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Jake, Caleb und Travis sind drei temperamentvolle Brüder. Nach der Rückkehr auf die Familienranch stellt sich für sie eine der größten Fragen: Lassen sich Ihre leidenschaftlichen Herzen bändigen? Miniserie von Sandra Marton ZARTE LIEBE – GEFÄHRLICHES SPIEL Unfassbar! Erst behauptet Jake Wilde, sie hätte ihre Ranch dank ihrer weiblichen Reize geerbt, und dann wagt dieser verbohrte Cowboy es auch noch, seine Stiefel auf ihren Grund zu setzen. Am liebsten würde Addison ihn gleich wieder ohrfeigen – oder sich in seine Arme werfen! ENTFÜHRE MICH IN DEINE WELT Glamouröse Partys sind eigentlich nichts für Caleb Wilde … doch dann entdeckt er seine Traumfrau: blond, schön und mit einer Haltung, die ihren unbändigen Stolz verrät. Nach einer leidenschaftlichen Nacht steht fest: Er, der Millionär, und Sage, die Kellnerin, wollen ihr Glück als Liebespaar finden … BITTE, SCHENK MIR DIESE NACHT Der selbstbewusste Millionär Travis ist fasziniert von der schüchternen Jennie, die ganz genau weiß, was sie will: ihn. Er ahnt nicht, dass ihr Leben am seidenen Faden hängt und sie endlich die Liebe erleben will. Erst spät begreift er, wie viel sie ihm bedeutet. Zu spät?
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Seitenzahl: 616
Sandra Marton
JULIA COLLECTION BAND 199
IMPRESSUM
JULIA COLLECTION erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Neuauflage 2024 in der Reihe JULIA COLLECTION, Band 199
© 2012 by Sandra Marton Originaltitel: „The Dangerous Jacob Wilde“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd.., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Sonja Sajlo-Lucich Deutsche Erstausgabe 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 2125
© 2012 by Sandra Marton Originaltitel: „The Ruthless Caleb Wilde“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd.., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Sonja Sajlo-Lucich Deutsche Erstausgabe 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 2129
© 2013 by Sandra Marton Originaltitel: „The Merciless Travis Wilde“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd.., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Sonja Sajlo-Lucich Deutsche Erstausgabe 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,in der Reihe JULIA, Band 2133
Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 06/2024 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751525930
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Jake Wilde war immer jemand gewesen, den die Frauen wollten und die Männer beneideten.
Außerdem war er klug und sah gut aus. So gut, dass er in Dallas angesprochen worden war, ob er sich nicht vorstellen könnte, nach Osten zu ziehen und als Model zu arbeiten.
Fast hätte Jake dem Typen die Faust ins Gesicht geschlagen, dann aber gerade noch rechtzeitig erkannt, dass es keine Anmache, sondern ein ernst gemeintes Angebot war. Also hatte er dankend abgelehnt und sich in seinen Pick-up geschwungen. Er wollte so schnell wie möglich zur Familienranch zurück, um sich mit seinen Brüdern vor Lachen auszuschütten.
Mit anderen Worten – das Leben war großartig.
Die Erinnerungen flogen vorüber: College – drei Jahre, zumindest. Dann hatte er, aus Gründen, die ihm damals vernünftig erschienen, abgebrochen.
Auf die eine oder andere Weise hatten alle Wildes ihrem Land gedient. Travis als Kampfjet-Pilot, Caleb als Agent in irgendeiner dieser hoch geheimen Regierungsabteilungen, über die niemand sprach. Bei Jake waren es militärische Einsätze mit dem Blackhawk in Krisengebieten gewesen.
Und innerhalb eines Wimpernschlags hatte sich alles geändert.
Seine Welt. Sein Leben. Alles, was ihn ausmachte.
Aber …
Nicht alles war anders geworden.
Das erkannte er an jenem Frühlingsabend, an dem er über die stockdunkle Straße durch die texanische Nacht brauste, auf dem Weg nach Hause.
Im Dunkeln runzelte Jake die Stirn.
Moment. Auf dem Weg zu dem Ort, an dem er aufgewachsen war. Als Zuhause sah er die Farm nicht mehr an.
Vier lange Jahre war er weg gewesen. Um genau zu sein: vier Jahre, ein Monat und zwei Wochen.
Trotzdem schien ihm die Straße vertraut wie seine Westentasche.
Wie auch die Gegend auf der Fahrt vom Dallas Fort Worth Airport hierher.
Fünfzig Meilen Highway, dann der Abzweig auf die Landstraße, endlos und schnurgerade, gesäumt von Zäunen, hinter denen die Rinder wie stumme Wächter standen, und dann, eine knappe Stunde später, das Loch im Zaun, das schon immer auf den namenlosen Feldweg geführt hatte, an dessen Ende das Haus des alten Chambers lag.
Jake bog in die Straße ein. Selbst nach all den Jahren lenkte er den 63er Thunderbird automatisch um das Schlagloch herum, das die Grundstücksgrenze markierte. Es gehörte bereits zum Land des Alten, daher hatte nie jemand das Schlagloch ausgebessert.
„Auf meinem Land braucht keiner was zu machen“, würde Elijah Chambers nur knurren, wenn jemand tatsächlich dumm genug wäre, es vorzuschlagen.
Jakes Vater hatte den Alten verachtet. Aber … der General verachtete jeden, dessen Bügelfalte nicht absolut exakt saß und dessen Schuhe nicht auf Hochglanz poliert waren.
Das galt auch für die eigenen Söhne.
Wenn du mit einem Vier-Sterne-General als Vater aufwächst, dann hast du gefälligst auch tadellos und seinem Rang entsprechend aufzutreten.
Das hatte Caleb früher immer gesagt. Oder vielleicht war es auch Travis gewesen.
Vielleicht war ich es aber auch selbst. Ein Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Oder zumindest etwas, das einem Lächeln ziemlich nahekam. Zum ersten Mal seit Langem. Er unterdrückte es sofort.
Ein Mann gewöhnte sich das Lächeln ab, wenn er damit letztendlich jeden nur zu Tode erschreckte.
Jake trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad. Vielleicht sollte er besser umdrehen und nach …
Ja, wohin?
Nach Washington auf jeden Fall nicht. Auch nicht in die Klinik. Er wollte sein Lebtag kein Krankenhaus mehr von innen sehen. Nicht zum Stützpunkt und auch nicht zu seinem Haus in Georgetown. Zu viele Erinnerungen. Davon ganz abgesehen, er gehörte weder auf den Stützpunkt noch nach Washington. Und das Haus hatte er verkauft. Gestern hatte er den Vertrag unterschrieben.
Er gehörte nirgendwohin, das war die Wahrheit. Nicht einmal nach Texas. Und ganz bestimmt nicht auf El Sueño, die Ranch mit ihren 500.000 Morgen Hügel- und Grasland.
Die Ranch war der Hauptgrund, weshalb er nicht lange bleiben würde.
Seine Brüder wussten es und versuchten alles, um ihn umzustimmen.
„Hey, Mann, du gehörst hierher“, hatte Travis gesagt.
„Das ist dein Zuhause“, hatte Caleb in die gleiche Kerbe geschlagen. „Gewöhn dich wieder ein, lass es langsam angehen. Nimm dir Zeit, und überleg dir, wie der nächste Schritt aussehen soll.“
Jake änderte seine Sitzposition, um etwas mehr Beinfreiheit zu haben. Der Thunderbird bot einem Mann, der einen Meter neunzig maß, nicht sehr viel Platz. Aber wenn man mit sechzehn einen ganzen Sommer lang an einem Auto herumgeschraubt und es wieder fahrtüchtig gemacht hatte, dann war man eben auch zu Abstrichen bereit.
Bei Caleb hatte sich das so einfach angehört.
Das war es nicht.
Jake hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun wollte. Es sei denn, die Zeit ließe sich zurückdrehen bis zu dem Punkt, an dem sich alles verändert hatte, auf dem engen Bergpass mit den hohen Felswänden, die sich in einen schmutziggrauen Himmel reckten …
„Schluss damit“, sagte er rau in die Stille hinein.
Er würde einen oder auch zwei Tage auf der Ranch verbringen. Seine Schwestern wiedersehen, seine Brüder. Seinen Vater.
Und dann würde er wieder fahren.
Auf das Zusammentreffen mit seinen Schwestern freute er sich schon – hoffentlich brachen die Mädchen nicht in Tränen aus. Und der General? Nun, das wäre auch okay. Sein alter Herr würde ihm eine aufmunternde Rede halten. Wenn das nicht zu lange dauerte, würde er es schon überleben.
Ach, zum Teufel. Hier war niemand, der sein vernarbtes Gesicht sehen konnte, wenn er grinste. Und ehrlich gesagt, allein wenn er an Caleb und Travis dachte, musste er grinsen.
Die Wilde-Brüder waren immer unzertrennlich gewesen. Als Kinder hatten sie ständig gemeinsam gespielt, als Teenager waren sie zusammen in Prügeleien geraten. Und solange sie denken konnten, hatten sie immer die gleichen Vorlieben gehabt: schnelle Autos, schöne Frauen.
Garanten für Riesenärger.
Sie halten zusammen wie Pech und Schwefel, so hatten die Schwestern immer behauptet. Halbschwestern – der General war zweimal verheiratet gewesen, zwei verschiedene Mütter für die Brüder und die Schwestern.
Und es stimmte. Noch immer standen sie sich nah, sonst hätten seine Brüder ihn nie zu diesem Besuch überreden können.
Immerhin tat er es auf seine Art. Mehr oder weniger.
Sie hatten ihm nämlich einen Jet schicken wollen.
„Wir haben zwei von den Dingern auf El Sueño stehen“, hatte Travis gesagt. „Das solltest du wissen, du hast sie schließlich gekauft. Warum für ein Flugticket zahlen, wenn es nicht nötig ist?“
Ja, warum?
Eine Sache hatte Travis allerdings nicht erwähnt. Jake hatte die Flugzeuge nicht nur gekauft, er hatte sie auch geflogen.
Jetzt nicht mehr.
Ein Pilot, der nur noch ein Auge besaß, war kein Pilot mehr. Nach Hause zu kommen als Passagier eines Flugzeugs, das er einst selbst geflogen hatte … mit der Vorstellung konnte er nicht unbedingt gut umgehen. Und so hatte er behauptet, nicht zu wissen, wann genau er sich freimachen könne, und schließlich hatten seine Brüder es geschluckt.
„Es ist einfacher, wenn ich Freitagabend reinfliege und mir einen Mietwagen nehme.“
Von wegen, dachte er und lächelte erneut.
Sobald er nach der Landung den Fuß in das Flughafengebäude in Dallas gesetzt hatte, wurde er ausgerufen. Erst hatte er nicht darauf reagieren wollen, doch dann war er zum Informationsschalter gegangen.
„Captain Jacob Wilde. Sie haben mich ausgerufen“, hatte er knapp gesagt.
Die Flughafenangestellte stand mit dem Rücken zu ihm; als sie sich umwandte, saß das einstudierte Lächeln noch an seinem Platz …
… doch dann erstarb es.
„Oh“, stammelte sie nur. „Oh …“
Er musste sich zusammennehmen, denn eigentlich lag es ihm auf der Zunge zu sagen, dass dieses Gesicht, von der Augenklappe abgesehen, zu Halloween immer der Renner war.
Sie fasste sich schnell, das musste er ihr zugutehalten. Das übertriebene Lächeln kehrte fast sofort wieder zurück.
„Sir, ich habe etwas für Sie.“
Für ihn? Was? Hoffentlich nicht das, von dem die Jungs im Krankenhaus gesprochen hatten – ein Willkommenskomitee aus Zivilisten mit gesetzten Mienen, die ihm alle die Hand schütteln wollten.
Nein, Gott sei Dank war es nicht das, sondern ein brauner Umschlag.
In dem er einen Schlüssel fand sowie die Deck- und Stellplatznummern eines Parkhauses am Flugplatz.
Hast du geglaubt, du könntest uns was vormachen? stand auf den Zettel gekritzelt.
Sie hatten seinen alten Thunderbird hier für ihn abgestellt.
Völlig verrückt, dachte Jake und musste schlucken.
Der Wagen hatte es leichter gemacht, die endlose Weite von Nordtexas zu durchqueren.
Und dann plötzlich lag es vor ihm – das große Gatter, das die nördliche Grenze von El Sueño markierte.
Jake bremste den Thunderbird ab und ließ ihn ausrollen. Er hatte vergessen, wie es war, wenn man dieses große Holztor mit dem verwitterten Schild erblickte, auf dem El Sueño in großen Messinglettern zu lesen stand. El Sueño – der Traum.
Es war genau wie früher, nur dass das Tor offen stand.
Ganz sicher waren seine Schwestern dafür verantwortlich. Lissa, Em und Jamie hatten ihn auf ihre Art zu Hause willkommen heißen wollen. Es würde sie verletzen, wenn sie herausfanden, dass das hier der letzte Ort auf Erden war, an dem er sein wollte, aber er sah nicht, wie sich das vermeiden lassen sollte.
Er musste in Bewegung bleiben.
Jake trat das Gaspedal durch und brauste durch das offene Tor, ließ eine Staubwolke hinter sich aufwirbeln. Wären ihm nicht die Ausreden ausgegangen, wäre er überhaupt nicht hier.
„Ich werde sehen, was sich machen lässt“, hatte er gesagt, woraufhin Caleb ihm leise, aber bestimmt angedroht hatte, dass, sollte Jake weitere Ausflüchte suchen, er mit Travis nach Washington kommen würde, um Jake höchstpersönlich gefesselt und geknebelt nach Hause zu schleifen.
Wie er seine Brüder kannte, hätten sie die Drohung wahr gemacht. Und so hatte er es sich überlegt und war zu der Ansicht gekommen, dass es an der Zeit war, sich mal wieder zu zeigen. Und ist das nicht die passende Umschreibung? dachte Jake jetzt grimmig.
Für seine Familie war sein Aussehen keine Überraschung. Sie alle waren im Krankenhaus gewesen, hatten auf ihn gewartet, als die Frachtmaschine ihn in die Staaten zurücktransportierte. Seine Geschwister, der General … der bei jeder Gelegenheit betonte, dass er John Hamilton Wilde sei, General der Armee der Vereinigten Staaten von Amerika, und für seinen verwundeten Sohn verdammt noch mal ein Einzelzimmer und die besten Chirurgen verlangte, die das Walter Reed Army Medical Center zu bieten hatte!
Jake war zu weggetreten gewesen, um zu protestieren. Aber als er nach vielen Wochen endlich leichtere Schmerzmittel nehmen und wieder klar denken konnte, hatte er dem Ganzen ein Ende bereitet.
Keine Sonderbehandlung.
Und keine Besuche mehr von der Familie.
Das war doch unsinnig. Er wollte nicht zusehen, wie Em, Lissa und Jamie gegen die Tränen ankämpften, wie seine Brüder so taten, als wäre er in Null Komma nichts wieder ganz der Alte, wie sein Vater … nun, wie sein Vater eben war.
Deshalb hatte er es auch so lange hinausgezögert, nach Hause zu kommen, selbst für nur einen kurzen Besuch.
„Idiot.“ Mehr hatte Travis dazu nicht zu sagen gehabt.
Vielleicht war er das ja. Aber er wollte nicht, dass alle um ihn herumschwirrten und vorgaben, es hätte sich nichts geändert. Alles hatte sich geändert. Sein Gesicht, das Bild, das er von sich hatte.
War er überhaupt noch ein Mensch?
Eine verdammt gute Frage.
Eine noch bessere Frage: Wie vollbrachte man den Balanceakt, Normalität vorzugaukeln, und dem grausamen Bewusstsein, dass es nicht so war?
Im Moment würde er das erst einmal vergessen. Heute Abend war es sein Job, eine gute Show abzuliefern. Lächeln, solange er damit keinen in die Flucht trieb. Konversation machen, auch wenn er nichts zu sagen hatte, was Zivilisten hören wollten.
Sich benehmen, als wäre die Zeit nicht vergangen.
Er hatte den Weg zur Ranch allein zurücklegen wollen, um die Chance zu haben, sich an den Gedanken zu gewöhnen. Die saubere texanische Luft atmen, dem Nachtkonzert der Kojoten zuhören. Und zwar ohne dass ihn schon am Flughafen die Gefühle überwältigten.
Jeder Soldat, den er kannte, sagte dasselbe.
Zurückkommen war hart.
Man zog in den Krieg, angefeuert und aufgeputscht, vor allem, wenn man wie er, Jake, mit Geschichten von Mut, siegreichen Schlachten und Kriegern groß geworden war.
Seine Mutter war tot, gestorben, als Travis sechs, Caleb vier und er selbst zwei Jahre alt gewesen waren. Haushälterinnen, Nannys und eine Stiefmutter, die gerade lange genug geblieben war, um drei Mädchen zur Welt zu bringen, hatten sie aufgezogen.
Der General hatte ihnen bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er zu Hause war, Geschichten von Männern erzählt, die mit Cäsar gen Gallien gezogen, mit Ruderbooten auf den Britischen Inseln eingefallen oder über den Atlantik gesegelt waren und den Kontinent von den Ebenen Dakotas bis zur mexikanischen Grenze erobert hatten.
Damals hatte er die Geschichten geliebt. Heute wusste er, dass das alles Blödsinn war.
Nicht der Teil mit den Kriegern, der nicht. Während der letzten Jahre war er selbst einer gewesen, hatte Seite an Seite mit mutigen, anständigen Ehrenmännern gekämpft und der Nation gedient, die er liebte.
Nur hatte sein Vater nie etwas von den Lügen erzählt. Den Politikern. Davon, wie viel vertuscht wurde.
Jake stieg hart in die Bremsen, der Thunderbird wirbelte schleudernd eine Staubwolke auf und kam dann abrupt zum Stehen. Jake schloss für einen Moment die Augen. Sein Puls raste.
Fast wäre er wieder in die Dunkelheit abgerutscht – dabei hatte er sich geschworen, dass ihm das nicht mehr passieren würde.
Er wartete ab, bis sein Herzschlag sich beruhigte, dann stieg er aus.
Irgendetwas streifte seine Wange. Eine Motte. Gut. Motten waren real.
Er sog die kühle Nachtluft in die Lungen, schob die Hände in die Taschen und sah zum Himmel hinauf. In dem Moment schoben sich langsam einige Wolken vor die Sterne, die kalt glitzerten wie Eis.
Minuten vergingen, bis die Sterne und der Mond wieder aus den Wolken auftauchten. Erst dann setzte Jake sich in den Wagen und fuhr weiter. Irgendwann – endlich – sah er die Umrisse eines Hauses, das entfernt auf einer Anhöhe lag.
Panik stieg in Jake auf.
Er lenkte den Thunderbird an den Grasrand und stieg aus.
Links von ihm standen ein paar alte Eichen, ein Weg führte in den kleinen Wald. Jake steuerte den Pfad an und tauchte unter die Baumkronen. Der leichte Wind trug das Murmeln des Coyote Creek heran, der Bach, der sich durch das Wäldchen schlängelte. Trockene Äste knackten unter Jakes Cowboystiefeln. Er hatte sich nie zu einem anderen Schuhwerk durchringen können.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er Nächte wie diese geliebt. Die kalte Luft, das Glitzern der fernen Sterne. Damals hatte er auch in den Himmel aufgesehen und sich darüber gewundert, dass er auf einem Planeten stand, der im endlosen All um die eigene Achse wirbelte.
Er hob die Hand an sein Auge, rieb die gespannte Haut darunter. Jetzt bedeutete eine kalte Nacht wie diese für ihn nur, dass seine Knochen und die leere Augenhöhle schmerzten.
Wie konnte ein Auge wehtun, das nicht mehr existierte?
Diese Frage hatte er den Ärzten mindestens ein Dutzend Mal gestellt und immer dieselbe Antwort erhalten: Für sein Hirn gab es dieses Auge noch.
Er verzog den Mund. Das bewies nur, wie nutzlos so ein Gehirn für einen Mann war.
Letztendlich hatte er nicht die geringste Ahnung, weshalb er in der Kälte ausgestiegen und über verfaulte Blätter und abgebrochene Äste gewandert war. Aber er würde den Teufel tun und wieder zum Auto zurückkehren.
Der Trampelpfad war ihm ebenso vertraut wie das Tor, die Straße, sein alter Thunderbird. Generationen von Füchsen, Kojoten und Hunden hatten ihn mit ihren Pfoten festgestampft, ebenso wie die Kinder, die es immer wieder zu dem kühlen, schnell dahinfließenden Bach gezogen hatte. Jake war diesen Pfad unzählige Male entlanggegangen, nur eben noch nie in einer kalten Nacht, in der sein Schädel sich anfühlte, als wollte er zerspringen.
Er hätte etwas einnehmen sollen. Aspirin. Eine von den Schmerztabletten. Nur … er wollte keine verdammten Pillen mehr einwerfen, nicht einmal Aspirin.
Schließlich beschloss er, am Ende des Pfades umzukehren und zum Flughafen zurückfahren.
Doch dann trat er aus dem Dickicht – und es war zu spät.
Dort lag es vor ihm. Das Haus. Das Herz von El Sueño. Umgeben von alten, hohen Eichen und hell erleuchtet.
Irgendwo über ihm stieß eine Eule einen Schrei aus. Jake durchlief ein Schauer. Er rieb sich über die Wange. Die Haut fühlte sich heiß an.
Noch ein Eulenschrei, begleitet von einem schrillen Piepsen. Dinner für die Eule, Tod für die Beute.
Das war der Lauf der Welt. Manche überlebten, andere nicht. Und er, verflucht, würde zusehen, dass er von hier wegkam …
Sie können nicht ewig wegrennen, Captain.
Er hörte die Stimme laut und deutlich in seinem Kopf. Wer hatte das zu ihm gesagt? Einer der Ärzte? Ein Psychiater? Aber es stimmte nicht. Er wollte rennen, solange und so weit er konnte.
Die große Haustür ging auf. Jake zog sich hastig in den Schatten der Bäume zurück.
Menschen traten aus dem Haus. Formen, Schemen. Er konnte keine Gesichter erkennen. Aber er konnte Musik hören. Und Stimmen.
Viele Stimmen.
Er hatte deutlich geäußert, dass er niemanden außer seiner Familie sehen wollte. Er hätte sich denken können, dass eine solche Bitte zwecklos war. Seine Schwestern hatten wahrscheinlich die halbe Stadt verständigt. Und die andere Hälfte hatte sich selbst eingeladen. Das hier war schließlich Wilde’s Crossing.
Na schön. Das würde er schon schaffen. Denn wenn er ehrlich war, musste er zugeben, dass er diesen Ort noch immer liebte. El Sueño war ein Teil von ihm. Es lag in seinen Genen wie die keltischen eisblauen Augen und das schwarze Haar der Apachen. Die Wildes ließen sich schließlich Jahrhunderte zurückverfolgen.
Er fluchte leise. Er konnte es nicht bestreiten, aber verstehen konnte er es auch nicht. Warum sollte diese Tatsache Bedeutung haben? Welchen Einfluss hatte die Vergangenheit auf die Zukunft?
Gleich zwei Armee-Psychiater hatten ihm die Frage beantwortet: Die Vergangenheit bildete die Basis für die Gegenwart, auf der wiederum die Zukunft aufgebaut wurde.
Jake hatte keine weiteren Sitzungen mehr wahrgenommen. Sich auf eine Couch zu legen und sämtliche Seelengeheimnisse herauszuposaunen – das war nichts für ihn. Er hatte noch nie Geheimnisse verraten. Sonst würde man sie ja nicht Geheimnisse nennen.
Er musste wieder an die Geschichten denken, mit denen er und seine Brüder aufgewachsen waren.
„Vergesst das nie“, hatte der General immer gesagt. „Alles, was wir sind, alles, was wir haben, verdanken wir dem Mut und der Tapferkeit jener Männer, die vor uns gelebt haben.“
Und so hatten die Brüder seit ihrer Kindheit auf ihre Chance gewartet, die Tradition all der großen Männer fortzusetzen.
Erst das College – weil ihre Mutter es so gewollt hätte. Travis hatte sich für Finanzwesen, Caleb für Jura und Jake für Betriebswirtschaftslehre entschieden.
Er war der Einzige, der sich dann aber doch entschlossen hatte, eine militärische Laufbahn einzuschlagen. Weil er schon immer einen Blackhawk hatte fliegen wollen.
Er war oft auf geheimen Missionen unterwegs gewesen und hatte es geliebt. Dem Feind ein Schnippchen schlagen und Leben retten, wenn sonst nichts und niemand mehr helfen konnte.
Plötzlich stand er nicht mehr in Texas, sondern in einer Flammenhölle. Überall verkohltes schwarzes Land, Rauch, Feuer …
„Nein“, stieß er heiser aus und holte bebend Luft. Nein, dahin würde er heute Abend nicht zurückkehren.
Die Eule schrie erneut. Der Vogel war ein Jäger. Ein Überlebenskünstler.
Nun, das war er, Jake, auch.
Mit weit ausholenden Schritten ging er über das nachtfeuchte Gras zum Haus herüber, zu der Familie, die auf ihn wartete. Die Gestalten an der Tür nahmen deutlichere Formen an.
„Jake?“ Jamie und Lissa riefen beide gleichzeitig seinen Namen.
„Jake?!“ Das waren Caleb und Travis.
„Oh Gott … Jake!“, kreischte jetzt auch Emma auf.
Dann hatte er das Haus erreicht, und sie alle stolperten die Verandatreppe herunter und auf ihn zu. Lachend und weinend umarmten sie ihn. Er fühlte die Nässe auf seinem Gesicht.
Die Tränen seiner Geschwister.
Und vielleicht waren auch seine Tränen dabei.
Versprechen hielt man.
So lautete Addison McDowells Devise.
Und das war der einzige Grund, weshalb sie zu dieser idiotischen Party heute Abend gekommen war. Sie hatte ihrem Finanzberater und ihrem Anwalt – ihrem texanischen Finanzberater und ihrem texanischen Anwalt – versprochen, hinzugehen.
Sich an Zusagen zu halten war einfach korrekt. Und Korrektheit war wichtig. Darauf achtete sie eisern, seit sie eine „Addison“ war und keine „Adoré“ mehr.
Mädchen, die in einem schäbigen Wohnwagenpark aufwuchsen, trugen vielleicht diesen grässlichen Namen, aber diese Zeit lag weit hinter ihr.
Sie hatte alles erreicht, für das der Name Addison stand. Sie war erfolgreich und weltgewandt. Ihr gehörte eine Eigentumswohnung in Manhattan – mit einer riesigen Hypothek, zugegeben. Sie hatte einen Abschluss in Jura von der Columbia University. Sie kleidete sich elegant.
Seit ein paar Monaten gab es allerdings einen Wermutstropfen.
Ihr Ruf passte eher zu einer Adoré als zu einer Addison. Und war das nicht extrem ärgerlich, nach all den Anstrengungen, dem Wohnwagenpark und dem Erbe der plumpen, ungeschlachten Frauen zu entfliehen?
Addison nippte an ihrem Merlot. Wenn Charlie ihr doch nur nicht diese Ranch vermacht hätte. Wenn er doch nur nicht gestorben wäre …
Er war der beste Freund gewesen, den sie je gehabt hatte. Eigentlich ihr einziger Freund. Und er war nicht auf ihren Körper aus gewesen, sondern auf ihren Intellekt, und zum Teufel mit dem, was andere denken mochten.
Charles Hilton, der millionenschwere Rechtsanwalt, hatte sie gemocht. Hatte sie respektiert.
Begegnet waren sie sich, als Addison nach dem Examen in seiner Kanzlei anfing. Dann hatten sie sich besser kennengelernt, und Charlie hatte mehr in ihr gesehen als das Offensichtliche – das schimmernde dunkle Haar, das sie immer streng zurückgekämmt trug, die silbergrauen Augen, die kurvige Figur, die sie mit nüchternen Kostümen kaschierte.
Charlie hatte hinter die Fassade geschaut und ihr wahres Ich erkannt – die intelligente, ehrgeizige Frau, die entschlossen war, es auf jeden Fall zu schaffen. Er war ihr Mentor geworden.
Zuerst hatte sein Interesse sie argwöhnisch gemacht, doch dann merkte sie, dass er sie wie die Tochter liebte, die er nie gehabt hatte. Und sie begann, ihn wie den Vater zu lieben, den sie verloren hatte.
Als er durch die Krankheit zunehmend verfiel, hatte sie ihn noch mehr geliebt. Er brauchte sie, und gebraucht zu werden war ein gutes Gefühl. Zwischen ihnen hatte es keine Intimitäten gegeben, es sei denn, man wollte es als Intimität bezeichnen, dass sie ihm zu seinem Ende hin die verspannten Schultern massiert hatte.
Allein die Vorstellung war obszön.
Doch Klatsch lebte nun mal nicht von der Wahrheit, sondern von pikanten Gerüchten. Die gaben schließlich so viel mehr her, ob nun in Manhattan oder in Wilde’s Crossing, Texas.
Seit ihrer Ankunft in diesem Ort hielt sie sich extrem bedeckt. Trotzdem machte es keinen Unterschied. Die Leute starrten sie an, wann immer sie sich zeigte, ganz gleich, was die Wilde-Brüder auch behaupteten. Heute Abend würde es nicht anders sein.
„Irrtum“, hatte Travis Wilde gesagt.
Addison nahm noch einen Schluck Wein.
Travis Wilde war derjenige, der sich irrte. Die Leute starrten sie an. Und vielleicht war es heute ja sogar berechtigt.
Zuerst hatte sie das Kostüm angezogen. Zu geschäftsmäßig. Damit würde sie nur unangenehm auffallen. Also war sie in Jeans, Bluse – Seide – und Stiefel gestiegen. Ein Blick in den gesprungenen Badezimmerspiegel des alten Chambers hatte ihr gezeigt, dass sie aussah wie eine New Yorkerin, die sich für eine Kostümparty mit dem Thema „Wilder Westen“ zurechtgemacht hatte.
War es nicht erstaunlich, dass sie Charlies Ranch, ihre Ranch, automatisch noch immer mit dem Namen des ehemaligen Besitzers nannte, so wie jeder andere hier auch?
„Ach, zum Teufel!“, hatte sie schließlich irgendwann laut gesagt und eine Maus war beim Klang ihrer Stimme in das Loch in der Wand geflüchtet.
Nur gut, dass sie keine Angst vor Mäusen hatte. Oder vor Spinnen. Oder vor dieser Riesenschlange, die sie von der Veranda dieser Bruchbude, die nun ihr gehörte, hatte fegen müssen.
Sie hatte vor nichts Angst. Deshalb hatte sie es ja auch vom Wohnwagenpark in die Park Avenue geschafft.
Und so hatte sie sich für ein elegantes Kleines Schwarzes und hochhackige, farblich dazu passende Stilettos entschieden.
Die Geschichten über sie waren lange vor ihr in Wilde’s Crossing angekommen. Als sie die Wilde-Brüder befragt hatte, waren die nur rot angelaufen. Dass erwachsenen Männern so etwas noch passieren konnte, besaß einen gewissen Charme, dem Addison aber momentan nichts abgewinnen konnte. Sie war es einfach nur leid, dass über sie getratscht wurde.
Man würde also über sie reden, ganz gleich, was sie anzog. Also konnte sie ihnen auch einen echten Grund liefern, selbst wenn zu Hause niemand bei Cocktailkleid und High Heels auch nur mit der Wimper zucken würde. Die meisten Frauen würden wahrscheinlich in Jeans kommen oder in Rüschenkleidern, die nur bei Sechsjährigen gut aussahen.
Alle Annahmen bestätigt, dachte Addison jetzt, während sie das leere Weinglas gegen ein volles vom Tablett des vorbeilaufenden Kellners austauschte. Sie hatte richtig vermutet, was die Frauen und die Einstellung des gesamten Städtchens anging. Nicht nur urteilten und verdammten die Damen sofort, sie waren auch päpstlicher als der Papst.
So wie die, die sie gerade anstarrte. Rüschenkleid, viel zu greller Lippenstift, toupiertes Haar. Wussten die Frauen in Texas denn nicht, dass nur Dolly Parton mit einem solchen Helm durchkam?
Addison lächelte überfreundlich, und die Frau wandte hastig peinlich berührt den Blick ab.
Ja, freut mich auch, Sie kennenzulernen. Gott, wieso bin ich eigentlich hier? fragte Addison sich verzweifelt.
Weil Travis und Caleb Wilde sie darum gebeten hatten.
Womit sie wieder beim Ausgangspunkt angelangt war.
Die beiden hatten sie gefragt, und in einem untypischen Anfall von Nachgiebigkeit hatte Addison zugesagt, auf der Willkommensparty des dritten Bruders zu erscheinen, auch wenn es keine wirkliche Party werden würde.
„Nur die Familie und ein paar Freunde“, hatte Caleb behauptet.
„Und vielleicht noch ein paar andere“, hatte Travis hinzugefügt.
Ja sicher, nur Familie und Freunde. Sie hätte es in dem Moment wissen müssen, in dem Travis in seinen lässigen Texas-Singsang verfallen war.
Die ganze Stadt war in dem riesigen Salon von El Sueño versammelt.
El Sueño. Der Traum. Ein ziemlich hochtrabender Name für eine halbe Million Morgen Busch- und Grasland, Blumen- und Gemüsegärten, staubige Straßen, teures Pferdefleisch und sprudelnde Ölquellen. Eines hatte Addison inzwischen erkannt: Die Texaner wurden ebenso leicht poetisch, wenn es um ihr Land ging, wie sie keine Probleme hatten, es bis zum Umfallen zu bearbeiten.
Selbst Charlie, kein Texaner, sondern wie sie an der Ostküste geboren und aufgewachsen, hatte sich von dieser Poesie einfangen lassen.
Addison seufzte. Wäre Charlie rübergeflogen und hätte sich die Chambers-Ranch erst angesehen, bevor er sie kaufte, hätte sich das alles hier wahrscheinlich erübrigt. Doch Charlie hatte die Ranch erworben – und war eine Woche später gestorben. Sein Tod hatte sie zutiefst mitgenommen, noch fassungsloser war sie, als sie herausfand, dass er ihr die Ranch vermacht hatte.
Eine ganze Zeit lang hatte sie überhaupt nichts unternommen. Dann hatte sie das getan, was Charlie versäumt hatte: Sie hatte sämtlichen ausstehenden Urlaub der vergangenen zwei Jahre genommen und einen Flug gebucht, um sich die Ranch anzusehen.
Was sie vorfand, hatte nichts mit dem zu tun, was man sich unter einer Ranch vorstellte, wenn man die alten John-Wayne-Filme kannte. Die Chambers-Ranch bestand aus Tausenden Morgen Gestrüpp, aus Schuppen und Scheunen, die aussahen, als würden sie beim nächsten Windstoß umfallen, einem Wohnhaus, das hauptsächlich Nagern und Kriechgetier als Biotop diente, einem halben Dutzend erbarmungswürdig aussehenden Gäulen und sonst nicht viel mehr.
Weshalb sie sich ja auch an die Wildes als Berater gewandt hatte …
„Na, kleine Lady … wie kommt es, dass Sie Rotwein trinken, wenn der Champagner hier in Strömen fließt, sodass man den Rio Grande damit füllen könnte?“
Ein Riesenkerl mit einem noch größeren Stetson, eine Champagnerflöte in der Pranke, schenkte ihr ein breites Lächeln.
Oh nein, nicht schon wieder!
„Jimbo Fawcett“, stellte er sich vor. „Von der Fawcett-Ranch.“
Wie konnte man einen ganzen Stammbaum in sechs kurze Worte fassen? Einem anderen Jimbo-Fawcett-Typen war das bereits vor diesem hier gelungen. Und auch er hatte offensichtlich erwartet, dass Addison ihm den Rest des Abends fasziniert zuhören würde, denn schließlich konnte sie sich geschmeichelt fühlen, dass seine Wahl ausgerechnet auf sie gefallen war.
Nun, mal abgesehen von den Stetsons benahmen sich die protzigen New Yorker Top-Anwälte und Wall-Street-Tycoons genauso; sie war also an solches Gehabe gewöhnt. „Wie schön für Sie“, gab sie freundlich zurück.
„Sie müssen Addie McDowell sein.“
„Addison McDowell, richtig.“
Fawcett lachte dröhnend. „Hey, so formell sind wir hier nicht, kleine Lady.“
Das reichte nun wirklich. „Mr. Fawcett …“
„Jimbo.“
„Mr. Fawcett.“ Addison lächelte strahlend. „Als Nächstes werden Sie die Tatsache feststellen, dass ich neu in Wilde’s Crossing bin, und mir sagen, wie schade es doch sei, dass wir uns nicht schon früher kennengelernt haben.“
Fawcett blinzelte.
„Ich werde sagen, ja, ich bin neu hier. Und kennengelernt haben wir uns noch nicht, weil ich kein Interesse daran habe, jemanden kennenzulernen. Im Anschluss werde ich Sie darüber informieren, dass mir Rotwein einfach besser schmeckt. Sie sind sicherlich ein sehr netter Mann, Mr. Fawcett, aber ich bin weder an Champagner interessiert noch an irgendetwas anderem. Ist das so weit verständlich?“
Fawcett stand der Mund offen.
Mitleid für den Mann regte sich in Addison, sie tätschelte leicht seinen Arm. „Trotzdem danke.“ Sie drehte sich um und bahnte sich einen Weg durch die Menge. Bei dem Steinway-Flügel am anderen Ende des Raumes hatte sie ein relativ freies Plätzchen an der Wand entdeckt. Dort würde sie sich vorerst einrichten.
Verdammt. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Wie lange konnte es denn noch dauern, bis der Held ankam? Noch fünf Minuten, dann würde sie …
„Wieso habe ich den Eindruck, dass Sie sich nicht sonderlich gut amüsieren?“
Sie schwang herum, eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, doch dann erkannte sie den großen, gut aussehenden Mann, der sich an ihre Seite gestellt hatte. Mit zusammengekniffenen Augen taxierte sie ihn. „Travis Wilde. Dafür sind Sie mir was schuldig. Und zwar nicht zu knapp.“
„Das beantwortet wohl deine Frage.“ Caleb Wilde trat ebenfalls dazu. „Den Eindruck hast du, weil sie sich tatsächlich nicht gut amüsiert. Stimmt’s, Addison?“
„In Anbetracht der Tatsache, dass ich im letzten Monat die Einladungen des Country Clubs sowie der Rancher-Vereinigung ausgeschlagen habe, des Weiteren die des Hausfrauen-Nähzirkels …“
„Oh nein, doch nicht die des Nähzirkels?!“, meinte Travis gespielt schockiert.
„Doch, des Nähzirkels.“ Als sie das Zucken um die Mundwinkel der Brüder sah, verpuffte ihr Ärger ein wenig. Aber nur ein wenig. „Sie sagten, er würde um acht hier sein.“
„Jacob …“ Caleb räusperte sich. „Davon gingen wir aus.“
„Jetzt ist es halb neun. Und noch immer nicht das kleinste Zeichen unseres geheimnisvollen Helden.“
„Jake ist nicht geheimnisvoll“, widersprach Travis sofort. „Er wird schon noch kommen. Haben Sie nur ein bisschen mehr Geduld.“
Addison schnitt eine Grimasse. Geduld war noch nie ihre Tugend.
„Sie brauchen einen Experten, der sich die Chambers Ranch genau ansieht und Ihnen sagt, ob es Sinn hat zu renovieren, bevor Sie die Ranch zum Verkauf anbieten. In dem heutigen Wirtschaftsklima …“
Addison hob abwehrend die Hand. „Die Rede habe ich schon gehört.“
„Und sie ist noch immer aktuell. Jakes Urteil könnte einen Unterschied von mehreren hunderttausend Dollar für Sie ausmachen.“
Dem konnte sie sich wohl nicht verschließen. Die Hypothek für das Apartment in Manhattan, der Kredit für die Ausbildung …
Außerdem hatte die Ranch Charlie etwas bedeutet, und er hatte sie ihr hinterlassen. Das kam einer Verpflichtung gleich. Sie musste das Richtige tun, aus Respekt gegenüber seinem Andenken.
„Noch zehn Minuten, einverstanden? Bis dahin wird er hier sein“, versicherte Caleb.
„Sollte er besser auch.“ Sie schwächte ihre Worte mit einem Lächeln ab.
Die zehn Minuten konnte sie noch erübrigen, teils, weil sie Caleb, ihren Anwalt, und Travis, ihren Finanzberater, mochte und respektierte …
… und teils, weil sie neugierig war.
Sie war sich ziemlich sicher, dass die Wilde-Brüder ihr lange nicht alles über den geheimnisvollen Jacob erzählt hatten. Sie wusste, dass er in der Armee war – oder gewesen war. Dass er verwundet worden war und irgendeine Art Held sein musste. Das hatte sie nicht von den Brüdern erfahren, sondern von dem einsamen Cowboy, der auf ihrer Ranch arbeitete. Caleb und Travis redeten immer nur davon, dass Jacob der Einzige sei, der den Wert der Ranch bestimmen konnte.
„Wenn Sie verkaufen, ohne sich vorher seine Meinung angehört zu haben, werden Sie es bereuen.“
„Könnte nicht jemand anderes den Wert bestimmen?“, hatte sie gefragt.
Die Brüder hatten einen Blick gewechselt, so schnell, dass sie es fast nicht bemerkt hätte, wenn sie die beiden nicht von ihrem Schreibtisch aus – dem Schreibtisch des alten Chambers – genau beobachtet hätte. Sie saßen in dem Zimmer der Ranch, das man mit sehr viel Wohlwollen als Büro bezeichnen konnte.
Addison hatte fragend die Augenbrauen in die Höhe gezogen. „Was?“
„Nichts.“ Das kam von Caleb.
„Nein, überhaupt nichts“, bekräftigte Travis nur noch.
„Unsinn. Sie verheimlichen mir doch etwas. Ich will wissen, was es ist.“
Noch ein schneller Blickwechsel, dann räusperte Travis sich. „Jake ist der Mann, den Sie brauchen, Addison.“
Sie war versucht gewesen, darauf aufmerksam zu machen, dass sie keineswegs einen Mann brauchte. Sie hatte ihre Karriere, stand auf eigenen Beinen, war unabhängig. Aber das hatte Travis damit nicht gemeint, und sie wusste es auch.
„Er ist der Beste.“
„Aber?“
Travis zuckte mit den Schultern. „Aber er hat nicht vor, länger zu bleiben.“
„Da! Schon wieder! Der Singsang, das Lächeln, der berüchtigte Wilde-Charme. Dabei wissen Sie beide ganz genau, dass Ihnen das nichts einbringt.“ Sie sagte es so, dass beide Brüder grinsten.
„Mist.“ Travis lehnte sich zurück und kreuzte die Füße mit den Cowboystiefeln. „Das funktioniert sonst immer, bei jeder einzelnen Frau in Texas.“
„Das nehme ich Ihnen unbesehen ab“, flötete sie zuckersüß. „Allerdings komme ich nicht aus Texas. Und ich bin auch nicht jede Frau, sondern Ihre Auftraggeberin.“
„Unsere Mandantin“, verbesserte Travis.
Die Brüder grinsten erneut. Addison auch. Das war inzwischen zur Routine geworden. Es überraschte Addison dennoch, dass sie sich mit den beiden wohl genug fühlte, um sich auf ein solches Geplänkel einzulassen.
„Und da Sie unsere Klientin sind, haben wir nur das Beste für Sie im Auge.“
„Ich erwarte mehr Informationen, sonst biete ich die Ranch morgen auf dem Markt an“, meinte sie herausfordernd.
Die Brüder hatten einander lange angesehen, dann hatte Caleb einen schweren Seufzer ausgestoßen.
„Jake war in der Armee.“
„Und?“
„Und er … wurde verwundet. Und er … ist sich nicht sicher, ob er auf El Sueño bleiben will oder doch lieber weiterzieht. Und …“
„Er braucht einen handfesten Grund, um zu bleiben“, mischte Travis sich ein. Kein Singsang, kein Charme, nur die nüchterne Stimme des Finanzberaters. „Er kennt Ihr Land fast so gut wie unseres. Er ist clever, pragmatisch und versteht mehr als jeder andere etwas von Pferden und Agrarwirtschaft.“
„Wir geben Ihnen unser Wort“, sagte jetzt auch Caleb ebenso sachlich, „dass Sie es nicht bereuen werden, wenn Sie mit ihm zusammenarbeiten.“ Und bevor sie etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: „Bereuen Sie etwa unsere Zusammenarbeit?“
Wenn sie jetzt an diese Unterhaltung zurückdachte, entfuhr Addison ein leiser Seufzer. Sie nippte von ihrem Wein. Nein, bereuen tat sie definitiv nichts. Sie mochte die Wildes, und sie hatte gelernt, ihnen zu vertrauen. Seit sie in Wilde’s Crossing angekommen war, waren die beiden ihre Berater, einer für die rechtlichen Angelegenheiten, der andere für das Finanzielle. Sie hatte einfach keinen Sinn darin gesehen, sich an einen Anwalt und einen Finanzberater in New York zu wenden.
Da konnte sie sich auch den praktischen Rat für die Ranch bei dem anderen Bruder holen.
Und deshalb war sie heute Abend hier. Travis hatte sie in Empfang genommen, mit den anderen Gästen bekannt gemacht und sie seinen Schwestern vorgestellt.
Scheinbar hatte niemand den dreien gesagt, dass ihre Beziehung zu den beiden Brüdern rein geschäftlich war. Nicht, dass die drei unfreundlich gewesen wären, aber als Frau merkte man es, wenn andere Frauen einen genau unter die Lupe nahmen.
Fast hätte sie gesagt: Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich habe nicht vor, etwas mit Ihren Brüdern anzufangen, mit keinem von ihnen. Sie sind sicher Prachtkerle, und ich mag sie, aber ich habe keinerlei Interesse daran, mich mit ihnen einzulassen. Mit keinem Mann, ganz gleich, wie sexy, reich oder charmant er auch sein mag. Eher friert die Hölle zu, und selbst dann wäre es noch immer fraglich.
Genauso wenig Interesse hatte sie daran, noch länger auf den Helden zu warten. Den verwundeten Helden, verbesserte sie sich in Gedanken. So schwer konnte die Verwundung wohl nicht gewesen sein.
Jacob Wilde war der Sohn eines berühmten Mannes. Er war in Reichtum aufgewachsen und sicher maßlos verwöhnt. Mädchen aus dem Wohnwagenpark kannten solche Typen. Warum also stand sie noch immer hier herum und wartete auf einen Mann, den sie garantiert unsympathisch finden würde?
„Jake?“
„Oh Gott … Jake!“
Vor einer Viertelstunde hatte irgendjemand die Haustür geöffnet, jetzt versuchte der gesamte Wilde-Clan, sich auf einmal hindurchzuzwängen. Die Schwestern hüpften auf und ab wie Jojos, die Brüder lachten freudig. Die Truppe stürmte nach draußen, und die Menge der Gäste folgte ihnen, um nichts von der Show zu verpassen.
Addison seufzte. Zu spät. Jetzt saß sie hier fest – zumindest bis sie dem Helden die Hand geschüttelt hatte. Oder vielleicht würde ihn die Menge ja umringen und mit Beschlag belegen, sodass niemandem auffiel, wenn sie sich aus dem Haus schlich …
Dann betrat Jacob Wilde das Zimmer, und ihr stockte der Atem.
Sie hatte damit gerechnet, dass er gut aussehen würde. Aber nicht, dass er – es ließ sich kein anderes Wort finden – so schön war.
Groß. Breite Schultern. Einen schlanken, muskulösen Körper, stolze und gerade Haltung in der Uniform, die Brust mit Auszeichnungen übersät. Sein Haar war nachtschwarz.
Kitschig, aber wahr. Sein Gesicht hätte von einem Bildhauer gemeißelt sein können.
Einem Bildhauer mit einem grausamen Sinn für Ironie.
Denn Jacob Wildes Antlitz war absolut perfekt … Außer der Lederklappe über dem einen Auge und den Narben, die über seine Wange liefen.
Wie erstarrt blieb Jake in der Tür stehen.
Die Euphorie über das Wiedersehen mit seinen Geschwistern verflog schlagartig beim Anblick der vielen Gäste.
Keine Party, hatte er gesagt. Keine große Gesellschaft. Natürlich hatte er damit gerechnet, dass verschiedene Leute auftauchen würden, aber …
Sein Magen zog sich zusammen. Von hier sah es aus, als hätte sich die gesamte Region eingefunden. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück, doch seine Schwestern drängten und klammerten sich an ihn.
„Du bist hier“, sagte Em glücklich.
„Wirklich hier“, kam es von Jamie.
„Du bist wieder zu Hause“, fügte Lissa hinzu.
Und was hätte er da anderes tun können, als sie alle zu umarmen?
Caleb klopfte ihm auf den Rücken, Travis drückte seine Schulter. Und trotz allem machte Jake gute Miene zum bösen Spiel.
„Ist das mein Willkommenskomitee? Oder wolltet ihr mich fertigmachen?“
Sie lachten zusammen mit ihm, seine Schwestern mit Tränen in den Augen, seine Brüder mit einem Grinsen, das von einem Ohr bis zum anderen reichte.
Für einen Moment war es, als hätte sich nichts geändert. Als wären sie alle noch Kinder und die Welt ein großer Abenteuerspielplatz mit unbegrenzten Möglichkeiten …
Dann räusperte Caleb sich. „Der General richtet dir seine besten Grüße aus.“
Jake ließ den Blick durch den Raum wandern. „Er ist gar nicht hier?“
„Nein.“ Travis fühlte sich sichtlich unwohl. „Er entschuldigt sich, aber er konnte dem Treffen der NATO in London nicht fernbleiben.“
Die Realität kehrte zurück, traf ihn wie eine kalte Dusche. „Natürlich“, sagte Jake steif, „ich verstehe.“
Einen Moment herrschte Schweigen, dann berührte Jamie leicht seinen Arm. „Jeder möchte dir Hallo sagen.“
Jake zwang sich zu einem Lächeln. „Ja, das sehe ich.“
Caleb lehnte sich zu ihm herüber. „Entschuldige den Menschenauflauf.“
„Glaub mir, Bruderherz, das war nicht geplant“, schloss Travis sich dem an.
„Die Nachricht hat sich verbreitet wie ein Lauffeuer“, meinte Lissa. „Sie wollen dich alle wieder zu Hause begrüßen …“
„Das ist doch nicht schlimm, Jake, oder?“, fragte Em.
„Nein, natürlich nicht.“
Seine Brüder wussten genau, dass es nicht stimmte. „Ihr Ladys könnt ihn später mit Beschlag belegen. Aber erst einmal braucht der Mann ein kühles Blondes, richtig, Bruderherz?“
Das Einzige, was er brauchte, war Abstand von dem ganzen Trubel hier. Er wusste doch, was passieren würde, wenn er ins volle Licht trat und die Menge ihn erst genauer sehen konnte. Aber nun gab es kein Zurück mehr.
„Es sei denn natürlich, unser kleiner Bruder hätte lieber Champagner“, meinte Travis. „Oder vielleicht Wein …?“
Jake sah von einem zum anderen. Seine Brüder warfen ihm den Rettungsring zu. Gaben ihm das Stichwort, um in die alte Routine verfallen zu können.
Und die Worte kamen problemlos, fast so automatisch wie der nächste Atemzug. „Champagner ist was für Mädchen, und nur Waschlappen trinken Wein.“
„Aber echte Männer …“, setzte Travis mit feierlichem Ernst fort.
„… trinken Bier“, vollendete Caleb den albernen Spruch.
Etwas von der Anspannung in Jake löste sich. Als Teenager hatten sie sich an dieses unsinnige Motto gehalten, jetzt nicht mehr. Sie waren erwachsen geworden, hatten die Welt gesehen. Ihre Geschmäcker hatten sich weiterentwickelt. Travis hatte sogar einen Weinkeller … womit sie ihn gnadenlos aufzogen.
Ein kaltes Bier hörte sich mehr als verlockend an. „Aus der Flasche?“
„Kann man ein gutes Bier überhaupt anders servieren?“
Die drei Wilde-Brüder grinsten. Und gingen einige Schritte weiter in den Raum.
Jake entfuhr ein leiser Fluch. Er hatte die Menge vergessen, die Lichter.
Die Reaktion.
Man schnappte nach Luft. Schlug die Hand vor den Mund. Raunte dem Nachbarn etwas zu. Jake hätte schwören mögen, dass der gesamte Sauerstoff im Raum von einem kollektiven tiefen Atemzug verbraucht war.
„Mist“, knurrte Caleb. Travis stimmte dem mit einem derberen Wort zu.
„Ist schon in Ordnung“, behauptete Jake. Wenn je eine Lüge angebracht war, dann jetzt.
Eine Gruppe scharte sich um ihn. Er kannte die Gesichter. Rancher mit ihren Frauen. Das Ehepaar, dem der Eisenwarenladen gehörte. Der Eigentümer des Supermarkts. Der Zahnarzt. Lehrer, die ihn noch von der Highschool kannten. Der Trainer der Football-Mannschaft.
Die meisten hatten sich wieder gefasst. Die Männer streckten die Hand aus, die Frauen boten ihm die Wange zum Kuss.
Die Begrüßungsfloskeln klangen alle ähnlich.
Es ist schön, dass du wieder da bist.
„Ja, es tut gut, wieder zu Hause zu sein“, lautete seine Standardantwort.
Die nächste Lüge. Aber was sonst sollte er sagen? Nein, es tut gar nicht gut. Ich kann diesen Ort nicht schnell genug wieder verlassen. Ich gehöre nicht mehr hierhin. Ich gehöre nirgendwohin.
„Geh einfach weiter“, raunte Travis ihm zu.
Jake nickte und setzte einen Fuß vor den anderen.
Wer war das? Eine Frau lehnte an der Wand beim Flügel. Ems Flügel.
Er hatte sie noch nie gesehen. Denn wäre er ihr schon einmal begegnet, würde er sich daran erinnern.
Groß. Schlank. Das dunkle Haar aus dem Gesicht gekämmt und mit einer vage amüsierten Miene. In einem Meer aus blauen Denim und geblümter Baumwolle trug sie Seide. Sexy schwarze Seide.
Die Menge wogte, teilte sich, zog sich wieder zusammen, und er konnte sie nicht mehr sehen.
„Bereit dafür?“
„Wofür?“
„Für den nächsten Trupp.“ Mit dem Kinn deutete Travis in den großen Raum.
„Für den Jubel deiner Millionen Fans.“ Caleb bemühte sich um einen flachsenden Ton.
Jake zwang sich zu einem strahlenden Lachen, weil er wusste, dass es von ihm erwartet wurde. „Sicher.“
Zwei Lügen innerhalb von zwei Minuten. Das war ein Rekord, selbst für ihn.
„Dann auf“, meinte Caleb. „Je eher wir das hinter uns haben, desto eher kriegst du dein Bier.“
Noch mal zu lachen brachte er nicht über sich, also lächelte er nur, holte tief Luft und ließ sich von seinen Brüdern nach vorn schieben.
Die Menge verschluckte ihn.
Er schüttelte Hände, lächelte, ignorierte das Glitzern von Tränen in den Augen mancher Frauen. Und endlich, endlich waren sie bei dem langen Tisch angekommen, der sich unter den Platten mit gegrillten Hähnchenflügeln und Spare Ribs, den Schüsseln mit Salat und Gemüse bog.
„Richtiges Essen und Essen für die Mädels“, sagte Caleb, und dieses Mal war Jakes Lachen echt.
„Und hier … der Heilige Gral.“ Travis drückte ihm eine Bierflasche in die Hand.
Jake nickte dankend und wollte die Flasche an die Lippen heben, doch …
„Warte!“ Caleb stieß zuerst mit Travis an, dann mit Jake. „Gut, dich wieder zu Hause zu haben, Bruder.“
War es der richtige Zeitpunkt, um zu verkünden, dass der Toast übereilt war? Nein, entschied Jake, und sie stießen mit den Bierflaschen an.
Das Bier war kalt und bitter. Vielleicht war es genau das, was er brauchte, um die hämmernden Schmerzen zu vertreiben, die hinter seiner Augenhöhle saßen. Die Ärzte hatten ihm eindringlich geraten, jede Art von Stress zu vermeiden.
Ja klar, dachte Jake und nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
„Wir haben dich vermisst.“
Er sah zu Travis. „Ja, ich euch auch.“
„Ohne dich ist es einfach nicht dasselbe“, brummte Caleb. „Du gehörst hierher, Jake.“
Na schön. Jake wusste, wohin das führen würde. „Was das angeht …“
Travis schüttelte schon den Kopf. „Uns ist klar, dass du nicht bleibst. Aber heute Abend bist du hier. Lasst uns einfach feiern, okay?“
„Abgemacht“, sagte er lachend, und sie stießen wieder an. „Auf die Wilden!“
Der Spitzname, den sie früher immer benutzt hatten, brachte alle zum Grinsen. Dann kam Bill Sullivan vom Supermarkt zu ihnen, klopfte Jake auf die Schulter und sagte: „Hey, Jake, gut, dich zu sehen“, woraufhin Jake die passende Erwiderung gab …
… bis sich plötzlich ein Korridor in der Menge öffnete und er die Frau wieder sehen konnte.
Dieses Mal hatte er den direkten Blick auf sie – und mehr Zeit, um sie sich genauer anzusehen.
Ihr Haar war fast schwarz, dicht und glänzend. Sie hielt es zurückgesteckt, mit Klammern oder Kämmen. Schlicht, klar …
Genau wie das Bild, das ihm in den Kopf schoss.
Er sah sie vor sich, wie sie die Arme hob, um die Locken mit der Bürste zu bändigen. Wie ihre Brüste dabei betont wurden, die Spitzen hervortraten … bereit für die Lippen eines Mannes, für das zärtliche Spiel seiner Zunge …
„Jake?“
Und dann dieses Gesicht …
Feine Knochen unter perfekter samtiger Haut. Graue Augen. Nein, nicht grau, silbern. Eine gerade Nase – über einem Mund, der Dinge verhieß, von denen man besser nur in tiefster Nacht träumte …
„Jake!“
Lust schoss in seine Lenden, so schnell und intensiv, dass es ihn verstörte. So etwas hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt.
„Hey, Mann, wo bist du?“
Blinzelnd kehrte er in die Realität zurück. Sah den vollen Teller, den Travis ihm hinhielt. Essen war das Letzte, wonach ihm der Sinn stand. Er nahm den Teller dennoch an und setzte ein Lächeln auf. „Genau das brauche ich jetzt. Danke.“
Sie begannen zu essen, doch Jake schmeckte nichts.
Er wollte sich umdrehen und wieder die Frau mit den silbernen Augen ansehen.
Lächerlich. Wozu sollte das gut sein? Vergiss diesen Anfall von Lust oder Hunger oder was immer es gewesen war.
Ein Ausrutscher, mehr nicht. Es mochte unglaublich klingen, aber Sex interessierte ihn nicht mehr. Er dachte nicht einmal mehr daran. Seine Libido hatte sich verabschiedet. Existierte einfach nicht mehr. Genau wie sein Auge.
Außerdem wusste er doch, wie er aussah. Er war der Typ mit dem Gesicht, das einer Halloween-Maske gleichkam.
„… und dann natürlich Lissa, in ihrem typischen Tonfall, bei dem du dir immer vorkommst, als wärst du der Verrückte und nicht sie: ‘Grillabend? Grillabend?!’“
Travis lachte, also lachte Jake auch. Doch mit den Gedanken war er noch immer bei dieser Frau.
Und der jähen Gewissheit, dass sie ihn beobachtete.
Um Gelassenheit vorzutäuschen, drehte er langsam den Kopf.
Sein Herz schlug härter.
Sie beobachtete ihn tatsächlich. Weder neugierig noch mitleidig, sondern – interessiert.
Und sie war allein. Nicht nur, dass sie allein zu der Party gekommen war – obwohl er da ziemlich sicher war. Welcher Mann würde mit einer solchen Frau auf eine Party gehen und sie dann stehen lassen? Nein, allein im eigentlichen Sinne des Wortes – losgelöst und weit entfernt von allen anderen.
Außer ihm.
Das Blut floss schneller durch seine Adern. Und wieder keimte tiefes Verlangen in ihm auf.
Völlig verrückt.
Ausgerechnet jetzt, in einem Raum voller Menschen, sollte seine Libido aus dem langen Todesschlaf wiedererwachen? Und sich auch noch unübersehbar bemerkbar machen? Reichte denn die Monstermaske nicht, um ungeteilte Aufmerksamkeit zu erregen?
Der Himmel war sein Zeuge, dass er versucht hatte, seine Lust wiederzubeleben, nachdem die Wunden verheilt waren. Monstermaske oder nicht, es hatte Frauen gegeben, die seine Gesellschaft gesucht und sich eindeutig wohl gefühlt hatten. Krankenschwestern. Therapeutinnen. Hübsche junge Ärztinnen. Er konnte nicht sagen, ob aus Mitleid oder Neugier, aber eine von den Frauen hatte er flüstern hören: „Mit der Augenklappe sieht er richtig heiß aus …“ Auf jeden Fall … die Damen hatten Interesse gezeigt.
Und er?
Nichts.
Er hätte genauso gut ein Mönch sein können. Keine Regung, keine erotischen Gedanken, nicht einmal nicht jugendfreie Träume.
Vor ein paar Wochen war wohl einem seiner Ärzte – der Psychiater des Monats, wie Jake ihn bezeichnete – aufgegangen, dass er noch immer nicht wirklich im Land der Lebenden weilte.
„Wie ist das mit dem Sex?“, hatte er unvermittelt gefragt, und Jake hatte, in der Hoffnung, dieses Thema damit im Keim ersticken zu können, schlagfertig geantwortet: „Hey, Doc, Sie sind doch über einundzwanzig, oder? Sammeln Sie Ihre eigenen Erfahrungen.“
Doch seine Worte hatten leider nicht die gewünschte Wirkung.
„Manchmal dauert es länger, bis alles wieder zurückkehrt“, hatte der Arzt erwidert. „Nicht nur physisch, sondern auch emotional. Ein solches Trauma verlangt seinen Tribut, Captain. Aber Sie sind jung, Sie sind gesund. Geben Sie sich selbst mehr Zeit. Sie werden sehen, Ihre Libido kommt zurück.“
„Natürlich“, hatte Jake nur gesagt.
Doch sie war nicht zurückgekommen. Vielleicht, weil ihm einfach zu viele Sachen durch den Kopf gingen. Was er mit seiner Zukunft anfangen sollte. Wie er mit seiner Vergangenheit umgehen sollte. Wie er die langen Tage und die noch längeren Nächte überstehen sollte.
Was immer der Grund sein mochte, Sex war uninteressant geworden – für einen Mann, der stets die schönsten Frauen hatte haben können.
Das Verlangen, die Leidenschaft, wie man es auch nennen wollte, war nicht zurückgekehrt. Seit seiner Verwundung war er nicht mehr mit einer Frau zusammen gewesen. Hatte mit keiner Frau zusammen sein wollen …
Bis jetzt.
Er atmete tief durch. Ermahnte sich, den Blick von der Brünetten mit den silbernen Augen abzuwenden. Er konnte es nicht.
Nicht, wenn sie ihn anstarrte.
In ihrer Miene suchte er nach dem „Ach, der Arme“-Ausdruck, den er bei der Hälfte der Frauen im Raum gesehen hatte. Aber den gab es nicht. Sie musterte ihn einfach nur, mit einer durchdringenden Genauigkeit, die ihn nervös machte.
Und jetzt lächelte sie. Die Art, wie sie die Lippen verzog, traf ihn mit voller Wucht.
Mit dem Mund formte sie stumm ein Wort.
Hi.
Und hob leicht ihr Weinglas. Eine Einladung?
„Sie heißt Addison. Addison McDowell.“
Caleb hatte leise gesprochen. Jake sah ihn an.
„Was?“
„Die Frau da drüben, die du anstarrst.“
„Ich starre niemanden an.“
Caleb zog eine Augenbraue in die Höhe. „Ich dachte nur … falls du starren solltest …“
„Ich sagte doch gerade …“
„Dann muss ich mich wohl geirrt haben. Entschuldige.“
„Was macht sie in Wilde’s Crossing?“
Seine Brüder tauschten einen Blick.
„Ihr gehört die Chambers-Ranch.“ Es war Travis, der antwortete.
Jake lege den Kopf leicht schief. „Was soll das heißen – ihr gehört die Chambers-Ranch? Der alte Mann hat sich immer geweigert zu verkaufen. Der General hat es zigmal versucht und …“
„… ist jedes Mal abgeblitzt. Der Alte ist gestorben, genau so, wie es zu erwarten war – hat sich die klapprigen Knochen kaputt gearbeitet und bis zum letzten Atemzug jede Hilfe abgelehnt, bärbeißig wie immer. Als der General das Land über seinen Anwalt kaufen wollte, stellte sich heraus, dass der Alte sich mit immer neuen Hypotheken völlig übernommen und die Bank es längst verkauft hatte.“
„An sie?“
„An irgendeinen reichen Typen aus New York.“
Ein Muskel zuckte in Jakes Wange. „Und sie ist die Frau des reichen Typen.“
„Der reiche Typ hat kurz nach dem Kauf das Zeitliche gesegnet.“
„Dann ist sie seine Witwe.“
„Nein.“
„Seine Tochter?“
„Eine Freundin.“
Jake sah wieder zu der Frau. Sie hielt seinem Blick stand, ohne mit der Wimper zu zucken. „Muss eine sehr gute Freundin gewesen sein“, meinte er kühl.
„Hör zu, Mann …“
„Nach einer Rancherin sieht sie mir nicht aus.“
Travis lachte. „Die Untertreibung des Jahres.“
„Es hilft auch nicht unbedingt, dass die Chambers-Ranch Katastrophengebiet ist“, sagte Caleb.
„War praktisch schon immer so.“
„Weißt du noch, als wir noch Kinder waren und du zwei Sommer da drüben gearbeitet hast? Du hattest eine Menge Ideen für Verbesserungen.“
„Nur wollte der alte Chambers nichts davon hören.“
„Addison schon.“
„Addison?“ Mit einer hochgezogenen Augenbraue sah Jake seinen Bruder an.
„Sie ist eine Freundin.“
Jake setzte die Bierflasche an die Lippen und trank. Seltsam, schmeckte das Bier bitterer als vorhin? „Die Frau scheint eine Menge ‚Freunde‘ zu haben.“
„Sie ist genau das, was ich gesagt habe – eine Freundin.“ Calebs Ton war ebenso kühl wie Jakes.
„Wenn du meinst …“
„Verdammt, Jacob …!“
„Worum es hier geht …“, mischte Travis sich hastig ein. „Wir dachten, du könntest ihr helfen.“
Fast hätte Jake aufgelacht. Er konnte nicht einmal sich selbst helfen, geschweige denn anderen.
„Du weißt schon … Sieh dir das Land an, die Gebäude …“
„Pass auf, Trav. Morgen bin ich wieder weg.“
„Das haben wir schon vermutet. Wenn du nicht bleiben willst … kein Problem. Aber mach einen Check für sie und reise erst nächste Woche ab. Es ist ein Geschäftsdeal.“
„So nennst du das Arrangement, das du mit ihr hast? Geschäftsdeal?“ Warum, zum Teufel, hatte er diese Frage jetzt gestellt?! Was ging es ihn an, welche Beziehung sein Bruder mit einer Frau führte, die er noch nie gesehen hatte und die er auch nie wieder sehen würde?
Er verfolgte mit, wie Travis die Augen zusammenkniff, und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Entschuldige, Mann.“ Er lächelte schief. „Vermutlich bin ich es einfach nicht mehr gewöhnt, mit Leuten zu reden, die nicht in Flügelhemden rumlaufen, die auf der Rückseite offen stehen.“
„Um deine Frage zu beantworten – ja, so nennen wir es. Sie ist meine und Calebs Mandantin. Ich arbeite als ihr Finanzberater, Caleb ist ihr Anwalt. Sie ist clever und tough. Übrigens selbst Anwältin, aber aus New York. Du solltest sie nicht unterschätzen.“
Sicher nicht. Es wäre dumm, eine Frau zu unterschätzen, die ihn allein mit ihrem Blick in ihren Bann ziehen konnte. „Keine Sorge. Wie ich schon sagte, ich bleibe nicht. Ihr solltet besser nichts davon erwähnen, dass ich …“
„Zu spät. Wir haben dich bereits empfohlen. Wir haben ihr gesagt, dass du genau der Mann bist, den sie braucht. Und inzwischen ist sie überzeugt davon. Ich meine, so gut wie.“
Jake hörte nur mit halbem Ohr zu. Er sah wieder zu der Frau. Sie hob ihr Glas, nippte von dem Wein, leckte sich einen Tropfen von den Lippen …
Ein rauer Laut entfuhr ihm.
„Jake, alles in Ordnung mit dir?“
„Sicher, mir geht’s gut“, antwortete er, ohne den Blick von ihr abzuwenden.
„Hast du gehört, was ich sagte? Sie ist so gut wie überzeugt …“
„Wovon?“
„Dass du der Mann für sie bist.“
„Dass ich …“
Caleb verdrehte die Augen. „Dass sie dein Fachwissen braucht. Sie sieht doch schon die ganze Zeit rüber. Sie hat längst bemerkt, dass wir dir gerade von ihr erzählen.“ Er lachte übertrieben munter. „Wir haben sie nämlich schon vorgewarnt, dass sie ihren Charme spielen und sich etwas Besonderes einfallen lassen muss, damit du …“
Travis sah Jakes Miene. „Caleb …“, warnte er leise.
„‚Etwas Besonderes einfallen lassen‘ also, ja?“, hakte Jake betont leise nach.
„Und das wird sie, da bin ich ganz sicher. Die Frau verfügt über ein unglaubliches Repertoire, wenn sie etwas durchsetzen will.“
„Verdammt, Caleb! Halt endlich den Mund“, fuhr Travis seinen Bruder an.
„Hey, Moment mal! Ich versuche hier nur, etwas zu erklären. Jake muss wissen, dass es Addison allein ums Geschäft geht …“ Calebs Stimme erstarb. „Jake?“
„Jake!“, rief Travis ihm nach.
Doch auf seinem Weg durch die Menge reagierte Jake nicht. Die Lust war unbändiger Wut gewichen.
Mit neun war Addison von zu Hause weggelaufen.
Das hatte sie vorher schon öfter getan. Einen speziellen Grund hatte es dafür nie gegeben, nur die kindische Hoffnung, dass irgendwo auf dieser Welt ein Ort existierte, wo die Leute Bücher lasen, statt sich den ganzen Tag Seifenopern im Fernsehen anzusehen. Wo eine Mutter nicht Stunden damit verbrachte, sich die Haare auf Lockenwickler zu drehen und die Fingernägel zu lackieren, um dann, wenn sie damit fertig war, ihrer Tochter die gleiche Qual zuzufügen.
Aber dieses eine Mal … da war sie nicht Richtung Highway gerannt, sondern in den Wald unterhalb der Berge.
Die Zweige waren ihr ins Gesicht geschlagen, Brombeerranken hatten ihr die Hose zerrissen. Irgendwann war sie auf einer Lichtung angekommen – und stand einem Berglöwen gegenüber.
Die Wildkatze legte die Ohren an und fauchte angriffslustig, und Addison blieb das Herz stehen. Sie wusste alles über Berglöwen. Die Tiere waren schnell und unberechenbar. Sie waren schön und schlau …
Und sie waren sehr gefährlich.
Adrenalin schoss durch Addisons Adern. Flucht war der instinktive Gedanke. Glücklicherweise wusste sie es besser. Zeigte man Schwäche, war man so gut wie tot. Und deshalb rührte sie sich nicht von der Stelle, auch wenn sie vor Angst schier umkam. Und – so ein albernes Klischee! – die Zeit blieb stehen.
Wie sonst ließ es sich beschreiben, wenn sich Jäger und Beute gegenüberstanden?
Jetzt, fast zwei Jahrzehnte später, lebte diese Erinnerung wieder auf. Damals war sie nicht weggerannt, und nach Stunden – zumindest war es ihr so erschienen, aber vermutlich waren es nur Sekunden gewesen – hatte die Raubkatze sich umgedreht und war davongetrottet.
Jacob Wilde kam auf sie zu und sah genauso gefährlich aus wie der Berglöwe. Bis vor wenigen Minuten hatte er sie mit einer Intensität taxiert, die – wie sollte man es nennen? – beklemmend war. Seine Brüder hatten sich mit ihm unterhalten, wahrscheinlich über sie, so, wie erst die beiden und dann er zu ihr hinübergesehen hatten.
Sie hatte erwartet, dass etwas passieren würde. Dass Caleb und Travis mit ihrem Bruder zu ihr kommen würden, um sie einander vorzustellen. Oder dass er ihr zulächeln würde, nachdem er jetzt wusste, wer sie war. Sie hatte gewartet … und gewartet … Dass nichts geschah, irritierte sie.
Ging er davon aus, dass sie den ersten Schritt tat?
Na schön, warum nicht? Also hatte sie lächelnd ihr Glas in seine Richtung gehoben. Und mit Gesten versucht, die Botschaft rüberzubringen. Hi, ich bin Addison. Sie müssen Jake sein. Ich glaube zwar nicht unbedingt, dass wir ins Geschäft kommen, aber wir sollten einander wenigstens Hallo sagen, damit Ihre Brüder zufrieden sind.
Und dann hatte seine Miene sich schlagartig verändert. Seine Lippen waren schmal geworden, und ein hungriger Ausdruck veränderte seine Gesichtszüge.