K(L)EINE T.RÄUME - Band 3 aus dem speziellen Genre der Medizinischen Belletristik - Ben A. Deyval - E-Book

K(L)EINE T.RÄUME - Band 3 aus dem speziellen Genre der Medizinischen Belletristik E-Book

Ben A. Deyval

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Beschreibung

Bali - Insel der Götter! Die Protagonisten der ersten beiden Bände der Serie finden sich in den Tropen wieder: einfach nur weg aus dem piefigen Chaos Berlins an einen traumhaften Urlaubsort. Dort erleben sie klebriges Klima, bunte Götterwelten und die sehr spezielle Magie gewiefter Inselbewohner. Aus Abenteuern werden fern der Heimat bald Schwierigkeiten… Ben A. Deyval präsentiert mit seinem neuen Roman erneut eine illustre Mischung kultureller und medizinischer Probleme, die nur knapp an einer Katastrophe vorbei schrammen. Denn auch auf der wunderschönen Insel am anderen Ende der Welt gibt es jene "natürlichen Phänomene" der Käuflichkeit, Korruption und Betrügereien aller Art - bis hin zu Menschenhandel: In den nebelverhangenen Dschungelbergen eines Naturschutzgebietes haben sich Firmen angesiedelt, die im Auftrag von Regierungen Forschung betreiben.

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Ben A. Deyval

K(L)EINE T.RÄUME - Band 3: Bali

Medizin, Magie & meer…

Ben A. Deyval

K(L)EINE T.RÄUME K ®

Band 3 – Bali

Medizin, Magie & meer

Impressum

Texte:

© 2021 Ben A. Deyval

Titel:

K(L)EINE T.RÄUME® ist eine eingetragene Wortmarke

Illustrationen:

Ben A. Deyval

Umschlag:

Ben A. Deyval

Druck & Distribution, Impressumservice:

 

tredition GmbH, Halenreie 40-44,

 

22359 Hamburg, Deutschland

ISBN:

978-3-347-41823-3 (Paperback)

 

978-3-347-41824-0 (Hardcover)

 

978-3-347-41825-7 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Alle Charaktere sind frei erfunden.

„Am Ende wird alles gut,

wenn es nicht gut wird,

ist es noch nicht das Ende.“

(Oscar Wilde)

Ich bedanke mich

– auf´s Neue! –

für all die Inspirationen

und Verbesserungsvorschläge,

für ein wachsames Auge,

geduldiges Einfühlen in die Figuren

und für den liebevollen Korrekturprozess

bei

H.W. und

A.S.

Pemaron, Bali

`Es gibt schönere Träume´, befand sie und drehte und wälzte sich schwerfällig unter dem Moskitonetz hervor, um im Stockdunklen barfuß tastend die Leiter zum Außenbad herunterzuklettern. Deutlich schönere Träume. Sie war vom durchdringenden Krähen eines Hahns unter dem Stelzenhaus wachgeworden. `Scheißviecher, einen Krach machen die!´ Ihr Partner schlief diagonal im Bett wie ein Toter. Er hatte sich keinen Millimeter zur Seite bewegt, als sie über sein Bein hinwegkletterte. Wenigstens regnete es nicht, als sie auf dem Klo saß, zwei winzige, im Flackern einer Petroleumlampe nicht sichtbare Mücken von ihren Beinen verscheuchte. Der Dschungel hinter der Mauer rasselte, schnarchte, gurgelte, floss und sang wie üblich, das Meer jedoch war heute Nacht still. Mondlose Nächte machten sie irre, aber das durfte sie niemandem sagen, sonst hätte man sie für verrückt erklärt. Dabei fühlte sie sich schon verschroben genug – was zum Teufel machte sie hier eigentlich, eine halbe Welt weit weg von zu Hause? Sie befühlte ihren Bauch, während sie nochmal einen Tropfen Urin abpresste, damit für den Rest der Nacht Ruhe war. Drinnen alles in Ordnung im Becken?

Der Traum fiel ihr ein. Gruselig. Einen Berg war sie hochgestiegen, eine ewig lange Treppe, von Tempelfahnen gesäumt. Sie verschwanden im Nebel, die Treppe und sie stiegen immer weiter, immer weiter nach oben. Plötzlich war sie über den Wolken und sah unter sich ein glänzendes ringförmiges Gebäude mit Ausläufern in Kreuzesform. `Ein Labor´, wusste sie im Traum, denn aus dem Inneren drangen Schreie zu ihr hoch. Langgezogene, herzzerreißende Schreie. Welches Tier war in der Lage, so zu schreien?

Sie schüttelte sich und griff nach der Klopapierrolle, die an der Hauswand hing. Wenigstens kein Durchfall mehr, die Phase der Eingewöhnung hatte sie hinter sich. Und ihr Freund hatte daran gedacht, nach dem Regenguss eine neue Rolle einzuhängen. Es gab nichts Schlimmeres, als mit Übelkeit und Bauchschmerz auf einem WC unter freiem Himmel zu sitzen, den rußigen Qualm der Lampe einzuatmen – und dann schüttete es wie aus Eimern, nicht nur auf den einsamen Klogänger und die Pflanzenwelt in dem zauberhaften Paradiesgartenbad, sondern auch auf alle Klamotten und das letzte Klopapier in Greifnähe.

Lovina Beach

Der Hammer schlug ins Leere und fiel Carsten aus der Hand. „Aua!“, brüllte er wütend. Nicht weil er sich verletzt hatte, sondern weil er nun von diesem verdammten Dach aus Schilf und Palmblätterschindeln herunterkraxeln musste und sein Werkzeug einsammeln. Harvey schaute mitfühlend zu ihm hoch. Der fluchende Mann auf dem Dach sah aus wie ein Außerirdischer, ein Imker, mit seinem komischen Tropenhelm einschließlich Gazevorhang gegen die Mücken. Er hatte das Ding auf dem Flohmarkt in Berlin gekauft und darauf bestanden, es mit auf die lange Reise zu nehmen. In den Bergen donnerte es, aber über dem heute nur leicht vermüllten Meer schien großenteils die Sonne. Typisches Bali-Wetter.

„Wat kuckste so…“, knurrte Carsten, „wirf mir lieber den Hammer hoch“, aber der Hund antwortete nicht. Harvey hechelte in der Hitze und schien zu antworten: „Sortier doch erstmal dein Leben und räum auf, bevor du hier rumtobst.“ Den Spruch kannte Carsten Schobranz, genannt Zieh-Es!, bereits zur Genüge. Aber der Hund mit den klugen Augen schüttelte sich nur kurz, drehte sich um und trottete davon. Er hasste es, wenn seine Leute schlechte Laune hatten. Er würde stattdessen seine Kumpels suchen, bestimmt waren sie im Dorf bei den Hühnern. Wo auch sonst sollten Hunde zu finden sein?

Verdammte Hitze! Die Luft war so schwül, dass man sie mit der Machete schneiden konnte, wie man Bananenstauden abhackt. Die Haut war hier auf den Gewürzinseln ständig klebrig. Sie sagten, dass man sich dran gewöhnt und nach vier Wochen aufhört zu schwitzen, aber das stimmte nicht. Die Klamotten wurden nie trocken, alles schimmelte in der Regenzeit still vor sich hin. Carsten grummelte genauso still vor sich hin, kletterte mit schmerzenden Gelenken und frisch gegrillter Haut auf der improvisierten Leiter vom Dach der Tauch- und Surfschule herunter und suchte im hauchfeinen, aber glutheißen Sand seinen Hammer, den er hatte fallen lassen. Er hätte besser eine Arbeitshose mit Taschen anziehen sollen, aber es war so verdammt heiß! Er hatte lediglich die Wahl, gebraten oder gedünstet zu werden – und er zog das Braten vor. Wieder donnerte es in den Bergen bei Tigawasa. Die Gipfel der grünen Vulkane waren verhangen. Vereinzeltes Rumpeln kam auch vom Meer, wo sich nördlich von Java allmählich ein paar Ambosswolken aufbauten, aber hier am Strand brannte die Äquatorsonne noch gnadenlos auf alle horizontalen Flächen nieder. Wieder ächzte der Lehrer, als er den Hammer mit verbrannten Fingern aus dem Sand fischte – bei klarem Himmel mittags war der Strand ein riesiger Schamottstein – und setzte sich in den Schatten der kleinen Bambushütte, deren Dach er vor dem nächsten Regenguss reparieren musste. „Vielleicht hätte ich in Berlin bleiben sollen“, redete er vor sich hin. Carsten Schobranz war vor einem halben Jahr noch ein braver Beamter in Berlin gewesen. Verheiratet, zwei Stieftöchter geerbt, unsicher auf der Suche nach Glück und Abenteuer… aber doch nicht so etwas! Irgendetwas war schiefgegangen, hatte ihn mitgerissen, herauskatapultiert aus seinem ruhigen Dasein als Mathe- und Sportlehrer, sodass er hier gelandet war, als Tauch- und Surflehrer auf dieser magischen tropischen Trauminsel, auf der man laut mit sich selbst sprechen musste, um nicht verrückt zu werden.

„Wie bin ich hierhergekommen?“, fragte er ins Leere hinein, an irgendein imaginäres Gegenüber. Harvey war abgehauen, nirgends zu sehen. „Wann kann ich wieder nach Hause?“

„Noch lange nicht“, antwortete stattdessen der Hammer in seinen Händen, „erinnerst du dich? Du hast versprochen, die Tauchschule in Schuss zu halten, bis die Besitzer wieder da sind.“ Ach ja, stimmt. Die klebrige Hitze hatte ihm das Hirn zu Brei gebraten, zu Teig geknetet.

„Und Vater werde ich jetzt auch noch. Als wenn es nicht schon genug Probleme gäbe.“

„Na ja“, antwortete es aus dem Nirgendwo, „Ursache und Wirkung, mein Lieber. Du weißt ja, wie das ist mit den Bienchen und den Blümchen, nicht wahr? Bist schließlich Lehrer.“ Redete er mit sich selbst? Nur nicht verrückt werden. Nur nicht verrückt werden in dieser maß- und sinnlosen feuchten Hitze. Er griff hinter sich auf das Stelzenpodest der Hütte und holte die viel zu warme Plastikflasche mit dem Trinkwasser hervor. Dieser Plastikmüll, der überall herumlag, überall schwamm wie ein bunter Teppich, machte ihn irre. Balinesen unterschieden nicht zwischen organischem und anorganischem Müll und kippten einfach alles in die Schluchten oder warfen es achtlos ins Meer. Früher war das in Ordnung, denn das meiste war aus Naturmaterialien gefertigt. Buchstäblich alles, von den Opferschälchen über die Kleidung bis hin zu den Häusern, war entweder aus Stein, Bambus, Blättern, Schilf oder Tierprodukten gemacht. Das feuchttropische Klima sorgte dafür, dass ständig alles erneuert wurde. Überall wuchsen und wucherten Moose, Schimmelpilze, riesige Farnwedel, fleischige Sukkulenten, üppige Orchideen und reichhaltiges Obst. An der Küste wehte wenigstens ein kühlender Wind, aber die Luftfeuchtigkeit sorgte für das permanente Gefühl einer finnischen Sauna mit Aufguss. „Modrigem Aufguss“, sagte Carsten und der Hammer antwortete: „Apa…? Wie meinen?“ Irgendwie gingen Gedanken und Gefühle ineinander über, alles verschmierte, wurde eingesogen und verdaut von der Magie dieser seltsamen Insel.

„Ach nix“, murmelte Carsten, „tidak apa apa“, und trank in großen Schlucken die warme Brühe, von der er hoffte, sie enthielte nicht zu viele Bazillen. Man wusste nie, ob sie einem wiederaufgefüllte Flaschen mit unabgekochtem Gebirgswasser andrehten, weil es in den kleinen warung, den Kiosken am Lovina Beach, nicht üblich war, auf versiegelte Flaschen zu bestehen. Die Durchfallphase hatte er jedenfalls schon hinter sich, wenigstens das war nach einem Monat vorbei. Schwitzen tat er immer noch wie verrückt.

„Zum Verrücktwerden“, sagte der einsame Mann am Strand zu seiner Wasserflasche, die stoisch zurückglotzte, „wo bleibt eigentlich Denise so lange? Und wohin zum Teufel ist Kenny verschwunden, er wollte seit letzter Woche wieder aus Ubud zurück sein.“ Auch die Zeit dehnte sich unberechenbar aus, zog sich spontan wieder zusammen. „Wie ein Herz“, befand Carsten, „vielleicht ein Sonnenstich? Meine Logik lässt mich im Stich in der Sonne. Im Sonnen-Stich.“ Carsten kicherte. Kenny sollte endlich das große Werbeschild neu bemalen, das sich am Ausgang von Lovina Beach befand und die Touristen zu ihrer abseits gelegenen Tauch- und Surfschule lockte. Im Augenblick verirrten sich nicht einmal die wettergegerbten Strandverkäuferinnen hierher, von denen man nie wusste, ob sie Sarongs, Obst, Massagen an die Frau oder Sex an den Mann bringen wollten.

An einem einsamen Strand im Norden Balis in glühender Sonne zur Regenzeit klemmte sich also dieser Lehrer Schobranz aus Berlin einige Bambusrohre und ein riesiges ledernes Bananenblatt unter den Arm, steckte murmelnd den Hammer in den Hosenbund, nahm einige rostige Nägel zwischen die Zähne und wagte von Neuem einen wackligen Aufstieg auf das Palmblätterdach der kleinen maroden Hütte, in deren Besitz er vor vier Monaten gelangt war und die er jetzt notdürftig zu reparieren versuchte.

„Wie soll ich hier wegkommen?“ fragte er die Bambusleiter. „Fehlermeldung. Alles eine einzige Fehlermeldung.“ Morgen würde er mit dem Mountainbike in die Berge fahren, das war sein einziger Trost. Hoffentlich goss es nicht wieder in Strömen.

„Das Quecksilber fällt, die Zeichen steh´n auf Sturm“, rezitierte es in ihm. Was war es noch gleich? Ach ja, das Lied aus den Neunzigern. Reinhard Mey, der im ach so freien Westen die Politik besang. „Nur blödes Kichern und Keifen vom Kommandoturm, und ein dumpfes Mahlen grollt aus der Maschine.“ Sein Magen fing an zu knurren. Sollte er wieder runtersteigen und ein paar der leckeren Rambutan herunterschlingen? Carsten entschloss sich weiterzumachen, nahm einen der Nägel aus dem Mundwinkel und fixierte mit einigen geschickten Hammerschlägen das große Bananenblatt über den kaputten Schilfschindeln. „…die Bordkapelle spielt Rumbatätärää und ein irres Lachen dringt aus der Latrine.“

Ein würgendes Geräusch erreichte seine Ohren. Wieder einer der Hippies im Hibiskus, dem die Sonne auf den Kopf brannte und der dafür sein Bier hergeben musste. `An den Kotzgeräuschen die Nationalität erkennen´, dachte Carsten, `bald kann ich mich bei Wetten-dass anmelden. „Die Ladung ist faul, die Papiere fingiert, die Lenzpumpen leck und die Schotten blockiert, die Luken weit offen und alle Alarmglocken läuten.“

Das konvulsive Würgen und Erbrechen nahm kein Ende. Wohl doch keine simple Biervergiftung mit Sonnenstich, sondern etwas Ernsteres?

„Die Seen schlagen mannshoch in den Laderaum und Elmslichter… oder hieß es nicht Elmsfeuer? Was reimt sich auf Laderaum? Nochmal… Die Elmsfeuer züngeln… am… vom… Ladebaum? Egal. Doch keiner an Bord vermag die Zeichen zu deuten.“

Das Würgen ging in ein Husten über. Der Lehrer auf dem Dach hörte, wie ein Feuerzeug klickte, das Husten wich einem tiefen inhalierenden Atemzug. Wohl doch nicht so schlimm. Weiter mit der Arbeit. Carsten war heilfroh über seinen Hut, selbst bei bedecktem Himmel konnte einen die UV-Strahlung kaputtspielen. Im Rhythmus der inneren Gesangsstimme hämmerte er die restlichen Nägel in die Bambusstangen. Fertig. Bald. Hoffentlich.

„Der Steuermann lügt, der Kapitän ist betrunken, der Maschinist in dumpfer Lethargie versunken, die Mannschaft lauter meineidige Halunken, der Funker zu feig, um SOS zu funken…“

Singaraja

Die in der – vielleicht – dreißigsten Woche schwangere Denise Köhler sah sich auf dem Markt in der kleinen Stadt nahe dem Meer um. Denise war immer wieder aufs Neue überwältigt von der Opulenz und Lebendigkeit balinesischer Märkte. Die Einheimischen machten aus allem ein Fest. Fuhr man mit dem Auto oder einem Roller über die Insel, stachen einem die anmutigen Frauen ins Auge, die gigantische Türme von Obst und gelegentlich leere Körbe auf dem Kopf trugen und trotzdem in der Lage waren, in ihren festlichen Wickelröcken trittsicher am Straßenrand zu trippeln. Männer saßen in Gruppen zusammen, rauchten, berieten sich über das nahende Neujahrsfest, das es so nur auf Bali gab und im März stattfand. Vereinzelt standen sie schon auf Gestellen und unter Planen herum, jene Ogoh-ogohs: übermannshohe Dämonenfiguren aus Pappmaché, so liebevoll wie blutrünstig bis ins Detail geplant. In Singaraja sah es aus wie beim Karneval in Köln. Überall lächelte man ihr zu, winkte sie heran, permanent versuchten Frauen, sie auf ihre Ware an den kleinen Ständen aufmerksam zu machen. Die Auslagen waren überwältigend bunt und vielfältig; von Obst, Reis, Bambuswaren, Opferschälchen über Sarongs, handgewebte ikat-Tücher, Hüftschals, Flipflops, T-Shirts bis hin zu etlichen kleinen mobilen Ständen mit Garküchen fand sich alles Lebensnotwendige auf Balis kleinen Märkten. Das bunte Treiben gefiel Denise sehr gut, sie kaufte gerne ein und hatte im Laufe der Wochen und Monate ein paar Sätze Indonesisch und sogar einige Worte auf Balinesisch sprechen gelernt. Indonesisch beruhte auf der alten Handelssprache Malayu kuno, es stellte das kulturelle Bindeglied unendlich vieler Volksstämme dar mit ihren eigenen Dialekten auf den Inseln des sogenannten `Pazifischen Feuerrings´ und war relativ simpel zu lernen. Die pragmatische Amtssprache diente dazu, amtliche Regeln und Gesetze überall gleichermaßen anzuwenden. Nur so ließen sich über verschiedene Regionen hinweg die unterschiedlichsten Kulturen miteinander verbinden und eine einheitliche Regierung gewährleisten. Der Regierungssitz Indonesiens befand sich in Jakarta auf der riesigen Nachbarinsel Java. Aber Balinesen lebten schon immer `anders´ als die übrigen Bewohner der sogenannten Gewürzinseln. War die offizielle Staatsreligion in Indonesien der Islam, so praktizierten neunzig Prozent der Bevölkerung auf Bali den Hinduismus – allerdings in einer sehr speziellen Form. Bali war dafür berühmt, Ideen fremder Besucher zu absorbieren und bei sich einzubauen. So entstand der angeblich traditionelle `Kecak´, der berühmte Affentanz, während der Dreharbeiten eines Filmes des deutschen Malers und Aussteigers Walter Spies in den Neunzehnhundertdreißigerjahren. Einige Balinesen hatten die beeindruckende Choreographie und Musik für den Film einstudiert und später kurzerhand in ihr Repertoire traditioneller Tänze und Ritualtheater übernommen, als sei es schon immer Teil ihrer Kultur gewesen.

Bali mit seiner naturgegebenen Üppigkeit und den lebhaften, freundlichen kleinen Menschen gefiel Denise gut, während ihr Partner Carsten mit der völlig anderen Lebensart weniger gut zurechtkam. Beide waren sie in ihrem `früheren Leben´ Beamte gewesen, ordentlich integriert in den Berliner Großstadtdschungel, in dem man ständig dachte, nur dort gäbe es Vielfalt und wahres Leben. Bei dem Gedanken an ihre Kollegen von der Berliner Berufsfeuerwehr, die mit ihr in der Rettungsleitstelle gearbeitet hatten, musste die sportliche kleine Frau lachen. Ob es ihnen hier gefallen hätte? Oder würden sie auch so rumnörgeln wie Carsten, der als ordnungsliebender Mathelehrer das Chaos hasste wie die Pest? Wie sollte es nur werden, wenn er der Vater des ungeborenen Kindes sein wollte? Er war doch selbst noch ein Kind. Nie richtig erwachsen geworden und auf der Suche nach dem Guten, Echten, Schönen, wie sie selbst…

„Hallo, Kleines, wie geht es dir heute?“, fragte sie das Baby in ihrem Bauch. Intuitiv fasste sich Denise auf ihre bereits beachtlich gewölbte Kugel. Wie das Wesen da drin es wohl empfand, wenn die kleine Feuerwehrfrau weiter sportlich aktiv war, auf ihrem Moped über Stock und Stein fuhr und mit Touristen auf Surfbrettern stand? Beim Tauchen war sie vorsichtig geworden, das überließ sie lieber Carsten, denn sie wusste nicht, wie gefährlich die Druckunterschiede für das Ungeborene sein würden, vor allem, wenn sich Stickstoff im Blut bildete. Die Gefahr einer Verstopfung der Nabelschnurgefäße – Embolie nannte sich das – war zu groß, vor allem weil das Krankenhaus in Denpasar von Lovina aus schwer erreichbar war. Hier oben im Norden gab es nur kleine Krankenstationen, wenn überhaupt, und man war auf sich selbst gestellt. Notarztwagen existierten nicht und wegen einer Schwangeren würde man ganz bestimmt keinen Helikopter auf den Weg schicken. Als Feuerwehrfrau und Rettungssanitäterin kannte sich Denise zwar einigermaßen gut aus in medizinischen Notfällen, aber in dieser Zeit vermisste sie doch ihre Freundinnen aus der Klinik Berlin Süd, mit denen sie bis vor einem halben Jahr beruflich wie privat viel Kontakt hatte. Jetzt lebten sie auf der anderen Seite der Erdkugel und hatten einen anderen Tag-Nacht-Rhythmus. Alles irgendwie verschoben. Seltsam, dachte Denise und schüttelte den wilden Lockenkopf, um ihre sorgenvollen Gedanken loszuwerden.

„Vielleicht kommt Nero bald wie versprochen zu Besuch“, tröstete sie sich, denn hier in dieser Gegend ein Kind gebären zu müssen, war ihr nicht geheuer. Sie hatte erst zusammen mit Carsten und schließlich allein versucht, einen gynäkologischen Vorsorgetermin in Denpasar zu vereinbaren, als dem Paar kurz nach Ankunft auf der Insel klar wurde, dass sie schwanger war. Jedoch waren die Abläufe und Sichtweisen in den hiesigen Kliniken derart seltsam, ja fast unheimlich, dass sie nicht wussten, wie sie sich jetzt verhalten sollten. Auch Kenny the Bear, ihr gemeinsamer Freund, sonst in allen Belangen ein Tausendsassa, war hier in der Fremde keine Hilfe. Sie saßen fest auf Bali. Es gab kein Zurück, denn Carsten und Denise hatten einen Vertrag unterschrieben, die kleine Tauchschule am Lovina Beach für ein Jahr kommissarisch zu übernehmen und zu leiten. Ein Sabbatical mit Arbeitseinsatz, so hatten Carsten und sie es sich ausgemalt und die unbezahlte Auszeit mit Müh und Not mit ihrem Arbeitgeber, dem Land Berlin, vereinbart. Denise hatte nicht vor, zurückzukehren, aber das verschwieg sie sicherheitshalber. Man konnte nie wissen, was sich ergab. Vielleicht wurde einer von ihnen ernsthaft krank? Sie mussten flexibel bleiben, immer auf dem Sprung. Aber niemand hatte ihnen gesagt, dass es in der `Tauch- und Surfschule´ weder Angestellte noch eine Marketingstrategie gab. Es handelte sich um eine marode Strandhütte mit alten Brettern, Riggs und Segeln und einem nicht mehr ganz taufrischen Tauchequipment sowie einigen englischsprachigen Ausbildungsbüchern mit Eselsohren, von Salz und Sonne angenagt. Zu spät. Sie saßen in der Falle und wussten nicht weiter. Natürlich gab es Internet, schließlich lebte man auf Bali nicht hinter dem Mond, aber…

„S´lamat siang“, tönte es melodisch hinter der Frau mit dem leuchtendroten Lockenkopf und Denise drehte sich um. Eine hübsche Balinesin im bunten Sarong steuerte fröhlich auf sie zu und lächelte sie mit ihrer seltsamen Lücke zwischen den rituell gefeilten Schneidezähnen an: „Mau ke mana ibu? How are you, Ma´am and where are you going now?“ Wayan, ihre Freundin, eine zähe kleine Masseurin, sprach sie mit der förmlichen Anrede `ibu´ – Frau – an, weil es im Indonesischen kein direktes `Du´ gab.

Denise setzte die Sonnenbrille ab, mit der sie sich vor neugierigen Blicken schützte – wie sie damit auch ihre eigene Neugier verstecken konnte – und lachte zurück:

„Saya jalan-jalan“, antwortete sie, „ich gehe spazieren. Einkaufen“, fügte sie hinzu und zeigte in die Runde.

„Disini terlalu mahal, zu teuer hier“, schüttelte Wayan den Kopf, „komm, ich zeig dir, wo du billig kaufen kannst.“

Denise kannte den Trick bereits zur Genüge. Obwohl Wayan ihre Freundin war, wollte sie ihr ständig etwas verkaufen, schleppte sie in irgendein warung, einen Laden, wo eine weitere `Freundin´ etwas unter dem Ladentisch hervorzog und anpries. An die quirlige Sprachmischung aus australischem Englisch, Indonesisch und balinesischen Bezeichnungen hatte sie sich gewöhnt, nicht jedoch an die Pflicht, ständig feilschen zu müssen. Man konnte nicht wie in Berlin einfach irgendwohin gehen, auf etwas zeigen und es für den angegebenen Preis kaufen, nein, man musste ständig handeln und verhandeln als ginge es um Leben und Tod. Es war die ganz normale Art, wie auf Bali soziale Beziehungen ausgehandelt wurden. Diese spezielle Kommunikation entschied darüber, ob man an der Gemeinschaft teilhaben durfte oder nicht. In einem fremden Land empfahl es sich, schnell zu lernen. Vor allem, wenn man schwanger war und nicht wusste, was für Krankheiten und Gefahren hinter der nächsten Ecke lauerten. Infektionen in tropischen Ländern waren unter Touristen am meisten gefürchtet. Malaria, Gelbfieber, Lepra, Bilharziose! Das komplette Panoptikum aller Bazillen dieses Planeten, in nördlichen Breiten eher überschaubar, fand unter den feuchtwarmen Bedingungen der Tropen ein Paradies vor. Der gängige Spruch lautete: „Boil it, peel it, cook it or forget it“, alles vermeiden, was nicht gekocht ist oder gepellt werden kann.

Die Sache mit dem `Nein´ war auch recht komplex. Wurde es einer Ausländerin noch verziehen, wenn sie deutliches Missfallen äußerte, so war es doch äußerst ungünstig, den Gesprächspartner in die Verlegenheit zu bringen, sagen zu müssen: „Nein, das haben wir leider nicht.“ Selbst in guten Restaurants mit internationalen Gästen hatte es zur Folge, dass eine perfekt gekleidete Dame mit eleganter Geste einem die riesige Speisekarte in mehreren Sprachen überreichte, man aber auf gar keinen Fall etwas davon bestellen durfte. Es wurde erwartet, dass der Gast höflich zurückfragte: „Was kann die Frau empfehlen?“ und prompt zeigte die Bedienung auf jene drei Gerichte, welche gerade in der kleinen Garküche nebenan verfügbar waren. Immer mit Reis, denn Bali war die Reiskammer der Region. Dafür war alles frisch, zumindest wenn man nicht in Kuta bei McDonalds einen Hamburger bestellte. Und auch das Bier schmeckte gut, Bintang. Denise seufzte, denn Alkohol war neben dem Tauchsport das erste, was sie sich verbieten musste, seit sie wusste, dass sie schwanger war.

Die junge Balinesin Wayan sah sie immer noch erwartungsvoll an. Zwischen den rotgeschminkten Lippen blitzte ihre Zahnlücke hervor. Die Familie der Masseurin war zu arm, um sich einen Zahnarzt leisten zu können, aber immerhin reich genug, um sie als Jugendliche dem beinahe ebenso teuren Ritual einer Zahnfeilung zuzuführen. Knapp konnte sich Denise ein Kopfschütteln verkneifen, denn das hätte auf Bali glatte Zustimmung signalisiert. Stattdessen sagte sie: „Terima kasih ibu, thank you, danke“, sie korrigierte sich sofort und versuchte es noch einmal, diesmal mit verschlucktem e, „t´rima kasih, Wayan, danke, aber ich brauche etwas Obst und Gemüse für Zuhause. Carsten wartet sicher schon auf mich.“

„Du machst jam karet, ja? Gummistunde? Pak Carsten muss auf ibu Denise warten, das ist nicht schlimm.“

Denise lachte so heftig auf, dass die Marktfrauen an den Ständen neugierig zu den beiden Freundinnen herübersahen. War das die schwangere belanda aus dem Reisfeld in Pemaron, die sich so unbeschwert mit Wayan unterhielt? Wie oft war sie hier? Konnte man mit ihr Geschäfte machen oder war sie nur eine von den Hippies, die alles umsonst haben wollten und Gastfreundschaft ausnutzen? Alle westlichen Menschen, alle weißen orang waren belanda. Holländer.

„Frische Fisch sollte Sie auch nehmen, für bayi“, meinte Wayan auf Englisch mit ihrem gewöhnungsbedürftigen indonesischen Akzent und deutete erst auf Denises Bauch und dann auf einen winzigen, schilfgedeckten mobilen Stand. „Made dort drüben hat beste Fisch, soll ich Sie mitkomm´?“

Denise seufzte. Ihre Freundin war heute unerbittlich geschäftstüchtig, sie schien dringend Geld zu brauchen. Wahrscheinlich holte sie sich hinterher bei Made ihren Schlepper-Obolus ab. Sie hatte bereits gelernt, dass Fleisch, auf dem keine Insekten saßen, mit Chemie vollgepumpt war und dass man besser welches nahm, auf dem Fliegen saßen. Es war immer noch eine Überwindung, aber in der Not frisst der Teufel… eben.

„Erklär mir lieber nochmal die verschiedenen Namen für Reis“, versuchte sie es mit einem Ablenkungsmanöver, „das krieg´ ich immer noch nicht auf die Reihe. Padi ist die Flüssigkeit in der Hülse, richtig?Gabah wenn ich das Korn rausmache, b´ras ist geschält und nasi gekocht?“

„Ya,“ bestätigte Wayan lächelnd, „am besten schmeckt nasi putih mit ikan und kacang. Made sagt dir, was für Zutaten du für kari ikan brauchst. Du machst Fischcurry heute, ist gut für dein Baby.“

Buleleng Pemaron

„Den `Ölwechsel´ als Begriff für Sex kenne ich, aber was ist eine `Gummistunde´?“, lachte Carsten, beschwipst von der Sonne auf dem Dach und einer Flasche Bintang, die ihm Denise vom Markt mitgebracht hatte. „Klingt wie `ne Sextechnik. Oder wie die Anweisung des Sporttherapeuten Hergen in unserer guten alten Berliner Klinik. Weißt du noch?“

„Ja klar, das war damals, vor ganz, ganz langer Zeit. Vor ungefähr sechs Monaten.“ Jetzt kicherte auch Denise, denn sie lagen beide nackt in ihrem Doppelbett unter dem Moskitonetz, während der Ventilator an der Decke träge und so gut wie erfolglos mit leichter Unwucht vor sich hin eierte. Während Carsten einen Eiswürfel aus dem original bajuwarischen Bierhumpen neben sich angelte – den Krug und anderes Zeug hatten die Besitzer der Tauchschule dagelassen, als sie nach Berlin gingen – und damit der quiekenden Denise zwischen ihren Brüsten bis runter zur prallen Wölbung ihres Bauchnabels entlangfuhr, erzählte sie ihrem Geliebten vom Einkauf auf dem Markt. Er wusste, die Gesellschaft zu fremden Menschen war ihr Lebenselixier und er durfte es ihr nicht verbieten, mit dem Moped die gefährliche Strecke voll rasender ungesicherter Gefährte nach Singaraja zu fahren, um wenigstens einmal alle paar Tage durch die Straßen zu streunen. So wie sie den Rettungswagen der Berliner Feuerwehr fuhr, schnittig und rücksichtslos dominant, so liebte sie es, den Gasgriff ihres klapprigen kleinen Rollers aufzureißen, als wollte sie einen `Wheelie´ vorführen, nur um mit einer sportlichen Staubfahne hinter sich davonzubrausen. Carsten hatte ihr das Ding besorgt, aber als er sah, wie sie sich damit in die Kurve legte, bereute er es sofort. Der Kontakt des defekten Seitenständers mit dem unebenen Boden konnte sie das Leben kosten. Weil er ihr den Spaß nicht rauben mochte, hielt er die Klappe und schluckte seine Sorge herunter. Schließlich hatte er auch seine Macken und wollte nicht, dass sie zu viel nachfragte.

Der Eiswürfel war am Rand der Schambehaarung angekommen und Carsten stopfte ihn mit einer geschickten Bewegung in das Dreieck, das ihr Becken mit den Beinen bildete. Denise schrie auf. „Iiiiihhh, ist das kalt, du spinnst wohl!“, aber gleichzeitig kicherte sie wie irre, weil jede Abkühlung in der drückenden Abendluft dringend willkommen war. Siebenunddreißig Grad war es in ihrem Haus am Rand eines Reisfeldes an einer Flussmündung zum Meer, und das, obwohl die Sumatrahütten so gebaut waren, dass der Wind vom Meer durch das an beiden Seiten ausgezogene und offene Schilfdach blasen konnte und so das Schlimmste verhinderte.

„Hhmmmmm“, schnurrte sie nun, „das ist aber fein. Gibts noch einen Nachtisch?“

„Hmhm“, grunzte Carsten zurück und machte sich auf den Weg nach unten, „wollen wir doch mal gucken, wo der Eiswürfel hin verschwunden ist.“ Besorgt blickte er zu Denise hoch: „Meinst du, wir müssen aufpassen? Wegen dem Kleinen?“

„Wenn schon, dann wegen des Kleinen, Herr Oberstudienrat“, zog sie ihn auf. „Woher willst du wissen, dass es ein Er und keine Sie ist? Ich möchte lieber eine Tochter. Aber Hauptsache gesund, da geb´ ich dir recht. Wir müssen bald eine vernünftige Hebamme finden. Eine Gynäkologin scheint es auf der ganzen Insel nicht zu geben. Dieser ganze Amulettkram für die Weiber macht mich noch total wuschig. Was die einem alles andrehen wollen, damit die Geburt glatt läuft!“

Übergangslos, noch während sie redete, breitete Denise die Beine aus und drückte Carstens Kopf nach unten, dann nahm sie ihn mit den Oberschenkeln so in die Zange, dass er sie bequem lecken konnte. Für sie bequem natürlich. Schließlich hatte sie mit all den Nebenwirkungen einer Schwangerschaft unter ungewohnten klimatischen Bedingungen zu kämpfen, nicht er.

„Läuft prima“, nuschelte Carsten von unten her, „keine Beanstandungen.“ Denise zuckte kurz zusammen und schnurrte vor sich hin. Er konnte eh nicht hören, was sie sagte, weil seine Ohren zwischen ihren Beinen klemmten.

Ein langes Weilchen später lagen sie aneinander gekuschelt und miteinander verklebt erschöpft auf dem Bett, betrachteten die lässig vor sich hin eiernden Rotorflügel und überlegten pragmatisch, welche Techniken beim Liebesspiel unproblematisch waren und auf was sie sicherheitshalber verzichten sollten.

„Ob der Oralverkehr dem Baby schadet?“, fragte Denise scheinbar leichthin, aber innerlich verunsichert. Ihr Freund wusste, dass sie vor allem vor einer Sache Angst hatte: Infektionen. Das war es, was dem Fötus am meisten schaden konnte, vor allem in den ersten drei Monaten. In den ärmeren Gebieten Asiens gab es keine Möglichkeit zur Fruchtwasseruntersuchung. Die drei Monate seit der Befruchtung waren längst um, aber bis jetzt hatte Denise noch keine Ultraschalluntersuchung gehabt. Für Frauen wie sie gab es in dieser Situation kein System, das ihr den Segen der westlichen Medizin auch in armen Teilen der Welt ermöglichte. Mitgegangen, mitgefangen, mitgehangen…

„Zumindest war der Eiswürfel aus Trinkwasser gemacht“, beschwichtigte Carsten, „und ich hab mir die Zähne geputzt. Noch kannst Du ja auf dem Rücken liegen, der… das Kleine ist noch nicht so groß. Und in der Seitenlage klappt es mit dem Liebemachen auch ganz gut, oder?“ Er mochte es, dass er mit seiner Freundin vollkommen natürlich und ohne Scham über die technischen Aspekte von Sex reden konnte.

„Wann wohl Nero kommt“, sinnierte Denise, „sie wollte sich um die Flüge kümmern. Es sind ihre letzten Wochen in der Klinik, bald geht sie in Rente und ist frei. Wenn sie hier wäre, bräuchte ich mir keine Sorgen mehr machen. Wir könnten sie einfach fragen. Mit ihrem Arztausweis hat sie hoffentlich auch international Zugang zu den Dienstleistungen der Kollegen, die unsereinem versagt bleiben. Dann brauchen wir auch nicht die Auslandskrankenversicherung zu bemühen, falls es teurer wird.“

„Bleibt sie denn hier bis das Baby geboren ist?“, fragte Carsten verblüfft. „Ich dachte, es geht nur um einen Urlaub deiner Kollegen aus der Berliner Klinik. Wär´ ja prima, wenn sie dich bis zur Entbindung begleiten könnte. Hatte Doktor… Nero das in ihrer letzten Mail so gesagt? Ich muss gestehen, dass ich auch selbst ein paar Fragen an einen… na ja… richtigen Arzt hätte. Wir haben uns vor der Reise zwar impfen lassen, aber was ist mit der Malariaprophylaxe? Du darfst doch gar nichts einnehmen. Und als du… als wir noch in Berlin geimpft wurden mit all diesen Cocktails von Wundstarrkrampf bis Gelbfieber und wie das Zeug heißt, wusstest du… wussten wir noch gar nicht, dass du ein Kind bekommst. Dass wir ein Kind bekommen.“ Er gab sich sichtlich Mühe, aber Carsten tat sich sehr schwer mit der Zweisamkeit, das war deutlich zu spüren und es tat Denise weh. Der noch verheiratete Zieh-Es! – mit Ausrufezeichen!, wie er betonte – war der geborene Einzelgänger und ließ sie die Distanz immer wieder spüren. Sie schluckte ihren Ärger und Schmerz herunter, denn sie mussten sich miteinander aussprechen. So wie jetzt konnte es nicht bleiben.

Carsten hob das Moskitonetz an und wollte sich darunter hindurch schieben. „Vielleicht sollten wir mal im Netz nachgucken, was wir tun müssen?“, schlug er vor. „Ich könnte mal die Facebook-Community fragen.“

Denise jedoch packte ihn kräftig am Handgelenk und zog ihn energisch auf das Bett zurück. „Nicht jetzt!“, befahl sie, „wir müssen endlich mal reden. Gründlich reden. Du kannst nicht immer ausweichen und davonlaufen! Was wird aus uns, wenn unser Kind geboren wird? Hast du dafür schon einen Plan? Wir können die Tauchschule so nicht weiterführen, Vertrag hin oder her! Ich schaff´ das niemals bis zur Geburt, wenn ich nicht bald zu einer Vorsorgeuntersuchung gehen kann. Wir müssen die Schule irgendwie loswerden. Ist doch sowieso Regenzeit und nix mehr los.“

Carsten schwieg. Schade, die entspannte Stimmung nach anregendem Sex war im Eimer. Nach einer endlosen Pause, die nach Vorwurf klang, brummte er missmutig: „Was sollen wir machen? Wir haben den Vertrag im August für ein Jahr unterschrieben. Ein Jahr! Es ist noch nicht einmal die Hälfte um seit unserem Umzug hierher, und wir sind schon in Schwierigkeiten. Wo, bitteschön, soll ich jetzt einen Plan herzaubern? Aus dem blauen Himmel, von den blauen Bergen? Glaubst du denn, ich hätte kein Heimweh nach Europa? Einen Tropenkoller habe ich! Dieses Klima geht mir auf die Nerven. Ich fange an, überall Gespenster zu sehen. Lange halt´ ich das hier nicht mehr aus. Ich dreh noch durch – all dieses Modrige, Feuchte hier, die Wärme. Und diese Verwesung. Die Klamotten ständig nass, nichts trocknet richtig. Es gibt keine Klimaanlagen. Alles ist billig zu haben, gut, aber die Lebensqualität ist mies. Wir haben nichts, rein gar nichts, müssen alles selbermachen! Wie sollen wir hier jemals ein Kind bekommen?“ Er wusste, er war ungerecht, denn schließlich hatte er genauso begeistert wie seine neue Geliebte darin eingewilligt, auf Bali ein Sabbatical zu machen und für ein Jahr ihr Hobby – das Tauchen – zum Beruf zu machen.

Im letzten Sommer hatten sie in der Laune ihrer feurigen Liebeslust, die sie füreinander entdeckt und miteinander ausprobiert hatten, alle beruflichen Pflichten über Bord geworfen und über Facebook Kontakt mit einem sympathischen Auswandererpaar aufgenommen, das einen Tausch vorgeschlagen hatte: Helen und Tom wollten endlich mal Urlaub in Deutschland machen. Sie vereinbarten, für ein Jahr den Wohnort zu tauschen. Denise kündigte ihre Wohnung und organisierte den Wechsel `Berlin gegen Bali´, wo das nette Pärchen seit zehn Jahren lebte und eine kleine Tauch- und Surfschule betrieb. Der Kontakt fand ausschließlich über Skype statt, der Vertrag wurde altmodisch gefaxt. Es war eine verrückte Idee, ein Blind Date vom Feinsten: Urlaub in Berlin im Tausch gegen eine freakige Auszeit auf Bali, das kam allen Vieren vor einem halben Jahr perfekt vor. Und nun saßen sie hier auf Bali fest, Carsten und Denise, die sich in der Klinik Berlin Süd überfallartig kennen und lieben gelernt hatten, er als Patient, sie als Rettungswagenfahrerin. Dann gab es noch den verrückten Kenny, den irren Iren, den Tausendsassa, neben dem Carsten zufällig im Krankenhaus lag. Der ihm die Telefonnummer der kleinen quirligen Feuerwehrfrau besorgt hatte. Der Streuner wollte unbedingt mit nach Bali und bestand darauf, einen herrenlosen Hund als `intelligenzbegabten Partner für alle Eventualitäten´ mitzunehmen auf die Trauminsel der Yoginis, der Hippies und Aussteiger. So schlugen Harvey und Kenny, Carsten und Denise auf der seltsamen kleinen Vulkaninsel auf, waren prompt entsetzt über die Einfachheit der Wohnräume – und in dem ganzen Trubel war völlig untergegangen, dass Denise seit Juli keine Regelblutung mehr hatte. Mit nunmehr hübschen vierzig Jahren.

„Zurück können wir jedenfalls nicht“, meinte Denise trocken. „Nicht bevor das Jahr um ist. Nicht bevor wir die Tauchschule losgeworden sind. Es sei denn, wir verschwinden heimlich, du ziehst zu deiner Frau und ihren Kindern zurück und ich such mir `nen neuen Freund, bei dem ich einziehen kann. Willst du das?“ Sie meinte es im Scherz und hatte doch Angst vor der Antwort. Ihre Beziehung war noch so… jung. So unerprobt und dieses Abenteuer hier war zwei Nummern zu groß für sie beide. `Nein, drei´, korrigierte sie sich innerlich und seufzte.

„Warum hast du nicht vor dem Umzug bemerkt, dass deine Regel ausgeblieben ist?“, maulte Carsten genervt.

„Das haben wir doch wieder und wieder durchgekaut, Zieh-Es.“ Indem sie ihn bei seinem Spitznamen aus Jugendzeiten rief, wollte sie ihn besänftigen. Ein Beschwörungsritual. `Fang ich auch schon mit dem magischen Denken an´, dachte Denise, `das Voodoozeugs hier ist wirklich ansteckend. Muss am Luftdruck liegen.´ Laut sagte sie: „Weil ich unter Stress im Nachtdienst immer schon ausgesetzte Blutungen hatte. Ich seh nicht so aus, aber ich bin empfindlicher als die Leute denken. Und weil ich wohl unbewusst irgendwie dachte, ich sei zu alt, um noch Kinder zu kriegen. Nenn es Verdrängung oder Abspaltung, das volle Programm.“

Es war eine Zeit besinnungsloser Sommerliebe gewesen, Musik, Sex, Ekstase, wahrhaft hippiesk. Damals. Vor einem halben Jahr. Im Rausch der Verliebten, im Höhenflug des zweiten Frühlings.

„Ich weiß, ich weiß“, sagte Carsten plötzlich milde gestimmt. Verdammte Gefühlsschwankungen. Selbst guter Sex konnte den unbegreifbaren Triebdruck, der über allem zu liegen schien, nicht lindern. „Vielleicht wolltest du ja doch unbewusst ein Kind und das geht jetzt in Erfüllung. Und vielleicht hätten wir doch abtreiben sollen.“

„Und du? Warum haben wir kein Kondom benutzt, häh, mein Lieber? Wer wollte das nicht von uns beiden? Wir haben ES doch erst hier auf Bali realisiert, weil wir vorher einfach nur beschäftigt waren, unseren PrivateReset zu planen. Als wir hier endlich ankamen, war es zu spät. Das weißt du genauso gut wie ich. Wir wollten etwas Neues wagen und das haben wir jetzt. Etwas ganz krass Neues. So neu, dass ES noch nicht einmal einen Namen hat. Kein Gesicht, denn es gibt keinen Ultraschall, keinen Namen, weil du einen Sohn möchtest und ich eine Tochter.“

„Und nun? Wollen wir uns ewig darüber streiten?“

„Warten wir auf Nero. Sie wird uns sagen, was wir tun sollen, zumindest medizinisch. Dann wären wir schon einen guten Schritt weiter.“

„Warten auf Godot.“

„Wie bitte?“

„Ach nix. Tidak apa apa. Alles wird gut. Hoffentlich.“

Denise streichelte unwillkürlich ihren Bauch, als sie einen kleinen Tritt von innen spürte.

„Na, kämpft er… sie… ES wieder gegen dich?“, fragte Carsten neugierig. „Lass mich auch mal fühlen. Tut das weh?“ Denise nahm seine Hand und legte sie rechts unten auf die Kugel, die das Ungeborene im Bauch bildete:

„Hier. Warte. Gleich macht sie es noch einmal. Ich weiß, dass es ein Mädchen wird, keine Ahnung warum. Ich weiß es einfach. Wir kennen uns gut, wir haben eine Verbindung.“ Denise lachte, sie hatte den Streit schon vergessen. „Muss an der Inselmagie liegen, hier darf man sowas sagen, ohne gleich als Esoteriker schief angeschaut zu werden… Jetzt! Spürst du es? Sie ist lebhaft.“

„Vielleicht will sie raus, ihren Vater sehen, dem die Mutter so viel Ärger und Glück bereitet?“, grinste er. Und sagte zur Bauchkugel: „Nee, meine Kleene, jetze noch nich. Bist noch viel zu winzig und musst´n bisschen zunehmen.“ Er blickte Denise in die Augen und überlegte laut: „Wenigstens gibt es viel frisches Obst und Gemüse. Reis ist ebenso gesund, auch wenn du kein scharfes Curry mehr darfst seit du… seit du…“

„Seit wir zu dritt sind“, ergänzte Denise entspannt.

Unter den Holzplanken, die den Boden der Hütte bildeten, also unter ihrem Bett polterte und rumpelte es heftig. „Die Hunde schon wieder! Das nervt. Soll ich Harvey reinholen und die anderen wegscheuchen?“, fragte Carsten und schickte sich erneut an, den Schutz des Moskitonetzes zu verlassen, nackt wie er war. „Nicht dass er sich noch die Tollwut holt von den Affen, Flughunden und all dem Gesocks.“

Toms und Helens einfache, offene Sumatrahütte stand auf Stelzen im Reisfeld an der Mündung eines Gebirgsbaches zum Meer hin, sie war damit recht gut vor Überschwemmungen geschützt, aber das Wasser war gelegentlich mit Colibakterien oder Öl verseucht. Meistens tobten Tiere im Schutz der Dunkelheit unter den Häusern herum. Vögel und Geckos suchten nach Insekten. Katzen suchten nach Ratten, Hunde jagten Katzen. Wenn man Pech hatte, fielen Affen über das Haus her und plünderten die Vorräte. Aber das kam nur selten vor. Die aggressiven Meerkatzen lebten vor allem in den Tempelbereichen und fraßen die reichhaltigen und nahrhaften Opfergaben.

„Nein, lass gut sein, bleib lieber und erzähl mir was. Hast du gehört, wann Kenny aus Ubud wieder hier sein will? Ich hoffe, er organisiert uns ein paar bequemere Möbel, auch die Tauchschule braucht neue Bänke.“

„Du kennst doch unseren Iren, der hat bestimmt was Verrücktes erlebt und ist irgendwo hängen geblieben“, lachte Carsten. „Hoffentlich wird er nicht mit Drogen erwischt, darauf steht in Indonesien die Todesstrafe! Mehr als deutlich einschärfen kann man es ihm nicht, er ist schließlich erwachsen.“

Beim Gedanken an den schrägen Freund musste auch Denise herzhaft lachen. „Ich bin gespannt, wen oder was er anschleppt, wenn er wiederkommt. Bestimmt bringt er uns ein ganzes Gamelan-Orchester mit, weil er die balinesischen Jungs so niedlich findet.“

Mit einem Schlag wurde Carsten nachdenklich: „Apropos Gamelan… Wie lange reicht unser Geld eigentlich noch? Hat deine Mutter uns schon was überwiesen? Hast du versucht, eine größere Summe abzuheben, damit wir die Möbel bezahlen können?“

„Weiß nicht“, erwiderte sie, „ich komme immer noch nicht an meine Bankdaten ran. Die Sparkasse meldet mir nur, dass jemand versucht, aus dem Ausland per Internet auf mein Konto zuzugreifen. Sie verstehen nicht, dass ich selbst es bin. Telefonisch bin ich auch noch nicht weitergekommen, ich lande immer in der Dauerschleife bei der Bank und das wird teuer. Auf meine Mails hat keiner geantwortet. Ich hoffe, dass Mutter sich drum kümmert, heute Vormittag konnte ich in Singaraja jedenfalls noch fünfhunderttausend Rupiah abheben.“

„Ein paar Dollar in Reisechecks habe ich ja auch noch in Reserve für den Notfall. Wir dürfen sie uns bloß nicht klauen lassen.“

„Sind die nicht versichert?“, fragte Denise. „Da kann doch wenig passieren. Und was ist mit deiner Frau? Kann die dir nicht was schicken? Ihr habt zwar ein gemeinsames Konto, aber es ist doch auch dein Geld! Du könntest einfach mit der Kreditkarte bezahlen, dann brauchst du die komplizierten Dollarreiseschecks nicht.“

„Mein Gott, was waren wir naiv“, stöhnte Carsten. „Wir kamen uns so weltgewandt vor und jetzt sind wir abhängig von unseren Muttis!“

„Nix gegen die Muttis, bitte, ohne die läuft gar nichts auf diesem Planeten…“

„`Tschuldige bitte. Aber wärest du hierher gegangen, wenn du gewusst hättest, dass wir alle drei Monate ausund wieder einreisen müssen, um ein neues Visum zu bekommen? Dass ein Stempel im Reisepass über Gefängnis oder Freiheit entscheidet, hätte ich mir nie träumen lassen. Und die ganzen Bestechungsgelder dazu, damit man uns arbeiten lässt…“

„Tja, wir dummen Berliner Beamten, wir haben wohl gedacht, dass es überall so ordentlich zugeht wie im bundesdeutschen Finanzamt. Das haben wir nun davon.“

Beide seufzten synchron. Und schwiegen.

Lovina Beach

Vereinfacht gesagt gab es zwei Gebäudetypen auf Bali: die festen, abschließbaren aus Beton und die aus Naturmaterialien wie Bambus, Schilf, Bananenblättern und Holz. Letztere waren luftige, lässige, fragile und wunderschöne Hütten, in denen man den tropischen Traum leben konnte – wenn man sich an all das Ungeziefer gewöhnte, das zu diesem üppigen Klima dazugehörte. Klimaanlagen funktionierten nur in geschlossenen Räumen, waren also in den Naturhütten der Balinesen sinnlos. Wenn überhaupt, so existierte ein Deckenventilator, und in Zeiten systematischer kollektiver Stromabschaltung, welche in tropischen Ländern aus verschiedenen Gründen vorkommt, bestand der allergrößte Luxus eines eigenen Heims darin, einen Kühlschrank und einen benzinbetriebenen Notstromgenerator zu besitzen.

Denises und Carstens Sumatrahütte im Reisfeld bei Pemaron – das heißt, es handelte sich ja eigentlich um die Wohnung von Tom und Helen – hatte zwar einen Kühlschrank, die Stromversorgung war jedoch wacklig. Denn die einzige Stromleitung wurde von einem abenteuerlichen Geflecht wirrer Kabel an der nächsten Straßenkreuzung abgezweigt und landete mit viel Glück irgendwie bei ihnen im Haus. Carsten hatte stets Angst, dass es einen Kurzschluss gab und durch Feuchtigkeit und elektrotechnische Improvisation die Hütte einfach über ihnen abbrannte. Gegen die Insekten gab es Geckos, die natürlichen Haustiere der Tropen. An die Geräusche, die sie machten – „Geck-ooo“, gelegentlich ein Quietschen und abruptes Rascheln im Schilfdach – gewöhnte man sich schnell. Allerdings sammelten sich deren Exkremente nachts gern auf dem feinmaschigen Moskitonetz, weswegen Denise sich doppelt in ihr Laken einwickelte und den Kopf unter das Kissen legte. Eingestehen wollte sie es sich nicht, aber sie ekelte sich gewaltig. Die Vorstellung, Geckoscheiße einzuatmen, ohne es zu merken, brachte sie mehr um den Schlaf als die Moskitos, die von außen gierig durch die Maschen des Netzes nach den nackten Menschenleibern rüsselten. Aber das mit dem Kühlschrank war der Hauptgewinn. Ein Gefrierfach in den Tropen förderte die Achtsamkeit, denn jeder Griff zum Inhalt musste wohlüberlegt sein, wenn mal wieder der Strom ausfiel, weil in den Bergen landunter war. Vor allem zur Regenzeit funktionierte oft gar nichts und die gelassene Art der Balinesen, mit Naturkatastrophen aller Art umzugehen, war beachtlich.

Die Tauchschule hingegen besaß gar nichts. Keinen Stromanschluss, keinen Kühlschrank. Künstliches Licht nach Sonnenuntergang war nur mit einer rußenden Petroleumlampe möglich, weswegen man rechtzeitig den Tag beenden und nach Hause zurückkehren musste. Die Pressluftflaschen wurden mit einem abgehalfterten Kompressor befüllt, für dessen Stromversorgung es ein sehr langes Kabel gab, mit dessen anderem Ende man sich zum nächstgelegenen restoran begab und gegen eine kleine Gebühr um Anschluss bat. Frischwasser für das kleine Tauchbecken zum Reinigen der Lungenautomaten wurde in Kanistern aus dem Park bei Lovina geholt, wo Einheimische Quellwasser aus Pumpen mit Handhebel zapften.

Eine weitere hart erkämpfte Errungenschaft war das Dixi-Klohäuschen, welches weiter oben an der Promenade stand und mit einem Vorhängeschloss versehen war, damit nicht jeder vorbeidiffundierende Tourist seinen Dreck dort hinterlassen konnte. Was wiederum dazu führte, dass bierselige und mit Drogen vollgepumpte australische Hippies das Ding im Furor ihres Frusts gelegentlich umwarfen.

Wegen dieser Unwägbarkeiten – kein Strom, kein fließendes Wasser und jeden Morgen als erstes zu kontrollieren, ob das Dixiklo noch aufrecht stand – wollte es nicht so recht Freude machen, erwartungsvolle Surf- und Tauchschüler zu bespaßen, die ihren wohlverdienten Urlaub mit Wassersport in türkisblauem Meer zu krönen gedachten. An moderne Unterrichtsmethoden mit Whiteboard und Tablet war nicht zu denken, die Schule erwies sich selbst für indonesische Verhältnisse als nahezu surreal archaisch. Kein Wunder, dass Tom und Helen Urlaub brauchten… Womit das Berliner Beamtenpärchen ebenfalls nicht gerechnet hatte, war die unverrückbare Tatsache, dass das Meer aus der Sicht aller Balinesen gründlich von Dämonen verseucht war. Meer war kelod, südwärts, schlecht und dreckig, verflucht und gefährlich. Allein das heilige Quellwasser, tirta, aus den Bergen im Inselinneren kommend, war rein genug, um den Fluch des Meeres aufzuheben. Jenes Wasser aus den Bergen, vor allem vom Gunung Agung, dem Sitz der Götter, galt als so rein, dass die Balinesen es unabgekocht tranken. Jeder Kontakt mit dem schmutzigen Meerwasser musste unbedingt vorher mit heiligem Wasser neutralisiert werden. Balinesen waren schon immer die Meister eines klugen Ausgleiches zwischen guten und bösen Kräften. Dummerweise bestand die Missachtung des Meeres auch darin, dass man ungeklärte Fäkalien achtlos ins Meer leitete, Schlechtes wurde einfach zu Schlechtem hinzugetan und weg war das Problem. Den Dämonen tat es nicht weh. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Denise fand, die Dämonen von Lovina Beach bestünden vor allem in dem vielen Plastikmüll, der sich am Strand und in den Buchten sammelte und der zur optischen Aufbereitung eines optimalen Urlaubserlebnisses für die Touristen erst mühsam entsorgt werden musste, aber auf Bali war das Thema mit den Dämonen tatsächlich eine Frage von Leben und Tod. Carsten stellte sehr schnell fest, dass es ihn teuer zu stehen kam, die Tauchschule jeden Tag von einem ortsansässigen Magier, dem balian, oder einem Hilfspriester, pemangku, segnen zu lassen. Je mehr Tauchschüler, je schlechter das Wetter und je schlechter der Umtauschkurs des Dollar gegen indonesische Rupiah, desto teurer wurde der Preis. Die weißgekleidete Berufsgruppe der diversen mangku, pemangku und balian waren eindrucksvoll zugange mit ihren Zeremonien zu allen erdenklichen Anlässen. Sie sprühten heiliges Wasser mit wedelnden Handbewegungen von einem Ritualgefäß auf alles, was sich als schützenswert anbot: auf die Türbalken, die Fahrzeuge der Tauchlehrer, auf die Tauchausrüstung, die Surfbretter, Segel, die Riggs, auf anwesende Tauchund Surfschüler, die mit großen Augen ihre persönliche Segnung in Form von Reiskörnern empfingen, welche im Vorbeigehen auf ihre Stirn geklebt wurden. Es gab eine in Folie laminierte Preisliste, mit der sich der kleine, flinke pemangku so adrett lächelnd wie elegant Luft zufächelte, jedoch erwies er sich als äußerst kreativ im Auslegen der Regeln nach einem undurchsichtigen Modularprinzip. Jeden Tag war der Preis ein anderer. Carsten hatte den Eindruck, dass es von `unsichtbaren Geistern´ und ihrer Stimmung abhing, wie viel für die Beschwörung und Schutzrituale verlangt wurde. Für europäische Verhältnisse war es keine bedeutende Summe, etwa zwei bis vier Euro pro Durchgang, vierzigtausend Rupiah, aber der Mathelehrer sah schon alle Felle davonschwimmen, die Investition ein Jahr durchzuhalten ohne Möglichkeit, den Aufpreis auf seine hartnäckig feilschenden Touristenschüler abwälzen zu können. Nur wenn sich die Surfschüler bei ihm beschwerten, dass der Priester für ein Selfie mit ihm einen amerikanischen Dollar verlangte, riss ihm der Geduldsfaden. Carsten neigte dazu, alles hinzuwerfen, sich auf sein Mountainbike zu schwingen und einfach davonzufahren. In die Berge. Sollten die Leute doch sehen, wo sie blieben mit ihrem Zirkus. Das kam aber nicht allzu oft vor, meistens hatte er sich in der Gewalt und lächelte nur freundlich wie ein professioneller Balinese.

Denise ächzte, als sie am frühen Nachmittag die schmalen Sinker in den Bunker brachte. Das Bäuchlein war schon ziemlich im Wege, stellte sie fest. Vorbeugen ging nur noch mit Mühe und die Kleine im Inneren wehrte sich kräftig dagegen, in der ohnehin schon engen Gebärmutter eingeklemmt zu sein. Gymnastik auf dem Surfbrett – Wasserstart, Wende, Halse und viel erklären – fand das Baby hingegen anregend, seinen… ihren Bewegungen nach zu urteilen. Denise war froh, dass ihr die Zeit der Schwangerschaftsübelkeit erspart geblieben war. Sie hatte Appetit, fühlte sich kerngesund und in zwei Wochen würde Nero aus Berlin nach Bali kommen. Darum machte sich die Rettungsassistentin wenig Sorgen um die fehlenden Vorsorgeuntersuchungen. Es gab Wichtigeres zu tun, jeden Tag aufs Neue. Neben der Tauchschule auf niedrigen Stelzen war ein alter Betonbunker halb im Sand vergraben. Er hatte eine vergitterte Stahltür, die ähnlich wie das Dixiklo mit einem Vorhängeschloss abgesperrt werden konnte, um den natürlichen Schwund des Equipments der Schule zu verhindern. Das hatte zur Folge, dass jeden Morgen und jeden Abend, außer zu nyepi, alle Tauchflaschen, Jackets, Lungenautomaten, Bleigurte, alle Surfbretter und Riggs und Trapezhöschen, ja sogar alle Lehrbücher in wasserdichten Transporttonnen aus dem Bunker herausgeholt und wieder zurückgebracht werden mussten. In Zeiten, da kein sportbegeisterter Tourist um die Ecke kam, weil es regnete oder gerade kein Lehrkurs lief oder es schlicht keine Leute – auf Indonesisch orang-orang – von der Küstenstraße in ihren etwas abgelegenen Strandabschnitt verschlug, fühlte sich die ganze Arbeit buchstäblich `umsonst´ an. Die Tagespauschale zur Opferung und Segnung durch den Priester mussten sie natürlich trotzdem entrichten, verstand sich. Indonesier waren schon immer recht geschäftstüchtige Menschen; der Handel verband stets die unterschiedlichsten Kulturen.

Carsten schleppte die schweren Sachen, Denise die leichten. In jenen Momenten einträchtiger Gemeinsamkeit mochte er seine Freundin. Und doch haderte er bei jedem Handschlag mit ihrer Entscheidung, auf diese tropische Insel zu gehen.

„Denen war der Segen des Priesters scheißegal“, schimpfte er einen wackligen alten Bambustisch an, während er die Tonne mit den Lehr- und Leihbüchern für die Tauch- und die Surfkurse schulterte und vor dem nächsten Regenguss in Sicherheit brachte. Wer sollte sowas schon klauen!

„Wie meinen?“, fragte Denise, die bewundernswert geschmeidig an ihm vorbeiturnte, um sich zwei Jackets zu schnappen, „saya tidak mengerti.“

„Was gibt es daran nicht zu verstehen?“, antwortete Carsten dem vorwurfsvoll dreinblickenden Tisch, als hätte nicht Denise ihn geneckt, sondern ein kaputtes Möbelstück. „Beim Bau dieses Etablissements haben Tom und Helen aus Geldmangel keinen Exorzisten hinzuziehen wollen und jetzt rächt es sich für uns. Wir sind verflucht.“

„Komm, komm“, Denise war stehengeblieben und sah ihn erschrocken an, „du wirst mir doch nicht durchdrehen? Tropenkoller, mein Liebster… brauchst bisschen Bungabunga, Liebe machen oder so? Wir fahren gleich nach Hause und dann koch ich uns was Feines, ja?“ Denise war perfekt geworden im Beschwichtigen, Ablenken und Deeskalieren. Sie wusste genau, was ihrem Freund fehlte. Vor allem wollte sie nicht, dass er einfach abhaute, nach Hause flog und sie hier alleine zurückließ. Zuzutrauen wäre es ihm. Also ließ sie ihrem Partner keine Zeit für trübsinnige Gedanken und plapperte munter drauflos: „Weißt du, was mir Wayan erzählt hat? Wenn man ein Haus baut, muss es nach einem spirituellen Grundriss ausgerichtet werden, der den Makro- mit dem Mikrokosmos verbindet. Unsere Hütte im Reisfeld ist so gebaut worden.“

„Was du nicht sagst“, maulte Carsten, rollte die verschlossene Büchertonne auf der Plattform nach vorn und ließ sie in den Sand fallen. „Plopps“, äffte er den Klang nach, der beim Auftreffen aus dreißig Zentimetern Höhe – so hoch war die Plattform – auf den Strand entstand. „Nicht Klöng-Klöng, nicht orangorang, nicht pelan-pelan, sondern einfach nur plopps.“ Er sah und sprach die Tonne an: „Hörst du das auch, oder bist du taub?“

„Du redest mit der Tonne?“, fragte Denise amüsiert, setzte sich darauf, beugte sich vor und forderte einen Kuss ein. Sie wusste, dass sie ihm Gelegenheit gab, tief in ihren Ausschnitt zu gucken. Ihre Brüste waren durch die Schwangerschaft noch stattlicher geworden und sie wusste ihre Reize klug einzusetzen. „Rede lieber mit uns beiden, mit deiner Tochter und mir.“

Es wirkte mal wieder. Carstens schlechte Laune verflog so schnell wie sie gekommen war. Er lachte sie an und meinte: „Erzähl weiter. Was ist beim Bau der Tauchschule mit dem Feng Shui alles schiefgelaufen? Vielleicht können wir es reparieren?“

„Feng Shui ist ein chinesischer Begriff. Bie Balinesen sind Hindus, sie orientieren sich an Begriffen wie `heilig´ und `unheilig´. Sieh dich mal um. Die Tauchschule ist eine Art Reisscheune und steht auf neun Quadraten, die einer Lotosblume ähneln. Sanga mandala nennen sie es. Fällt dir was auf?“

„Hm. Die Lotosblume ist verwelkt?“

„Dusselchen, nein! Das Basisquadrat ist falsch ausgerichtet, das ist es.“

Der Mathelehrer in ihm war plötzlich hellwach. Carsten stapfte durch den Sand rund um das quadratische Gebäude aus Bambus, Stroh und Schilf herum, blickte zu den Bergen hoch, dann zum Meer und sagte triumphierend: „Kaja und kelod! Die Achse stimmt nicht!“

Denise ließ ihm die Freude, ein trigonometrisches Problem zu analysieren, brachte das Equipment zum Bunker und sah voller Vergnügen, wie ihr Liebster Berechnungen anstellte.

„Richtig, b´tul, so ist es! Ein undagi hätte verlangt, dass es um… dreißig Grad hätte gedreht sein müssen, damit die heiligen Energien vom Agung hindurchfließen können! Tom hat es einfach zum Penggilingan hin ausgerichtet, ohne den Berater zu fragen.“ Er sah Denise ernst an: „Meinst du, daran liegt es, dass wir so viele Moskitos in der Schule haben? Die Geckos meiden uns und das Ungeziefer vermehrt sich ungehemmt, sodass die Touristen wegbleiben. Ist es das? Ist das der Fluch, der auf uns lastet? Vielleicht hat auch das Klohäuschen damit zu tun…“

„Nun übertreib nicht gleich, Zieh-Es, Liebster, lass doch dem Zufall auch noch ein bisschen Raum. Dann muss man nicht alles in einen höheren Zusammenhang stellen und wird weniger anfällig für magische Manipulationen.“