fernhalten.
„Einverstanden.“ Scheinbar gelassen hielt sie Kahlils Blick stand, aber ihr Herz klopfte wie wild.
Für Scheich Kahlil war sie sicher nur eine nette kleine Zerstreuung gewesen. Er ist immerhin der Thronerbe eines Emirats, und eine heiße Liebesnacht mit einer Fremden ist für ihn bestimmt kein Grund, zu bleiben und eine Familie zu gründen, dachte Lucy wütend. Außerdem ärgerte es sie maßlos, dass ihr Körper so reagierte, als wäre Kahlil der Traum ihrer schlaflosen Nächte. Albtraum ist wohl zutreffender, warnte sie sich, wobei sie ihn ganz professionell anlächelte.
„Ich bringe nur meine Sachen in mein Zimmer und treffe dich dann …“
„Lass einfach alles hier“, unterbrach er sie. „Es wird in deine Suite gebracht. Ich gehe davon aus, dass die Zimmer zu deiner Zufriedenheit sind?“
„Bestens“, bestätigte Lucy rasch. Auf keinen Fall sollte er auf die Idee kommen, ihre Unterbringung persönlich in Augenschein zu nehmen. „Muss ich mich für das Essen nicht noch umziehen?“ Es drängte sie danach, wenigstens kurz nach Edward zu sehen und sich zu vergewissern, dass mit ihm alles in Ordnung war.
„Du bist perfekt so, wie du bist.“
Die Worte waren ausgesprochen, bevor Kahlil es verhindern konnte. Zu seinem Leidwesen stimmten sie sogar: Als Frau und als Bettgespielin war Lucy Benson einfach perfekt. Ein kleines Lächeln huschte über sein Gesicht. Vielleicht war dieses überraschende Wiedersehen ja doch nicht so ärgerlich. Auch wenn die Fotos von ihm und der Preisträgerin durch die Presse gehen würden, gab es keinerlei Anhaltspunkt für ihre kurze Affäre. Andererseits, da Lucy nun einmal hier war, konnte er diese Tatsache ruhig für sich nutzen.
Auf schroffen Felsklippen zweihundert Meter oberhalb des Golfs von Abadan gelegen, war das Restaurant, in das Kahlil Lucy führte, in jeder Hinsicht spektakulär: luxuriös, abgeschieden und zweifellos sehr teuer.
In lauschigen Nischen saßen reiche Araber auf purpurnen Samtpolstern, ausnahmslos begleitet von schönen, jungen Frauen, die nach der neuesten Mode gekleidet und mit funkelnden Juwelen geschmückt waren.
„Was ist das hier für ein Ort?“, fragte Lucy argwöhnisch. „Ich dachte, es würde sich um ein Arbeitsessen handeln.“
„Es ist vor allem diskret“, antwortete Kahlil kurz angebunden.
Sie folgten dem Maître zu einem der besten Tische mit atemberaubendem Blick auf den Golf. Hier treffen sich reiche Araber mit ihren Geliebten, schoss es Lucy blitzartig durch den Kopf.
Auf dem Weg zu ihrem Tisch erregten sie bei den anwesenden Gästen erhebliches Aufsehen, und Lucy errötete bei dem Gedanken, was sie sich wohl gerade in ihren Köpfen ausmalten. Stolz hob sie den Kopf noch etwas höher und nahm sich einmal mehr vor, bei der ersten Gelegenheit aus diesem Land zu verschwinden. Auf keinen Fall sollte Edward erleben, wie seine Mutter gedemütigt wurde.
Freundlich bedankte sie sich beim Maître, der ihr den Stuhl zurechtrückte, und bemerkte erst dann die Bodyguards an den Ausgängen des Restaurants: diskrete, westlich gekleidete Männer, unter deren Sakkos man das Pistolenhalfter ahnte. Ihr Anblick jagte Lucy einen kalten Schauer über den Rücken. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass ihre Flucht nichts anderes als Landesverrat darstellen würde, immerhin plante sie, dem Thronfolger seinen Sohn vorzuenthalten. Vermutlich war es Wahnsinn, aber was hatte sie für eine Wahl?
Von bösen Vorahnungen gequält, betrachtete Lucy verstohlen ihr Gegenüber. Einen Wüstenprinzen, der überall respektvolle Blicke erntete. Lucy schüttelte kaum merklich den Kopf. Unglaublich, dass dieser Scheich derselbe zwanglos gekleidete Mann sein sollte, dem sie sich – in der Hoffnung auf ein paar Stunden des Vergessens – in England so bereitwillig hingegeben hatte. Sie musste verrückt gewesen sein!
Und ich bin immer noch verrückt, dachte sie voller Angst. Glaubte sie ernsthaft, ihm seinen Sohn verheimlichen zu können? Ihre Gedanken schweiften zu dem Kinderzimmer im Palast und zu Edward. Und wenn es nun sicherer für Edward war, wenn sie einfach nachgab?
Nachdenklich betrachtete sie einige der jungen Frauen an den Nachbartischen. Die meisten lächelten und schienen glücklich zu sein. Doch Lucy wusste, dass dies kein Leben für sie wäre. Sie hoffte nur, dass Edward es eines Tages verstehen würde.
Als Kahlil ohne zu fragen einfach für sie mitbestellte, ließ sie ihn gewähren. In allem wollte sie einlenken und Kompromisse schließen, nur nicht in den Punkten, die ihre Ehre, ihre berufliche Karriere oder Edwards Glück betrafen.
„Nun, Lucy“, begann er, nachdem er die Bestellung aufgegeben hatte, „was für eine angenehme Überraschung! Es ist lange her. Fast zwei Jahre. Seitdem muss viel in deinem Leben passiert sein.“
Als er ihre erste Begegnung ansprach, war es gar nicht so schlimm, wie sie befürchtet hatte. Erleichtert entspannte Lucy sich etwas und gab ihm einen kurzen Überblick über ihren beruflichen Werdegang, bevor sie das Gespräch auf ihre Pläne für die Renovierung des Empfangssaales lenkte. Sie war fest entschlossen, sich nicht von Kahlils Blick provozieren zu lassen, der verriet, dass er sich an jede Einzelheit ihrer heißen Liebesnacht erinnerte, und sie herausforderte, das Gleiche zu tun.
Als ob ich es je vergessen könnte, dachte Lucy und bedauerte, das köstliche Essen nicht genießen zu können.
„Möchtest du noch ein Dessert oder Kaffee?“, fragte Kahlil schließlich.
„Nein danke.“ Ihr fiel kein unverfängliches Thema mehr ein, und sie wollte jetzt nur noch zu Edward zurück, um einen Plan auszuarbeiten, wie sie mit ihm sicher nach England zurückgelangen konnte, bevor Kahlil die Wahrheit erfuhr und sie an der Abreise hindern würde.
„Ich fahre dich zurück.“
Als Kahlil sich erhob, tauchte wie aus dem Nichts sofort sein Gefolge auf. Mit klopfendem Herzen beobachtete Lucy, wie er die Leute fortwinkte. Sie waren in einer Limousine mit Chauffeur hergekommen. Was hatte ihr Auftraggeber jetzt im Sinn?
Dieser Mann ist einfach sündhaft attraktiv, musste Lucy sich eingestehen, als sie ebenfalls aufstand. Wie leicht es doch wäre, wieder mit ihm ins Bett zu gehen! Allein die Vorstellung, die einzige Frau zu sein, die sein Herz zum Schmelzen bringen konnte, wäre für die meisten Frauen sicherlich unwiderstehlich. Aber das war ein törichter Tagtraum, und sie hatte wirklich keine Lust, eine weitere Kerbe im Bettpfosten seines arabischen Bettes zu werden.
„Danke, aber ich werde mich direkt an die Arbeit machen, wenn ich zurück bin“, schwindelte sie und dachte dabei an Edward.
Glaubte diese Frau wirklich, dass sie ihm etwas vormachen konnte? Kahlil begleitete sie aus dem Restaurant, überzeugt, dass er ihre plötzliche Sittsamkeit sofort beiseite fegen würde, sobald sie allein waren. An der Tür reichte ihm einer der Bodyguards die Schlüssel zu einem schwarzen, sehr schnellen Sportwagen, in den gerade zwei Personen passten. Kahlil hatte es nämlich plötzlich sehr eilig, zum Palast zurückzukehren. Lange genug war Lucy seinen Fragen ausgewichen. Jetzt wollte er endlich herausbekommen, was sie in den letzten Monaten gemacht hatte. Mit wie vielen Liebhabern hatte sie sich seit ihrer Begegnung vergnügt?
Insgeheim ärgerte er sich darüber, dass er Lucy immer noch begehrte, aber er hatte nicht vor, sich lange damit zu quälen. Außerdem hatte sie seinen Argwohn geweckt. Irgendetwas war anders an ihr – sie wirkte reifer und selbstbewusster. Als hätte sie Erfüllung gefunden. Bei einem anderen Mann? Überrascht verspürte Kahlil einen heftigen Stich. In seinem ganzen Leben war er noch nie eifersüchtig gewesen.
Schweigend setzte Lucy sich auf den Beifahrersitz des schwarzen Maseratis. Sie ahnte, dass Kahlil sich hier, in seinem Land, nichts und niemandem beugte, und sie hatte Angst – um sich und mehr noch um Edward.
Was für ein Schock, dem Vater ihres Sohnes so unerwartet in Abadan gegenüberzustehen und auch noch festzustellen, welch hohe Position er bekleidete! Natürlich war ihr klar, dass sie in Scheich Kahlil einen nicht zu unterschätzenden Gegenspieler hatte. Er stellte in jeder Hinsicht eine Herausforderung dar. Und er war der Mann, den sie nie würde haben können. Ein Mann, den jede Frau begehren würde. Genau wie sie es tat. Immer noch.
Auch Kahlil spürte die erotische Spannung zwischen ihnen, die durch die Tatsache, dass sie in diesem flachen, engen Sportwagen saßen, noch verstärkt wurde. Wieder schien die Luft zwischen ihnen förmlich zu knistern, und diese Energie würde sich früher oder später Luft machen. Vielleicht sollte er das Dessert in seine Suite bestellen, etwa eine Platte süßer Pfannkuchen, und Lucy damit gefügig machen. Selbst die nervösesten Rennpferde in seinem Stall fraßen ihm irgendwann aus der Hand. Warum sollte das mit Lucy anders sein?
Als sie zum Palast zurückkehrten, wartete am großen Tor bereits ein Mitglied des königlichen Rats auf sie.
„Wir sehen uns später“, sagte Kahlil zu Lucy, nachdem er einige Worte mit dem Mann gewechselt hatte. „Dann werden wir unser Mahl beenden und uns weiter unterhalten.“
Lucys Herz klopfte ahnungsvoll. „Wann?“, fragte sie, weil sie vorbereitet und so weit weg wie möglich von Edward sein wollte.
„In einer Stunde. Ich schicke dir jemanden, der dich zu meiner Suite begleitet, und mein Küchenchef wird uns ein köstliches Dessert zubereiten.“
Angestrengt rang Lucy sich ein Lächeln ab, erleichtert, dass er nicht vorgeschlagen hatte, sie selbst abzuholen. Allerdings fühlte sie sich trotz der Weitläufigkeit der Palastanlage nicht mehr sicher. Jeder konnte Kahlil erzählen, dass sie ein Kind mit nach Abadan gebracht hatte. Die Zeit drängte.
Als Lucy besorgt nach ihrem Sohn sah, schlief dieser friedlich in seinem Kinderzimmer. „Lassen Sie ihn ruhig schlafen“, wies sie Leila an.
„Ja, er soll doch morgen an seinem Geburtstag frisch und hellwach sein“, pflichtete das Kindermädchen ihr bei und betrachtete den schlafenden Kleinen liebevoll.
„Genau.“ Lucy schluckte. „Ich muss sowieso gleich noch einmal weg. Der Scheich will noch etwas mit mir besprechen.“
„Machen Sie sich keine Sorgen.“ Aufmerksam betrachtete Leila Lucys angespanntes Gesicht. „Edward und ich kommen gut zurecht. Entspannen Sie sich.“
Wenn ich das nur könnte, dachte Lucy bekümmert und verließ das Zimmer.
Kein Wunder, dass sie Kahlil so schnell verfallen war. Fasziniert beobachtete Lucy, wie er den letzten Bissen des köstlichen Pfannkuchens für sie auf die Gabel spießte. Vielleicht war er ja gar nicht so schlimm, wie sie dachte. Im Schein der Kerzen wirkte sein Gesicht jedenfalls viel sanfter und liebevoller.
Zwar war es erst Nachmittag, aber Kahlil hatte seine Bediensteten angewiesen, die Seidenrollos herunterzuziehen und unzählige Kerzen anzuzünden, deren flackernder Schein das Zimmer wie eine Szene aus Tausendundeiner Nacht beleuchtete. Die hohe Decke des Raumes war mit durchscheinenden rubinroten Stoffbahnen abgehängt, die Fenster hinter den zart bedruckten Rollos getönt, um die Bewohner vor der gleißenden Sonne zu schützen. Insgesamt eine perfekte Inszenierung, um Lucy umgänglicher zu stimmen. Früher oder später musste er sowieso von Edward erfahren. Und sie wollte ihm so gern vertrauen.
Als sie sich vorbeugte, um den letzten Bissen des warmen Pfannkuchens von ihm entgegenzunehmen, lächelte sie scheu. Er war mit einer aromatischen Orangensauce beträufelt. Weil ein Tropfen der Sauce herunterrann, lachte Lucy verlegen und griff nach ihrer Serviette. Doch Kahlil kam ihr zuvor und wischte ihr den Tropfen mit der Fingerspitze zart aus dem Mundwinkel.
„Es … tut mir leid“, flüsterte Lucy heiser.
„Das sollte es nicht. Es war meine Schuld. Ich habe dir den letzten Bissen so ungeschickt gereicht. Ein Wunder, dass du mich nicht tadelst.“
Bei der Vorstellung, Scheich Kahlil von Abadan zu züchtigen, durchzuckte es sie heiß. Ohne es zu wissen, hatte Kahlil eine ihrer erregendsten erotischen Fantasien beschworen.
Sie schluckte, als Kahlil sich die Fingerspitze nun in den Mund steckte und genüsslich ableckte.
„Kaffee?“, fragte er, ohne den Blick von ihr zu lassen.
Doch seine Augen fragten etwas ganz anderes. Atemlos hörte Lucy ihr Herz pochen. Kahlil begehrte sie immer noch! Wenn sie wollten, könnten sie einfach da weitermachen, wo sie vor fast zwei Jahren aufgehört hatten – verrückt! Energisch rief Lucy sich ins Gedächtnis, dass ihre erste Sorge Edward galt und der Frage, wie sie ihn sicher aus Abadan nach Hause bringen konnte. Erst in England würde sie sich rechtlichen Rat suchen können.
„Ja, bitte, Kaffee“, bat sie deshalb ausweichend.
„Warum bist du plötzlich so scheu?“, fragte Kahlil, nachdem er seinen Bediensteten Anweisungen gegeben und sie dann weggeschickt hatte. „Ist es nicht etwas spät dafür? Oder gibt es einen anderen in deinem Leben?“
„Keinen“, gestand Lucy ehrlich.
„Keinen?“, wiederholte Kahlil spöttisch. „Was ist dann los mit dir, Lucy? Warum bist du so verschlossen, was dein Privatleben angeht?“
Unsicher biss sie sich auf die Lippen. „Ich muss jetzt zurück.“
„Willst du das wirklich?“
Sie zögerte eine Spur zu lang. Als Kahlil ihre Hand nahm, spürte Lucy, wie sie schwach wurde. Langsam und unwiderstehlich erwachte ihr Verlangen. Kahlils Hand fühlte sich so stark an, so warm, so wunderbar vertraut. Immer schneller ging ihr Atem. Bevor sie es richtig bemerkt hatte, waren sie beide aufgestanden und standen sich nun direkt gegenüber. Wie sehr sie sich danach sehnte, ihn zu küssen, sich in seine Arme zu schmiegen und dort erneut Vergessen zu finden …
Doch dann kam Lucy schlagartig zur Vernunft. Auf gar keinen Fall durfte sie vergessen! Hier ging es nicht um ihren Stolz oder ihre Hoffnungen und Träume. Hier ging es einzig und allein um Edwards Zukunft, seine Sicherheit, sein Glück. Ihr Sohn gehörte zu ihr. Niemals würde sie etwas tun, was das gefährden könnte. „Ich muss jetzt wirklich gehen.“
Zärtlich streckte Kahlil eine Hand aus und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ich meine es ernst, Kahlil.“ Um nicht schwach zu werden, schloss sie die Augen.
„Ich werde dich nicht zurückhalten.“ Kahlil wusste, dass sie eigentlich bleiben wollte. Und er wollte, dass sie blieb. Aber er spürte, wie angespannt sie war. Warum? Forschend sah er sie an. War es ihm wirklich wichtig? Fast hätte er laut gelacht. Sollte der harte Krieger von Abadan plötzlich sein Herz entdecken? Das war gefährlich, sofern es sich um eine Frau handelte, und er wollte sich lieber nicht darauf einlassen. „Es steht dir frei, zu gehen“, erklärte er kühl und wich einen Schritt zurück.
Um nichts auf der Welt wollte Lucy ihn verärgern. „Du hast sicher noch andere Dinge zu tun“, meinte sie deshalb höflich.
„Ich werde dich zu deiner Suite zurückbegleiten.“
„Nein!“, rief sie entsetzt.
„Nein?“, wiederholte Kahlil aufhorchend.
„Kahlil, bitte …“ Verzweifelt suchte sie nach einer überzeugenden Ausrede. „Ich … ich möchte meine Pläne noch einmal durchsehen und einige Details überprüfen, bevor wir uns das nächste Mal treffen.“
„Die geschäftlichen Dinge können warten“, wehrte Kahlil ab. „Wenn du mehr Zeit brauchst, musst du es nur sagen.“
An diesem Punkt erkannte Lucy, dass es keinen Sinn hatte, es ihm noch länger zu verheimlichen. Früher oder später würde er es sowieso herausfinden.
„Ich muss jetzt in meine Suite zurück“, erklärte sie immer noch heiser, „weil ich nicht allein hier bin. Ich … habe ein Kind bei mir.“ Sie atmete tief ein. „Meinen Sohn.“
„Deinen Sohn?“ Entgeistert sah Kahlil sie an.
Für einen Moment herrschte absolutes Schweigen, in dem Lucy Kahlil ängstlich beobachtete. Ganz deutlich spürte sie seinen Schock und das allmählich wachsende Misstrauen.
Ein Sohn! Sie hatte damals kein Wort darüber verloren, dass sie ein Kind hatte. Was für eine Frau war sie eigentlich? Plötzlich wollte er sie unbedingt loswerden. Er brauchte Zeit und Abstand, um seine Gefühle zu ergründen und seine weiteren Schritte zu überdenken.
„Dann geh“, befahl er schroff. „Geh zu deinem Sohn.“
„Er heißt Edward“, entgegnete Lucy trotzig, die es kaum aushalten konnte, wie abfällig und zornig Kahlil über Edward sprach. „Der Name meines Sohnes ist Edward“, wiederholte sie deshalb noch einmal.
Wieder bemerkte sie ein misstrauisches Aufleuchten in seinen Augen. Galt es der Tatsache, dass sie einen Sohn hatte, oder ihrem Mut, sich ihm entgegenzustellen? Sehr wahrscheinlich war er es nicht gewohnt, dass man ihm die Stirn bot.
Um nachzudenken, wich Kahlil ihrem Blick aus. Normalerweise unterstützte er es, dass ausländische Arbeitskräfte ihre Familie mit nach Abadan brachten, denn ein glücklicher Mensch arbeitete gut, und nichts führte schneller zu Unzufriedenheit als Heimweh oder die Sehnsucht nach den Lieben. Das galt natürlich auch für Lucy. Ihn ärgerte lediglich die Tatsache, wie sie diese Information vor ihm verheimlicht hatte. Was versteckte sie sonst noch vor ihm?
„Es gibt im Palast eine Spielgruppe für die Kinder meiner Angestellten“, sagte er endlich zu Lucy. „Und sogar eine eigene Schule …“
Betrachtete er sie schon als eine seiner Angestellten? Vielleicht war ja eine Stelle als seine Geliebte frei? Lucy spürte, dass sie einen kühlen Kopf bewahren musste, wenn sie mit Edward sicher nach Hause zurückkehren wollte. „Edward ist noch etwas klein für eine Spielgruppe. Trotzdem vielen Dank.“
„Wie alt ist das Kind?“
Wie ein Dolchstoß traf Lucy diese Frage, und sie brachte es nicht über sich, sie zu beantworten. „Lässt du mich jetzt zu ihm gehen?“, fragte sie stattdessen leise.
„Geh.“ Ungeduldig deutete er zur Tür. Nachdenklich beobachtete er, wie sie zur Tür lief. Offenbar konnte sie gar nicht schnell genug von ihm wegkommen.
Als Lucy endlich in ihre Suite im Palast zurückkehrte, ging die Sonne bereits unter. Unendlich erleichtert, endlich Kahlils Nähe entronnen zu sein, stellte sie glücklich fest, wie gut Edward sich bereits in seiner neuen Umgebung eingelebt hatte.
„Er ist aufgewacht, kurz nachdem Sie weg waren“, erzählte ihr Leila. „Aber er ist bester Laune.“
„Kein Wunder angesichts der liebevollen Betreuung und des vielen neuen Spielzeugs“, meinte Lucy, nahm ihren kleinen Sohn auf den Arm und drückte ihn an sich. Dann sah sie sich zweifelnd um. Wie sollte sie damit jemals konkurrieren? Berge von Spielzeugautos, eine hölzerne Eisenbahn und sogar ein Schaukelpferd, nach dem Edward immer wieder die kleinen Ärmchen ausstreckte.
„Er ist ganz verrückt danach, darauf zu reiten“, sagte Leila lächelnd. „Vermutlich sind Sie auch eine begeisterte Reiterin.“
„Ja“, antwortete Lucy zerstreut und setzte Edward in den Sattel.
„Oder vielleicht kommt er in diesem Punkt ja auch nach seinem Vater“, bemerkte Leila arglos. Aber als sie Lucys bestürztes Gesicht sah, fügte sie rasch hinzu: „Verzeihung, ich wollte nicht …“
„Schon gut“, fiel Lucy ihr ins Wort. „Wahrscheinlich haben Sie sogar recht.“ Leilas Bemerkung hatte ihr klargemacht, dass sie eigentlich gar nichts über Edwards Vater wusste. Gut möglich, dass Kahlil ein guter Reiter war, so athletisch, wie er aussah.
Unruhig bemerkte Lucy, dass Leila sie immer noch beobachtete. „Wo kommen eigentlich all die Spielsachen her?“, fragte sie, um von sich abzulenken.
„Offensichtlich war dies früher Scheich Kahlils Kinderzimmer“, erzählte Leila. „Die Bediensteten haben mir gesagt, dass viele seiner Spielsachen immer noch hier in den Schränken stehen.“
Scheich Kahlil. Mein Liebhaber! Edwards Vater! Die respektvolle Weise, mit der Leila seinen Namen aussprach, machte Lucy schmerzhaft bewusst, wie gefährlich ihre Lage war.