Junger Wind in alten Gassen - Lise Gast - E-Book

Junger Wind in alten Gassen E-Book

Lise Gast

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Beschreibung

Rose studiert im ersten Semester Medizin. Alles ist noch ganz neu und sie nimmt das Studium sehr ernst. Deshalb ist sie auch irritiert, als während der Anatomievorlesung jemand vor ihr mit seinem Sitzpartner tuschelt. Rose findet das unmöglich, doch ihre Sitznachbarin beruhigt sie scherzhaft, schließlich könne gerade dieser Störenfried es sich erlauben, denn er hat das Staatsexamen schon mit Auszeichnung bestanden. Roses Interesse ist geweckt! Aber der Reitunterricht ist wichtiger – das Wichtigste. Um sich diesen Luxus leisten zu können, spendet sie Blut. Heute wagt sie mit dem Pferd einen ganz besonders beeindruckenden Sprung. Unter den begeisterten Beobachtern ist auch der junge Mediziner von eben in der Anatomievorlesung. Da scheint dem bevorstehenden dreitägigen Pfingstritt ja nichts mehr im Wege zu stehen...-

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Lise Gast

Junger Wind in alten Gassen

Ein meist fröhlicher Romanunter jungen Menschen

Saga

Junger Wind in alten Gassen

German

© 1960 Lise Gast

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711509661

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

Unverhofft kommt oft

Im Hörsaal ist es heiß. Der Professor spricht fließend, aber einschläfernd monoton. Rose hat sich schon zweimal dabei ertappt, geträumt zu haben, richtig geträumt, nicht nur vor sich hingedacht. Ihr Kopf muß dabei heruntergesunken sein, und womöglich hat sie sogar geschnarcht. Zu Hause wird ihr nachgesagt, daß sie schnarche. Rose findet das eine abscheuliche und blamable Eigenschaft, deren man sich schämen muß. Und man kann nie kontrollieren, ob es wirklich stimmt.

Vielleicht erfindet einmal ein Arzt etwas gegen das Schnarchen. Vielleicht gelingt es ihr, Rose Hofer, und sie wird berühmt und bekommt – hoppla, schon wieder! Eben sah sie sich auf dem Podium, in einem schwarzen, dezent ausgeschnittenen Kleid, einen silbernen Pokal entgegennehmend, während rings alles applaudierte. Einen Pokal? Bekommt man denn, wenn man eine große medizinische Erfindung macht, einen Pokal wie eine siegreiche Fußballmannschaft? Jetzt hört das aber auf! Jetzt muß sie sich zusammennehmen, um wach zu bleiben. Rose kneift sich in den Arm und reißt die Augen krampfhaft auf. Frühjahrsmüdigkeit, weiter nichts. Geht allen so. Und schlafen etwa die andern alle?

Vor ihr, etwas tiefer – denn der Hörsaal ist ja im Halbkreis aufsteigend gebaut – sitzt ein junger Mann, den sie hier noch nie gesehen hat. Jedenfalls kommt ihr das so vor. Sein Gesicht kann sie nicht erkennen; aber dieser schmale Schädel mit dem ausgebauten Hinterkopf wäre ihr bestimmt aufgefallen. Sie hat sich eine Zeitlang eingehend mit Schädelkunde befaßt und würde ihn nie übersehen haben. Auch jetzt beginnt sie, mit den Blicken den Kopf abzutasten. Das dazugehörige Gesicht interessiert sie nicht. Gleich darauf muß sie stirnrunzelnd feststellen, daß der vor ihr Sitzende ebensowenig auf den Vortrag des Professors hört wie sie. Seine Schultern beben vor unterdrücktem Lachen – in Anatomie! Rose schüttelt ärgerlich den Kopf.

Sie nimmt das Studium sehr ernst. Im Kolleg müde zu sein, schon das erscheint ihr als eine Todsünde. Nun gar lachen!

Es ist doch nicht zu glauben! Der Schmalschädlige vor ihr lacht nicht nur, sondern steckt auch noch seinen Nachbarn damit an. Denn jetzt schiebt er ihm einen Zettel zu, und nun prustet der andere. Rose reckt sich und versucht, den Zettel zu erspähen. Einen Augenblick lang gelingt es ihr. Nein, da steht kein blöder Vers und keine Mitteilung, überhaupt kein Wort. Eine Zeichnung ist drauf, eine Karikatur: Der Professor, wie er leibt und lebt. Rose erkennt den, natürlich übertrieben betonten, Unterkiefer des Vortragenden, mit wenigen Strichen klar und lebendig hingeworfen, und empfindet Hochachtung vor dieser Leistung. Dabei aber runzelt sie die Stirn. Das sind doch Dumme-Jungen-Manieren!

„Mensch, ärgere dich nicht!“ flüstert in diesem Augenblick ihre Nachbarin ihr zu. Rose sieht sie an. Merkt man ihr so leicht an, was sie denkt?

„Sehr deutlich. Laß doch den beiden da vorn ihren Spaß. Die können sich’s leisten, der eine jedenfalls.“

„Wieso?“ fragt Rose, wider Willen interessiert. Die andere lacht.

„Er hat das Staatsexamen schon in der Tasche. Große Hoffnung am ärztlichen Horizont. Sich abzeichnendes Genie.“

„So? Von mir aus. Übrigens keine Kunst bei dem Hinterkopf.“

Nun prusten sie beide auch. Der Professor hebt ein wenig die Stirn und wirft einen strafenden Blick herüber. Rose hat ihre Gesichtszüge längst wieder geordnet und kritzelt eifrig in ihr Heft. Gleich darauf ist Schluß. Der Professor verbeugt sich, die Hörer klopfen Beifall. Rose steht auf und schiebt sich mit den anderen hinaus.

Sie denkt an die „tolle Begabung“ mit dem kindischen Benehmen und dem schön ausgeschwungenen Hinterkopf. Man könnte ja auch das Gesicht des jungen Mannes einmal betrachten, natürlich nur aus wissenschaftlichem Interesse. Sie verlangsamt ihren Schritt, ohne sich umzusehen, und freut sich, heute ihr neues Sommerkleid angezogen zu haben; es ist hell, längsgestreift und sportlich, und es macht ausgesprochen schlank. Rose dehnt sich, während sie das denkt; in diesem Augenblick macht es „Knacks!“, und ihr Gürtel fällt herunter. Der Druckknopf hat den beglückten Atemzug nicht ausgehalten.

Es gibt fatalere Situationen. Ein erwachsener Mensch wird vielleicht nicht einmal zugeben, daß dies fatal ist: den Gürtel des Sommerkleides zu verlieren. Rose aber fühlt, wie ihr Gesicht brennt, als ihr ein rasch zuspringender junger Mann – natürlich kein anderer als der, an den sie eben dachte – den Gürtel aufhebt und überreicht. Sie möchte, was unlogisch und ausgesprochen unfreundlich wäre – wer aber kennt sich in Frauenherzen aus? –, den Gürtel nehmen und ihm um die Ohren klatschen, einmal, zweimal – diesem hübschen und, wie ihre Nachbarin auch noch sagte, medizinisch so hochbegabten jungen Mann. –

In jedem Leben gibt es Pechtage. Sie vergehen und werden abgelöst von anderen, die neue Spannungen, Konflikte, Aufgaben und Freuden bringen. Ja, auch Freuden, selbstverständlich.

Rose, die ein wenig zu viel über sich und ihr Leben nachdenkt, hat sich gesagt, daß es Freuden geben müsse, schon um die Arbeitskraft anzutreiben. Deshalb reitet sie auch, was natürlich ein ziemlicher Luxus ist. Von ihrem Monatswechsel könnte sie es nicht bezahlen. Nun, da wird eben Blut gespendet und das so verdiente Geld dafür verwendet.

Reiten ist Rose nichts Neues, es gehört zu Hause ebenso dazu wie Radfahren. Freilich, auf den Ponys, auf denen sie genau wie ihre Geschwister reiten gelernt hat, gibt es nicht viel Dressur; man reitet fast nur „Gelände“, also wild. Manche sagen sogar „Wildwest“. Hier im Reitverein der Universität wird gedrillt und geschurigelt; aber auch das tut gut. Rose hat längst gemerkt, wie förderlich es dem inneren Menschen ist, wenn der äußere geschunden wird. Und geschunden wird man wahrhaftig, zumal wenn man mutig genug war, sich für den Fortgeschrittenen-Kurs anzumelden.

Heute zum Beispiel gibt es wieder einmal keine Gnade. Der Reitlehrer verlangt, daß „deutsch getrabt“, also „ausgesessen“ wird, bis den Schülern alle Glieder schnackeln, und am Schluß der Stunde kommt das Springen. Eine Reitstunde ist fast so anstrengend wie ein Kolleg.

„Die Herren noch einmal über das Hindernis. Reihenfolge wie bisher. Von den Damen nur, wer es sich zutraut. – Nun, meine Schönen?“

Die Stimme des Reitlehrers klingt sarkastisch. Rose hört es genau. Sie weiß, daß keine der andern Studentinnen es riskieren wird, nicht aus Angst vor dem Herunterfallen, sondern um sich nicht zu blamieren. Dieser frühere Kavallerist hält nichts von weiblichen Künsten im Sattel und macht kein Hehl daraus. Sie holt tief Luft.

Sultan, fest überzeugt davon, daß er seine Schuldigkeit getan und nun Ruhe verdient hat, ist wenig erbaut davon, als sie ihn aus dem zufriedenen Dösen, in das er schon versinken wollte, mit einem energischen Klopfen der Schenkel weckt. Das Klopfen war vielleicht ein wenig zu energisch und sozusagen ein Alarmsignal, Marke: „Jetzt oder nie!“ oder „Und wenn die Welt voll Teufel wär!“

„Teufel, Teufel“, sagt auch prompt der Reiter neben Rose, der bisher hinter ihr ritt, so daß sie ihn nicht sehen konnte. „Sie sind doch hoffentlich lebensversichert?“

Auch der Reitlehrer zieht die Augenbraunen hoch und tritt einen Schritt zurück.

„Wir haben es hier wohl mit einer Tollkühnen zu tun!“

Eben springt Halunke. Er springt pomadig und keinen Millimeter höher als nötig. Sein Reiter hat vergessen, abzudrücken, und klappt nach hinten, bleibt allerdings im Sattel. Rose bedauert einen Augenblick lang die Bahnpferde. Jeden Tag, jede Stunde müssen sie klaglos einen andern Nichtskönner im Sattel dulden. Da sind die Ponys zu Hause wahrhaftig besser dran; auf die kommt kein Fremder, außer –

„Na, haben wir’s uns anders überlegt?“

Ach so, sie ist an der Reihe. Verwirrt gibt sie Galopphilfe, und Sultan springt gehorsam an. Rose kann nicht mehr kalkulieren, ob sie auskommt; das tut sie sonst stets, denkt für das Pferd. Jetzt bleibt ihr nichts übrig als mitzugehen und zu hoffen, daß Sultan sich nicht als ein Satan entpuppt und im letzten Augenblick verweigert, so daß sie allein über das Rick geht, zum Jubel der anderen.

Nein, Sultan springt. Er springt in dem Augenblick, in dem sie abdrückt, und zum erstenmal fühlt sie, was es bedeutet, gemeinsam zu springen: Pferd und Reiter – eine Bewegung, ein Wille, ein einziger, gemeinsamer Schwung. Unmöglich, dem Pferd jetzt ins Kreuz zu fallen oder auf dem Widerrist zu landen. Weich und eng gleiten ihre Oberschenkel am Sattelleder entlang, als Sultan aufsetzt.

„Na also, das Frauenzimmer kann ja!“

Rose lacht verlegen, während sie durchpariert. Der Reitlehrer klopft behaglich mit der Gerte an den Stiefelschaft.

„Wohl als Kind auf Ponys geritten? Merkt man sofort am Sitz. So was verliert sich nicht.“

„Ist das nun ein Lob oder ein Tadel?“ fragt Rose atemlos, während sie ihrem Pferd den Hals tätschelt. „Jaja, brav bist du gewesen!“

Der Reiter, der vorhin, als sie zum Sprung ansetzte, neben ihr hielt und sich über sie belustigte, lacht sie jetzt offen an. Er erinnert sie an jemanden; nur kommt sie im Augenblick nicht drauf, an wen.

„Nehmen Sie es als Lob. So hab ich es im Examen gemacht, wenn die Herrn Halbgötter delphische Orakel von sich gaben.“

„Ach. – Eigentlich nachahmenswert.“ Sie sieht einen Augenblick zu ihm hin und weiß plötzlich, wer er ist: der markante Hinterkopf aus der langweiligen Vorlesung in Anatomie. Hoffentlich erkennt er sie nicht oder erinnert sich wenigstens nicht an ihren verlorenen Gürtel. Was er sagt, findet sie nicht dumm. Sie gehört zu der Sorte Menschen, die immer glauben, alle andern könnten alles besser.

Sie sagt so etwas, als sie absattelt, sagt es ein wenig schüchtern und mit schlechtem Gewissen. Er lacht.

„Ging mir früher ähnlich. Später gibt sich das. Zum mindesten lernt man so zu tun als ob.“

Sie streicheln und loben ihre Pferde, verfüttern den letzten Stückenzucker und bummeln dann nebeneinander den Stallgang entlang.

„Stimmt das? Mit dem Ponyreiten? Haben Sie als Kind ein Pony gehabt?“ fragt er. Seine Stimme hat einen leichten Hamburger Tonfall. Rose hat das schon in der letzten Viertelstunde gemerkt. Sie hat eine Tante, die so spricht und die sie sehr liebt. Deshalb vielleicht ihre kritiklose Schwäche dieser Sprechart gegenüber. Auf seine Frage hin nickt sie.

„Nicht »gehabt«. Wir haben sie noch. Nicht nur eins, sondern mehrere. Ja, das klingt so nach unermeßlichem Reichtum und Little Lord Fauntleroy, es ist aber in Wirklichkeit nichts als eine Liebhaberei meines Vaters. Wir wohnen sowieso auf dem Lande, und er meint, nichts erziehe den Menschen so wie der Umgang mit Pferden und das Reiten. Und da er selbst keine Zeit hat, uns zurechtzuhobeln, hat er die Ponys angeschafft. Wir haben natürlich nichts dagegen.“

„Toll, dieser Gedanke. Und was –?“ Er zögert.

„Praktischer Arzt. In einem kleinen Kaff, nicht mal Kleinstadt, Dorf. Meine Mutter lebt nicht mehr. Sie war auch Ärztin.“

So, nun weiß er wenigstens das. Von den Geschwistern – Rose ist das zweitälteste Kind von sieben, die größte Tochter – sagt sie vorsichtshalber nichts. Sie hat sich das abgewönht. Die ewigen Fragen und Sticheleien, die darauf folgen, kann sie schon auswendig: Na, wer kommandiert denn da? Oder: Ach, wie reizend, sind auch Zwillinge dabei? Oder: Und Sie sind die Älteste? Na, ich danke schön!

Sie spricht schnell weiter.

„Ja, ich habe auf Ponys angefangen. Ganz früh. Manches lernt man dann natürlich falsch und legt es nie wieder ab.“

„Aber man lernt sitzen. Aussitzen – ungefähr in jeder Lebenslage“, sagt ihr Begleiter. Er hat genau gehört, daß sie sozusagen Entschuldigungen oder doch Erklärungen sucht. „Und daß Sie fest sitzen, hab ich gemerkt. – Hören Sie, machen Sie doch den Pfingstritt mit! Über die Alb – bei diesem Götterwetter! In einer Praxis versauern können wir noch lange.“

Rose sieht auf: „Woher wissen Sie denn –?“

„Daß Sie auch vom Fach sind? Na, schwer zu raten ist das nicht. Vater Arzt, Mutter Arzt – übrigens, Stetten ist mein Name. Richard Stetten. Leider noch nicht Dr. Stetten.“

„Aber Staatsexamen?“ Sie fragt, weil sie merkt, wie gern er Ja sagen will. Er strahlt.

„Soeben. Alle Hindernisse genommen. Ausgesessen. So werden Sie es auch machen. Hauptsache.“

„Das sagen Sie so. Ich habe ja noch nicht mal das Physikum. Blutiger Anfänger.“

„Machen Sie sich nichts draus. Mir hat mal jemand gesagt,–ein Franzose übrigens, – wir sprachen von der Liebe –: Am schönsten ist es, wenn man noch die Treppe hinaufgeht. So ist es auch mit dem Studium. Nur weiß man das anfangs nicht. Ich möchte jetzt, heute, da man weiß, wo man die Hebel ansetzen muß, jetzt möchte ich nochmal von vorn anfangen zu studieren.“

Seine Augen blitzen. Rose fühlt es warm durch ihr Herz gehen. Sie ist entbrannt für die Medizin und wittert den Gleichgesinnten. Und wie er das sagt, das ist so kameradschaftlich; es betont gar nicht, wie sehr er ihr überlegen ist, nur, daß er genau so denkt und fühlt.

„Nun, und wie ist das mit dem Pfingstritt? Drei Tage, stellen Sie sich das doch mal vor. Drei Tage zu Pferde!“

„Da muß ich eben nochmal Blut spenden“, sagt Rose. Sie treten gerade aus dem Reithaus. Die Luft ist frisch und wie voller Verheißungen, der Himmel blank und morgendlich hell. Herrgott, ist die Welt schön!

„Sehr gut! Ich übrigens auch. Meine Finanzen schleifen am Boden. Aber deshalb trinken wir jetzt doch einen Kaffee, drüben, am Neckar, wo man jetzt schon draußen sitzen kann. Was immer an Vorlesungen auf Sie wartet, es läuft Ihnen nicht davon. Wohl aber könnte ich das tun. Und was dann?“

Rose guckte aus den Augenwinkeln zu ihm hinüber. Junge Männer, die sehr von sich überzeugt sind, mag sie nicht. Aber er lacht so vergnügt, daß sie, ganz gegen ihre sonstige Art, zu dem Ja, das den Pfingstritt betrifft, auch noch das hinzufügt, was ein ganz und gar unprogrammäßiges und eigentlich sträflich schlemmerhaftes Frühstück nach sich zieht. Denn für gewöhnlich besteht ihr Frühstück und das unzähliger männlicher wie weiblicher Kollegen aus nichts als aus „strammer Haltung“; denn was Wirtinnen von Studentenbuden als Bohnenkaffee präsentieren – und anschreiben! –, das hat häufig genug mit Kaffee so viel zu tun wie ein kleiner Schnupfen mit einer Bronchopneumonie.

Sie sagt das, als sie den ersten Schluck getrunken hat, hier im Vorgarten des Neckar-Cafés, mit dem Blick über den Fluß hin auf die Platanenallee, am hellen Morgen. Und neben der Tasse steht noch ein Teller mit Butterbrötchen, knisternd frisch und appetitlich.

„Frühstücken Sie immer so?“ fragt Rose. Er sieht sie an. Sein Blick ist auf einmal ernst, obwohl es um seine Mundwinkel zuckt.

„Vielleicht glauben Sie es nicht. Vielleicht aber doch. Es ist das erstemal seit zwölf Semestern.“

*

So ist das gekommen. Mitunter sind es Kleinigkeiten, die eine Reihe von Handlungen auslösen, aus einem Schneeball eine Lawine machen. Das klingt ein bißchen pathetisch, denkt Rose, aber der Vergleich stimmt. Die Tatsache, daß sie doch noch gesprungen ist, obwohl eigentlich nur die Herren aufgefordert waren, hat dies alles nach sich gezogen. Sie sprechen davon, als sie am zweiten Abend ihres Rittes nach Versorgen der Pferde durch den kleinen Ort schlendern. Es ist ein süßer und lauer Frühlingsabend, eigentlich gar nicht typisch für diese Landschaft, die sonst herb und gebirglich ist. Rose sagt das. Richard lächelt sie an, ein wenig hintergründig.

„Auch herbe Landschaften können mitunter süß sein, vor lauter Frühling, vor lauter Blühen!“

Weiter sagt er nichts. Aber die Fortsetzung dieses Satzes steht sehr deutlich in seinen Augen. Rose sieht rasch weg.

Sie nennen sich beim Vornamen; alle, die den Ritt mitmachen, tun das. Das elende, steife: „Fräulein Hofer“ – „Herr Stetten“ fällt dadurch weg. Das ist gut.

Gut ist es auch, auf einem Drei-Tage-Ritt eine Art Sonderkavalier zu haben. Eigentlich glaubt sie auch jetzt noch nicht recht, daß Richard sich auch nur das geringste aus ihr macht. Staatsexamen in der Tasche und nur noch den Rest der Doktorarbeit vor sich, solche Leute sehen kleine stud. med. eigentlich überhaupt nicht an. Es ist eben wahrscheinlich sonst kein Mädel mit, das der Mühe lohnte, denkt Rose.

Objektiv betrachtet ist das natürlich Unsinn. Wer einen solchen Ritt mitmacht, ist kein Sonntagsreiter. Sie haben ganz hübsche Geländestrecken hinter sich gebracht, bergauf – bergab. Ach, es ist wundervoll, und noch, noch!, liegt ein Tag im Sattel vor ihnen.

„Ein Tag noch, ein ganzer Tag!“ sagt Richard eben, er scheint demselben Gedankenpfad gefolgt zu sein. „Kennen Sie das Lied von Storm: Wir wollen ihn, mein wackrer Freund, genießen, ja, genießen!“

„Das ist aber ein Herbstlied“, sagt Rose. „Der Nebel steigt, es fällt das Laub.“

„Ach, gleichgültig. – Und was tun Sie dann?“ fragt er. Es geht sich so hübsch nebeneinander nach dem langen Ritt. Die Abendsonne färbt die weißen Stellen zwischen dem dunklen Gebälk der Fachwerkhäuser rosa. Der Flieder ist aufgesprungen. Jetzt in der Abendkühle duftet er berückend, fast überwältigend süß.

Die beiden gehen stumm nebeneinander her. Ihre Haut spannt an den Backenknochen vom Sonnenbrand, den man bekommt, wenn man viele Stunden in Wind und Sonne reitet. Rose guckt ihre Stiefelspitzen an, während sie, die Absätze zuerst aufsetzend, langsam hintrottet.

„Ich fahre heim. Und Sie?“

„Für mich ist es zu weit. Hamburg. Lohnt nicht. Warum auch? Kann es irgendwo auf diesem alten und ewig jungen Globus schöner sein als in diesem Augenblick hier? Oder sind Sie anderer Ansicht?“

Rose sieht auf und blickt ringsum. Erst ist es, als wollte sie ganz sachlich prüfen, ob er recht habe.

Drüben schwingt der Höhenzug duftblau dahin, wie eine Melodie, davor halbrechts, blüht ein Apfelbaum als wirkungsvolle Staffage. Er sieht aus wie ein Riesenstrauß, weiß, rosa überschäumt. – Nein, nirgends kann der Frühling so überwältigend sein wie hier im südlichen Deutschland. Sie sagt das. Richard sieht sie an.

„Sie stammen von hier?“

„Ja.“

„Darf man fragen, wo Sie wohnen?“ fährt er nach einem Augenblick Pause fort. Rose guckt vorsichtig zu ihm hin. Er sieht ein wenig unsicher drein, sie merkt genau, was er jetzt denkt. Oft geht ihr das so, sie kann mitunter wörtlich Gedanken lesen.

„Nicht weit. Vielleicht fünfzig Kilometer Luftlinie von hier.“ Nein, mehr sagt sie nicht. Wer weiß, wen ihre andern Geschwister wieder mit nach Hause gebracht haben! Pfingsten ist immer der Teufel los, es wimmelt von Gästen, die auf Liegestühlen und zusammengeschobenen Sesseln nächtigen, wenn Tante Troll sie nicht einfach in die Kinderbetten steckt und die Kleinen ins Heu.

Es ist schön zu Hause, keine Frage. Schön, lustig, lebendig, warm. Gerade wenn das Haus voll ist. Aber es ist auch unbeschreiblich, unsagbar unordentlich. Tante Troll, Mutters ältere Schwester, die nach Mutters Tod zu ihnen kam und gleichsam unbeabsichtigt auch geblieben ist, Tante Troll „peilt die Wirtschaft über den Daumen“. Sie ist Malerin und Graphikerin, macht entzückende Tierplastiken und kocht ausgezeichnet, aus Leidenschaft. Ihre Kuchen sind sozusagen lyrische Gedichte, ihre Suppen stimmen andächtig, und Bowlen setzt sie an, da kann kein Mann mit.

Aber!

„Welches Aber ist es denn?“ fragt Richard Stetten in diesem Augenblick.

„Vielleicht ein ganz dummes“, sagt Rose und versucht, unbefangen und über der Situation stehend auszusehen; „bei uns geht es Pfingsten zu wie in einem Narrenhaus. Wir haben nämlich keine Hausgehilfin. Eine Tante von uns – ja, ordentlich ist sie nicht, sie ist nämlich Künstlerin“, sagt sie und setzt sozusagen wieder auf, nachdem die Hürde genommen ist. Siehe da, man ist nicht aus dem Sattel gekommen! Rose ist beinah verblüfft, ähnlich wie damals der Reiter vor ihr auf Halunke. „Pfingsten lohnt es für die meisten nicht, nach Hause zu fahren. Da kommt alles zu uns. Ja, Sie dürfen das nicht falsch verstehen!“

Es klingt ja wirklich reichlich ungastlich, was sie da hervordruckst. Und ungastlich will sie wahrhaftig nicht sein, wo er doch in Hamburg zu Hause ist und nicht weiß, wohin mit sich. Vielleicht aber war seine Frage gar kein Wink mit dem Zaunpfahl?

Doch, es war einer. Denn jetzt sagt er, höflich im Ton, aber sonst unmißverständlich: „Aber Pfingsten ist doch vorbei. Ich meine, die Feiertage. Und die andern Gäste sind vielleicht schon wieder weg? So daß Platz wäre. Ich habe ja sogar den Schlafsack mit, brauchte also nicht einmal Bettwäsche.“

Er sagt das schüchtern, trotzdem kann Rose nicht umhin zu denken: Bescheiden ist er ja gerade nicht, sich so einzuladen. Was erwidert man denn in einem solchen Falle, wenn man einen Besuch nicht haben will? Warum will sie ihn eigentlich nicht haben? Sie will ihn schon, freilich.

Das alles geht blitzschnell durch ihren Kopf. Dann hat sie schon gesagt, eigentlich, ehe sie es selbst zu Ende dachte:

„Aber ich bitte Sie. Darauf kommt’s doch nicht an! Wenn Sie also Lust haben, können Sie gern mitkommen.“

So, nun ist es heraus. Was sie noch weiter gesprochen haben, daran erinnert sich Rose nicht mehr, als sie neben den andern Reiterinnen abends im Stroh liegt. Sie kann nicht einschlafen. Sie hat ihn nun also eingeladen. Gut. Er hat es ihr sehr deutlich nahegelegt und „ist selbst schuld“.

Er ahnt natürlich nicht, was ihm bevorsteht. Voriges Jahr waren zu Pfingsten elf Gäste da. Es war lustig, zweifellos. Bis auf den Umstand, daß Sö sich mit ihrem Tanzstundenpartner verzankte, weil er ein einziges Mal Tine aufgefordert hatte, und Lars sich darüber totlachen wollte. Lars, der älteste, ist in diesem Jahr auch daheim. Das weiß Rose. Weil er damals so lachte, fühlte sich Michael genötigt, den großen Bruder anzugreifen, und der wehrte sich sehr handgreiflich. Sehr schön ist so was ja nie. Und die Kleinen wollen abends nicht zu Bett, wenn etwas los ist. Keiner fühlt sich wirklich verantwortlich für sie. Tante Troll greift nicht durch; sie betont immer wieder, sie sei lediglich als „Köksche“ angestellt und für nichts anderes zuständig, bestimmt aber für keinen Kinderkrach. Kochen, ja, das will sie, alles andere aber läßt sie laufen, wie es läuft.

Natürlich haben sie zu Hause eine Putzfrau. Das ist in einem solchen Haushalt nötig. Aber einen, der die Zügel richtig in der Hand hält, haben sie eben nicht. Was wird Richard denken, wenn er in dieses Durcheinander hineinschneit?

Rose träumt. – Sie träumt, daß sie durch ein Haus geht, in dem überall Staub gewischt ist und alle Betten weiß überzogen sind. In den Vasen stehen Blumen, und nirgends liegen niedergetretene Hausschuhe herum, über die man stolpert, oder Klumpen von nassem Badezeug. Die Fenster sind geputzt, und der Tisch strahlt weiß gedeckt, und um den Tisch sitzen ...

Der Traum, bisher ein Wunschtraum, wechselt in einen Angsttraum hinüber. Am Tisch sitzen Michael, Josi und Volker und essen, und sie essen, wie sie das in Wirklichkeit auch tun, nämlich wie die Indianer. Michael stopft sich den Mund voll Kartoffelsalat, so daß er ihn fast nicht mehr zubekommt, und Volker hält die dazugehörige heiße Wurst am Zipfel über sich und schnappt danach, als wäre er auf dem Rummelplatz. Josi gurgelt mit der Milch.

„Werdet ihr wohl, ihr sollt doch nicht!“ ruft Rose im Traum. In Wirklichkeit würde sie das auch rufen, und zwar mit derselben Wirkung wie jetzt, nämlich mit gar keiner. „Werdet ihr wohl manierlich essen!“ Da erscheint Sö auf der Bildfläche und tanzt um den Tisch, und sie hat ihr Tanzstundenkleid an, das gelbe, das ihr so gut steht, wenn sie braungebrannt ist, und das ihre unwahrscheinlich dünne Taille zeigt. Natürlich, hätte Sö es sonst angezogen? Sö trällert, streckt die Arme aus und ruft:

„Los, Richard, kannst du Cha-Cha-Cha?“

Rose ist in den neuen Tänzen nicht so bewandert wie Sö, und sie vertritt deshalb verbissen die Ansicht, Cha-Cha-Cha sei kein Tanz, sondern eine Krankheit. Richard aber kann es, und Sö kann es noch viel besser, und sie tanzen ...

Rose stöhnt und dreht sich auf die andere Seite, dabei bekommt sie einen Puff ihrer Nebenschläferin, die sich auch gerade umdreht. Und dann liegt sie lange wach, sie wischt sich den Angstschweiß vom Gesicht und denkt, wie man nachts oft denkt: „Wenn das nur gut geht! Eigentlich kann es ja gar nicht gut gehen.“

Jede Nacht vergeht einmal, und am Tage sieht manches nicht mehr gar so bedrohlich aus. Man sollte sich das merken, denkt Rose, als sie den Fuß in den Bügel hebt und in den Sattel greift, um sich auf ihren Sultan für den letzten wundervollen Tag dieses Pfingstrittes hochzuziehen. Dieser eine Tag der Freiheit jedenfalls bleibt ihr noch. Und wie hat Richard gesagt?

„Wir wollen ihn, mein wackrer Freund, genießen, ja, genießen.“

Ein Zuhause

Die Kleinbahn zuckelt dahin, asthmatisch und wohl darauf bedacht, dem Reisenden für sein Geld etwas zu bieten. Richard zeigt sich entgegenkommend genug, es zu bemerken, wie „reizend“ die Landschaft ist. Das ist sie wirklich. Und daß man nicht recht vorwärts kommt, hat auch sein Gutes. Rose eilt es nicht.

„Was haben Sie denn vor, wenn Sie erst den Doktor haben?“ fragt sie. Sie weiß nun schon einiges von Richard, die letzten gemeinsamen Tage brachten sie einander näher als sonst Wochen. Erstens sind sich Reiter überhaupt schnell vertraut, und dann schuf das viele Fachsimpeln natürlich auch eine Gemeinsamkeit, die noch zusätzlich wirkte. Immer wieder kamen sie auf Fachfragen, und das Persönliche wurde zurückgeschoben. Jetzt fragt Rose also. Wenn sie ihn mitnimmt nach Hause, muß sie ja einiges wissen über diesen netten und klugen Kommilitonen, der so gute Manieren hat und – ein Glück! – sie um einen halben Kopf überragt.

Letzteres ist nicht unwichtig. Alle Hoferkinder pflegen das Mittelmaß zu überwachsen, und bei Mädeln ist das nicht unbedingt wünschenswert. Rose sieht befriedigt an ihm hoch, wie er da, schlank und hübsch, am Abteilfenster steht. Zusätzlich zu diesen positiven Eigenschaften besitzt er auch noch eine Nase, die ihr gefällt. Sie ist zu kurz für sein Gesicht und hat kreisrunde, ein