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Gisa hält eigentlich nichts davon Tagebuch zu führen, sie findet die Idee veraltet. Und trotzdem beginnt sie ihre Gedanken niederzuschreiben um mit ihren Problemen klar zu kommen und die Fehler zu finden, die gemacht wurden. Und es dauert auch nicht lange, bis es zu Veränderungen in ihrem Leben kommt, bei denen Tagebuchschreiben alleine nicht mehr helfen kann. Denn eines ist klar: jung sein ist schwer.-
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Seitenzahl: 241
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Lise Gast
Ein Buchfür junge Mädchen
Saga
Jungsein ist schwer - ein Buch für junge MädchenCopyright © 1970, 2019 Lise Gast und SAGA Egmont
All rights reservedISBN: 9788711509685
1. Ebook-Auflage, 2019Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Tagebuch schreiben ist das albernste, was es gibt. Es gehört zur vor-vorigen Generation. Mein liebes Buch, dir werde ich alle meine Gedanken anvertrauen. . . oder wie solche Ergüsse immer anfingen. Ich finde das schauderhaft.
Trotzdem habe ich mir dieses Heft gekauft. Ich bin in eine Geschichte hineingeschlittert, in der ich mich nicht zurechtfinde. Da will ich es schriftlich versuchen. Alles wird klarer und einfacher, wenn man es schreibt. Am liebsten würde ich natürlich mit jemanden sprechen, aber mit wem? Heidi hat keine Zeit, und zu Vater würde ich nie gehen. Axel? Nein, um ihn geht es ja gerade. Vielleicht hilft mir das Schreiben.
Angefangen hat die Geschichte damit, daß ich Axels Aktenmappe nahm. Ich nehme sie mitunter oder er borgt sich meine, wir sind in dieser Beziehung nicht kleinlich, sondern gute Kameraden. Natürlich ärgert man sich, wenn man sie gerade braucht und der andere hat sie, aber Krach gibt es deshalb nicht. Mitunter allerdings geht Axel hoch, je nach seiner Laune. Aber ich will ihn nicht anschwärzen, sondern versuchen, alles sachlich nacheinander zu schreiben, damit ich den Fehler finde.
Ich nahm also seine Mappe, weil ich zu faul war, meine eigene auszuräumen. In meiner steckte der ganze Schulkram, und ich wollte zum Baden fahren. Axels Mappe lag für mich so bequem, leer und einladend auf einem Stuhl im Flur. Ich stopfte Badeanzug und Frottiertuch hinein und ging. Sicher wäre ich nicht gegangen, wenn Heidi an diesem Abend dagewesen wäre. Denken tu’ ich immer ,Heidi‘; wenn wir allein sind, sage ich es auch. Sonst nenne ich sie brav ,Mutter‘. Ich habe Koseformen wie ,Mutti‘ immer gehaßt. Heidi paßt gut zu ,Gisa‘. Ich bin so getauft und nicht ,Gisela‘. Vater ist nicht mein richtiger Vater, Heidi heiratete ihn, als ich zwölf war. Axel ist mein Stiefbruder. Er ist fünf Jahre älter als ich.
Heidi war also an diesem Abend nicht daheim. Sie hatte wohl eine Konferenz. Vater saß im Wohnzimmer und räusperte sich. Ich kann das nicht ausstehen und suche dann immer schnell das Weite. Vielleicht ging ich an diesem Abend überhaupt nur weg, weil ich unser Zuhause so satt hatte, daß ich am liebsten gar nicht wiedergekommen wäre.
Draußen wurde es nicht besser. Es war ein lauer Aprilabend, schmeichelnde, weiche Luft, die einen unruhig machen kann, wenn man es nicht schon gewesen wäre. Ich fuhr durch die Stadt zum Germania-Bad hinaus, weil alle anderen Freibäder noch geschlossen waren. Das Germania-Bad ist ein Bad für nicht ganz Vernünftige und Temperaturprotzen, die sich am liebsten das Eis aufhacken möchten. Es liegt neben der Rennbahn im Westen der Stadt. Wir wohnen im Osten, zwar ganz hübsch, aber keineswegs so, wie ,man‘ wohnt. Heidi mußte nehmen, was sie bekam. Es war damals schwer genug, eine Wohnung aufzutreiben.
Im Grunde fuhr ich eigentlich nicht zum Bad, um zu schwimmen. Ich hoffte, dort jemanden zu treffen. Es war eine ganz und gar abwegige Hoffnung. Mitunter aber tut man so etwas. Ich hatte ein paar Tage vorher dort, ganz flüchtig nur, einen jungen Mann kennen gelernt, der mir sehr gefiel. Während ich im Bad war, hatte jemand an meinem Rad das Ventil lockergeschraubt. Ich ärgerte mich, weil ich keine Pumpe mithatte. Da kam dieser junge Mann. Weil auch ihm die Luftpumpe fehlte, nahm er von irgendeinem fremden Rad eine und pumpte mein Rad auf. Wir haben miteinander kaum drei Worte gesprochen. Er hatte eine seltsame Stimme, gar nicht schön, eher etwas rauh.
Es war natürlich sinnlos, zu hoffen, daß er wieder da wäre, und ich traf ihn auch nicht. Meine Laune wurde noch schlechter. Ich hatte eigens meine Ribbelsamthose angezogen und die karierte Bluse.
Auf der Rennbahn wurden ein paar Pferde bewegt. Ich unterschied die bunten Farbflecke der Jockey-Jacken, aber es war zu weit, um alles richtig zu sehen. Wenn man jetzt zum Club gehört hätte, könnte man drüben auf der Terrasse sitzen und alles schön aus der Nähe sehen.
Ach, diese ewige Pfennigfuchserei zu Hause, wie ich die satt habe! Bei allem und jedem: ,Das können wir uns nicht leisten, wir müssen sparen.‘ Immer kommt erst ein Sessel für Vaters Zimmer dran oder so etwas. Sparen! Dabei verdient Vater jetzt ganz gut, wenn er auch seine Gelder schwer hereinbekommt, wie er stöhnt. Steuerberatung bringt gar nicht so wenig. Außerdem ist Heidi doch Studienrätin! Daß es noch manches nachträglich anzuschaffen gibt, gebe ich zu. Ich fände es allerdings wicbtiger, man ginge in einen guten Film oder in ein Konzert, statt sich Sessel zu kaufen. Mein Geld jedenfalls werde ich mal für das ausgeben, was mir wirklich Spaß macht. Vorläufig habe ich leider keines. Das Taschengeld, das ich bekomme – reden wir nicht davon.
An all dies dachte ich, während ich an der Rennbahn stand, ohne Lust, jetzt noch schwimmen zu gehen oder etwas anderes zu unternehmen. Wenn ich wenigstens jemanden getroffen hätte, eine aus meiner Klasse oder einen der Jungen. Natürlich kam niemand. Ich ließ das Rad stehen und bummelte ein Stück den Fußweg ,Radfahren verboten‘ entlang, dem Rennbahn-Restaurant zu.
Auf dem Parkplatz standen einige elegante Wagen. Die Leute, die solche Autos besitzen, saßen auf der Terrasse und aßen zu Abend, Rührei mit Schinken oder was weiß ich. Ich verstehe nichts davon, was man in Lokalen ißt. Bei uns besteht ,zu Abend essen‘ aus einem Rest von Mittag, Bratkartoffeln und im Höchstfall Quark oder Streichwurst.
Es kommt mir auf das Essen nicht an. Wenn ich auf einer eigenen Bude wohnte, könnte ich mit viel weniger existieren. Aber gesetzt den Fall, ich verlobte mich, und ,Er‘ sagte zu mir:
,Gisa, komm, wir gehen ins Theater, und vorher essen wir irgendwo.‘ Wie macht man das? Was sucht man sich aus? Das müßte man doch lernen. Ich würde, glaube ich, vor jedem Ober rot. Aber wenn ich zu Hause einmal so etwas erwähnen wollte, hieße es nur: ,Lern‘ deine Vokabeln, das ist wichtiger.‘ Und Axel würde mich auslachen und sich brusten mit seinen Erfahrungen aus der großen Welt.
Mit solchen gleichzeitig rebellischen und betrübenden Überlegungen stand ich also dort herum. Es dämmerte schon. Warum war ich nicht doch Schwimmen gegangen! Es hätte mich vielleicht aufgemuntert. Nun brachte ich die gleiche schlechte Laune wieder mit nach Hause. Es war eigentlich keine schlechte Laune. Ich fühlte mich unzufrieden mit mir selbst und sehnsüchtig, nicht nach einem bestimmten Menschen, sondern nach irgend jemandem, der mich verstand. Zu Hause versteht mich keiner, in der Schule auch nicht. Niemand hat Zeit für mich. Ärgerlich drehte ich mich um und ging zurück. Da war die Mappe weg!
Das Rad stand noch da. Mein erster Gedanke: das hätte ja auch weg sein können. Ich war erleichtert, daß es noch da stand. Aber die Mappe, Axels Mappe! Wenn es doch meine gewesen wäre! Ich stand eine Weile wie angefroren und rührte mich nicht. Wir stellen die Räder oft ab und kümmern uns dann nicht darum, viel länger als ich es hier getan hatte. Diesmal also war es schief gegangen.
Mappe und Schwimmzeug. Der Badeanzug fiel nicht so ins Gewicht, erstens war er mein eigener, und ich hatte den Verlust selbst auszubaden, und zweitens stellte er kein Prachtstück mehr dar. Ich trug ihn schon zwei Sommer, geflickt und ausgeblichen. Zum Geburtstag könnte ich mir einen neuen wünschen, ohne daß es auffiel. Und das Frottiertuch – Heidi zählt nicht jede Woche, oh auch alle Handtücher da sind. Blieb also nur die Mappe, Axels Mappe.
Was kostet so ein Ding? Mir war übel zumute, als ich aufs Rad stieg und heimwärts rollte, während ich so überlegte.
Es war schon ziemlich spät, als ich unser Viertel erreichte. Die andern hatten sicher schon gegessen. Es würde also Krach geben. Ich hatte weder gesagt, wohin ich führe, noch, wann ich wieder da wäre. Außerdem war ich zu lange geblieben. Immer gibt es Spektakel, wenn ich später als halb acht nach Hause komme. Mit achtzehn Jahren noch so als Kind behandelt zu werden!
Bei uns zu Hause ist es unerfreulich. Sicher klingt das undankbar, denn manche haben es noch scheußlicher. Leute, die in Baracken wohnen oder noch nicht aus den Lagern heraus sind, wo viele, viele Menschen in einem Raum zusammenleben. Mir ist schon Vater zu viel. Heidi ist zu gut für ihn und hätte ihn nie nehmen sollen.
Sie hat es um seinetwillen getan. Er war so verstört und hilflos ohne Frau mit dem halbwüchsigen Sohn, daß er sich geradezu an Heidi klammerte wie an einen Rettungsring. Männer, die allein zurückbleiben, sind viel hilfloser als Frauen. Wenn ich mir vorstelle, Heidi und ich lebten für uns allein, hätten zwei hübsche Zimmer, und ich verdiente nun auch bald, das wäre viel schöner. Jetzt sind wir eine ,richtige Familie‘, Vater, Mutter, Sohn und Tochter – vielen Dank. Obwohl ich Axel in einer Art auch gern mag, zugegeben.
Vater nicht. Ich wünschte, er wäre Heidi nie begegnet. Heidi und ich wären uns allein viel näher geblieben.
Heidi ist sehr unternehmend. Sie hat Vater wieder in seinen Beruf gebracht; der Kollege, mit dem Vater jetzt arbeitet, ist ihr Bekannter. Ob Heidi das aus Selbstschutz vermittelte? Männer, die arbeitslos zu Hause sitzen, sind wohl schlimmer als alles andere. Axel hat mal erzählt, daß eine Frau, deren Mann ein paar Wochen Gefängnis bekam, unter Tränen bat, man sollte ihn doch im Winter einsperren. ,Ich habe noch einen Sohn, der ist auch Maurer wie mein Mann. Zwei Männer im Winter daheim zu haben, das ist mehr als eine Frau ertragen kann.‘
Axel lachte, als er das erzählte. Er muß mit anderen Studenten oft zu Verhandlungen und erzählt sehr lustig davon. Eigentlich dürfte man über so etwas nicht lachen.
Nun hat Vater schon wieder so viel Arbeit, daß Heidi ihm abends hilft, weil er es angeblich allein nicht schafft. Ich finde das jämmerlich. Ob er so geworden ist, weil seine Frau so viel tüchtiger und überall auch viel beliebter ist als er? Vater ist auch schrecklich eng in allen Seinen Ansichten.
Ich fuhr immer langsamer, um das Heimkommen so lange wie möglich hinauszuschieben. Ich dachte viel an diesem Abend über uns zu Hause nach.
Was noch nie passiert ist, seit Heidi Vater geheiratet hat: als ich heimkam, waren die beiden zusammen ausgegangen. Für mich lag ein Zettel da. Ich konnte gar nicht fassen, daß ich dieses Mal ungeschoren davonkam.
Dafür kam Axel. Eigentlich ist er jeden Abend auswärts, an diesem aber ausgerechnet nicht. Er fuhr sofort auf mich los.
„Du, meine Mappe ist weg. Hast du sie gehabt?“ Ohne ,Guten Abend‘ zu sagen! Ich war noch von der Angst vor dem verspäteten Heimkommen, von der Abwesenheit der Eltern und meiner Erleichterung darüber so verstört, daß ich keine Ausrede fand.
„Ja, ich habe sie gehabt. Aber. . .“
„Aber?“ fragte er drohend. Er kann etwas unerträglich Scharfes haben. Vielleicht wird er mal Staatsanwalt. So jedenfalls sind die Staatsanwälte immer im Film oder die Untersuchungsrichter. Ich weiß das nicht so genau. In zwei Minuten hatte ich alles zugegeben.
Axel wurde sehr böse. Die Mappe wäre fast neu gewesen, ich müßte sie ihm ersetzen. Wo ich mich denn herumgetrieben hätte?
Ich sagte nicht: an der Rennbahn. Ich wollte nicht. Es war ja nichts dabei, aber mitunter bin ich bockig. So antwortete ich:
„Bei einer aus meiner Klasse. Ich hab das Rad auf der Straße stehen lassen, und als ich wieder herunterkam, war die Mappe weg.“
Es gab einen richtigen Krach. Als er höhnisch fragte, bei welcher Freundin denn, fauchte ich zurück, das ginge ihn nichts an, und rannte in mein Zimmer. Er hörte sofort auf zu toben, und ich merkte, daß Schritte die Treppe heraufkamen: die Eltern. Ich verhielt mich mäuschenstill und merkwürdigerweise er auch. Ich hörte Heidi in die Küche gehen, Vater brauchte vielleicht noch einen Tee. Mit angehaltenem Atem stand ich an der Wand und horchte im Dunkeln. Nein, niemand rief nach mir. Sie nahmen wohl an, ich sei längst im Bett. Das war gut gegangen.
Ich zog mich im Finstern aus und ging ungewaschen zu Bett. Das tu’ ich nicht gern, und einschlafen konnte ich auch nicht. Nachts sieht alles immer viel schlimmer aus. Ich dachte und dachte im Kreis herum.
Das beste wäre, zu Heidi zu gehen und ihr alles zu erzählen. Heidi hat wenig Zeit für mich, aber wenn man sie einmal richtig schüttelt: ,Hör’ zu, ich brauche dich!‘, dann ist sie da. Sie ist handfest, vernünftig, sie kann lachen und weinen wie unsereins. Das können die meisten Erwachsenen nicht mehr. Aber, wie gesagt, es kann Wochen dauern, bis man sie mal allein sprechen kann. Ich wäre lange nicht so bockig und häßlich, wenn sich Heidi manchmal von sich aus etwas Zeit für mich nähme.
Vater ist anders. Er meint, älter sein ist das gleiche wie klüger sein und gibt sich sehr überlegen. Dabei ist er oft sehr unsicher. Ich kann seine Art nicht leiden. Einmal fragten die Bekannten, ob Heidi denn so gern berufstätig wäre, weil sie es auch jetzt noch bliebe, da er doch verdiente. Da setzte er eine hochmütige Miene auf und sagte: ,Adelheid ist gern im Beruf, überhaupt – ich kann nur sagen: Adelheid ist glücklich.‘ ,Durch mich‘, meinte er natürlich. Schon daß er für sie antwortete, fand ich anmaßend. Und dann erst das Wie. . .
All das saß wohl noch in mir, denn sonst wäre es vielleicht zu diesem Krach, der nun folgte, gar nicht gekommen. Es tut mir selbst leid, vor allem für Heidi.
Ich war Axel am Morgen erfolgreich entschlüpft. Gegen Abend suchte ich Heidi. Ich wollte mit ihr sprechen und ihr mein Pech erzählen. Sie war in der Küche, wo sie Kartoffeln in Scheiben schnippelte. Ich nahm ihr das Messer aus der Hånd und sagte:
„Du, Heidi, mir ist was Blödes passiert.“
„Ja? Augenblick mal –“ sie entzündete das Gas und stellte die Pfanne darauf. „In der Schule? Was denn?“
Jetzt oder nie, dachte ich! „Nicht in der Schule. Ich habe – –“
In diesem Augenblick sah Vater zur Tür herein.
„Hier bist du, Adelheid? Kannst du mal einen Augenblick. . .“
„Ja, warte, sofort. Gisa, würdest du bitte die Kartoffeln fertigbraten? Zwiebeln stehen dort links. Ich komme gleich wieder.“ Sie lief. – Immer läuft sie, wenn Vater winkt.
Ich war enttäuscht. Schwer genug war es mir gefallen, anzufangen, denn jeden Augenblick konnte Axel hereinplatzen. Bis dahin sollte Heidi es schon wissen. Ich wollte sie sozusagen bereits auf meiner Seite haben bis Axel nach Hause kam. Ich briet die Kartoffeln und wartete. Heidi kam nicht zurück. Ich drehte das Gas klein und ging in den Flur. Dort stand ich ein paar Minuten. Mit einem Entschluß trat ich an Vaters Zimmertür und klopfte.
Ich hatte das noch nie getan. Sehr erstaunt rief er: „Ja?“ Ich ging hinein. Was ich denn wolle, fragte er ungehalten.
Er und Heidi saßen am Tisch, den eine Menge Papiere bededkten. Nach ,Ich komme gleich wieder‘ sah das nicht aus. Ich wurde giftig.
„Die Bratkartoffeln sind fertig“, sagte ich. Es klang frech, ich gebe das zu. Vaters Gesicht rötete sich.
„Und?“
„Und Heidi wollte gleich wiederkommen. Ich möchte mit ihr sprechen.“
„Im Augenblick habe ich mit ihr zu sprechen,“ er betonte das ,ichʻ so, daß es bei mir einen Kurzschluß gab. Manchmal kann mir das passieren. Ich vergaß jegliche Rücksicht.
Schon wie er dasaß, den Arm auf Heidis Stuhllehne! In mir fing es an zu kochen. Was ich jetzt sagte war natürlich unverschämt, aber es ging mit mir durch.
„Ich denke, das ist deine Arbeit?“ fragte ich und deutete auf den Tisch. „Oder besprecht ihr etwas für Heidis Unterricht? Oder vielleicht Weihnachtsüberraschungen für uns?“
„Was fällt dir denn ein, Gisa!“ sagte Heidi jetzt, erschrocken und entsetzt über meinen Ton, „was wir hier zu tun haben...“
„Ist Vaters Sache, dachte ich“, stieß ich heraus. Ich sagte es leise, um nicht ins Schreien zu kommen. Es klang trotzdem so, daß ich Angst vor mir selber bekam. „Natürlich braucht er dich dazu. Dazu und zu allem. Alles mußt du machen: den Umzug hast du gemacht, die Wohnung gesucht, für Vater die Arbeit. . .“ mir war, als zischte das jemand anderer. Ich hörte nur zu, halb schaudernd und halb beglückt – endlich wurde alles einmal ausgesprochen! „Und Axel versorgst du und wäschst und bügelst für ihn, seine Examenspapiere suchst du, wenn er sie verschlampt. Wenn er das Frühstück vergißt oder Vater seine Thermosflasche, dann –“ meine Stimme gehorchte mir nicht mehr. Sie war wie abgewürgt. Ich zitterte so, daß ich die beiden wie in einem alten Film sah, in einem, der so streifig ist, daß man denkt, es regne pausenlos. Ich sah nicht, daß Vater aufgestanden war. Nur daran, daß sein Gesicht immer größer wurde, merkte ich, daß er auf mich zukam.
„Was unterstehst du dich. . .“
Ich wich zur Tür zurück, fühlte hinter mir die Klinke.
„Es ist doch so“, stammelte ich, schon mehr in Angst als in Wut, „alles muß Heidi können, alles lädst du ihr auf! Unsereiner ist überhaupt nicht mehr da. Immer heißt es. . .
„Gisa!“ Das war Heidis Stimme. Aber ich war schon im Flur, zog die Tür hinter mir zu – nicht leise, es ging zu schnell! – und rannte aus der Wohnung, die Treppe hinunter. Gottlob kam mir Axel nicht entgegen. Ich lief auf die Straße und um die nächste Ecke.
Dort blieb ich stehen. Alles an mir zitterte. Ich nahm mich zusammen, damit die Leute auf der Straße nicht auf mich aufmerksam wurden.
Dann bin ich wohl zwanzigmal um unser Viereck gegangen. An drei Seiten ging ich wie ein vernünftiger Mensch, ruhig und langsam, an der vierten vorsichtig, schleichend wie eine Katze und dicht an der Mauer, damit man mich von unseren Fenstern aus nicht sehen konnte. Dabei überlegte ich.
Mir schlug das Gewissen. Ich war verzweifelt. Der Gaul war mir durchgegangen, wie man so sagt. Scheußlich. Denn Heidi hatte es auszubaden, zweifellos. ,Deine Tochter!‘ betont Vater dann immer. Ich kenne das. Heidi tat mir in der Seele leid. Es wurde dämmrig. Ich wagte mich nicht wieder hinauf.
Daß ich überhaupt wieder in die Wohnung kam, verdanke ich einem Zufall. Nie hätte ich geklingelt, und einen Schlüssel habe ich natürlich nicht. Aber die Mutter von einer aus meiner Parallelklasse kam und wollte Heidi sprechen. Sie redete mich auf der Straße an, ob meine Mutter zu Hause sei. Mit ihr ging ich hinauf.
Axel öffnete die Glastüre und führte den Besuch herein, während ich in mein Zimmer schlüpfte. Dort habe ich gewartet. Zuschließen kann ich nicht, ich habe auch keinen Zimmerschlüssel. Das ist auch so etwas, was mich immer ärgert – Axel klopft nie an, wenn er einmal zu mir hereinkommt. Manchmal muß ich mich ja umziehen. Immer habe ich Angst, er überrascht mich einmal dabei.
Ich wartete. Erst voll Reue und Angst, dann wütend, schließlich heulte ich. Ich heulte, weil Heidi nicht kam. Ich hätte so gern um Verzeihung gebeten. Selbstverständlidh war ich unverschämt gewesen. Trotzdem fand ich, daß Heidi mich trösten müsse. Warum kam sie nicht? War Vater ihr wieder wichtiger als ich? Konnte sie nicht wenigstens eine Minute zu mir hereinschlüpfen? Ich wartete und wartete.
Sie kam nicht. Wahrscheinlich tröstete sie den gekränkten Vater über seine ungezogene Pflegetoditer. ,Stief‘tochter dürfen wir nicht sagen. Jetzt sagte ich es gerade. Immerfort knirschte ich in mich hinein: „Stief-Stief- Stiefvater!“ Schließlich schlief ich ein.
Am andern Morgen weckte Heidi mich später als sonst.
„Du mußt dich beeilen“, sagte sie, „Vater ist schon fort. Ich hab’ ihn so weit bekommen, daß er ging. Er will auf den Auftritt gestern nicht zurückkommen. Ich selbst habe jetzt keine Zeit für Erklärungeh, ich muß mich beeilen. Nicht wahr, Gisa, so etwas passiert dir nie wieder!“
Heidi sah so aus, daß sie mir leid tat. Trotzdem trafen mich die Worte: „ich selbst habe jetzt keine Zeit für Erklärungen.“ Natürlich mußte sie in die Schule und ich auch. Wann aber um alles in der Welt hat sie mal Zeit für mich?
Ohne Frühstück lief ich davon. Ich hätte nicht einen Bissen heruntergebracht. Mir war übel. Mein Rad stand im Vorkeller. Als ich hinunterkam, wartete Axel dort schon auf mich.
Ich sagte nicht „Guten Morgen“. Er auch nicht. Als ich schweigend nach meinem Rad griff, um es aus dem Ständer zu heben, schob er sich dazwischen.
„Na, hast du dir mittlerweile überlegt, wo du vorgestern warst?“
Ich befand mich in der richtigen Stimmung.
„Nein“, sagte ich. Nun gerade nicht! Axel schien nichts anderes erwartet zu haben. Später habe ich mir überlegt, daß er es vielleicht wissen wollte, um eine Polizeianzeige aufzugeben. Davon erwähnte er nichts. Hätte er doch! So aber hatte ich ,Nein‘ gesagt und blieb dabei.
„Gut, dann nicht. Eins aber sage ich dir, Gisa: die Mappe ersetzt du mir. Ich will mal nett sein und den Eltern nichts davon sagen – zunächst wenigstens. Überleg dir, wie du Geld verdienen kannst, um eine neue zu kaufen. Sagen wir, vier Wochen lasse ich dir Zeit. Ich finde das sehr großzügig von mir.“
„Sehr!“ sagte ich, fauchend vor Wut. „Wie denkst du dir denn das? Woher soll ich so viel Geld nehmen? Was hat sie übrigens gekostet?“
„Sechzig Mark. Und ich gebe mich mit einer billigeren auch nicht zufrieden, daß du es weißt“, sagte er drohend.
So fing es an. – Schweigend riß ich mein Rad aus dem Ständer und sauste ab. In der Schule saß ich da, paßte nicht auf und grübelte, wie ich zu sechzig Mark kommen könnte. Zum Glück schrieben wir keine Arbeit. In der Pause sprach ich mit Bärbel.
Bärbel sitzt neben mir. Sie ist nicht das, was man ,meine Freundin‘ nennt, ich habe keine Freundin. Aber selbstverständlich erzählen wir uns einiges, was uns beschäftigt.
„Du, ich brauche Geld. Wie könnte man Geld verdienen?“ fragte ich geradeheraus. Bärbel lachte mitleidig.
„Das frage ich mich schon lange.“
Wir rätselten hin und her. Nachhilfestunden? Jetzt nach Ostern sind die nicht gesucht. Außerdem bin ich in der Klasse zwar nicht im letzten Zehntel, aber doch keine Leuchte. Für Nachhilfestunden empfehlen die Lehrer immer die Streber. Nein, damit war es nichts.
„Weißt du, ich wüßte schon was“, sagte Bärbel schließlich. „Putzfrau! Das wird stundenweise bezahlt, und wie! Guck mal in die Zeitung! Da stehen immer Suchanzeigen. Ich würde das sofort machen, aber ich habe an einem Nachmittag in der Woche Flötenstunde und einmal unsere Jugendgruppe, ja, und im Garten muß ich auch helfen, jetzt, wo alles so wächst. Mutter und ich haben dieses Jahr einen Steingarten angelegt, also prima sag ich dir! Aber du könntest doch vielleicht putzen gehen, oder bist du auch jeden Nachmittag besetzt?“
„Das nicht.“ Ich dadhte daran, daß Heidi viel Nachmittagsunterricht oder Konferenzen hat oder aus irgendeinem anderen Grund nicht da ist. Sie weiß bestimmt nicht, wieviel Nachmittage ich frei habe. Putzfrau, warum nicht?
Na warte Axel, vielleicht kann ich dir die sechzig Mark früher bezahlen, als du glaubst. Wenn ich dann noch weiter verdiene, leiste ich mir einen neuen Badeanzug, aber einen tollen, und wenn Heidi fragt, dann sag ich ruhig, den hätte ich von meinem verdienten Geld gekauft. Sie soll merken, wie tüchtig ich bin. Achtzehn Jahre, da kann man wirklich anfangen, Geld zu verdienen!
In der nächsten Stunde paßte ich auf. Ich war wieder ganz zuversichtlich. Zu Hause griff ich mir gleich die Zeitung und verzog mich damit in mein Zimmer.
Tatsächlich, man hatte die Auswahl. ,Zugehfrau gesucht‘ – ,Stundenfrau‘ – Junges Mädchen zum Saubermachen von Büro und Treppenhaus gesucht‘ – ,Putzfrau wird eingestellt‘ – aber das meiste war wohl für vormittags gedacht. In der Samstagsnummer unserer Zeitung fand ich dann Hilperts Anzeige. Mich bestach, daß es sich um Nachmittags- und Abendstunden handelte. Außerdem war die Anzeige nicht unter einer Chiffre aufgegeben, die Anschrift stand gleich dabei. Ich kannte die Straße, nicht weit von uns entfernt. Keine sehr schöne Straße. . . na, ich würde sehen.
So lernte ich Hilpert kennen.
Er ist kriegsversehrt, hat nur ein Bein, und das ist auch nahezu steif. Aus diesem Grunde kann er sein Zimmer nicht selbst in Ordnung halten. Als ich zu ihm kam, sagte er mir das gleich, – in einer sehr netten Art. Mir war unbehaglich zumute, daß ich putzen sollte, während er dabei war. Erstens, weil er mir dann auf die Finger sah – ich bin ja keine gelernte Hausfrau –, und zweitens, weil er ein fremder Mann ist. Aber schließlich ist das einerlei. Er ist schon vierzig oder etwas darüber. Zu so einem alten Mann kann man nachmittags ruhig gehen, finde ich.
Erst druckste ich deshalb ein bißchen herum, und er schien sich darüber zu amüsieren, aber auf eine nette Art. Schließlich wurden wir einig. Ich sollte dreimal die Woche kommen. Das würde schon gehen. Vorsichtshalber fragte ich, wenn es aber nun doch mal nicht möglich wäre?
„Dann ist es auch kein Beinbruch. Ich bin so lange ohne Hilfe ausgekommen“, sagte er und blickte mich freundlich an.
„Schön, dann fange ich also morgen an.“ Ich entfloh. So schüchtern war ich damals noch. Aber ich konnte ja nicht wissen, wie Hilpert ist.
Als ich nach Hause kam, hatte ich Oberwasser. Ich richtete es so ein, daß ich Axel erwischte.
„Du kannst beruhigt sein“, sagte ich von oben herab, „du bekommst dein Geld.“ Er schaute mich von der Seite an.
„Hast du mit Mutter gesprochen?“
Hätte ich doch ja gesagt! Aber vielleicht hätte er sich dann bei Heidi erkundigt. Mit Heidi wollte ich damit nichts zu tun haben, nicht um die Welt. Ich schämte mich und war ihr doch gleidhzeitig böse, weil sie zu Vater hielt und nicht zu mir. Einmal hatte sie mich gestellt.
„Was war eigenlich los, als du mich sprechen wolltest, vor dem großen Krach mit Vater?“ hatte sie gefragt. Da aber war ich verbockt und wollte erst nicht antworten. Sie war sowieso im Aufbruch und ungeduldig, wegzukommen, das merkte ich.
„Das ist inzwischen überholt“, sagte ich und versuchte, es ruhig und sachlich und nicht ungezogen zu sagen. Sie seufzte und zuckte die Achseln. So konnte ich zu Axel, als er mich fragte, sagen:
„Nein, Mutter weiß nichts.“
„Und wie willst du es da anfangen?“ fragte er. Ich lachte.
„Geht dich nichts an. Davon steht nichts in unserm Vertrag. Vielleicht als Mannequin!“ sagte ich frech. Das glaubte er nicht. Am andern Tag ging ich zu Hilpert.
Es wurde ganz anders, als ich gefürchtet hatte. Hilpert kümmerte sich nicht um mich. Er sah mir weder auf die Finger, noch unterhielt er sich mit mir. Er ist Maler.
Gewöhnlich arbeitet er vormittags, wenigstens das Wichtigste. Deshalb wollte er um diese Zeit ungestört sein.
Bezahlt hat er pünktlich, am Ende jeder Woche. Zuerst war mir das peinlich. Darüber lachte er und gab mir das nächste Mal das Geld in einem geschlossenen Umschlag. Allmählich wurde ich ganz unbefangen. Einmal mußte ich ihn eine ganze Woche lang allein lassen. Wir hatten einen zweitägigen Schulausflug, und am andern Tag kam wieder etwas dazwischen. Mir tat er leid. Er wartet auf meine Hilfe, das weiß ich. So drückte ich mich nach dem Abendbrot heimlich von zu Hause fort und fuhr zu ihm, später als sonst. Die Tage waren schon wieder lang. Ich merkte, daß er sich freute, als ich kam. Das tat mir wohl.
Er begrüßte mich ohne ein Wort, indem er die rechte Hand mit gespreizten Fingern, Handfläche nach vorn, an die Stirn hielt und sich dann bis fast in die Waagerechte verbeugte. Das tut er manchmal, wenn er guter Laune ist. Mitunter begrüßte er mich auch gar nicht, sondern drehte sich nur von seiner Staffelei um, streifte mich mit einem Blick und kehrte wieder zu seinem Bild zurück.
Er war also guter Laune. Sein lederbraunes Gesicht mit den Falten rechts und links der Mundwinkel, die ihm das Aussehen eines englischen Boxerhundes geben, war freundlich. In den meist schmal zusammengekniffenen Augen blitzte es, während er sich verbeugte. Ich mußte lachen. Immer noch bin ich verlegen, wenn ich zu ihm komme, und dann muß ich so lachen, wie ich es zu Hause nie könnte. Bei Hilpert wird man ganz unbefangen, vorausgesetzt, daß er guter Laune ist.
Ich suchte gleich nach Eimer und Putzlappen und ging damit hinaus an die Wasserleitung, die sich im Flur unter der schrägen Wand befindet. Dann fing ich an, den Fußboden aufzuwischen.
„Abends werden die Faulen fleißig“, sagte er vergnügt und rückte die Staffelei mit dem komischen Bild, das er so liebevoll behandelt, beiseite. Ich konnte nicht erkennen, was es darstellte, wollte ihm aber nicht zu nahetreten.
„Nachher trinken wir einen Kirsch zusammen.“
„Vielen Dank, ich trinke nicht!“ sagte ich und wand meinen Lappen aus. Ich hätte ums Leben gern einen Kirsch mit ihm getrunken, eine Zigarette geraucht und über sein Bild gesprochen. Aber ich trinke nicht, rauche auch noch nicht, und für diese Art Kunst fehlt mir heute noch das Verständnis.