Junge Jahre in Berlin - Edith Hein - E-Book

Junge Jahre in Berlin E-Book

Edith Hein

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Beschreibung

Die erzählten Geschichten spiegeln die ersten drei Jahrzehnte in Lenas Leben wider und beginnen in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als sie im Kreuzberger Milieu West Berlins heranwächst. Es sind Erinnerungen, aus der Kindheit, als Jugendliche und als sie noch eine junge Frau war, die ihr später manchmal durch den Kopf gewandert sind. Hier und da schimmert noch das Flair dieser Zeit hindurch.

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Junge Jahre in Berlin

TitelseiteDas Haus an der HochbahnEine schöne BescherungAlles ist neuDer Zopf war abEin Knoten war geplatztLehrjahre sind keine HerrenjahreEin ganzes Reich für sichEine ernste AufgabeNur ein BlickVerbunden und gleichzeitig freiGlück gehabtGefühlte WirklichkeitDas Ende war auch ein AnfangImpressum

Junge Jahre in Berlin

Erinnerungen

Edith Hein

Für

Stefan, Peer,

Inge, Lily, Bettina

Ein Blatt in der Sonne,

es wiegt sich und schwingt,

doch bald schon der Herbst

ein Abschiedslied singt.

Es düngt die Erde,

neues Leben entsteht

und der Hauch eines Windes

die Blüten verweht.

Das Haus an der Hochbahn

Eines Tages war Lena auf die Idee gekommen das Haus in der Skalitzer Straße aufzusuchen, in dem sie die ersten fünf Jahre ihres Lebens verbracht hatte. In ihrer Kindheit nannte man den West - Berliner Bezirk, in dem sich die Straße befand, Kreuzberg, SO 36. Die Großeltern wohnten dort an der Hochbahn bereits zu Beginn des Ersten Weltkriegs, im Jahr 1914, als Lenas Mutter geboren wurde. Für drei Personen muss es zu jener Zeit in Berlin nicht das Schlechteste gewesen sein, im Vorderhaus einer Zweizimmerwohnung mit Küche zu leben, wo sich das separate Klo eine halbe Treppe tiefer befand. Zumal die Bevölkerungsdichte sehr hoch war und es Gegenden gab, in denen gleich viele schummrige Höfe hintereinander lagen.

Das Gebäude wirkte von außen verlassen. Lena betrat es durch die große schwere Eingangstür. Vor ihr lag ein dunkler maroder Hausflur, der ihr sehr fremd erschien. Fast traute sie sich nicht hinein. Zögerlich ging sie durch das hohe Gewölbe. Die Luft war kühl, roch ungewohnt und es schien als sei die Zeit hier drinnen stehengeblieben. Die nächste Tür führte auf den Hof. Er war viel winziger als sie glaubte ihn in Erinnerung zu haben. Das Kopfsteinpflaster war noch vorhanden, sowie die kleine Überdachung, an deren Rändern damals, nach einem kräftigen Regeneinbruch, das Wasser in vollen Bächen hinab strömte. Alle Kinder des Hauses hatten darunter gestanden, um sich mit dem Regenwasser das Haar zu waschen.

Sie befand sich wahrscheinlich an der Stelle, wo Jahrzehnte zuvor auch der Leierkastenmann seine Lieder abgedudelt hatte, mit dem ihre Mutter als Vierjährige, eine kleine Runde um die Häuser drehte. Der nach jeder Melodie erwartungsvoll nach oben in die Fenster blickte, ob eines geöffnet und der eine oder andere, in Papier eingewickelte Pfennig, Sechser oder gar Groschen nach unten geworfen werden würde, den dann klein Hildchen aufhob, um das Geld dem Musikanten zu überbringen. Wie sie dann schließlich selbst anfing mit ihrer hübschen Stimme, Lieder in den schallenden Hof hinein zu singen. Wie dann der Geldsegen größer wurde, was dem Drehorgelmann sehr zu Gute kam. Von dem Erfolg beflügelt, zog sie mit ihm weiter - von Hof zu Hof und wurde erst nach Stunden von ihm wieder zurück gebracht.

Die Unerträglichkeit für eine Mutter ist vorstellbar, wenn ihr eigenes Kind, das eben noch auf dem Hof spielte, plötzlich verschwunden war und sie es verzweifelt überall vergeblich suchte. Dann die Erlösung. Hildegard war wieder da. Das gab dann mächtig Ärger.

Nun stand Lena auf demselben Hinterhof und blickte nach oben in den zweiten Stock, in dem sie mit ihrer Familie gewohnt hatte. Erinnerungen wurden wach. Es war als hörte sie die Stimme ihrer Mutter, die drohend sagte:

„Wenn du jetzt nicht gehorchst, gehst du heute Abend barfuß ins Bett.“

Natürlich verfehlte diese warnende Stimme ihre Wirkung anfangs nicht, bis Lena endlich verstand, dass sie ja immer mit nackten Füßen schlafen ging. Auch die vielen Sprüche der Mutter, die ihre Kindheit begleitet hatten, klangen in ihren Ohren:

„Heul ruhig weiter, dann brauchst du nicht so viel zur Toilette gehen“, sagte sie, wenn Lena mal weinte und es zum Trösten keinen ersichtlichen Grund gab. Wenn Lena am frühen Morgen ihr allzu fröhlich auf die Nerven ging, hieß es:

„Hähne, die am Morgen krähen, denen wird man bei Zeiten das Genicke umdrehen.“ Oder sie sagte:

„Übermut tut selten gut.“

„Immer gucken, was da kreucht, niemals gucken, was da fleucht.“

„Wer hoch fliegt, kann tief fallen.“

„Wer nicht hört, muss fühlen.“

Auch die Oma hielt mit ihrem Phrasendreschen nicht hinter dem Berg.

Wie ein Aufstoßen traten manche Sprüche später ungehindert immer wieder in Lenas Leben.

Sie sah sich dort oben mit ihrem Vater rumalbern, der es wohl lustig fand wiederholt zu fragen:

„Wozu ist der Bauchnabel da?“

Und Lena musste dann antworten:

„Damit man weiß, wo die Mitte ist.“

Na toll! Eine andere wiederkehrende Frage fand Lena richtig unangenehm. Wenn er zum x-ten Mal wissen wollte:

„Wen hast du lieber, Papa oder Mama?“

Sie musste dann gezwungenermaßen die Unwahrheit von sich geben. Zunächst versuchte sie sich raus zu mogeln, indem sie sagte:

„Ich habe Papa und Mama gleich lieb.“

Aber damit gab sich ihr Vater nie zufrieden und bohrte weiter:

„Und wen hast du am allerliebsten?“

„Papa“, antwortete sie dann sehr bestimmt.

Eine glatte Lüge, die schmerzte, denn sie hatte niemanden so lieb wie ihre Mama. Sie hätte ihrem Vater ja auch was husten können, aber das brachte sie nicht fertig.

Einmal war er Lenas wegen sehr in Rage geraten, weil sie ihm ein Wagner-Konzert aus dem Radio vermasselte, auf das ihr Vater sich schon sehr gefreut hatte. Der Ärger entstand nur deswegen, weil sie kein eigenes Bett besaß. Es war ja alles sehr beengt. Die Brüder schliefen in einem Bett, ihre Oma mit der Schwester und Lena auf der Besucherritze zwischen ihren Eltern. Auf einen Brett darüber stand das Radio, aus dem die Veranstaltung am Abend übertragen wurde. Da Lena schrecklich müde war, aber nicht einschlafen konnte, weil sie die Musik als unangenehm eindringlich empfand, plärrte sie ihrem Vater solange die Ohren voll, bis er entnervt aufgab, den Apparat zornig ausschaltete und wütend herauspresste:

„Blöde Kuh!“ Prompt schlief Lena ein und bald schon wurde eine Liege angeschafft, die dann quer zum Ehebett stand, in der sie von da an mit ihrer Schwester zusammen schlief. Was zunächst auch nicht ohne Tränen ablief, denn die Umstellung empfand sie als ziemlich heftig, so als wäre sie nicht zwei Meter, sondern meilenweit von ihren Eltern entfernt. Da gab es dann aber kein Pardon mehr. Schließlich gewöhnte sie sich an die neue Situation - blieb ihr auch nichts anderes übrig.

Eines Morgens war sie mit Ausschlag am Arm aufgewacht, nachdem sie am Tag zuvor gegen TBC geimpft wurde und es stellte sich heraus, dass sie daran erkrankt war. Sie erinnerte sich an oft entzündlich verklebte Augen in den darauf folgenden Jahren, die mit einer Salbe versorgt wurden, an häufige Besuche beim Augenarzt und einmal im Jahr ging ihre Oma mit ihr zum Durchleuchten der Lunge.

Lena hatte noch immer dagestanden und versonnen zu den Fenstern hochgeschaut. Das an der rechten Seite gehörte zur Küche und sie fragte sich, wie oft ihre Geschwister und sie, abgesehen von der täglichen Katzenwäsche, dort gebadet wurden - einmal pro Woche, alle zwei oder drei Wochen? Auf dem Gas- oder Kohleherd setzte ihre Mutter einen riesengroßen Topf mit Wasser auf und zwei Stühle dienten als Untergestell für die transportable Sitzbadewanne, in der die Waschungen inmitten der Küche stattfanden. Frisch gereinigt wurde Lena dann auf dem Rücken ihrer Mutter zum Bett transportiert. Sie brachte ihr bei, kurz vor dem Einschlafen die kleinen Hände für ein stilles Gebet zu falten, damit der Tag friedlich beendet und der nächste mit Zuversicht und optimistisch begonnen werden konnte.

Ab und an schnitt Hildegard ihren Mädchen das Haar, ganz gerade rundherum. Die Ohrläppchen mussten sichtbar bleiben. Für den Tag bändigte sie die obigen Haare ihrer Töchter mit einem Hahnenkamm, der an Sonntagen noch mit einer Schleife verziert wurde. Lena bekam eine rosa und ihre Schwester eine hellblaue eingebunden.

Eines Tages stand Lena in der Küche in ein grünes Strickkleid gekleidet, mit dem Propeller im Haar und weinte herzergreifend, nachdem sie sich im Spiegel betrachtet hatte.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte ihre Mutter.

Lena rieb sich die Augen während sie schluchzend hervorstieß:

„Ich bin so hässlich.“

„Aber nein, du siehst doch niedlich aus“, tröstete ihre Mutter sie in den Arm nehmend.

Und als Lena gar nicht aufhören wollte zu weinen, fügte sie hinzu:

„Aus einem hässlichen Entchen wird mal ein schöner stolzer Schwan.“

Das gab Hoffnung.

Hinter dem anderen Fenster neben der Küche, das Zimmer in dem Lenas Brüder und ihre Oma schliefen, stand auch das Klavier ihrer Mutter, an dem sie oft saß und spielte. Ein großer Stapel Noten lag oben drauf. Lena bewunderte ihre Mutter, wie sie nach diesen kompliziert wirkenden Zeichen spielen konnte. Manche Blätter waren mit schönen Bildern verziert. Die mit den Weihnachtsliedern hatten es ihr besonders angetan - musizierende Engel, Sterne, Glocken oder die heiligen drei Könige mit der Krippe und dem neugeborenen Christkind darin. Wobei Lena die Erzählungen über den Sohn Gottes immer für Märchen hielt, bis sie sehr langsam begriff, dass es um mehr als nur Geschichten ging. Da war sie aber kein kleines Mädchen mehr.

Mit dem ersten Weihnachtsfest, an das sich Lena in dieser Wohnung erinnern konnte, erfuhr sie auch gleich was Neid ist. Alle saßen da und warteten gespannt auf den Weihnachtsmann. Endlich klopfte es an der Tür und er trat ein, genau so, wie man sich ihn vorstellte. Er trug einen langen roten Mantel, der mit einem Gürtel gehalten wurde, dazu die passende Zipfelmütze und selbstverständlich hatte er einen langen weißen Bart. Lena zweifelte bislang ein wenig daran, ob es wirklich einen gab. Schließlich hörte sie bisher von so vielen Märchenfiguren. Aber egal, da stand er mit einem Sack voller Gaben. Eine Rute hatte er natürlich auch dabei. Lena konnte es kaum erwarten ihre Päckchen in Empfang zu nehmen. Du liebe Güte, war das viel, was sie da bekam.

Ein rotes Telefon, mit genau so einem Farbton, wie sie ihn besonders mochte. An der Seite ein Schlüssel, mit dem durch Drehen der Klingelton startbereit wurde, was Lena sofort auch tat. Nun müsste sie nur noch auf den weißen Knopf drücken, dachte sie sich, der auf der Oberseite des Telefons, rechts angebracht war.

Alle Geschenke waren noch nicht verteilt. Lenas Herz klopfte. Zwei beige Puppenwagen aus Korb geflochten, standen noch da. Und es lagen sogar Babypuppen darin. Oh je! Der eine Wagen war viel kleiner als der andere. Der war doch nicht etwa für sie bestimmt?

„Nun habe ich noch etwas für dich, Lena." „Dieser Puppenwagen gehört dir“, sagte der Weihnachtsmann und zeigte, oh Schreck, auf den kleinen Wagen.

Lena stand auf, bedankte sich artig und machte dabei, wie sie es gelernt hatte, einen Knicks. Oh je, was sollte sie nur tun. Sie wollte den kleinen Wagen nicht. Schon wurde der große, ihrer Schwester geschenkt. Das musste noch unbedingt verhindert werden. Lena setzte sich und jetzt pochte ihr das Herz bis zum Hals, denn sie hatte eine Idee. Schon drückte sie ihren kleinen Zeigefinger auf den weißen Knopf ihres schönen roten Telefons.

„D r r r!“, klingelte es, unüberhörbar laut und alle schauten Lena überrascht an.

Sie ging nun mutig entschlossen auf den Weihnachtsmann zu, obwohl ihr ganz bange war, baute sich dicht vor ihn auf und schaute nach oben, ihm voll ins Gesicht.

„Ich möchte den großen Puppenwagen haben“, sagte sie piepsig, aber bestimmt.

„Das geht nicht“, brummte der freundliche Mann in seinen Bart hinein. „Der gehört jetzt deiner Schwester. Sie ist doch fünf Jahre älter und viel größer als du. Soll sie sich denn immer bücken, um ihre Babypuppe auszufahren?“

Lena war nun doch eingeschüchtert und sah schnell ein, dass er recht hatte. Sie schüttelte langsam den Kopf und ging etwas niedergeschlagen zu ihrem Platz zurück. Hätte ja sein können! So leicht wie ihren Papa konnte sie Santa Claus nun doch nicht um den Finger wickeln.

 Am nächsten Morgen krochen die Mädchen ins Bett ihrer Mutter. Sie nahm Lena in den einen Arm und Karin in den anderen und alle drei resümierten über den Abend zuvor. Lena steckte sofort wieder den Daumen in den Mund. Nur zum Sprechen nahm sie ihn kurz heraus. Nuckelnd, ganz eng an ihre Mama gekuschelt, war die Welt für sie in Ordnung. Normalerweise, aber irgendwie schämte sie sich, weil sie ihrer Schwester den Puppenwagen streitig machen wollte. Aber auch ihre Mutter musste traurig gewesen sein über die Unzufriedenheit ihrer jüngsten Tochter.

Lena dachte das nicht so, sie fühlte es nur. Und im Grunde genommen wusste sie auch, dass die ganzen Geschenke nicht vom Weihnachtsmann und vom Himmel kamen, sondern die besorgten ihre Eltern. Zur Tatsache gehörte auch, dass Lena den Puppenwagen zu klein und die Babypuppe nicht wirklich schön fand. In einem Spielwarenladen hatte sie eine gesehen, die sah ganz anders aus und die hätte sie gerne gehabt. Die war aber sicherlich viel teurer. Natürlich saß bei ihren Eltern das Geld nicht locker. Der Zweite Weltkrieg lag noch keine zehn Jahre zurück. Sie kauften dort, wo es am günstigsten war und das ging nur im Ostteil der Stadt. Wer könnte ihnen das verübelt haben?

Lena wollte nun unbedingt wieder alles gut machen. Mama und Karin zeigen, wie sehr sie sich über den Wagen mit der Puppe freute, auch wenn es nicht ganz so der Wahrheit entsprach und sie wusste auch schon wie.

Die Nachttischlampe verbreitete an der Decke einen Schatten, der das Aussehen von zwei Köpfen besaß, mit denen man, dachte sie, gut reden könnte. Lena schlüpfte sogleich aus dem Bett, schob ihren Puppenwagen, den sie sich etwas größer gewünscht hätte, darunter und fing an:

„Schaut doch mal, was ich gestern schönes vom Weihnachtsmann geschenkt bekommen habe." „So einen Puppenwagen habe ich mir immer gewünscht. Und hier!“

Sie nahm die Babypuppe, die ihr eigentlich ein wenig zu blass erschien, aus den Wagen, hob sie den Schatten entgegen und zwitscherte wie ein Vögelchen weiter:

„So ein süßes Baby habe ich auch noch bekommen." „Ich freue mich so sehr“, nahm die Puppe in den Arm und drückte sie fest an sich, als wolle sie die nie wieder loslassen.

Lena schaute dann ihre Mutter und Schwester an, um in ihren Gesichtern ablesen zu können, ob ihre Darstellung die erhoffte Wirkung erzielte. Etwas, was ihr zeigte, dass beide ihr verziehen hatten.

Wahrscheinlich kannte Lena den Begriff Neid noch nicht, aber als sie und Karin dann nach dem Mittagessen die neuen Puppenwagen unter der Hochbahn ausführten, um aller Welt ihre wunderbaren Geschenke zu zeigen, nahm Lena sich ganz fest vor, so ein Gefühl nie wieder haben zu wollen.

Dann kam die Silvesternacht, an der sie richtig angetüdelt war. Der Papa setzte vormittags schon eine Bowle mit Ananas an. Hmm, lecker, das war was Feines. Ihrer Mama schaute sie beim Backten von Pfandkuchen zu. Mit ihren kräftigen Händen wurde der Hefeteig geknetet, später dann ausgerollt und Lena durfte beim Ausstechen helfen. Dazu nahm sie ein Glas, drehte die Oberseite nach unten und drückte es fest auf den Teig. So entstanden lauter runde Teigflächen. Auf jeweils eine, kam ein Klecks Marmelade, ein anderes Teigstück wurde drauf gelegt, die Außenränder zusammengedrückt, im heißen Öl frittiert und anschließend mit Zuckerguss bestrichen oder Puderzucker bestreut.

Die Kinder durften das vordere Zimmer mit Papierschlangen schmücken. Die Feier konnte beginnen. Erst gab es Kartoffelsalat mit Bockwurst. Die Musik zum Tanzen kam aus dem Radio und die ersten Walzerschritte bei ihrer Mutter auf dem Arm gingen Lena ins Blut über. Es gab auch eine Flasche Eierlikör. Wenn immer die Gelegenheit sich ergab, nippte Lena unbemerkt mal an dem einen oder an dem anderen Glas.

Als die Feierei dem Ende zuging und ihre Mutter anfing den Tisch abzuräumen, lehnte sich Lena an den Kachelofen. Nicht, weil ihr kalt, sondern eher blümerant zumute war. Plötzlich hatte sie Lust Purzelbäume zu schlagen. Während sie auf dem Boden eine Rolle nach der anderen drehte, hörte sie ihre Mutter erstaunt sagen:

„Die ist ja völlig beschwipst.“ Lena wurde ins Bett gebracht und vorsorglich ein Eimer mit Wasser davor gestellt. Das war richtig, wie sich sehr schnell rausstellte. Am nächsten Tag fühlte sich Lena ziemlich malade und verbrachte ihn im Bett. Zwar kam es selten vor, dass sie eine gewisse Traurigkeit verspürte, als könnte sie ein wenig weinen, aber so erging es ihr an diesem Nachmittag. Allein im Zimmer, holte sich Lena den Schuhkarton mit den Fotos, die während des Krieges schwarzweiß entstanden waren und man deshalb annehmen konnte, dass diese Zeit auch farblos war. Sie kannte die Bilder und wusste, dass die kummervollen Gesichter darauf ihrer momentanen Stimmung sehr nahe kamen, sah sich eine Aufnahme nach der anderen an und genoss in aller Heimlichkeit die herunter kullernden Tränen.

Nun kam Lena nochmal das Klavier ihrer Mutter in den Sinn. Der Stuhl, der davor stand - ein runder Hocker aus Holz, die Sitzfläche mit Leder überspannt und durch Drehen in der Höhe verstellbar, hätte auch etwas zu berichten gehabt. Denn, wenn Lenas Brüder etwas wirklich Schlimmes ausgefressen hatten, wurden sie dazu verdonnert sich über den Klavierstuhl zu legen und bezogen dann ein paar Schlä­ge auf das Hinterteil. 

Die beiden Schwestern blieben davon verschont. Nur einmal bekam Lena was mit der Hand von ihrer Oma auf den Allerwertesten. Das war ein sonniger Vormittag, Lenas Geschwister in der Schule, ihre Eltern auf der Arbeit und die Oma wischte gerade den Boden auf, während Lena fröhlich mal hier, mal da hin tapste. Der Eimer voller Wasser stand mitten im Eingang zum Zimmer. Da geschah es auch schon. Lena wollte in die Stube sausen, schaute nicht nach vorn und Schwups, stieß sie gegen den Aufwischeimer - der fiel um.

Die blanken Dielen behinderten das Wasser nicht und so tropfte es ziemlich schnell in der Wohnung darunter von der Decke. Während die Oma mit dem Wischlappen versuchte so viel Wasser wie möglich wieder in den Eimer zu befördern, schimpfte sie mit Lena wie ein Rohrspatz. Da klingelte es auch schon.

„Mach auf Lena!“, harschte ihre Oma sie an und wischte eifrig weiter.

Lena lief zum Eingang, stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie an die Klinke heran kommen konnte, drückte sie runter und ging dann einen Schritt zur Seite, um die Tür aufzuschieben. Die betroffene Nachbarin stand vor ihr. Sie war aufgeregt, das sah man ihr an, die Wangen gerötet und auf der Oberlippe hatten sich ein paar Schweißperlen gebildet.

„Tag Frau Bamberg, was ist denn bei ihnen passiert?" „Bei mir tropft es von der Decke", rief sie der Oma entgegen, die auf der Erde gekniet hatte und dabei war, mit ihren schwerfällig dicken Beinen aufzustehen. Sie ging dann zur Tür,  schob Lena beiseite und sagte:

„Es tut mir aufrichtig leid, Frau Baum!" „Unsere Lena hat mal wieder keine Augen im Kopf gehabt und hat den Eimer mit dem ganzen Wasser umgekippt.“

Die Oma sah bestürzt aus und hatte nun auch auf den Wangen lauter rote Flecken.

„Naja, wenn es nur Wasser war, warten wir mal ab bis es wieder trocken ist." „Vielleicht ist dann nichts mehr zu sehen“, lenkte Frau Baum ein und machte eine abwehrende Handbewegung.

„Also, nochmal Entschuldigung, wenn was ist, muss der Schwiegersohn drüber streichen“, gab die Oma zu bedenken.

„Na gut, ich muss denn mal wieder runter gehen. Die Suppe kocht mir sonst noch über." „Auf Wiedersehn Frau Bamberg!“, verabschiedete sich Frau Baum.

„Wiedersehn Frau Baum!“, antwortete die Oma. Nachdem sie gegangen war, meckerte die Oma noch immer mit Lena rum.

„Was kann ich denn dafür, wenn du den Eimer mitten im Weg stehen lässt“, versuchte Lena sich zu verteidigen.

Doch das Zetern ging weiter. Lena hatte schon eine Menge von ihren Geschwistern gelernt und das wollte sie jetzt doch mal anwenden, streckte den kleinen Po ihrer Oma frech entgegen und sagte:

„Du kannst mir mal am Marsche lecken.“

Das war natürlich starker Tobak. Ihre Oma griff sie am Schlafittchen und versohlte ihr heftig das Hinterteil. Lena schrie und weinte, versuchte sich zu entziehen, aber die alte Dame behielt sie fest im Griff. Endlich war alles vorbei. Lena verkroch sich weinend im Wäschekorb unter den Küchentisch und saß noch immer dort, als Karin aus der Schule kam.

„Wo ist denn Lena?“, fragte sie.

„Heb mal das Tischtuch an, dann siehst du sie.“

Karin zog ihre kleine Schwester aus den Korb hervor und nahm sie in den Arm. Noch immer leicht schluchzend, erzählte Lena ihr alles. Später hütete sie sich davor ihrer Oma gegenüber jemals wieder so frech zu sein.

Als Lena den Hof verließ, der sie zurückgeführt hatte in eine längst vergangene Zeit, fuhr gerade eine Hochbahn vorüber in Richtung Schlesisches Tor, wo die Post stand, in der ihre Oma jeden Monat ihre Rente abholte und Lena ihr später, als sie schon älter war, Begleitschutz gab. Auf der anderen Seite, Ecke Wiener Straße, befand sich das Kino, das sie unmittelbar an den Film „Susi und Strolch“ erinnerte. Und am Görlitzer Bahnhof, wo heute im nahegelegenen Park der Drogenhandel floriert, wartete sie manchmal abends zusammen mit ihrer Schwester auf die Mutter, wenn sie von der Arbeit kam und ab und zu eine Tafel Schokolade mitbrachte. Nicht weit vom Kartenschalter entfernt harrten sie aus, der in der Zwischenzeit längst durch einen Automaten ersetzt wurde. Dort verloren mitunter Bahnkunden beim Einkauf ihrer Fahrkarte ein Geldstück, das dann Lena oder Karin flugs aufhob und einsteckte.

Dann war da noch der Moment, in dem sie sich beim Überqueren der Oranienstrasse von der Hand ihrer Mutter löste. Die Straßen waren tief verschneit. Urplötzlich kam ihr der Gedanke, endlich mal allein über einen Damm zu laufen. Schon riss sich Lena los und rannte davon, um auf die andere Straßenseite zu gelangen. Vor lauter Eifer kam sie ins Straucheln, konnte sich nicht mehr halten und stürzte auf den glatten Untergrund. Ein heran radelnder Fahrradfahrer bremste scharf und rutschte sichtlich erschrocken bis dicht vor ihre Beine. Glücklicherweise war es kein Auto.

Alles um sie herum schien mit Erinnerungen bepflastert zu sein. Wie oft hatte sie hier vor der Tür gespielt, meistens zusammen mit Karin und nicht ohne Ermahnungen der Mutter:

„Lasst euch von keinem Fremden anquatschen!" „Nehmt keine Geschenke für eventuelle Botengänge an!" „Geht mit Niemandem mit!" "Sagt, eure Eltern haben das verboten!“

Und immer wieder erzählte ihre Mutter von einem Erlebnis aus ihrer Kindheit, wo auf dem Weg in die elterliche Wohnung, plötzlich auf der Treppe ein Mann stand.  Mit offener Hose zeigte er unverhohlen sein Glied. Starr vor Schreck, fing sie lauthals an zu schreien. Ihr Vater, zufällig zu Hause, kam sofort raus gestürzt und verfolgte den Kerl. Der war schneller und flüchtete - die Treppe hinunter, über den Hof, rauf auf einen Müllkasten, dann über die Mauer und weg war er. 

Was hatte Hildchen Angst um ihre Töchter, dass irgendwelche Bösewichte ihnen etwas antun könnten. Diese stetigen Warnsignale gaben aber auch der Fantasie eine Menge Spielraum.

Eines Tages spielte Lena auf der Straße vor der Tür, als sich die Blase meldete. Sie lief die Treppe hinauf und plötzlich nahm sie seltsame Schritte wahr.

Ihr wurde ganz unheimlich. Furcht in den Hals kriechend lief sie schneller, stieg und floh noch rascher mit den kleinen Beinen dem zweiten Stockwerk entgegen, in dem ihre Mutter sie retten und beschützen würde. Die Klingel musste umständlich gedreht werden.

„Ring, ring“, nichts rührte sich und wieder die gruseligen Schritte hinter ihr.

Sie waren jetzt schon ganz nah. Lena wurde von Panik erfasst:

„Mamaa, Hilfe, Hilfe!“, schrie sie aus Leibeskräften, drehte die Klingel dabei wieder und wieder. Endlich ging die Tür auf.

„Was ist denn los?“, rief ihre Mutter mehr überrascht als besorgt.

Im selben Moment schoss der Urin durch Lenas Hose, an den Beinen entlang, auf den Fußabtreter rauf.

„Da ist wer“, brach es jammervoll heulend aus ihr heraus.

Die Sache klärte sich dann sehr schnell auf, als eine ältere Dame etwas schwerfällig langsamen Schrittes eine halbe Treppe tiefer den Absatz erreichte und einfach nur in die Wohnung des oberen Stockwerks wollte.

All die Geschichten liefen wie ein Film vor Lenas inneren Augen ab. Sie war langsam in Richtung Kottbusser Tor gegangen. Dort angekommen, stieg sie in die Hochbahn und fuhr noch immer gedankenverloren nach Hause.

Als sie ein paar Jahre später sich das Haus ein zweites Mal ansehen wollte, war es verschwunden. Stattdessen standen dort ein paar Bäume und eine Imbissstube.

War sie traurig, enttäuscht? Nein, nichts von dem, wenn überhaupt, ein wenig überrascht. Es war ein Ort, der jetzt zu den Menschen gehörte, die hier lebten. Die Umgebung war ihr bekannt und doch fremd, sie gehörte längst nicht mehr zu ihr und doch würde diese Gegend mit dem Beginn ihrer Zeit immer verbunden bleiben.

Manchmal noch später, wenn Lena morgens vor dem Frühstück Tee trinkend am offenen Fenster saß, wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit.

Eigentlich wollte sie nur das heiße Getränk genießen, was regelmäßig ihre Geister wachrief, dabei den frischen Luftzug spüren und im Frühling dem fröhlichen Zwitschern der Vögel zuhören. Am meisten mochte sie es, in die herrliche Weite des Himmels zu schauen oder sie schloss ganz einfach die Augen.

Wie aus dem Nichts tauchten dann mitunter in angenehmer Leichtigkeit Erinnerungen aus jungen Jahren auf, die zu versunkenen Andenken geworden waren. Mal stieg die eine Geschichte aus den unergründlich tiefen Ebenen des Verstehens auf und mal die andere, als drängten sie zur Oberfläche, um Luft zu holen - als hätten sie ein eigenes Leben.

Eine schöne Bescherung

Lenas Eltern, Hildegard und Wil­helm - Namen, die vor dem zweiten Weltkrieg nicht unge­wöhn­lich klangen, lernten sich 1936 beim Fünfuhrtee kennen. Wobei er stolz seine Militäruniform zur Schau trug, weil es der Zeitgeist zuließ. Schließlich musste bald das „Vaterland“ verteidigt werden. Dieser Begriff klang nach dem Krieg in vielen deutschen Ohren irgendwie peinlich und wurde kaum noch benutzt. Weil sich Hybris in Schuld verwandelt hatte?

Auch das Militär verschwand in der Versenkung, um später aber doch wieder aus der Taufe gehoben zu werden.

Lenas Eltern hatten ihre erste Begegnung unterschiedlich in Erinnerung. Das wurde manchmal nach 1945 deutlich. Wenn an Hildchen finanzielle Not nagte, drängte es sie ab und an danach, unzufrieden ihren Gatten ein wenig zu piksen. Dann sprach sie davon, dass sie auch einen Bankbeamten hätte heiraten können. Sie konnte nicht wissen, dass die später auch vom Aussterben bedroht waren. Wilhelm gab ihr daraufhin freilich „Saures“ und sagte: 

„Du bist selber schuld." „Ich habe damals nicht dich zum Tanzen aufgefordert, sondern deine Freundin. Aber du bist direktemang aufgestanden.“

Hildegard sah das anders und bestritt verärgert seine Behauptung. Schnell beruhigte sie sich jedoch immer wieder und um die Stimmung nicht zu verderben, fing sie an zu schwärmen: