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Kaiserinwitwe Cixi (1835–1908) ist die bedeutendste Frau in der chinesischen Geschichte. Das Mädchen aus einfachen Verhältnissen wird als Konkubine für den chinesischen Kaiser ausgewählt, sie bekommt einen Sohn und übernimmt 1861 nach des Kaisers Tod selbst die Regierungsgeschäfte. Fast ein halbes Jahrhundert lang wird Cixi die Geschicke des Reichs lenken, sich als Schlüsselfigur einer Zeitenwende im Reich der Dynastien entpuppen: Im Westen lange als rückwärtsgewandte Despotin verschrien, tritt sie in Jung Changs Biografie in völlig neuem Licht auf: als die Frau, die in China die Modernisierung voranbrachte. Besonders für Frauen kam Cixis Regentschaft einer Befreiung gleich.
Die fundierte Studie eines entscheidenden Moments der Zeitgeschichte – Chinas Weg in die Moderne – und das detaillierte Porträt einer schillernden Figur, verfasst von einer weltweit anerkannten Expertin für die Geschichte Chinas.
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Seitenzahl: 886
Das Buch
»Ein faszinierendes Buch. Und wieder wird man das heutige China und seine heiß diskutierte jüngere Vergangenheit radikal anders betrachten.« The Independent
Als junge Frau wird Cixi als Konkubine für den chinesischen Kaiser ausgewählt. 1861 besteigt sie selbst den Thron. Sie ist die mächtigste Frau in der Geschichte Chinas, Herrscherin für ein halbes Jahrhundert, die Schlüsselfigur einer Zeitenwende im Reich der Dynastien: Im Westen lange als »männermordender Drache« karikiert und als Despotin verschrien, tritt Kaiserinwitwe Cixi in Jung Changs Biografie in völlig neuem Licht auf: als die Frau, die in China die Modernisierung voran brachte. Besonders für Frauen kam ihre Regentschaft einer Befreiung gleich. Die beispiellose Geschichte einer Konkubine, die das Schicksal eines ganzen Reiches verändern sollte.
Die Autorin
Jung Chang ist 1952 in Yibin, in der Provinz Sichuan, geboren. Sie war während der Kulturrevolution Mitglied der Roten Garden. 1978 konnte sie nach England ausreisen. Sie erhielt ein Stipendium der York University und promovierte 1982 in Linguistik; es war die erste Promotion eines Angehörigen der Volksrepublik China an einer englischen Universität. Sie ist Ehrendoktorin der Universitäten von Buckingham, York, Warwick und der Open University. Für ihr Buch Wilde Schwäne, das in über zwölf Ländern auf Platz 1 der Bestsellerlisten stand, errang sie zahlreiche Preise. Auch ihre vielbeachtete Biografie Mao – Das Leben eines Mannes. Das Schicksal eines Volkes (Blessing, 2005) war ein internationaler und deutscher Bestseller.
JUNG CHANG
Kaiserinwitwe
Cixi
Die Konkubine, die Chinas Weg
in die Moderne ebnete
Aus dem Englischen
von Ursel Schäfer
Karl Blessing Verlag
Für Jon
Inhaltsverzeichnis
Über die Quellen
Hinweis der Autorin
TEIL EINS
Die kaiserliche Konkubine in stürmischen Zeiten
(1835–1861)
1 Konkubine eines Kaisers (1835–1856)
2 Vom Opiumkrieg bis zu dem großen Brand im Alten Sommerpalast (1839–1860)
3 Kaiser Xianfeng stirbt (1860–1861)
4 Der Putsch, der China veränderte (1861)
TEIL ZWEI
Herrscherin hinter dem Thron ihres Sohnes (1861–1875)
5 Der erste Schritt auf dem langen Weg in die Moderne (1861–1869)
6 Erste Reisen in den Westen (1861–1871)
7 Unglückliche Liebe (1869)
8 Ein Rachefeldzug gegen den Westen (1869–1871)
9 Leben und Tod von Kaiser Tongzhi (1861–1875)
TEIL DREI
Herrschen durch einen Adoptivsohn (1875–1889)
10Ein Dreijähriger wird zum Kaiser gemacht (1875)
11Beschleunigte Modernisierung (1875–1889)
12Verteidigerin des Reichs (1875–1889)
TEIL VIER
Kaiser Guangxu an der Macht (1889–1898)
13Guangxu entfremdet sich von Cixi (1875–1894)
14Der Sommerpalast (1886–1894)
15Rückzug und Muße (1889–1894)
16Krieg mit Japan (1894)
17Ein ruinöser Frieden (1895)
18Das Gerangel um China (1895–1898)
TEIL FÜNF
Ganz vorne auf der Bühne (1898–1901)
19Die Reformen des Jahres 1898
20Ein Mordkomplott gegen Cixi (September 1898)
21 Der verzweifelte Wunsch, den Adoptivsohn abzusetzen (1898–1900)
22 Krieg gegen die Weltmächte – mit den Boxern (1899–1900)
23Kämpfen bis zum bitteren Ende (1900)
24Flucht (1900–1901)
25Reue (1900–1901)
TEILS SECHS
Die wahre Revolution des modernen China (1901–1908)
26Rückkehr nach Beijing (1901–1902)
27 Freundschaften mit Menschen aus dem Westen (1902–1907)
28Cixis Revolution (1902–1908)
29Wählen! (1905–1908)
30 Kampf gegen Aufständische, Mörder und die Japaner (1902–1908)
31Todesfälle (1908)
Epilog: China nach der Kaiserinwitwe Cixi
Besuchte Archive
Bibliografie
Danksagung
Liste der Abbildungen
Bildnachweise
Anmerkungen
Register
Über die Quellen
Dieses Buch basiert auf historischen Dokumenten, vorwiegend chinesischen. Dazu zählen kaiserliche Dekrete, Aufzeichnungen des Hofes, offizielle Verlautbarungen, private Korrespondenz, Tagebücher und Augenzeugenberichte. Das meiste ist erst nach Maos Tod im Jahr 1976 ans Tageslicht gekommen, als es den Historikern wieder möglich war, in Archiven zu arbeiten. Dank ihrer hingebungsvollen Bemühungen konnten umfangreiche Akten geordnet, studiert, publiziert und sogar digitalisiert werden. Frühere Publikationen von Archivmaterial und wissenschaftlichen Arbeiten wurden neu aufgelegt. Damit hatte ich das Glück, mit einem gewaltigen Dokumentenbestand arbeiten zu können, und ich konnte das Erste Historische Archiv Chinas (First Historical Archives of China) konsultieren, wo mit über zwölf Millionen Dokumenten die meisten Unterlagen über Cixi aufbewahrt werden. Der größte Teil der Quellen war bisher in der nicht Chinesisch sprechenden Welt unbekannt.
Die westlichen Zeitgenossen der Kaiserinwitwe haben wertvolle Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Erinnerungen hinterlassen. Das Tagebuch von Königin Victoria, der Hansard (die Protokolle der Sitzungen des britischen Parlaments) und die zahlreichen Schriftstücke aus dem diplomatischen Austausch waren Fundgruben für Informationen. Das Archiv der Freer Gallery of Art und der Arthur M. Sackler Gallery in Washington, D. C. ist die einzige Einrichtung weltweit, die Originale der Fotografien von Cixi besitzt.
TEIL EINS
Die kaiserliche Konkubine in stürmischen Zeiten
(1835–1861)
1 Konkubine eines Kaisers
1
Konkubine eines Kaisers
(1835–1856)
Im Frühjahr 1852 fiel der Blick des Kaisers bei der landesweiten Suche nach Gemahlinnen, die regelmäßig in China stattfand, auf ein sechzehnjähriges Mädchen, und sie wurde als Konkubine ausgewählt. Ein chinesischer Kaiser durfte eine Kaiserin haben und so viele Konkubinen, wie er wollte. In den Listen des Hofes war sie einfach »die Frau aus der Nala-Familie«1, einen eigenen Namen hatte sie nicht. Die Namen von Frauen galten als zu unwichtig, um sie festzuhalten. Doch in nicht einmal zehn Jahren schaffte es dieses Mädchen, dessen Name sonst womöglich für immer verloren wäre,I Herrscherin von China zu werden. Jahrzehntelang, bis zu ihrem Tod im Jahr 1908, hielt sie das Schicksal von beinahe einem Drittel der Weltbevölkerung in ihren Händen. Sie wurde die Kaiserinwitwe Cixi (oder Tzu Hsi). Das war ihr Ehrenname, er bedeutet »freundlich und fröhlich«.
Das Mädchen stammte aus einer der ältesten und angesehensten Mandschu-Familien. Das Volk der Mandschu lebte ursprünglich in der Mandschurei, auf der anderen Seite der Großen Mauer im Nordosten. 1644 wurde die Ming-Dynastie bei einem Bauernaufstand gestürzt, der letzte Ming-Kaiser erhängte sich im Garten seines Palasts. Die Mandschu ergriffen die Gelegenheit und überrannten die Große Mauer. Sie unterwarfen ganz China und begründeten eine neue Dynastie, die Große Qing-Dynastie – »Große Reinheit«. Die neuen Herrscher übernahmen die Hauptstadt der Ming, Beijing, als ihre eigene Hauptstadt, und errichteten ein Reich, das dreimal so groß war wie das der Mandschu und auf dem Höhepunkt seiner Macht ein Gebiet von 13 Millionen Quadratkilometern umfasste – gegenüber 9,6 Millionen heute.
Die Mandschu-Eroberer waren den ethnischen Chinesen, den Han, zahlenmäßig im Verhältnis von etwa hundert zu eins unterlegen und setzten ihre Herrschaft zu Anfang mit brutalen Mitteln durch. Männliche Han-Chinesen mussten als sichtbares Zeichen der Unterwerfung die Haartracht der Mandschu tragen. Traditionell hatten die männlichen Han lange Haare, die sie zu einem Knoten banden, die Mandschu-Männer hingegen rasierten sich an der Stirn und den Seiten die Haare ab und ließen sie nur in der Mitte wachsen. Diese Haare flochten sie dann zu einem langen Zopf. Wer sich weigerte, den Zopf zu tragen, wurde ohne viel Federlesen geköpft. In der Hauptstadt vertrieben die Eroberer die Han aus der Mitte in die Randviertel und trennten die beiden ethnischen Gruppen durch Mauern und Tore.II Der harte Griff lockerte sich im Lauf der Zeit, und schließlich führten die Han kein schlechteres Leben als die Mandschu. Die Feindseligkeit zwischen den Volksgruppen verblasste, allerdings blieben die höchsten Ämter im Staat weiterhin den Mandschu vorbehalten. Eheschließungen zwischen Han und Mandschu waren verboten, was in einer stark familienorientierten Gesellschaft bedeutete, dass es zwischen den beiden Gruppen wenig Austausch gab. Aber die Mandschu übernahmen viel von der Kultur und der politischen Ordnung der Han. Die Verwaltung ihres Reichs, die wie ein gigantischer Krake in alle Ecken des Landes reichte, lag überwiegend in den Händen von Han-Beamten, die in den traditionellen kaiserlichen Prüfungen, in denen es hauptsächlich um die konfuzianischen Klassiker ging, unter den Gelehrten ausgewählt wurden. Auch die Mandschu-Kaiser durchliefen eine konfuzianische Ausbildung, einige wurden größere konfuzianische Gelehrte als die besten Han. Die Mandschu betrachteten sich selbst als Chinesen und bezeichneten ihr Reich gleichermaßen als »chinesisches« Reich, »China« und »Qing«-Reich.
Das herrschende Geschlecht, die Aisin Gioro, brachte eine Reihe fähiger und hart arbeitender Kaiser hervor, die als absolute Herrscher alle wichtigen Entscheidungen persönlich trafen. Es gab nicht einmal einen Premierminister, sondern nur eine Reihe von Helfern, den Großen Rat. Die Kaiser standen bei Morgengrauen auf, lasen Berichte, hielten Besprechungen ab, empfingen Beamte und erließen Dekrete. Mit den Berichten aus dem ganzen Land befassten sie sich, sobald sie eintrafen, selten dauerte es länger als ein paar Tage, bis eine Angelegenheit erledigt wurde. Der Kaiserthron stand in der Verbotenen Stadt. Diese rechteckige, 720 000 Quadratmeter umfassende Anlage, der vielleicht größte Kaiserpalast der Welt, war von einem entsprechend großen Graben umgeben. Außen herum verlief eine rund zehn Meter hohe und an der Basis beinahe neun Meter dicke Mauer mit einem herrlichen Tor an jeder Seite und einem prächtigen Wachturm an jeder Ecke. Fast alle Gebäude innerhalb der Anlage hatten glasierte Ziegel in einem ausschließlich dem Hof vorbehaltenen Gelbton. In der Sonne schimmerten die Dächer wie ein Meer von Gold.
Ein Bezirk nordwestlich der Verbotenen Stadt war ein Umschlagplatz für Kohle, die für die Hauptstadt bestimmt war. Die Kohle wurde in Minen westlich von Beijing abgebaut und mit Karawanen von Kamelen und Maultieren, die Glöckchen um den Hals trugen, in die Stadt gebracht. Angeblich kamen jeden Tag fünftausend Kamele nach Beijing. Die Karawanen rasteten hier, die Träger erledigten ihre Einkäufe in Läden, deren Namen auf bunte Fahnen gestickt oder mit goldenen Schriftzeichen auf lackierte Schilder gemalt waren. Die Straßen waren nicht gepflastert; bei trockenem Wetter bildete sich ein weicher, pudriger Staub, der nach einem Regenschauer die Straße in einen Bach aus Schlamm verwandelte. Aus den Abwasserkanälen, die so altertümlich waren wie die Stadt selbst, drang immer ein strenger Geruch. Abfälle wurden einfach am Straßenrand abgeladen, wo sich streunende Hunde und Vögel darüber hermachten. Nach den Mahlzeiten versammelten sich Geier und Aaskrähen scharenweise in der Verbotenen Stadt und hockten so zahlreich auf den goldenen Dächern, dass diese schwarz wirkten.
Fernab vom Trubel der Hauptstadt erstreckte sich ein Gewirr kleiner, ruhiger Gassen, die Hutong. Dort erblickte am zehnten Tag des zehnten Mondmonats im Jahr 1835 die spätere Kaiserinwitwe von China, Cixi, das Licht der Welt. Die Häuser dort waren geräumig, mit exakt angelegten Innenhöfen, makellos sauber und ordentlich, und bildeten damit einen scharfen Kontrast zu den dreckigen, chaotischen Straßen. Die wichtigsten Zimmer hatten nach Süden hin Türen und Fenster, um möglichst viel Sonne einzulassen. Die Nordseite hingegen bestand aus Mauerwerk, das die Sandstürme abhalten sollte, die häufig über die Stadt hinwegfegten. Die Dächer waren mit grauen Ziegeln gedeckt. Für die Farben der Dächer gab es genaue Vorschriften: Gelb war den kaiserlichen Palastgebäuden vorbehalten, Grün den Prinzen, alle anderen Dächer mussten grau sein.
Die Mitglieder von Cixis Familie standen seit Generationen in den Diensten des Staates.2 Cixis Vater Huizheng arbeitete erst als Sekretär und dann als Leiter einer Abteilung im Personalministerium.3 Die Familie war wohlhabend, Cixi verbrachte eine sorgenfreie Kindheit. Als Mandschu wurden ihr nicht die Füße gebunden, eine Tradition, die die Frauen der Han ein Jahrtausend lang quälte: Einem weiblichen Säugling wurden die Füße gebrochen und dann fest eingewickelt, um das Wachstum zu behindern. Die meisten anderen Sitten wie die Trennung der Geschlechter hatten Mandschu und Han gemeinsam. Als Tochter einer gebildeten Familie lernte Cixi lesen und ein wenig Chinesisch schreiben, zeichnen, Schach spielen, sticken und nähen – alles erwünschte Fertigkeiten bei einer jungen Dame. Sie lernte schnell und eifrig und entwickelte eine Vielzahl von Interessen. Später, als es ihre zeremonielle Pflicht als Kaiserinwitwe war, als Symbol der Weiblichkeit an einem bestimmten glückverheißenden Tag das Muster für ein eigenes Kleid auszuschneiden, erledigte sie diese Aufgabe mit großem Geschick.
Das Erlernen der Mandschu-Sprache gehörte nicht zu ihrer Ausbildung, Mandschu konnte sie weder sprechen noch schreiben. (Später, als Herrscherin von China, musste sie einen Befehl erlassen, dem zufolge Berichte in Mandschu erst ins Chinesische übersetzt wurden, bevor man sie ihr vorlegte.4) Nach über zweihundert Jahren Leben in der chinesischen Kultur sprachen die meisten Mandschu ihre Sprache nicht mehr, obwohl sie die offizielle Sprache der Dynastie war und mehrere Kaiser Anstrengungen unternommen hatten, sie zu bewahren. Cixi besaß nur rudimentäre Kenntnisse des geschriebenen Chinesisch, heute würden wir sagen, sie war »halbgebildet«. Das bedeutet jedoch keinesfalls, dass es ihr an Intelligenz gefehlt hätte. Die chinesische Sprache ist extrem schwer zu erlernen. Sie ist das einzige große Sprachsystem der Welt, das kein Alphabet hat; sie besteht stattdessen aus zahlreichen schwierigen Zeichen – Ideogrammen –, die man einzeln auswendig lernen muss und die überdies keinerlei Beziehung zu Lauten haben. Zu Cixis Zeit hatten geschriebene Texte absolut nichts mit der gesprochenen Form zu tun, niemand konnte einfach aufschreiben, was er sagte oder dachte. Um als »gebildet« zu gelten, mussten Chinesen deshalb in früher Jugend mindestens zehn Jahre lang die chinesischen Klassiker studieren, eine thematisch sehr eingeschränkte und nicht eben spannende Lektüre. Weniger als ein Prozent der Bevölkerung konnte gerade mal ein bisschen lesen und schreiben.
Cixis Mangel an formaler Bildung wurde mehr als ausgeglichen durch ihre rasche Auffassungsgabe, die sie von frühester Kindheit an einsetzte. 1843, als sie sieben Jahre alt war, hatte das Reich gerade seinen ersten Krieg mit dem Westen hinter sich, den Opiumkrieg, den die Briten begonnen hatten, als Beijing gegen die illegalen Opiumgeschäfte britischer Händler vorging. China unterlag und musste hohe Entschädigungen zahlen. Da Kaiser Daoguang (der Vater von Cixis künftigem Ehemann) verzweifelt Geld brauchte, hielt er die traditionellen Geschenke für die Bräute seiner Söhne – goldene Ketten mit Korallen und Perlen – zurück und lehnte aufwendige Bankette anlässlich der Eheschließungen ab.5 Feiern zum neuen Jahr und zu Geburtstagen fielen bescheidener aus oder wurden ganz abgesagt, und weniger wichtige kaiserliche Konkubinen mussten ihre reduzierten Zuwendungen dadurch aufbessern, dass sie über die Eunuchen Stickereien auf dem Markt verkauften. Der Kaiser selbst inspizierte immer wieder unangekündigt die Garderoben seiner Frauen, um zu sehen, ob sie womöglich entgegen seinem Befehl extravagante Kleidungsstücke besaßen. Um künftig Diebstähle von Beamten zu verhindern, wurde eine Inspektion der kaiserlichen Schatzkammer durchgeführt, die erbrachte, dass mehr als neun Millionen Silbertael verschwunden waren.6 Wütend ordnete der Kaiser an, alle verantwortlichen Aufseher und Inspektoren der Silbervorräte müssten die nächsten vierundvierzig Jahre Strafen zahlen, um den Verlust auszugleichen – egal, ob sie schuldig waren oder nicht. Cixis Urgroßvater hatte zu den Aufsehern gehört, sein Anteil an der Strafe belief sich auf 43 200 Tael – eine gewaltige Summe, im Vergleich zu der sein offizielles Gehalt kümmerlich war. Da er schon lange tot war, musste sein Sohn, Cixis Großvater, die Hälfte der Summe zahlen, obwohl er im Strafenministerium arbeitete und mit der Staatskasse nichts zu tun hatte. Nach drei Jahren vergeblicher Bemühungen, das Geld aufzubringen, hatte er lediglich 1 600 Tael zusammen. Durch ein kaiserliches Edikt wurde er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Er konnte nur freikommen, wenn sein Sohn, Cixis Vater, die Schulden beglich.
Das Leben der Familie geriet vollkommen durcheinander. Die damals elfjährige Cixi musste mit Näharbeiten Geld dazuverdienen – das vergaß sie zeit ihres Lebens nicht und erzählte es ihren Hofdamen. Weil sie die Älteste von zwei Töchtern und drei Söhnen war, sprach ihr Vater mit ihr über die Angelegenheit, und sie erwies sich als verständige Gesprächspartnerin. Sie brachte gründlich überlegte, praktische Vorschläge vor: welche Besitztümer man verkaufen und welche Wertgegenstände man verpfänden sollte, an wen man sich für einen Kredit wenden und wie man dabei vorgehen sollte. Schließlich hatte die Familie 60 Prozent der Summe zusammen, genug, um die Freilassung von Cixis Großvater zu erreichen. Cixis Beitrag zur Bewältigung der Krise ging in die Annalen der Familie ein, ihr Vater machte ihr das größte Kompliment, das sich denken ließ: »Diese Tochter ist mehr wie ein Sohn!«
Weil Cixi wie ein Sohn behandelt wurde, konnte sie mit ihrem Vater über Dinge sprechen, die normalerweise für Frauen tabu waren. Unvermeidlich berührten ihre Gespräche auch offizielle Dinge und Staatsangelegenheiten, und das prägte Cixis lebenslanges Interesse. Da sie gefragt wurde und ihre Ansichten zählten, entwickelte sie Selbstbewusstsein und glaubte nie an das verbreitete Vorurteil, die Gehirne von Frauen seien denen von Männern unterlegen. Die Krise prägte außerdem ihren künftigen Herrschaftsstil. Sie hatte erfahren, wie bitter willkürliche Strafen sein konnten, und bemühte sich, gegenüber ihren Beamten gerecht zu sein.
Nachdem Cixis Vater Huizheng eine erhebliche Summe zur Begleichung der Strafe aufgebracht hatte, belohnte ihn der Kaiser 1849 mit der Ernennung zum Gouverneur einer großen Region in der Mongolei. Im Sommer jenes Jahres fuhr er mit seiner Familie dorthin und ließ sich in Hohhot nieder, der heutigen Provinzhauptstadt der Inneren Mongolei. Zum ersten Mal kam Cixi aus dem übervölkerten Beijing heraus, reiste hinter die bröckelnde Große Mauer und auf einer steinigen Straße bis in die mongolische Steppe, wo sich bis zum fernen Horizont nur Grasland erstreckte. Ihr ganzes Leben lang liebte Cixi frische Luft und weite Landschaften.
In dem neuen Amt als Gouverneur war Cixis Vater dafür verantwortlich, die Steuern einzuziehen, und nach uralter Gewohnheit schröpfte er die lokale Bevölkerung, um die Verluste der Familie auszugleichen. Das wurde als selbstverständlich angesehen. Die Beamten erhielten nur geringe Gehälter, es war üblich, dass sie ihr Einkommen mit dem aufbesserten, was sie – »innerhalb vernünftiger Grenzen« – bei der Bevölkerung herausholen konnten. Für Cixi gehörte Korruption einfach zum Leben dazu.
Im Februar 1850, einige Monate nach dem Umzug der Familie in die Mongolei, starb Kaiser Daoguang. Sein neunzehnjähriger Sohn wurde als Kaiser Xianfeng sein Nachfolger. Der neue Kaiser war zu früh zur Welt gekommen und kränkelte von Geburt an. Er hatte ein hageres Gesicht und melancholische Augen, außerdem hinkte er seit einem Sturz vom Pferd bei einem der Jagdausflüge, die zum Pflichtprogramm der Prinzen gehörten. Ein Kaiser hieß in China »Drache«, und ihm hatte man den heimlichen Beinamen »der hinkende Drache«7 gegeben.
Nach der Krönung wurden im ganzen Land Gemahlinnen für ihn gesucht.8 (Er hatte zu dem Zeitpunkt bereits eine Gemahlin, eine Konkubine.) Die Kandidatinnen, Mädchen im Teenageralter, mussten Mandschu oder Mongolinnen sein, Han-Chinesinnen waren ausgeschlossen. Außerdem wurden nur Familien ab einem bestimmten Rang berücksichtigt; sie waren verpflichtet, ihre Töchter registrieren zu lassen, sobald sie in die Pubertät kamen.
Cixi stand auf der Liste, und nun fuhr sie wie andere Mädchen aus ganz China nach Beijing. Sie richtete sich wieder im alten Haus der Familie ein und wartete auf den Tag, an dem alle Kandidatinnen dem Kaiser vorgeführt werden sollten. Wenn er seine Wahl getroffen hatte, wurden von den übrigen Mädchen einige den Prinzen und sonstigen männlichen Angehörigen des Kaiserhauses übergeben. Die Mädchen, die nicht ausgewählt wurden, konnten nach Hause zurückkehren und andere Männer heiraten. Die Auswahl in der Verbotenen Stadt sollte im März 1852 stattfinden.
Der Ablauf war seit Generationen unverändert. Am Tag vor dem festgesetzten Datum wurden die Kandidatinnen mit Mauleselwagen – den Taxis der damaligen Zeit – in den Palast gebracht; die Wagen organisierte die Familie, der Hof bezahlte dafür. Die Wagen waren wie Truhen auf zwei Rädern, darüber wölbte sich ein Dach aus geflochtenem Bambus oder Rattan, das man mit Tungöl getränkt hatte, damit Regen und Schnee nicht durchdringen konnten. Darüber waren hellblaue Vorhänge drapiert, und im Inneren türmten sich Matratzen und Kissen aus Filz und Baumwolle. Selbst die Familien der Prinzen reisten so; für sie wurde das Innere je nach Jahreszeit mit Pelz oder Satin ausgekleidet, und außen wiesen Zeichen auf den Rang des Besitzers hin. William Somerset Maugham schrieb (später) über den Anblick, wie ein solches Gefährt still vorbeifuhr und in der heranbrechenden Dunkelheit verschwand:
Man fragt, wer wohl mit übergeschlagenen Beinen darin sitzen mag. Vielleicht ein Gelehrter … auf dem Weg zu einem Freund, mit dem er erlesene Komplimente tauschen und über das Goldene Zeitalter der Tang und Sung debattieren will, das nie mehr zurückkehren wird; vielleicht ist es eine Sängerin in leuchtender Seide und einem reich bestickten Umhang, Jadeschmuck im Haar, die zu einem Fest gebracht wird, wo sie singen soll und sich einen schlagfertigen Austausch mit jungen Burschen liefern wird, die so gebildet sind, dass sie Witz zu schätzen wissen.9
Der »Pekingwagen«, wie Maugham ihn nannte, der »das ganze Geheimnis des Ostens« beförderte, war unvorstellbar unbequem, denn die hölzernen Räder waren ohne Federn nur mit Draht und Nägeln befestigt. Der Reisende wurde auf den aus Erde und Steinen bestehenden Straßen kräftig durchgeschüttelt und prallte dauernd gegen die Seiten. Europäer litten ganz besonders, weil sie es nicht gewohnt waren, im Schneidersitz dazuhocken, ohne Bänke. Der Großvater der Mitford-Schwestern, Algernon Freeman-Mitford, der wenig später Attaché in der britischen Gesandtschaft in Beijing wurde, berichtete: »Nach zehn Stunden in einem chinesischen Wagen taugt ein Mann für nicht mehr viel anderes, als in einem Trödelladen verkauft zu werden.«10
Die Wagen mit den Kandidatinnen fuhren in gemessenem Tempo vor und sammelten sich vor dem rückwärtigen Tor zur Kaiserlichen Stadt, der äußeren Umfriedung, die die Verbotene Stadt einschloss. Die Verbotene Stadt war allein schon riesig, und entsprechend gigantisch war dieser Außenbezirk, eingefasst durch breite, scharlachrote Mauern, über denen Dächer im üblichen kaiserlichen Gelb leuchteten. Der Bezirk beherbergte Tempel, Schreibstuben, Lagerhäuser und Werkstätten, es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Pferden, Kamelen und Eseln in Angelegenheiten des Hofes. An diesem Tag endete bei Sonnenuntergang alle Geschäftigkeit. Ein Weg blieb frei, damit die Wagen mit den Kandidatinnen passieren konnten, die in einer vorgeschriebenen Reihenfolge in die Kaiserliche Stadt hereinrollten, vorbei an dem künstlichen Hügel Jingshan und über den Graben bis zum nördlichen Tor der Verbotenen Stadt, dem Tor der göttlichen Militärischen Begabung mit seinem imposanten, reich geschmückten zweistöckigen Dach.
Das war der Hintereingang zur Verbotenen Stadt. Das vordere, südliche Tor blieb für Frauen verschlossen. Tatsächlich war der ganze vordere Teil – und der Hauptteil – allein den Männern vorbehalten. Dieser Teil war für offizielle Zeremonien erbaut worden und bestand aus großen Hallen und riesigen leeren gepflasterten Plätzen. Besonders auffallend war, was fehlte: Pflanzen, es gab praktisch keinerlei Vegetation. Dahinter stand durchaus Absicht, denn man glaubte, dass Pflanzen eine gewisse Sanftheit vermittelten, die das Gefühl der Ehrfurcht nur schmälern konnten: Ehrfurcht vor dem Kaiser, dem Himmelssohn – der »Himmel« war die mystische gestaltlose Gottheit, die die Chinesen verehrten. Frauen mussten sich im hinteren Teil der Verbotenen Stadt aufhalten, dem Hougong oder Harem, wo keine Männer zugelassen waren außer den Kaisern und vielen hundert Eunuchen.
Die Aspirantinnen für den Harem blieben über Nacht vor dem Hintereingang. Die Wagen standen unter dem schützenden Tor auf einer riesigen gepflasterten Fläche, während die Dunkelheit hereinbrach und die Laternen trübe Lichtkreise warfen. Eingepfercht in ihre Wagen, warteten die Kandidatinnen, bis sich beim Morgengrauen das Tor öffnete. Dann stiegen sie aus und wurden von Eunuchen in die Halle geleitet, wo Hofbeamte, sie begutachteten und einzelne auswählten, die dann dem Kaiser vorgeführt wurden. Zu mehreren in einer Reihe stellten sie sich vor Seiner Majestät auf. Den obligatorischen Kotau mussten sie nicht machen: auf die Knie fallen und mit der Stirn den Boden berühren. Der Kaiser wollte sie in voller Größe in Augenschein nehmen.
Neben dem Namen der Familie war »Charakter« das wichtigste Auswahlkriterium. Die Kandidatinnen mussten Würde und gute Manieren besitzen, anmutig, sanft und bescheiden sein – und sie mussten sich am Hof zu bewegen wissen. Das Äußere war zweitrangig, aber sie sollten wenigstens angenehm anzusehen sein. Damit sie möglichst natürlich wirkten, durften sie keine reich geschmückten Kleider tragen, nur einen langen, schlichten Umhang mit ein wenig Spitze an den Säumen. Mandschu-Kleider waren üblicherweise sehr dekorativ, sie flossen von den Schultern bis zum Boden und kamen bei sehr aufrechter Haltung am besten zur Geltung. Die Schuhe der Mandschu-Frauen waren ebenfalls kunstvoll bestickt und hatten in der Mitte der Sohle eine bis zu 14 Zentimeter dicke Erhöhung, die die Trägerin zwang, aufrecht zu stehen. Die Haare bedeckte ein Kopfschmuck, der wie eine Kreuzung zwischen einer Krone und einem Torturm aussah, je nach Anlass besetzt mit Juwelen und Blumen. Man musste den Hals sehr gerade halten, um diesen Schmuck zu balancieren.
Cixi war keine auffallende Schönheit, aber sie war selbstsicher. Mit dem Umhang, den hohen Schuhen und dem Kopfputz wirkte sie viel größer als ein Meter fünfzig. Sie saß aufrecht und bewegte sich anmutig, selbst wenn sie schnell ging auf ihren »Stelzen«, wie manche die Schuhe nannten. Sie hatte eine sehr zarte Haut und feingliedrige Hände, die bis ins hohe Alter so weich blieben wie die eines jungen Mädchens. Katharine Carl, die amerikanische Künstlerin, die sie später malte, beschrieb ihre Züge so: »eine ausgeprägte Nase … eine entschlossene Oberlippe und ein ziemlich großer, aber schöner Mund mit vollen roten Lippen, die, wenn sie sich über ihren weißen Zähnen öffneten, ihrem Lächeln einen seltenen Zauber verliehen; ein markantes Kinn, aber nicht übertrieben kantig und ohne Zeichen von Sturheit«.11 Den größten Eindruck machten, wie viele berichteten, ihre strahlenden, ausdrucksstarken Augen. Bei Audienzen fesselte sie ihre Beamten mit ihrem Blick, bis auf einmal Furcht einflößende Autorität in ihren Augen aufflammte. Der spätere erste Präsident Chinas, General Yuan Shikai, der unter ihr gedient hatte und in dem Ruf stand, unerschütterlich zu sein, räumte ein, dass ihr Blick ihn leicht aus der Fassung bringen konnte: »Ich weiß nicht, warum, aber der Schweiß lief mir nur so herunter. Ich wurde einfach sehr nervös.«12
Nun sandten ihre Augen die richtigen Botschaften aus, und Kaiser Xianfeng registrierte es. Er gab ein Zeichen, dass sie ihm gefiel, woraufhin die Hofbeamten ihre Identifizierungskarte an sich nahmen. Damit war sie in der engeren Auswahl, für weitere Prüfungen blieb sie eine Nacht in der Verbotenen Stadt. Schließlich wurde sie zusammen mit vier anderen Mädchen unter Hunderten von Kandidatinnen auserkoren. Es war ganz ohne Zweifel die Zukunft, die sie wollte. Cixi interessierte sich für Politik, und zu Hause wartete kein Ritter in schimmernder Rüstung auf sie. Die Trennung der Geschlechter verhinderte romantische Annäherungen, zudem drohten einer Familie, die eine Tochter verlobte, ohne dass sie zuvor vom Kaiser abgelehnt worden war, schwere Strafen. Danach konnte sie für diese Tochter keine Eheschließung mehr arrangieren. Nach Cixis Aufnahme bei Hof sollte sie ihre Familie nur noch selten wiedersehen, obwohl offiziell die Regelung galt, dass die Eltern kaiserlicher Gemahlinnen ihre Töchter mit einer Sondererlaubnis besuchen durften; sie durften sogar monatelang in einem der Gästehäuser am Rand der Verbotenen Stadt wohnen.
Cixi sollte am 26. Juni 1852 in ihr neues Heim einziehen. An dem Tag endete formell die obligatorische zweijährige Trauerzeit für den verstorbenen Kaiser Daoguang, zu diesem Anlass besuchte der neue Kaiser das Mausoleum seines Vaters westlich von Beijing. Während der Trauerzeit hatte er sexuell enthaltsam zu sein. Mit dem Einzug in den Palast bekam Cixi den Namen Lan, der offenbar von ihrem Familiennamen Nala, manchmal auch Nalan geschrieben, abgeleitet war. Lan bedeutete auch Magnolie oder Orchidee. Es war üblich, Mädchen nach Blumen zu benennen. Cixi mochte den Namen nicht, und sobald sie es so weit gebracht hatte, dass sie den Kaiser um einen Gefallen bitten konnte, ließ sie den Namen ändern.
Der Harem, in den sie an jenem Sommertag eintrat, war eine eigene Welt mit ummauerten Höfen und schmalen Gassen. Anders als im vorderen, den Männern vorbehaltenen Teil der Palastanlage wirkte dieser Bereich nicht großartig, aber dafür gab es viele Bäume, Blumen und Steingärten. Die Kaiserin hatte einen eigenen Palast und jede Konkubine eine kleine Wohnung. Die Räume waren reich mit bestickter Seide, geschnitzten Möbeln und juwelenbesetzten Ornamenten geschmückt, aber es wurde nur wenig persönliche Note geduldet. Wie in der ganzen Verbotenen Stadt galten auch im Harem strenge Regeln. Es war genau vorgeschrieben, welche Gegenstände die Mädchen in ihren Räumen haben durften, wie viel und welche Stoffe sie für ihre Kleider verwenden durften, und je nach Rang wurde genau festgelegt, welches Essen jede täglich bekam. Eine Kaiserin hatte pro Tag Anspruch auf 13 Kilo Fleisch, ein Huhn, eine Ente, 10 Päckchen Tee, 12 Krüge Wasser vom Jadequellenberg sowie genau festgelegte Mengen unterschiedlicher Gemüse- und Getreidesorten, Gewürze und sonstiger Zutaten.III13 Außerdem stand ihr pro Tag die Milch von nicht weniger als 25 Kühen zu. (Anders als die meisten Han-Chinesen tranken die Mandschu Milch und konsumierten Milchprodukte.)
Cixi wurde nicht Kaiserin. Sie war eine Konkubine, dazu eine von niederem Rang. Die Leiter der kaiserlichen Gemahlinnen hatte acht Stufen, Cixi stand auf der sechsten und gehörte damit der rangniedrigsten Gruppe an (Stufe sechs bis acht). Eine eigene Kuh stand ihr nicht zu, und sie hatte nur Anrecht auf drei Kilo Fleisch täglich. Sie hatte vier Zofen, die Kaiserin zehn und dazu noch zahllose Eunuchen.
Die neue Kaiserin, ein Mädchen namens Zhen, »Reinheit«, war mit Cixi zusammen an den Hof gekommen. Sie hatte ebenfalls als Konkubine begonnen, aber in einem höheren Rang, dem fünften. Innerhalb von vier Monaten, noch vor Ende des Jahres, wurde sie in den ersten Rang erhoben: den der Kaiserin. Das hatte sie nicht ihrer Schönheit zu verdanken, Kaiserin Zhen war eher unscheinbar. Und auch um ihre Gesundheit war es nicht gut bestellt, weshalb die Gemahlin des »hinkenden Drachen« hinter vorgehaltener Hand »zerbrechlicher Phönix« genannt wurde (der Phönix war das Symbol der Kaiserin). Aber sie besaß die Eigenschaft, die bei einer Kaiserin am meisten geschätzt wurde: Sie kam mit den anderen Frauen zurecht und hatte sie, wie auch die Dienerschaft, im Griff. Die wichtigste Aufgabe der Kaiserin war die Leitung des Harems, und Kaiserin Zhen erfüllte diese Aufgabe meisterhaft. Unter ihrer Herrschaft gab es die sonst an solchen Orten üblichen Lästereien und Boshaftigkeiten nicht.
Nichts deutet darauf hin, dass Cixi vom Kaiser als Konkubine bevorzugt wurde. Über das Sexualleben des Kaisers führte man in der Verbotenen Stadt genau Buch. Er wählte seine Sexualpartnerin für die kommende Nacht, indem er ihren Namen auf einer Bambustafel markierte, die der Obereunuch ihm beim Abendessen reichte, das der Kaiser meist allein einnahm.14 Er hatte zwei Schlafzimmer, eines mit Spiegeln rundherum, das andere mit seidenen Paravents. Seidene Vorhänge umschlossen die Betten, im Inneren hingen Duftsäckchen. Wenn der Kaiser ein Bett aufsuchte, wurden die Bettvorhänge in beiden Schlafzimmern geschlossen. Das diente offenkundig der Sicherheit, denn so wussten nicht einmal die vertrautesten Diener, in welchem Bett der Kaiser lag. Die Regeln des Hofes verboten, dass der Kaiser im Bett einer seiner Frauen schlief; die Frauen kamen zu ihm. Wenn man der Legende glauben kann, trug ein Eunuch die Erwählte, nackt und in Seide gehüllt, zum Kaiser. Nach dem Sex kehrte die Frau zurück in den Harem, sie durfte nicht im Bett des Kaisers übernachten.
Der hinkende Drache liebte Sex. Von keinem anderen Kaiser der Qing-Dynastie gibt es mehr Geschichten über das Liebesleben. Bald hatte er neunzehn Gemahlinnen, einige davon waren ehemalige Dienstmädchen, die ebenfalls in ganz China ausgewählt wurden und meistens aus einfachen Mandschu-Familien stammten. Außerdem wurden ihm Frauen von außerhalb des Hofes zugeführt. Es ging das Gerücht, die meisten dieser Frauen seien bekannte Han-Prostituierte mit gebundenen Füßen – dafür hatte der Kaiser wohl eine Schwäche. In Anbetracht der strengen Regeln in der Verbotenen Stadt wurden diese Frauen offenbar in den alten Sommerpalast geschmuggelt – den Yuan-ming-yuan,Garten der Vollkommenheit und des Lichts –, einen riesigen, landschaftlich gestalteten Komplex rund acht Kilometer westlich von Beijing. Dort waren die Regeln nicht so streng, und der Kaiser konnte seinen sexuellen Gelüsten weitgehend ungehindert frönen.
Zwei Jahre lang zeigte der sexuell aktive, ja geradezu obsessive Kaiser keine besondere Zuneigung zu Cixi. Sie blieb in Rang sechs, während er andere Frauen in höhere Ränge erhob. Etwas an ihr stieß ihn ab. Offenbar beging die jugendliche Cixi in ihrem Wunsch, ihrem Gemahl zu gefallen, den Fehler, seine Sorgen mit ihm teilen zu wollen.
Kaiser Xianfeng stand vor gewaltigen Problemen. Unmittelbar nach seiner Thronbesteigung 1850 brach in der südlichen Küstenprovinz Guangxi die größte Bauernrevolte in der chinesischen Geschichte aus, der Taiping-Aufstand. Nach einer Hungersnot hatten dort Zehntausende Bauern in ihrer Verzweiflung zu diesem letzten Mittel gegriffen, dem bewaffneten Aufstand, ungeachtet der entsetzlichen Folgen, die ihnen drohten. Die obligatorische Strafe für die Anführer war ling-chi, »Tod durch tausend Schnitte«; dabei wurde der Verurteilte öffentlich in Stücke geschnitten. Aber selbst diese Aussicht schreckte die Bauern, die den qualvollen Hungertod vor Augen hatten, nicht ab, und die Armee der Taiping-Rebellen wuchs rasch auf mehrere hunderttausend Mann an. Ende März 1853 erfasste der Aufstand die alte südliche Hauptstadt Nanjing, dort errichteten die Rebellen einen konkurrierenden Staat, das Himmlische Königreich Taiping. Als Kaiser Xianfeng die Nachricht erhielt, brach er vor seinen Beamten in Tränen aus.15
Und das war nicht sein einziger Kummer. In den meisten der achtzehn Provinzen diesseits der Großen Mauer tobten ebenfalls Aufstände. Unzählige Weiler, Dörfer und Städte wurden verwüstet. Das Reich befand sich derartig im Aufruhr, dass der Kaiser sich genötigt sah, 1852 eine Kaiserliche Entschuldigung herauszugeben.16 Die »Entschuldigung« war die höchste Form, in der der Herrscher dem Land seine Reue zeigte.
Kurz danach kam Cixi an den Hof. Die Probleme ihres Ehemannes warfen ihre Schatten bis in die Tiefen der Verbotenen Stadt. Die staatliche Silberreserve schrumpfte auf den historischen Tiefstand von 290 000 Tael. Um seine Soldaten bezahlen zu können, öffnete Kaiser Xianfeng die Schatulle des kaiserlichen Haushalts, bis dort nur noch 41 000 Tael verblieben, kaum genug, um die täglichen Ausgaben zu decken. Kostbarkeiten in der Verbotenen Stadt wurden eingeschmolzen, darunter drei riesige Glocken aus purem Gold.17 Seinen Gemahlinnen schrieb er eigenhändig strenge Ermahnungen wie die folgende:
Keine großen Ohrstecker oder Ohrringe aus Jade.
Nicht mehr als zwei juwelenbesetzte Blumen im Haar, wer drei trägt, wird bestraft.
Höchstens ein cun [rund 2,5 Zentimeter] für die Erhöhung der Schuhe, wessen Schuhe höher als eineinhalb cun sind, wird bestraft.18
Die Katastrophen des Reichs betrafen auch direkt Cixis Familie, mit der sie in Kontakt blieb. Vor ihrer Aufnahme am Hof war ihr Vater in die südöstliche Provinz Anhui in der Nähe von Shanghai versetzt worden, als Gouverneur einer Region, die 28 Kreise verwaltete. Sein Amtssitz war Wuhu, eine blühende Stadt am Jangtse. Aber Wuhu lag nicht weit vom Schlachtfeld des Taiping-Aufstands, und nach einem Jahr musste ihr Vater fliehen, als Rebellen die Stadt angriffen. Voller Angst vor dem Zorn des Kaisers – einige Beamte, die von ihren Posten geflohen waren, hatte man geköpft – und erschöpft von der Flucht wurde Huizheng krank und starb im Sommer 1853.19
Nach dem Tod des Vaters, dem Cixi sehr nahegestanden hatte, wollte sie unbedingt etwas tun, um dem Reich zu helfen – und ihrem Gemahl. Offenbar versuchte sie dem Kaiser Vorschläge zu unterbreiten, wie er auf die Unruhen reagieren sollte. In ihrer eigenen Familie hatte sie erlebt, dass ihr Rat gesucht und befolgt wurde, und so nahm sie wohl an, dass auch Xianfeng ihren Rat schätzen würde. Aber ihre Einmischung ärgerte ihn. Am Hof der Qing-Dynastie galt die alte chinesische Tradition, wonach es kaiserlichen Gemahlinnen strikt verboten war, bei Staatsangelegenheiten mitzureden. Kaiser Xianfeng wies Kaiserin Zhen an, sie solle wegen Cixi etwas unternehmen; dabei beschrieb er ihre Ratschläge mit abschätzigen Worten – »listig und unheimlich«.20 Cixi hatte eine Grundregel verletzt und riskierte, mit dem Tod bestraft zu werden.IV Es wurde sogar behauptet, Kaiser Xianfeng habe einen privaten Erlass an Kaiserin Zhen gerichtet, dem zufolge er besorgt sei, Cixi könnte sich nach seinem Tod in Staatsangelegenheiten einmischen, und falls es tatsächlich so kommen sollte, müsse sie, Kaiserin Zhen, den Erlass den Prinzen zeigen und dafür sorgen, dass Cixi »beseitigt« würde.21 Angeblich ging Kaiserin Zhen mit dem Papier nach dem Tod ihres gemeinsamen Gemahls zu Cixi und verbrannte es dann.
Kaiserin Zhen war eine mutige Frau, ihre Zeitgenossen priesen darüber hinaus auch ihre Freundlichkeit. Wenn der Kaiser über eine Konkubine verärgert war, vermittelte sie.22 Nun legte sie offenbar ein gutes Wort für Cixi ein. Womöglich argumentierte sie, Cixi habe nur versucht – vielleicht ein wenig zu sehr –, ihre Liebe und Sorge für Seine Majestät zum Ausdruck zu bringen. Dass Kaiserin Zhen Cixi in dieser sehr gefährlichen Situation schützte, legte den Grundstein für Cixis lebenslange Ergebenheit ihr gegenüber. Die Gefühle waren durchaus wechselseitig. Cixi verheimlichte der Kaiserin nie etwas. Obwohl sie mit ihrer Stellung ganz unten in der Hierarchie der Konkubinen unzufrieden gewesen sein dürfte und miterlebte, wie Zhen zur Kaiserin aufstieg, tat sie nie etwas, um der Kaiserin zu schaden. Selbst ihre schlimmsten Feinde erhoben keine derartigen Vorwürfe. Falls Cixi Eifersucht verspürte, was in ihrer Position unvermeidlich gewesen sein dürfte, hielt sie sie jedenfalls gut unter Kontrolle und duldete nicht, dass sie ihre Beziehung zur Kaiserin beeinträchtigte. Cixi war vielleicht nicht hübsch, aber sie war klug. Statt Rivalinnen wurden die beiden Frauen gute Freundinnen, die Kaiserin gebrauchte Cixi gegenüber sogar die vertrauliche Anrede »jüngere Schwester«.23 Tatsächlich war sie ein Jahr jünger als Cixi, aber die Anrede spiegelte ihren höheren Rang als Kaiserin wider.
Womöglich setzte sich Kaiserin Zhen dafür ein, dass der Kaiser Cixi 1854 von Rang sechs in Rang fünf erhob, heraus aus der untersten Gruppe. Mit der Beförderung verlieh er ihr einen neuen, sorgfältig ausgesuchten Namen: Yi, das bedeutet »vorbildlich«.24 Ein spezieller Erlass, vom Kaiser eigenhändig mit scharlachroter Tusche geschrieben, die die Autorität des Herrschers symbolisierte, verkündete Cixis neuen Namen und ihre Beförderung. Die neue Würde wurde ihr im Rahmen einer Zeremonie verliehen, bei der die Eunuchen aus der Musikabteilung des Hofes Glückwunschkompositionen für sie spielten.
Die Episode lehrte Cixi, dass sie in Staatsangelegenheiten ihre Zunge hüten musste, wenn sie am Hof überleben wollte. Da sie die Probleme der Dynastie klar sah, war das schwierig. Die siegreichen Taiping-Rebellen festigten nicht nur ihre Stützpunkte in Südchina, sondern schickten überdies Trupps in Vorbereitung eines Angriffs auf Beijing aus. Cixi wusste, dass sie gute Ideen hatte – tatsächlich wurden unter ihrer Herrschaft später die Taiping-Aufständischen geschlagen. Aber sie durfte dazu nichts sagen und mit ihrem Gemahl nur über unpolitische Themen wie Musik und Kunst plaudern. Kaiser Xianfeng war ein kunstsinniger Mann, in seiner Jugend hatte er bemerkenswert gute Bilder gemalt (Personen, Landschaften und Pferde mit sanften Augen). Cixi konnte ebenfalls malen. Als junges Mädchen zeichnete sie Stickmuster, in späteren Jahren widmete sie sich der Malerei und Kalligrafie. So hatte sie wenigstens ein gemeinsames Interesse als Gesprächsthema mit ihrem Ehemann. Auch die Oper verband die beiden. Kaiser Xianfeng sah sich nicht nur gerne Opern an, er komponierte auch, schrieb Gedichte und führte bei Vorstellungen Regie. Er trat sogar selbst in Schminke auf. Begierig, seine Fähigkeiten zu verbessern, holte er Schauspieler, die in seiner Gegenwart die Eunuchen unterwiesen; er lernte durch Zuschauen. Seine liebsten Instrumente waren Flöte und Trommel, beide spielte er gut. Cixis lebenslange Liebe zur Oper sollte später dazu beitragen, dass eine raffinierte Kunstform entstand.
Am 27. April 1856 gebar Cixi einen Sohn. Dieses Ereignis veränderte ihr Leben.
I Es gibt die Vermutung, ihr Geburtsname sei Lan gewesen, was »Magnolie« oder »Orchidee« bedeutet. Tatsächlich wurde das ihr Name, als sie an den Hof kam. Ihre Nachfahren sagen, ihr Name sei Xing gewesen, »Mandel«. Das Schriftzeichen dafür wird genauso ausgesprochen wie das Zeichen für »Glück«. (Professor Wang hat überzeugend dargelegt, dass Lan nicht Cixis Geburtsname war: Wang Daocheng 1984, S. 216 ff. Siehe auch Yehenala Genzheng und Hao Xiaohui 2007, S. 13.)
II Die Han-Chinesen, die in der Mandschurei der Mandschu-Armee angehört hatten, galten als Mandschu.
III Die »Reste« wurden verwertet. Ein früherer Kaiser hatte angeordnet, dass die Diener bekommen sollten, was übrig blieb, und was sie nicht verbrauchten, sollte an die Katzen und Hunde verfüttert werden. Selbst Abfälle wurden nicht weggeworfen, sondern getrocknet als Vogelfutter ausgelegt (Jin Liang 1933, S. 27).
IV Manchmal wurde behauptet, Cixi habe ihrem Gatten beim Lesen offizieller Berichte und bei der Abfassung von Anweisungen geholfen. Aber dafür gibt es keine Belege.
2 Vom Opiumkrieg bis zu dem großen Brand im Alten Sommerpalast
2
Vom Opiumkrieg bis zu dem großen Brand
im Alten Sommerpalast
(1839–1860)
Die Geburt von Cixis Sohn, dem ersten männlichen Nachkommen des Kaisers, war ein großes Ereignis am Hof. Kaiser Xianfeng hatte bis dahin nur eine Tochter, die Große Prinzessin, von einer Konkubine, die zusammen mit Cixi an den Hof gekommen war. Aber Frauen konnten die dynastische Linie nicht fortsetzen. Zur Geburt von Cixis Sohn wurde eine Akte angelegt mit dem Titel »Die kaiserliche Konkubine Yi hat glücklich einen Großen Prinzen geboren«.1 Daraus geht hervor, dass entsprechend einer umsichtigen Regel des kaiserlichen Haushalts Cixis Mutter einige Monate vor der Niederkunft in die Verbotene Stadt eingeladen worden war, damit sie sich um ihre Tochter kümmern konnte. An einem glückverheißenden Tag, den der Hofastrologe bestimmt hatte, wurde hinter Cixis Gemächern ein »Loch des Glücks« ausgehoben, dabei wurden »Glückgesänge« rezitiert. In das Loch legte man in rote Seide eingewickelte Essstäbchen und acht kostbare Gegenstände, darunter Gold und Silber. Das Wort für »Essstäbchen« wird genauso ausgesprochen, kuai-zi, wie die Wendung »einen Sohn rasch gebären«. In dem Loch sollten später die Nachgeburt und die Nabelschnur begraben werden.
Seidenstoffe aller Art, feinste Baumwolle und Musselin für Babykleidung und Bettzeug wurden vorbereitet. Zahllose Frauen, die schon Kinder geboren hatten, wurden befragt. Zusammen mit den Ärzten aus dem Kaiserlichen Krankenhaus sollten diese erfahrenen Frauen immer an Cixis Seite sein, sobald ihre Schwangerschaft den siebten Monat erreichte. Nach den Regeln des Hofes war das zwar erst für den achten Monat vorgesehen, aber Kaiser Xianfeng war sehr besorgt und ordnete die Sonderregelung an. Er wurde permanent über die Entwicklung von Cixis Schwangerschaft auf dem Laufenden gehalten. Kaum hatte das Kind das Licht der Welt erblickt, eilte der Obereunuch in seine Gemächer und verkündete: »Die Kaiserliche Konkubine Yi hat soeben einen Prinzen geboren.« Weiter berichtete er, die kaiserlichen Ärzte hätten »den Pulsschlag von Mutter und Sohn ruhig gefunden«. (Der Puls gilt als der wichtigste Anhaltspunkt für den Gesundheitszustand.) Alle riefen: »Welch große Freude für unseren Herrn der Zehntausend Jahre!«
Überglücklich beförderte Kaiser Xianfeng Cixi umgehend in einen höheren Rang. Der gesamte Hof feierte das Baby überschwänglich, das den Namen Zaichun erhielt. Am dritten Tag wurde der kleine Prinz in einer großen Schüssel aus purem Gold gründlich gewaschen, Datum, Zeit (Mittag) und Position (mit dem Gesicht nach Süden) hatte der Hofastrologe zuvor genauestens errechnet. Dann wurde der Säugling unter Fanfarenklängen offiziell in die Wiege gebettet. Weitere Festlichkeiten fanden einen Monat nach der Geburt statt, dabei bekam er auch seinen ersten Haarschnitt. An seinem ersten Geburtstag breitete man eine Fülle von Gegenständen um ihn herum aus, sodass er danach greifen konnte: Aus seiner Wahl glaubte man seine künftigen Neigungen zu erkennen. Als Erstes griff er nach einem Buch – tatsächlich entwickelte er später eine regelrechte Phobie vor Büchern. Bei seinem Geburtstag wie auch bei anderen Gelegenheiten wurde er stets mit Geschenken überschüttet. Das Schenken spielte damals eine immens große Rolle, man nutzte jede Gelegenheit für Geschenke. Am Hof verging kaum ein Tag, an dem nicht Geschenke gebracht oder verschickt wurden oder man sich gegenseitig Geschenke überreichte. Am Ende seines ersten Lebensjahrs hatte Cixis Sohn rund 900 Gegenstände aus Gold, Silber, Jade und anderen Edelsteinen erhalten, dazu über 500 Kleidungsstücke und Bettzeug aus den feinsten Stoffen.
Dank ihres Sohnes war Cixi bald die unangefochtene Nummer zwei unter den kaiserlichen Gemahlinnen, nur Kaiserin Zhen stand über ihr. Ihre Position festigte sich noch, als der zweite Sohn des Kaisers, den ihm zwei Jahre später eine andere Konkubine gebar, nach nur wenigen Stunden starb, noch bevor er einen Namen bekommen hatte.2 Aus ihrer starken Position heraus konnte Cixi ihren Ehemann bewegen, dass er ihre achtzehnjährige Schwester mit einem seiner Halbbrüder, dem neunzehnjährigen Prinzen Chun, verheiratete.3 Gemahlinnen der Prinzen mussten vom Kaiser aus der Auswahl von Kandidatinnen ausgesucht werden, die seine eigenen Gemahlinnen ihm vorschlugen. Cixi hatte Prinz Chun öfter bei Opernaufführungen gesehen. Bei solchen Gelegenheiten waren Männer und Frauen zwar durch einen Wandschirm getrennt, aber Neugierige fanden immer eine Gelegenheit, einen Blick auf das andere Geschlecht zu werfen. Von den Logen, in denen die Frauen des kaiserlichen Hofstaats mit übergeschlagenen Beinen auf Kissen saßen, konnten sie die Männer beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Die amerikanische Missionsärztin Mrs. Isaac Headland, die (später) viele adlige Damen behandelte, darunter auch Cixis Mutter, schrieb: »Die zarten kleinen Damen haben ihre spezielle Neugier und ihre eigenen Mittel, herauszufinden, wer wer ist unter diesen vielen mit Drachen geschmückten Säulen des Staates, denn ich erhielt immer eine rasche Antwort, wenn ich nach dem Namen eines gut aussehenden oder distinguierten Gastes fragte.«4 Cixi machte es sich zur Aufgabe, den Charakter von Prinz Chun zu erkunden, und tatsächlich sollte er ihr später große Dienste erweisen.
Unterdessen widmete sich Cixi ihrem Sohn. Die Regeln des Hofes verboten ihr, ihn selbst zu stillen, und die Hofärzte verordneten ihr Kräutermedizin, um den Milchfluss zu stoppen. Eine Amme aus einer einfachen Mandschu-Familie, die die Anforderungen des Hofes erfüllte, wurde eingestellt. Um ihre Milchproduktion anzuregen, hatte sie die Anweisung, »täglich eine halbe Ente oder Schweinehaxen oder den vorderen Teil von Schweinelungen« zu essen.5 Der kaiserliche Haushalt bezahlte auch dafür, dass die Amme sich eine Amme für ihr eigenes Kind nehmen konnte.
Kaiserin Zheng war offiziell die Mutter des Kindes und hatte den Vorrang gegenüber Cixi. Aber das führte nicht zu Reibereien zwischen den beiden Frauen, das Kind wuchs vielmehr mit zwei hingebungsvollen Müttern auf. Als der Junge größer wurde, hatte er eine Spielkameradin: seine ältere Schwester, die Große Prinzessin. Hofmaler stellten die beiden Kinder dar, wie sie in den Palastgärten zusammen spielten, der kleine Junge in einem indigoblauen Gewand, das in der Mitte von einem roten Gürtel zusammengehalten wurde, das Mädchen in Grün mit einer roten Weste und Blumen im Haar. Auf einem Gemälde stehen sie vor einem Gartenhaus unter einer Weide und angeln, vor ihnen liegt ein mit Lotosblüten bedeckter See. Auf einem anderen Gemälde, das eine Szene zu Frühlingsanfang zeigt, blühen weiße Magnolien neben einer immergrünen Kiefer; der Junge und das Mädchen tragen kleine Mützen, der Prinz hat ein dickes Gewand an, das blassblau gesäumt ist. Anscheinend halten sie zwischen den knorrigen Wurzeln alter Bäume und großen Steinen nach Insekten Ausschau, die wohl gerade aus dem langen Winterschlaf erwachen. Auf den Bildern erscheint der Junge immer doppelt so groß wie seine ältere Schwester.
Hinter diesen friedlichen, idyllischen Szenen aus der frühen Kindheit von Cixis Sohn ging die Unruhe im Reich weiter. Im Süden wütete immer noch der Taiping-Aufstand, an vielen anderen Orten gab es blutige Rebellionen. Und dann wurde alles noch viel schlimmer, weil fremde Mächte ins Land kamen.
Die Gründe für die anglo-französischen Invasionen in Nordchina 1858–1860 reichten mehr als hundert Jahre zurück. 1757 schottete der damalige Kaiser Qianlong, der sechzig Jahre über China herrschte (1736–1795) und wegen seiner Leistungen oft als »Qianlong der Großartige« bezeichnet wird, das Land gegenüber der Außenwelt ab. Nur eine Hafenstadt, Kanton, blieb für Handel offen. Dem Kaiser war vor allem anderen die Kontrolle über sein riesiges Reich wichtig, und Abschottung erleichterte die Kontrolle. Aber Großbritannien dürstete nach Handel. Aus China importierte es vorwiegend Seide und Tee, der damals ausschließlich in China angebaut wurde. Allein der Tee brachte durch Importzölle mehr als drei Millionen Pfund jährlich in die britische Staatskasse, genug, um die Hälfte der Ausgaben der Royal Navy zu decken. 1793 traf eine britische Gesandtschaft mit dem Anliegen in Beijing ein, Kaiser Qianlong möge mehr Häfen für den Handel öffnen. Der Anführer der Delegation, Lord Macartney, tat sein Möglichstes, um allen chinesischen Wünschen zu entsprechen, und akzeptierte, dass die Schiffe und Wagen, mit denen die Gesandten reisten, Flaggen mit chinesischen Schriftzeichen trugen: »Der englische Gesandte leistet dem Kaiser von China Tribut.«6 Um eine Audienz beim Kaiser zu bekommen, führte Macartney sogar den obligatorischen san-gui-jiu-kou aus: Er kniete dreimal vor dem Kaiser nieder und berührte neunmal mit der Stirn den Boden. Macartney hatte das zunächst abgelehnt und ließ sich nur sehr widerstrebend darauf ein, weil er wusste, dass der Kaiser ihn sonst nicht empfangen würde.V
Kaiser Qianlong behandelte Lord Macartney mit, wie die Engländer sagten, »allen äußeren Zeichen von Wohlwollen und Respekt«, aber mehr Handel wollte er auf keinen Fall zulassen. Um dem Kaiser zu zeigen, was die Briten anzubieten hatten, übergab Lord Macartney neben anderen Geschenken zwei Berghaubitzen mitsamt Lafetten, Protzen und Munition. Der Kaiser rührte sie nicht an und ließ sie im Alten Sommerpalast einlagern. In seinem Antwortschreiben an König Georg III. wies er sorgfältig Punkt für Punkt die britischen Wünsche zurück. Mehr Häfen für den Handel zu öffnen sei »unmöglich«; dass Großbritannien eine kleine Insel vor der chinesischen Küste erhalte als Warenlager und Niederlassung für Händler, sei ausgeschlossen; und dass ein britischer Gesandter in der Hauptstadt stationiert werde, komme »absolut nicht infrage«. Lord Macartney hatte außerdem ersucht, christliche Missionen ins Land zu lassen, worauf der Kaiser antwortete: »Das Christentum ist die Religion des Westens, und diese Himmlische Dynastie hat ihren eigenen Glauben, den unsere heiligen und weisen Herrscher uns geschenkt haben, die es ermöglichten, dass unsere 400 Millionen Untertanen in geordneter Weise geleitet werden. Die Köpfe unseres Volkes dürfen nicht durch einen Ketzerglauben verwirrt werden … Die Chinesen und die Ausländer müssen strikt getrennt bleiben.«
Der Kaiser behauptete, seine »Himmlische Dynastie besitzt alle Dinge im Überfluss und entbehrt innerhalb ihrer Grenzen keine Waren«, deshalb brauche man nichts aus dem Ausland. Er erlaube Handel nur über einen Hafen aus Rücksicht auf die Ausländer, die ohne die chinesischen Waren nicht auskämen. Diese großspurigen Worte waren weder richtig, noch entsprachen sie dem, was der Kaiser tatsächlich dachte. Die Zolleinnahmen aus Kanton machten einen großen Teil der Staatseinnahmen aus – 1790, drei Jahre vor Lord Macartneys Gesandtschaft, über 1,1 Millionen Silbertael.7 Ein erheblicher Teil des Geldes ging an den Hof, dessen jährliche Ausgaben sich auf 600 000 Tael beliefen. Kaiser Qianlong wusste das sehr genau, denn er studierte regelmäßig die Bücher. Auch über die wissenschaftlichen und technischen Leistungen der Europäer war er im Bilde. Den chinesischen Kalender, nach dem sich die landwirtschaftliche Produktion im Land richtete, hatten europäische Jesuiten im 17. Jahrhundert ersonnen, vor allem Ferdinand Verbiest, der im Dienst von Kaiser Kangxi (1661–1722) gestanden hatte, Qianlongs Großvater. Seit damals waren am Kaiserlichen Observatorium in Beijing immer Jesuiten tätig gewesen und hatten europäische Geräte verwendet. Auch für Kaiser Qianlong arbeiteten zu der Zeit Jesuiten. Selbst die chinesische Landkarte wurde unter Qianlong (genau wie unter Kangxi) von Missionaren erstellt, die mit europäischen Methoden das Land vermaßen.
Letztlich veranlasste Qianlong die Sorge, die Kontrolle über China zu verlieren, dazu, Macartneys Anfrage entschieden zurückzuweisen, so wie sie ihn zuvor veranlasst hatte, die Tore nach außen zu schließen. Die Kontrolle des Kaisers über sein riesiges Reich beruhte auf der vollkommenen, bedingungslosen Unterwerfung der Bevölkerung. Kontakte zu Ausländern konnten womöglich diesen blinden Gehorsam stören und stellten darum eine Gefahr für den Thron dar. Aus Qianlongs Sicht konnte das Land außer Kontrolle geraten, wenn es nicht abgeschottet war und die Menschen mit ausländischen Einflüssen in Berührung kamen – besonders da sich bereits Unruhe regte. Unter der Qing-Dynastie hatte bedeutender Wohlstand geherrscht, begünstigt durch über lange Perioden gutes Wetter (unter Kaiser Kangxi rund fünfzig Jahre lang8), doch gegen Ende des 18. Jahrhunderts setzte ihr Niedergang ein. Das hing hauptsächlich mit einem explosiven Bevölkerungswachstum zusammen, teils eine Folge davon, dass sehr produktive Kulturpflanzen wie Kartoffeln und Getreide aus Amerika eingeführt wurden.9 Zur Zeit von Lord Macartneys Besuch hatte sich die chinesische Bevölkerung innerhalb von hundertfünfzig Jahren auf über 300 Millionen Menschen mehr als verdoppelt, fünfzig Jahre später waren es bereits 400 Millionen. Die traditionelle Wirtschaft des Landes war mit diesem enormen Bevölkerungswachstum überfordert. Lord Macartney notierte: »Kaum ein Jahr vergeht ohne eine Erhebung in einer der Provinzen. Zwar werden sie rasch niedergeschlagen, aber ihre Häufigkeit ist ein deutliches Symptom des im Land herrschenden Fiebers. Die Krise wird abgewendet, aber die Krankheit ist nicht geheilt.«
Kaiser Qianlong warf Lord Macartney praktisch aus dem Land und richtete ein aggressives Schreiben an König Georg III., in dem er drohte, britische Lastschiffe, die an chinesische Küsten gelangen sollten, zurückzuschicken. Der Brief endete mit den Worten: »Werft mir nicht vor, ich hätte Euch nicht gewarnt!« Qianlong verhielt sich wie ein Tier, das die Nackenhaare sträubt, wenn es Gefahr wittert. Seine Politik der geschlossenen Tür erwuchs aus Besorgnis und Berechnung, nicht aus Unwissenheit und Verblendung, wie oft behauptet wurde.
Qianlongs Nachfolger, sein Sohn und sein Enkel, hielten an dieser Politik fest, während das Reich immer schwächer wurde. Dann, ein halbes Jahrhundert nach Lord Macartneys gescheiterter Mission, wurde die Tür im Opiumkrieg (1839–1842), dem ersten militärischen Zusammenstoß Chinas mit dem Westen, von den Briten weit aufgestoßen.
Das Opium wurde in Britisch-Indien erzeugt und von (überwiegend) britischen Händlern nach China geschmuggelt. In China waren Import, Anbau und das Rauchen von Opium seit 1800 verboten, weil man wusste, welch gewaltigen Schaden die Droge der Wirtschaft und den Menschen zufügte. In einer zeitgenössischen Beschreibung von Opiumsüchtigen heißt es: »Ihre Schultern hängen herab, die Augen sind wässrig, die Nase läuft, der Atem geht stoßweise, sie sehen mehr tot als lebendig aus.« Es herrschte große Angst, dass – sollte die Sucht sich ausbreiten – das Land bald keine fähigen Soldaten und Arbeitskräfte mehr haben würde, von Silber, dem Zahlungsmittel, ganz zu schweigen. Im März 1839 schickte Kaiser Daoguang, Cixis späterer Schwiegervater, einen Drogenbekämpfer, Lin Zexu, als Kaiserlichen Kommissar nach Kanton, wo ausländische Schiffe vor Anker lagen. Kommissar Lin verlangte, dass die Händler ihm alles übergeben sollten. Die Händler widersetzten sich, woraufhin er das Wohngebiet der Ausländer abriegeln ließ und erklärte, sie würden erst freigelassen, wenn alles Opium, das sich in chinesischen Gewässern befinde, übergeben worden sei. Letzten Endes wurden Kommissar Lin 20 813 Kisten mit Opium ausgehändigt, mehr als 1 Million Kilogramm, und er hob daraufhin die Abriegelung auf. Er ließ das Opium vor den Toren von Kanton vernichten: Erst wurde es geschmolzen und dann ins Meer gekippt. Bevor der Kommissar die Droge dem Meer übergab, vollzog er ein Opferritual für den Gott des Meeres, in dem er ihn bat, er möge »den Fischen sagen, dass sie diesen Platz verlassen, um dem Gift zu entgehen«.10
Kommissar Lin wusste, »das Oberhaupt Englands ist eine Frau, eine ziemlich junge, aber alle Befehle kommen von ihr«. Er verfasste einen Brief an Königin Victoria, die seit 1837 auf dem Thron saß, und bat sie um Kooperation. »Ich höre, das Opiumrauchen ist in England streng verboten«, schrieb Lin. »Also weiß England um die Schädlichkeit der Droge. Wenn es nicht duldet, dass Opium sein eigenes Volk vergiftet, sollte es auch nicht dulden, dass es die Völker anderer Länder vergiftet.« Kaiser Daoguang war mit dem Brief einverstanden.11 Wir wissen nicht, wem der Kommissar den Brief anvertraute; es gibt keinen Hinweis, dass Königin Victoria ihn erhielt.VI
Große Handelsfirmen und die Handelskammern von London bis Glasgow waren in Aufruhr. Es hieß, Lins Vorgehen »verletze« britisches Eigentum und man solle für »Genugtuung und Entschädigung« in den Krieg ziehen. Außenminister Lord Palmerston, ein Verfechter der »Kanonenboot-Diplomatie«, sprach sich für Krieg aus. Am 8. April 1840 debattierte das Parlament über die Angelegenheit. Ein junger Abgeordneter der Tories, der spätere Premierminister William Gladstone, warnte leidenschaftlich:
Ich kann mir keinen Krieg denken und ich habe noch von keinem gelesen, dessen Ursprung ungerechter wäre und dessen Fortschritt dieses Land mehr mit dauerhafter Schande bedecken würde. Der ehrenwerte Gentleman gegenüber sprach gestern Abend so anschaulich davon, dass die britische Flagge glorreich über Kanton wehen werde … aber nun wird die Flagge mit Billigung des edlen Lords geschwenkt, um einen schändlichen Schmuggelhandel zu schützen … Nein, ich bin sicher, dass die Regierung Ihrer Majestät niemals mit diesem Antrag das Haus überzeugen wird, diesen unrechten und ungerechten Krieg zu billigen.12
Aber ein Misstrauensantrag der Opposition, der Tories, wurde mit 271 zu 262 Stimmen, neun Stimmen Mehrheit, abgelehnt. In den nächsten beiden Jahren griffen Dutzende britischer Kriegsschiffe und 20 000 Soldaten (darunter 7 000 Angehörige der indischen Truppen) die chinesische Küste im Süden und Osten an, besetzten Kanton und kurz auch Shanghai. China, das keine Kanonenboote besaß und nur eine schlecht ausgerüstete Armee, wurde besiegt und musste 1842 den Vertrag von Nanjing unterzeichnen, der unter anderem eine Entschädigungszahlung in Höhe von 21 Millionen Silberdollar vorsah.VII
Der Opiumschmuggel florierte nach diesem Ausgang. Die Lieferungen von Kalkutta nach Bombay stiegen schnell auf das Doppelte und verdreifachten sich bis zum Ende des nächsten Jahrzehnts: von 15 619 Kisten 1840 über 29 631 Kisten 1841 auf 47 681 Kisten 1860. China musste sich der Realität beugen, dass der Kampf gegen die Droge aussichtslos war, und legalisierte im Oktober 1860 den Opiumhandel. Opium hieß damals »die ausländische Droge« (yang-yao) und war fest mit dem Westen verbunden. Die amerikanische Missionsärztin Mrs. Headland erinnerte sich: »Häufig, wenn ich in ein chinesisches Haus gerufen wurde, bot man mir die Opiumpfeife an, und dass ich ablehnte, verwunderte die Frauen. Sie sagten, sie hätten den Eindruck, alle Ausländer rauchten Opium.«
Der Vertrag von Nanjing zwang China, neben Kanton noch weitere Häfen für den Handel zu öffnen. Diese sogenannten Vertragshäfen waren westliche Niederlassungen und unterlagen westlichen Gesetzen, nicht chinesischen. Ein solcher Vertragshafen war Shanghai. Eine spezielle Klausel im Vertrag »übergab« Hongkong an Großbritannien für seine Schiffe und Waren. Hongkong war damals ein von der Sonne ausgedörrter, unfruchtbarer Flecken Erde mit ein paar wenigen Bäumen zwischen zerklüfteten Felsen und einigen verstreuten Fischerhütten. Die westliche Niederlassung in Shanghai war nicht viel mehr als ein Streifen Sumpfland neben ein paar Feldern. In dieser Wildnis sollten einmal zwei spektakuläre internationale Metropolen in die Höhe wachsen, erbaut mit chinesischer Arbeitskraft und ausländischem, vorwiegend britischem Geld und unter britischer Leitung. Später, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, schrieb ein führender Diplomat von Cixi, Wu Tingfang, über Hongkong:
[D]ie britische Regierung hat Jahr für Jahr große Summen Geldes für seine Verbesserung und Entwicklung aufgewendet, und durch die kluge Verwaltung der örtlichen Regierung wurde jede Voraussetzung für den freien Handel geschaffen. Hongkong ist nun eine blühende britische Kolonie … Der Wohlstand der Kolonie hängt von Chinesen ab, die, unnötig, es zu erwähnen, all die Privilegien genießen, deren sich die britischen Bewohner erfreuen … Ich muss zugeben, dass die britische Regierung in Hongkong viel Gutes getan hat. Sie hat den Chinesen ein funktionierendes Modell der westlichen Regierungsweise vor Augen gestellt, die … ein unfruchtbares Land in eine blühende Stadt verwandelt hat … Die unparteiische Anwendung des Rechts und die menschliche Behandlung von Verbrechern wecken bei den Einheimischen unweigerlich Bewunderung und Vertrauen.13
Der Opiumkrieg zwang China, westliche Missionare ins Land zu lassen, was diesen seit mehr als hundert Jahren verwehrt gewesen war. Nach dem Krieg nutzten die Franzosen, die wenig Handel mit China trieben und denen es nur um die Verbreitung des katholischen Glaubens ging, den europäischen Sieg und setzten sich sehr dafür ein, den Bann gegen die Missionare aufzuheben. Kaiser Daoguang leistete zunächst Widerstand. Aber dann, verwirrt und von seinem Charakter her zur Unschlüssigkeit neigend, gab er dem unablässigen Drängen der Franzosen nach, das ihm sein Kommissar Qiying, der für die Verhandlungen mit den Westlern zuständig war, übermittelte. Qiying empfahl Zustimmung. Ein historischer Erlass vom 20. Februar 1846 hob den Bann gegen die christlichen Missionen auf, allerdings nur für die Vertragshäfen. Im übrigen China blieb alles beim Alten.