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Jung Chang

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Beschreibung

Mythos und Massenmörder – die Wahrheit über Mao Tse-tung

Es war nicht das Wohl seines Volkes, das Mao Tse-tung, dem Großen Vorsitzenden der Volksrepublik China, am Herzen lag. Es war auch nicht die kommunistische Ideologie, obwohl er ihren weltweiten Sieg anstrebte. Das Motiv von Maos Handeln war ausschließlich und zu jeder Zeit sein absoluter Wille zur Macht. Ob auf persönlicher, auf nationaler, auf internationaler Ebene – sein Machthunger war grenzenlos. Mao Tse-tung hat nicht alle, aber viele seiner Ziele erreicht, und China hat teuer dafür bezahlt: mit dem Leben von 70 Millionen Menschen.

Kein Buch über China hat je mehr Leser und Anhänger gefunden als Jung Changs Erinnerungsbuch WILDE SCHWÄNE, das in 30 Sprachen übersetzt und zehn Millionen Mal verkauft wurde. Jetzt erscheint ihr lang erwartetes neues Werk – eine bahnbrechende Biographie über Mao Tse-tung, den Mann, dem es gelang, sich auf vielfach gewundenen Pfaden zum Alleinherrscher über Hunderte Millionen Menschen aufzuschwingen.

Jung Chang hat die letzten zwölf Jahre damit verbracht, allen Spuren dieses Menschen nachzugehen, der zu den einflussreichsten politischen Gestalten des 20. Jahrhunderts gehörte, dessen Aura Staatsmänner in aller Welt beeindruckte, und dessen Gedanken und Worte in millionenfacher Verbreitung in zahllosen Ländern auf Begeisterung stießen. Doch der Mann, den sie in ihrem Buch für den Leser lebendig werden lässt, weist ganz andere Züge auf – es sind sehr viel hässlichere.
Die jahrelangen Recherchen in allen relevanten Archiven und die zahllosen Gespräche mit Zeitzeugen – mit Politikern in Ost und West, die mit Mao in Berührung gekommen waren, mit unbekannten chinesischen Betroffenen, mit Führungsfiguren aus Maos engsten Zirkeln, die sich nie zuvor geäußert hatten – haben die Autorin in die Lage versetzt, endlich und zum ersten Mal ein wahrheitsgetreues, ein realistisches Bild jener Epoche aufzuzeigen, kein von kommunistischen oder persönlichen Machtinteressen gefärbtes und verbrämtes. Und so gelingt es ihr, die Wahrheit hinter zahlreichen, von den Kommunisten gehegten und gepflegten Mythen ans Licht zu bringen und viele, teils von Mao vorsätzlich und gekonnt verbreitete Falschdarstellungen zu entlarven.

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Inhaltsverzeichnis

TEIL EINS - Halbherziger Anhänger
1 - Eintritt in die Moderne (1893–1911, 1–17 Jahre)2 - Die Entwicklung zum Kommunisten (1911–1920, 17–26 Jahre)3 - Halbherziger Anhänger (1920–1925, 26–31 Jahre)4 - Aufstieg und Fall in der Nationalistischen Partei (1925–1927, 31–33 Jahre)
TEIL ZWEI - Der Lange Marsch zur Herrschaft in der Partei
5 - Die Entführung einer Roten Macht und die Übernahme von Banditenland (1927–1928, 33–34 Jahre)6 - Der Oberbefehlshaber der Roten Armee wird unterworfen (1928–1930, 34–36 Jahre)7 - Maos Machtstreben führt zum Tod seiner zweiten Frau (1927–1930, 33–36 Jahre)8 - Ein blutiger Aufstand ebnet den Weg für den »Vorsitzenden Mao« (1929–193 1, 35–37 Jahre)9 - Mao und der erste kommunistische Staat (1931–1934, 37–40 Jahre)10 - Vom Unruhestifter zur Galionsfigur (1931–1934, 37–40 Jahre)11 - Wie Mao sich auf den Langen Marsch begab (1933–1934, 39–40 Jahre)12 - Der Lange Marsch I: Chiang lässt die Kommunisten ziehen (1934, 40 Jahre)13 - Der Lange Marsch II: Die Macht hinter dem Thron (1934–1935, 40–41 Jahre)14 - Der Lange Marsch III: Die Monopolisierung der Verbindung zu Moskau (1935, 41 Jahre)
TEIL DREI - Das Fundament der Macht
15 - Der frühe Tod von Maos Gastgeber (1935–1936, 41–42 Jahre)16 - Die Entführung Chiang Kai-sheks (1935–1936, 41–42 Jahre)17 - Auf nationaler Ebene (1936, 42–43 Jahre)18 - Neues Image, neues Leben, neue Frau (1937–1938, 43–44 Jahre)19 - Der Rote Maulwurf löst den Krieg mit Japan aus (1937–1938, 43–44 Jahre)20 - Kampf gegen die Rivalen und gegen Chiang – nicht gegen Japan (1936–1940, 42–46 Jahre)21 - Das Wunschszenario: Stalin teilt sich China mit Japan (1939–1940, 45–46 Jahre)22 - Todesfalle für die eigenen Männer (1940–1941, 46–47 Jahre)23 - Terror als Fundament der Macht (1941–1945, 47–51 Jahre)24 - Ein unbeugsamer Gegner wird vergiftet (1941–1945, 47–51 Jahre)25 - Endlich: Oberster Parteiführer (1942–1945, 48–51 Jahre)
TEIL VIER - Auf dem Weg zur Eroberung Chinas
26 - »Revolutionärer Opiumkrieg« (1937–1945, 43–51 Jahre)27 - Die Russen kommen! (1945–1946, 51–52 Jahre)28 - Von Washington gerettet (1944–1947, 50–53 Jahre)29 - Maulwürfe, Verrat und Führungsfehler besiegeln Chiangs Schicksal (1945–1949, 51–55 Jahre)30 - China ist erobert (1946–1949, 52–55)31 - Totalitärer Staat, extravaganter Lebensstil (1949–1953, 55–59 Jahre)
TEIL FÜNF - Der Traum von der Supermacht
32 - Stalin, der Rivale (1947–1949, 53–55 Jahre)33 - Der Zweikampf der Tyrannen (1949–1959, 55–56 Jahre)34 - Warum Mao und Stalin den Koreakrieg begannen (1949–1950, 55–56 Jahre)35 - Mao nutzt den Koreakrieg für seine Zwecke (1950–1953, 56–59 Jahre)36 - Das geheime Supermachtprogramm wird gestartet (1953–1954, 59–60 Jahre)37 - Krieg gegen die Bauern (1953–1956, 59–62 Jahre)38 - Chruschtschow wird demontiert (1956–1959, 62–65 Jahre)39 - Der Tod der »Hundert Blumen« (1957–1958, 63–64 Jahre)40 - Der Große Sprung nach vorn: »Es kann gut sein, dass halb China sterben muss« (1958–1961, 64–67 Jahre)41 - Der einsame Kampf des Verteidigungsministers Peng (1958–1959, 64–65 Jahre)42 - Der Aufstand der Tibeter (1950–1961, 56–67 Jahre)43 - Der Maoismus wird global (1959–1964, 65–70 Jahre)44 - Ein Hinterhalt des Präsidenten (1961–1962, 67–68 Jahre)45 - Die Bombe (1962–1964, 68–70 Jahre)46 - Verunsicherung und Rückschläge (1962–1965, 68–71 Jahre)
TEIL SECHS - Blutige Rache
47 - Ein Kuhhandel sichert die Kulturrevolution (1965–1966, 71–72 Jahre)48 - Die Große Säuberung (1966–1967, 72–73 Jahre)49 - Bittere Rache (1966–1974, 72–80 Jahre)50 - Des Vorsitzenden neue Kleider (1967–1970, 73–76 Jahre)51 - Eine Kriegsdrohung (1969–1971, 75–77 Jahre)52 - Der Bruch mit Lin Biao (1970–1971, 76–77 Jahre)53 - Der Maoismus kann die Weltbühne nicht erobern (1966–1970, 72–76 Jahre)54 - Nixon: Der Kommunistenjäger wird geködert (1970–1973, 76–79 Jahre)55 - Mao verwehrt Chou die Krebsbehandlung (1972–1974, 78–80 Jahre)56 - Madame Mao während der Kulturrevolution (1966–1975, 72–81 Jahre)57 - Der geschwächte Mao sichert sich ab (1973–1976, 79–82 Jahre)58 - Das Ende (1974–1976, 80–82 Jahre)
Epilog
ANHANG
Anmerkungen
Verzeichnis der Abkürzungen im TextHinweis zur Namensschreibung und Umschrift im TextDankListe der Interviewpartner
Verzeichnis der ArchiveListe der AbbildungenBildnachweisVerzeichnis der KartenBibliographie chinesischsprachiger QuellenBibliographie nicht chinesischsprachiger QuellenQuellen aus dem WebRegisterBildteil
Copyright

China

Das Gebiet, in dem Mao sich von 1927 bis 1934 aufhielt

Der Lange Marsch, Oktober 1934 bis Oktober 1935

TEIL EINS

Halbherziger Anhänger

1

Eintritt in die Moderne (1893–1911, 1–17 Jahre)

Mao Tse-tung, der jahrzehntelang absolute Macht ausübte über das Leben eines Viertels der Weltbevölkerung, war verantwortlich für über 70 Millionen Tote in Friedenszeiten – kein anderer politischer Führer des 20. Jahrhunderts reicht hier an ihn heran. Mao wurde als Sohn einer Bauernfamilie geboren, die in der Provinz Hunan in einem Tal namens Shaoshan lebte, mitten im Herzen Chinas. Man schrieb den 26. Dezember 1893. Seine Vorfahren lebten seit 500 Jahren in diesem Tal.

Es war eine Welt uralter Schönheit, ein Landstrich mit einem gemäßigten, feuchten Klima und nebelverhangenen, welligen Hügeln, die seit der Jungsteinzeit besiedelt waren. Die buddhistischen Tempel stammten noch aus der Tang-Dynastie (618–906 n.Chr.), als der Buddhismus nach China kam, und sie wurden immer noch besucht. Ausgedehnte Bergwälder, in denen fast 300 verschiedene Baum- und Straucharten wuchsen, darunter Ahorn, Kampfer, Urwelt-Mammutbäume und der seltene Ginkgo, boten Tigern, Leoparden und Wildschweinen Unterschlupf. (Der letzte Tiger wurde 1957 erlegt.)

Die Berge, in denen es weder Straßen noch schiffbare Flüsse gab, schirmten das Dorf von der Außenwelt ab. Selbst eine Nachricht von so großer Tragweite wie die vom Tod des Kaisers 1908, drang nicht bis in die Bergdörfer vor, und so erfuhr Mao erst zwei Jahre später davon, als er Shaoshan verließ.1

Das Tal von Shaoshan misst ungefähr 5 auf 3,5 Kilometer. Die etwa 600 Familien, die dort lebten, bauten Reis, Tee und Bambus an und hielten Wasserbüffel, mit denen sie die Reisfelder bearbeiteten. Schon seit Jahrhunderten hatte so der Alltag ausgesehen. Maos Vater Yi-chang wurde 1870 geboren. Im Alter von zehn Jahren wurde er mit einem 13-jährigen Mädchen aus einem etwa zehn Kilometer entfernten Dorf verlobt, das jenseits eines Passes lag, der »Pass, wo Tiger ruhen« genannt wurde, weil sich dort Tiger sonnten. Trotz der geringen Entfernung sprachen die Dorfbewohner so unterschiedliche Dialekte, dass sie sich untereinander kaum verständigen konnten. Als Mädchen erhielt Maos Mutter keinen Namen; sie war die siebte Tochter in der Familie Wen und hieß daher einfach Siebte Schwester Wen. Gemäß der jahrhundertealten Tradition waren ihr die Zehen gebrochen und die Füße gebunden worden, um sie am Wachsen zu hindern, damit sie dem damaligen Schönheitsideal der »Lotusfüße« entsprachen.

Die Verlobung der Kinder entsprach einer altehrwürdigen Tradition. Sie wurde von den Eltern arrangiert und basierte auf praktischen Überlegungen: Ein Großvater des Mädchens war in Shaoshan begraben, das Grab musste regelmäßig besucht und gepflegt werden, also würde es nützlich sein, eine Verwandte im Dorf zu haben. Siebte Schwester Wen zog nach der Verlobung zu den Maos und wurde 1885 als 18-Jährige mit dem 15-jährigen Yi-chang verheiratet.

Kurz nach der Hochzeit verpflichtete sich Yi-chang als Soldat, um Geld zu verdienen und damit die Schulden der Familie abzubezahlen, was ihm nach einigen Jahren auch gelang. Die chinesischen Bauern waren keine Leibeigenen, sondern frei. Es war allgemein üblich, dass man sich aus rein finanziellen Gründen zum Militär meldete. Yi-chang hatte Glück, er musste nicht im Krieg kämpfen, sondern lernte ein wenig die Welt kennen und schnappte ein paar Geschäftsideen auf. Im Gegensatz zu den meisten Dorfbewohnern konnte Yi-chang lesen und schreiben, und zwar gut genug, um seine Bücher zu führen. Nach seiner Rückkehr züchtete er Schweine und verarbeitete seine Reisernte zu Reis bester Qualität, den er in einem nahe gelegenen Marktstädtchen verkaufte. Er kaufte das Land zurück, das sein Vater verpfändet hatte, erwarb noch Land dazu und wurde zu einem der reichsten Männer im Dorf.

Obwohl Yi-chang relativ wohlhabend war, arbeitete er sein ganzes Leben lang hart und war sehr sparsam. Die Familie bewohnte sechs Zimmer in einem Flügel eines strohgedeckten Hofes. Später ersetzte Yi-chang das Stroh durch Ziegel, was eine erhebliche Verbesserung bedeutete, die Lehmwände und den Boden aus gestampfter Erde aber beließ er. Die Fenster hatten keine Scheiben, denn Glas war damals noch ein seltener Luxus. Die rechteckigen Fensteröffnungen mit hölzernen Stäben wurden nachts mit Holzläden verschlossen (die Temperatur sank selten unter den Gefrierpunkt). Die Möbel waren einfach: Holzbetten, schlichte Holztische und -bänke. In einem dieser spartanischen Räume, unter einer blauen, selbstgewebten Baumwolldecke und einem blauen Moskitonetz, wurde Mao geboren.2

Mao war der dritte Sohn, aber der erste, der das Säuglingsalter überlebte. Das machte seine buddhistische Mutter noch frommer, und sie bat Buddha immer wieder, ihren Sohn zu beschützen. Mao erhielt den zweiteiligen Namen Tse-tung. Tse bedeutet »auf etwas scheinen«; dieser Name wurde allen Familienangehörigen seiner Generation gegeben, denn so hatte es die Familienchronik im 18. Jahrhundert festgelegt.3Tung heißt »der Osten«; der ganze Name bedeutet daher »auf den Osten scheinen«. Als 1896 und 1905 zwei weitere Jungen geboren wurden, erhielten sie die Namen Tse-min (min bedeutet »das Volk«) und Tse-tan (tan bezog sich vermutlich auf die Region Xiangtan).

In den Namen spiegelte sich die tief verwurzelte Hoffnung der chinesischen Bauern, dass ihre Söhne im Leben Erfolg haben würden – und die Erwartung, dass dieser Erfolg möglich war. Hohe Ämter standen allen Chinesen offen, vorausgesetzt, sie verfügten über die entsprechende Bildung – die seit Jahrhunderten mit dem Studium der konfuzianischen Klassiker gleichgesetzt wurde. Hervorragende Leistungen ermöglichten es jedem jungen Mann unabhängig von seiner Herkunft, die kaiserlichen Prüfungen zu bestehen und ein Mandarin zu werden – es sogar bis zum Ministerpräsidenten zu bringen. Das Beamtentum war der Schlüssel für eine erfolgreiche Karriere. Die Namen drückten die Erwartungen aus, die in Mao und seine Brüder gesetzt wurden.

Ein großer Name konnte aber auch erdrückend sein und das Schicksal herausfordern, daher erhielten die meisten Kinder einen Kosenamen, der Bescheidenheit oder Härte oder auch beides signalisieren sollte. Mao war »der Junge aus Stein« – Shi san ya-zi. Zu seiner zweiten »Taufe« nahm seine Mutter ihn mit zu einem knapp zweieinhalb Meter hohen Fels, der als magisch galt, weil darunter eine Quelle entsprang. Mao erwies dem Felsen seine Ehrenbezeugungen und machte seine Kotaus. Danach galt er als Schützling des Steins, der Fels hatte ihn »adoptiert«. Mao mochte seinen Kosenamen sehr und benutzte ihn auch noch als Erwachsener. Als er 1959 nach Shaoshan zurückkehrte und die Dorfbewohner zum ersten (und einzigen) Mal als der Große Vorsitzende wiedersah, scherzte er zu Beginn des Essens: »Nun sind alle da, außer meiner steinernen Mutter. Sollen wir auf sie warten?«4

Seine richtige Mutter liebte Mao mit einer Intensität wie niemanden sonst. Sie war eine sanfte und tolerante Frau, die, wie er sich erinnerte, nie die Stimme gegen ihn erhob. Von ihr hatte er sein volles Gesicht, die sinnlichen Lippen und die ruhige Selbstbeherrschung in seinem Blick. Sein ganzes Leben lang sprach Mao voller Zuneigung von seiner Mutter. Nach ihrem Vorbild wurde er als Kind Buddhist. Jahre später erzählte er seinem Stab: »Ich verehrte meine Mutter … Ich folgte ihr überallhin … ging zum Tempel, verbrannte Räucherstäbchen und Papiergeld, huldigte Buddha … Weil meine Mutter an Buddha glaubte, glaubte ich auch daran.«5 Als Jugendlicher wandte er sich jedoch vom Buddhismus ab.

Mao hatte eine sorgenfreie Kindheit.6 Bis zum Alter von acht Jahren lebte er bei der Familie seiner Mutter, den Wens, in ihrem Dorf, weil seine Mutter sich lieber bei ihren Leuten aufhielt. Seine Großmutter mütterlicherseits liebte ihn abgöttisch. Seine beiden Onkel und deren Frauen behandelten ihn wie ihren eigenen Sohn, und einer von ihnen wurde zu seinem »adoptierten Vater«, der chinesischen Entsprechung des Taufpaten. Mao verrichtete leichte Arbeiten auf dem Hof, er sammelte Futter für die Schweine oder hütete die Büffel in den Kamelienhainen an einem von Bananenblättern beschatteten Teich. In späteren Jahren erinnerte sich Mao gern an diese idyllische Zeit. Während seine Tanten im Licht einer Öllampe spannen und nähten, lernte er lesen.

Im Alter von acht Jahren kehrte Mao im Frühjahr 1902 nach Shaoshan zurück, wo er im Haus eines Privatlehrers Unterricht erhielt. Die konfuzianischen Klassiker, die den Großteil des Unterrichtsstoffes ausmachten, überstiegen das Begriffsvermögen eines Kindes und mussten daher auswendig gelernt werden. Mao hatte ein außergewöhnliches Gedächtnis und war ein guter Schüler.7 Seine Mitschüler erinnerten sich an einen fleißigen Jungen, der die schwierigen Texte nicht nur auswendig aufsagen, sondern auch niederschreiben konnte. Mao machte sich außerdem mit den Grundlagen der chinesischen Sprache und Geschichte vertraut und bildete sich in den Künsten des Prosaschreibens, der Kalligraphie und der Poesie, denn das Verfassen von Gedichten war ein wichtiger Bestandteil der konfuzianischen Erziehung. Das Lesen wurde für ihn zu einer Leidenschaft. Die Dorfbewohner gingen in der Regel bei Sonnenuntergang zu Bett, um Öl für die Lampen zu sparen, doch Mao las im Schein einer Öllampe, die außerhalb seines Moskitonetzes auf einer Bank stand, bis tief in die Nächte hinein. Jahre später, als er der höchste Herrscher Chinas war, bedeckten ganze Bücherstapel, die chinesischen Klassiker, die Hälfte seines riesigen Bettes, und in seine Reden und Schriften streute er gern historische Bezüge ein. Seine Gedichte allerdings verloren an Reiz.

Mit seinen Lehrern geriet Mao häufig aneinander.8 Von der ersten Schule lief er weg, als er zehn war, und behauptete, sein Lehrer sei ein Leuteschinder. Er flog von mindestens drei Schulen, besser gesagt, er »wurde gebeten, sie zu verlassen«, weil er eigensinnig und ungehorsam war. Seine Mutter war nachsichtig mit ihm, doch sein Vater war alles andere als erfreut. Der häufige Wechsel der Privatlehrer war nur eine Ursache für die Spannungen zwischen Vater und Sohn. Yi-chang bezahlte Maos Unterricht, weil er hoffte, sein Sohn könnte ihm zumindest einmal helfen, die Bücher zu führen und das Geld der Familie zu verwalten, aber Mao gefiel diese Aufgabe nicht. Sein ganzes Leben lang hatte er Probleme mit Zahlen, und in den Wirtschaftswissenschaften erwies er sich als hoffnungsloser Fall. Aber auch körperliche Arbeit war nicht nach seinem Geschmack. Als seine bäuerliche Phase hinter ihm lag, vermied er sie nach Kräften.

Yi-chang konnte den Müßiggang Maos nicht mit ansehen. Da er selbst jede Minute des Tages arbeitete, erwartete er von seinem Sohn das Gleiche und schlug ihn, wenn er sich nicht fügte. Mao hasste seinen Vater. Als er 1968 Rache an seinen politischen Widersachern nahm, sagte er den Kommandanten der Roten Garden, er hätte es gern gesehen, wenn auch sein Vater so brutal misshandelt worden wäre: »Mein Vater war schlecht. Wenn er noch am Leben wäre, sollte man mit ihm ›das Flugzeug machen‹«9 – eine qualvolle Haltung, bei der die Arme des Opfers hinter seinem Rücken verrenkt wurden und der Kopf nach unten gedrückt wurde.

Doch Mao war nicht nur Opfer seines Vaters. Er wehrte sich und war bei ihren Auseinandersetzungen oft der Sieger. Er sagte seinem Vater, dass er als der Ältere mehr körperliche Arbeit verrichten müsse als er selbst, der Jüngere – nach chinesischen Maßstäben ein unglaublich unverschämtes Argument. Laut Mao hatten er und sein Vater eines Tages Streit vor Gästen. »Mein Vater schalt mich vor ihnen aus, nannte mich faul und nutzlos. Ich war wütend und aufgebracht. Ich beschimpfte ihn und verließ das Haus … Mein Vater … lief mir nach, er verfluchte mich und befahl mir gleichzeitig, zurückzukommen. Ich erreichte den Teich und drohte hineinzuspringen, wenn er näher käme… Mein Vater gab nach.«10 Als Mao diese Geschichte wieder einmal zum Besten gab, lachte er und fügte eine Beobachtung hinzu: »Alte Männer wie er wollen ihre Söhne nicht verlieren. Das ist ihre Schwäche. Ich traf ihn an seinem wunden Punkt und gewann!«

Die einzige Waffe von Maos Vater war das Geld. Nachdem 1907 auch der vierte Lehrer den Jungen nicht mehr unterrichten wollte, stellte der Vater die Zahlung für die Ausbildung ein, und der 13-Jährige musste den ganzen Tag auf dem Hof arbeiten. Doch er fand schon bald einen Weg, sich vor der Arbeit zu drücken und sich wieder seinen Büchern zu widmen. Yi-chang war sehr darauf aus, dass sein Sohn heiratete, denn dann, so dachte er, wäre er gebunden und müsse sich verantwortungsvoll benehmen. Seine Nichte hatte genau das richtige Alter für eine Ehefrau, denn sie war vier Jahre älter als Mao. Der Sohn fügte sich diesem Wunsch des Vaters und setzte nach der Heirat seine Ausbildung fort.

Die Hochzeit wurde 1908 gefeiert, als Mao 14 Jahre und seine Braut 18 Jahre alt war. Ihr Familienname lautete Luo. Das Mädchen selbst hatte keinen eigenen Namen, sondern wurde nur »Frau Luo« genannt. Offenbar hat Mao sie nur ein einziges Mal in der Öffentlichkeit erwähnt, und zwar 1936 gegenüber dem amerikanischen Journalisten Edgar Snow. Mao spielte das Ganze sehr herunter, aber übertrieb den Altersunterschied: »Meine Eltern hatten mich als 14-Jährigen mit einem 20-jährigen Mädchen verheiratet, aber ich hatte nie mit ihr zusammengelebt … Ich hielt sie nicht für meine Frau und dachte wenig an sie.«11 Dass sie nicht mehr lebte, erwähnte er mit keinem Wort. Frau Luo war bereits 1910 gestorben, nur gut ein Jahr nach der Hochzeit.

Seine frühe Heirat machte aus Mao einen erbitterten Gegner von arrangierten Ehen. Neun Jahre später schrieb er einen schneidenden Artikel zu diesem Thema: »In westlichen Familien akzeptieren Eltern den freien Willen ihrer Kinder. Aber in China entsprechen die Anordnungen der Eltern überhaupt nicht dem Willen der Kinder… Das ist eine Art ›indirekte Vergewaltigung‹. Chinesische Eltern vergewaltigen die ganze Zeit indirekt ihre Kinder …«12

Gleich nach dem Tod seiner Frau bestand der 16-jährige Witwer darauf, Shaoshan zu verlassen. Sein Vater wollte ihn als Lehrling bei einem Reishändler in der Bezirkshauptstadt unterbringen, aber Mao hatte sich eine moderne Schule in den Kopf gesetzt, die etwa 25 Kilometer entfernt lag. Er hatte erfahren, dass die kaiserlichen Prüfungen abgeschafft worden waren. Stattdessen gab es nun moderne Schulen, in denen Naturwissenschaften, Weltgeschichte, Geographie und Fremdsprachen unterrichtet wurden, und genau diese Schulen boten Bauernkindern wie Mao ganz neue Möglichkeiten.

Ende des 19. Jahrhunderts vollzog sich in China ein dramatischer gesellschaftlicher Wandel. Die Mandschu-Dynastie, die seit 1644 herrschte, hatte den Aufbruch in die Moderne eingeläutet. Auslöser für den Wandel war eine Folge von schweren Niederlagen gegen die europäischen Mächte und Japan, die mit dem Sieg der Briten im Opiumkrieg von 1839–1842 ihren Anfang nahm, als die fremden Mächte erstmals an die verschlossenen Pforten Chinas klopften. Vom Hof der Mandschu bis hin zu den Intellektuellen war man sich weitgehend einig, dass sich das Land verändern musste, um überlebensfähig zu sein. Zahlreiche grundlegende Reformen wurden durchgeführt, darunter auch die Einführung eines völlig neuen Bildungssystems. Außerdem wurden Eisenbahnen gebaut. Die Förderung moderner Industrien und des Handels hatten oberste Priorität. Politische Organisationen wurden erlaubt. Zum ersten Mal wurden Zeitungen veröffentlicht. Studenten wurden ins Ausland geschickt, um dort Naturwissenschaften zu studieren, Mandarine wurden entsandt, um Erkenntnisse über Demokratie und parlamentarische Systeme zu gewinnen. 1908 verkündete der Hof ein Programm, mit dem China innerhalb von neun Jahren zu einer konstitutionellen Monarchie werden sollte.

Maos Heimatprovinz Hunan, die etwa 30 Millionen Einwohner hatte, entwickelte sich zu einer der freiheitlichsten und aufregendsten Regionen Chinas. Obwohl die Provinz von Land umschlossen war, gab es schiffbare Flüsse, die sie mit der Küste verbanden. 1904 wurde die Provinzhauptstadt Changsha zum »offenen« Handelshafen. Zahlreiche Händler und Missionare aus aller Welt trafen ein und brachten westliche Sitten und Methoden ins Land. Als Mao von den modernen Schulen hörte, gab es in Hunan bereits über hundert, mehr als in jedem anderen Teil Chinas, darunter auch viele Schulen für Frauen.

Eine Schule lag in der Nähe von Maos Dorf: Die Ostberg-Schule auf dem Land der Wens, der Familie seiner Mutter. Schulgebühren und Unterkunft waren sehr teuer, aber Mao überredete die Wens und andere Verwandte, sich bei seinem Vater für ihn einzusetzen, bis dieser schließlich die Kosten für fünf Monate übernahm. Die Frau eines Wen-Cousins ersetzte Maos altes, blaues, handgemachtes Moskitonetz durch ein weißes, maschinell gefertigtes Musselinnetz, damit er es mit der Modernität der Schule aufnehmen konnte.

Die Schule öffnete Mao die Augen. Zum Unterricht gehörten neue Fächer wie Sport, Musik und Englisch, die Lektüre umfasste unter anderem Biographien von Napoleon, Wellington, Peter dem Großen, Rousseau und Lincoln. Mao hörte zum ersten Mal von Amerika und Europa und lernte einen Mann kennen, der im Ausland gewesen war – einen Lehrer, der in Japan studiert hatte und von seinen Schülern den Spitznamen »falscher ausländischer Teufel« erhielt. Noch Jahrzehnte später konnte sich Mao an ein japanisches Lied erinnern, das er von diesem Lehrer gelernt hatte und in dem der erstaunliche Sieg der Japaner 1905 über Russland gefeiert wurde.13

Mao war nur wenige Monate auf der Tungshan-Schule, aber länger brauchte er auch nicht, um neue Möglichkeiten aufzutun. In der Provinzhauptstadt Changsha gab es eine Schule, die speziell für Jugendliche aus dem Bezirk der Wens eingerichtet worden war. Mao überzeugte einen Lehrer, ihn dort anzumelden, obwohl er genau genommen nicht aus dem Bezirk stammte. Im Frühjahr 1911 kam er nach Changsha und war, wie er selbst sagte, »äußerst aufgeregt«.14 Mit siebzehn verabschiedete er sich für immer vom bäuerlichen Leben.

Später behauptete Mao, dass ihn als Junge in Shaoshan die Sorge um arme Bauern umgetrieben habe. Dafür gibt es allerdings keinerlei Beweise.

Noch in Shaoshang habe ihn ein gewisser P’ang, der Mühlsteinmacher, beeinflusst, der verhaftet und enthauptet worden sei, weil er eine lokale Bauernrevolte angezettelt habe. Trotz umfassender Suche der Parteihistoriker konnte nie auch nur eine Spur dieses Helden gefunden werden.15

Nichts weist darauf hin, dass Maos bäuerliche Wurzeln bei ihm Betroffenheit oder Mitgefühl für die Lage der Bauern geweckt hätten, und noch weniger, dass ihn ein Gefühl der Ungerechtigkeit angetrieben hätte.16 In einem zeitgenössischen Dokument, dem Tagebuch von Maos Lehrer Professor Yang Chang-chi, steht als Eintrag vom 5. April 1915: »Mein Student Mao Tse-tung sagte, dass … seine Familie… überwiegend aus Bauern bestehe und es für sie einfach sei, reich zu werden« (Hervorhebung durch die Autoren).17 Mao bekundete keine besondere Sympathie für Bauern.

Bis gegen Ende 1925 – Mao war Anfang dreißig und seit fünf Jahren Kommunist – hat er sich in seinen bekannten Schriften und Gesprächen nur selten auf die Bauern bezogen. In einem Brief vom August 1917 taucht der Begriff auf, doch Mao brachte darin keine Sympathie zum Ausdruck, sondern erklärte, er sei »sprachlos«, wie ein Kommandant namens Tseng Kuo-fan den größten Bauernaufstand in der chinesischen Geschichte »niedergemacht« habe, die Taiping Rebellion von 1850 bis 1864.18 Zwei Jahre später, im Juli 1919, verfasste Mao einen Aufsatz über Menschen aus verschiedenen Lebensbereichen, und so wurden zwangsläufig auch Bauern erwähnt; doch seine Fragen waren sehr allgemein gehalten, und sein Ton war unverkennbar neutral. Wenn von Bauern die Rede ist, kann man bei Mao einen bemerkenswerten Mangel an Emotion feststellen, vor allem im Vergleich zu der Leidenschaft, mit der er über Studenten schrieb und deren Leben als »Meer der Bitterkeit«19 bezeichnete. In einer umfassenden Liste für Recherchen vom September desselben Jahres, die 71 Punkte enthielt, bezog sich nur ein Punkt (der zehnte) auf körperliche Arbeit. Ein einziger der 15 Unterpunkte betraf die Bauern, doch nur als »die Frage der Intervention der arbeitenden Bauern in der Politik«.20 Ab Ende 1920, als Mao sich in die kommunistische Umlaufbahn begab, verwendete er Formulierungen wie »Arbeiter und Bauern«21 und »Proletariat«.22 Doch das waren nichts als Worthülsen, Teil eines obligatorischen Repertoires.

Jahrzehnte später erzählte Mao, wie er sich als junger Mann in Shaoshan um Hungernde gekümmert habe. Dafür gibt es jedoch keine Belege. 1921 hielt Mao sich während einer Hungersnot in Changsha auf. Ein Freund von ihm notierte in seinem Tagebuch: »Es gibt viele Bettler – müssen über hundert am Tag sein… Die meisten… sehen aus wie Skelette überzogen mit gelber Haut, als ob schon ein Windstoß genügen würde, sie wegzuwehen.« »Ich habe gehört, dass viele von den Menschen, die hierher gekommen sind, um dem Hunger in ihrem Dorf zu entfliehen, gestorben sind. Jetzt können sich diejenigen, die früher Bretter [für die Särge] gespendet haben, das nicht mehr leisten.«23 Mao erwähnt die Hungersnot in seinen damaligen Schriften mit keinem Wort, und es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass er überhaupt einen Gedanken darauf verwendete.

Seine bäuerliche Herkunft hatte in ihm nicht den idealistischen Wunsch geweckt, das Schicksal der chinesischen Bauern zu verbessern.

2

Die Entwicklung zum Kommunisten (1911–1920, 17–26 Jahre)

Mao kam im Frühjahr 1911 nach Changsha – am Vorabend der Republikanischen Revolution, die der seit über 2000 Jahren bestehenden Herrschaft der Kaiser ein Ende bereiten sollte. Dem britischen Philosophen Bertrand Russell erschien Changsha zehn Jahre später »wie eine mittelalterliche Stadt« mit »engen Straßen, … in denen abgesehen von Sänften und Rikschas kein Verkehr möglich war«,1 doch in Wirklichkeit gab es dort neue Ideen und Entwicklungen, ja, die Stadt vibrierte förmlich vor republikanischem Gedankengut.

Der kaiserliche Hof hatte eine konstitutionelle Monarchie versprochen, doch die Republikaner wollten die Mandschu-Kaiser ein für alle Mal loswerden. Für sie war die Mandschu-Dynastie eine Fremdherrschaft, weil ihre Mitglieder keine Han-Chinesen waren, also nicht der ethnischen Gruppe angehörten, die die Mehrheit (etwa 94 Prozent) der Bevölkerung stellte. Ihre revolutionären Ansichten verbreiteten sie über Zeitungen und Zeitschriften, die in ganz China aus dem Boden sprossen, und durch eine völlig neue Taktik: öffentliche Debatten in einer bis dahin fast ausschließlich privaten Gesellschaft. Sie organisierten sich und zettelten mehrere erfolglose bewaffnete Aufstände an.

Mao informierte sich mit Hilfe der Zeitungen über die aktuellen Debatten und holte rasch nach, was er bisher versäumt hatte. Seine erste Zeitung las er mit siebzehn – der Beginn einer lebenslangen Sucht.2 Er schrieb seinen ersten, ziemlich wirren, politischen Aufsatz, vertrat darin republikanische Positionen und klebte ihn – das war der neueste Trend – an eine Wand in der Schule.3 Wie viele seiner Mitschüler schnitt er sich seinen Zopf ab, der ein Mandschu-Brauch und damit das offensichtlichste Zeichen der kaiserlichen Herrschaft war. Zusammen mit einem Freund lauerte er einem Dutzend anderer Schüler auf und schnitt ihnen gewaltsam die Zöpfe mit der Schere ab.

In jenem Sommer, der, wie immer in Changsha, extrem heiß und schwül war, debattierten die Schüler fieberhaft darüber, wie man den Kaiser stürzen könnte. Eines Tages riss sich ein junger Mann inmitten einer lebhaften Diskussion das lange Gelehrtengewand vom Leib, warf es auf den Boden und schrie: »Los, wir machen Kampfübungen, damit wir für den Krieg [gegen den Kaiser] gerüstet sind!«4

Im Oktober kündigte ein bewaffneter Aufstand in der Nachbarprovinz Hubei die Republikanische Revolution an. Die seit über 260 Jahren bestehende Herrschaft der Mandschu-Dynastie war zerrüttet, und am 1. Januar 1912 wurde die Republik ausgerufen. Der Kindkaiser Pu Yi dankte am 12. Februar ab.

Der Armeeführer Yuan Shih-kai wurde Präsident und löste damit den Provisorischen Präsidenten Sun Yat-sen ab. Die Provinzen wurden von starken Militärkommandanten mit guten Beziehungen zu Yuan kontrolliert. Yuans Tod im Jahr 1916 bedeutete eine Schwächung der Zentralregierung in Peking. Es begann eine Phase der politischen Zersplitterung, in der sich die Militärkommandanten in den Provinzen zu praktisch unabhängigen Warlords entwickelten. In den folgenden zehn Jahren führten sie immer wieder sporadische Kriege, die das zivile Leben in den Kampfgebieten störten. Abgesehen davon ließen sie die Menschen jedoch im Wesentlichen unbehelligt. Die noch junge, relativ lose organisierte Republik bot alle Arten von Aufstiegschancen. Der junge Mao konnte zwischen einer breiten Palette an Möglichkeiten wählen:5 Industrie, Handel, Rechtssprechung, Verwaltung, Bildung, Journalismus, Kultur, Militär. Zunächst meldete er sich als Freiwilliger zur republikanischen Armee, blieb dort aber nur wenige Monate, weil ihm der Drill und seine Aufgaben nicht gefielen. Als er zum Wasserholen verpflichtet wurde, stellte er sogar einen Wasserverkäufer ein, der die Arbeit für ihn übernahm. Schließlich beschloss Mao, sein Studium wieder aufzunehmen, und sah die zahlreichen Anzeigen in den Zeitungen durch (Werbung, meist farbig und sehr kunstvoll gemacht, war ebenfalls etwas völlig Neues in China). Sechs Institute weckten sein Interesse, darunter eine Polizeischule, eine Schule für Jura und eine Schule, die sich auf die Seifenherstellung spezialisiert hatte. Er entschied sich für eine allgemeine Hochschule und blieb dort sechs Monate, bis ihn die Langeweile dazu trieb, sich als Autodidakt in der Provinzbibliothek weiterzubilden.

Endlich hatte Mao etwas gefunden, das ihm zusagte. Er verbrachte den ganzen Tag in der Bibliothek und verschlang die neuen Bücher, darunter auch Übersetzungen westlicher Werke. Später sagte er, er sei wie ein Büffel gewesen, der in einen Gemüsegarten eingebrochen sei und einfach alles verschlungen habe, was dort wuchs.6 Die Lektüre half ihm, sich von traditionellen Zwängen zu lösen.

Aber sein Vater drohte, die Zahlungen einzustellen, wenn er keine richtige Schule besuchte, daher schrieb er sich an einem Institut zur Lehrerausbildung ein. Es kostete keine Gebühren und bot billige Verpflegung und Unterkunft. Damals gab es in China viele solcher Schulen, denn die Regierung war bemüht, die Bildung voranzutreiben.

Es war Frühjahr 1913, und Mao war 19 Jahre alt. Das Institut stand für die Aufgeschlossenheit der damaligen Zeit. Sogar das Gebäude war im europäischen Stil gehalten, mit romanisch inspirierten Bögen und einem breiten, mit Säulen geschmückten Vorhof; man nannte es yang-lou, »das ausländische Gebäude«. Die Klassenzimmer hatten gepflegte Dielenböden und Glasfenster. Die Studenten kamen mit einer Fülle von neuen Ideen in Berührung und wurden dazu angehalten, frei und unabhängig zu denken und Lerngruppen zu organisieren. Sie verfassten Artikel über Anarchismus, Nationalismus und Marxismus, und eine Zeit lang hing ein Porträt von Marx im Hörsaal.7 Mao war der Begriff »Sozialismus« schon zuvor in einer Zeitung begegnet. Nun hörte er zum ersten Mal vom »Kommunismus«. Es war eine Zeit, die man wirklich mit »Lasst hundert Blumen blühen« beschreiben könnte, eine Forderung, die Mao kurzzeitig unter seinen eigenen Herrschaft umsetzte. Allerdings ließ er dabei nicht einmal einen Bruchteil der Freiheit zu, die er selbst als junger Mann genossen hatte.8

Mao war kein Einzelgänger, und wie alle Studenten auf der ganzen Welt debattierten er und seine Freunde lebhaft und ausführlich miteinander. Das Institut lag am Fluss Xiang, dem größten Fluss in Hunan. Das Schwimmen im Xiang inspirierte Mao 1917 zu einem schwärmerischen Gedicht.9 Abends machten die Freunde lange Spaziergänge am Ufer und genossen den Anblick der Dschunken, die an der Orangeninsel mit ihren Orangengärten vorbeiglitten. An Sommerabenden stiegen die Studenten auf den Berg hinter der Schule und saßen im Gras, wo Grillen zirpten und Glühwürmchen blinkten. Sie diskutierten bis tief in die Nacht und ignorierten das Hornsignal, das die Schlafenszeit verkündete.

Mao und seine Freunde reisten auch viel. Zu der Zeit konnte sich jeder Chinese frei bewegen, ein Ausweis war nicht erforderlich. In den Sommerferien 1917 wanderten Mao und ein Freund einen Monat übers Land.10 Verpflegung und Unterkunft verdienten sie sich bei Bauern, denen sie die Eingangstüre mit Kalligraphien schmückten. Ein anderes Mal folgten Mao und zwei Kommilitonen den Gleisen einer neu gebauten Eisenbahnlinie. Als es dunkel wurde, klopften sie an der Pforte eines Klosters auf einem Berg über dem Fluss Xiang und baten um Unterkunft. Die Mönche ließen sie übernachten. Nach dem Abendessen stiegen die Freunde die Steinstufen hinunter zum Fluss und gingen schwimmen. Danach saßen sie am sandigen Ufer, lauschten dem Klang der Wellen und diskutierten. Das Gästezimmer hatte eine Veranda, und die Freunde unterhielten sich draußen bis tief in die Nacht. Einer war so bewegt von der Stille und Einsamkeit der Nacht, dass er Mönch werden wollte.

Bei diesen und anderen Gesprächen äußerte Mao sich oft geringschätzig über seine Landsleute. »Die Menschen in diesem Land sind von Natur aus träge«, sagte er. »Sie verehren die Heuchelei, geben sich mit einem Sklavendasein zufrieden und sind engstirnig.« Diese Ansicht war unter den Gebildeten der damaligen Zeit durchaus üblich. Man suchte nach Erklärungen, warum China von ausländischen Mächten so leicht besiegt worden war und der modernen Welt so weit hinterherhinkte. Maos nächste Aussage war jedoch ungewöhnlich und extrem: »Herr Mao schlug auch vor, alle Sammlungen von Prosa und Poesie nach der Tang- und der Sungdynastie auf einmal zu verbrennen«, schrieb ein Freund in sein Tagebuch.11

Hier erwähnte Mao wahrscheinlich zum ersten Mal ein Thema, das seine spätere Politik prägen sollte: die Zerstörung der chinesischen Kultur. Als er im mondbeschienenen Kloster davon sprach, klang das nicht völlig abwegig. Es war die Zeit einer nie da gewesenen persönlichen und intellektuellen Freiheit, die freieste Phase in der chinesischen Geschichte überhaupt. Was man als selbstverständlich betrachtet hatte, wurde in Frage gestellt, was als falsch gegolten hatte, wurde als richtig proklamiert. Sollte es Länder geben? Familien? Die Ehe? Privatbesitz? Nichts war zu ungeheuerlich, zu schockierend oder zu unaussprechlich.

In diesem Umfeld wurden auch Maos moralische Ansichten geformt. Im Winter 1917/18 schrieb Mao, der mit seinen 24 Jahren immer noch Student war, ausführliche Kommentare zu einem Buch mit dem Titel System der Ethik, verfasst von dem Berliner Philosophieprofessor Friedrich Paulsen. In Maos Anmerkungen kamen die zentralen Elemente seines eigenen Charakters zum Vorschein, die in den kommenden sechs Jahrzehnten seines Lebens unverändert bleiben sollten und seinen Herrschaftsanspruch definierten.

Maos Einstellung zur Moral kreiste um einen Kern: das Selbst, das Ich, das über allem stand: »Ich bin nicht der Ansicht, dass das Motiv des Handelns, um moralisch zu sein, dem Nutzen anderer dienen muss. Moral muss nicht in Relation zu anderen definiert werden… Menschen wie ich möchten … unserem Herz vollauf Befriedigung verschaffen, und damit besitzen wir automatisch den wertvollsten Moralkodex. Natürlich gibt es auf der Welt noch andere Menschen und Dinge, aber sie sind alle nur für mich da.«12

Mao scheute jede Form von Verantwortung und Verpflichtung, weil er sie als Zwang betrachtete. »Menschen wie ich sind nur sich selbst verpflichtet, wir haben keine Verpflichtung anderen gegenüber.« Oder: »Ich bin nur für die Realität verantwortlich, die ich kenne, und sonst für absolut gar nichts. Ich kenne die Vergangenheit nicht, ich weiß nichts von der Zukunft. Sie haben nichts mit der Realität meines eigenen Selbst zu tun.« Ausdrücklich lehnte er jede Verantwortung gegenüber kommenden Generationen ab. »Es gibt die Behauptung, man sei für die Geschichte verantwortlich. Das glaube ich nicht. Ich kümmere mich nur um meine eigene Entwicklung… Ich habe Wünsche und handle entsprechend. Ich bin niemandem verantwortlich.«

Mao glaubte nur dann an etwas, wenn es ihm persönlich nützte. Ein guter Ruf nach dem Tod, sagte er, »kann mir keine Freude machen, weil das in der Zukunft liegt und nicht zu meiner Realität gehört.« »Menschen wie ich bauen keine Leistungen auf, die sie zukünftigen Generationen hinterlassen.« Es kümmerte Mao nicht, was er hinterließ.

Er argumentierte, sein Gewissen sei ihm vollkommen gleichgültig, wenn es seinen Impulsen widerspreche:

Diese beiden sollten ein und dasselbe sein. All unsere Handlungen … sind impulsgesteuert, und ein weises Gewissen fügt sich jedes Mal. Manchmal… bremst das Gewissen einen Impuls, etwa, wenn man zu viel isst oder zu viel Sex will. Doch das Gewissen ist nur als Mäßigung gedacht, nicht als Gegner. Und die Mäßigung dient der besseren Umsetzung des Impulses.

Weil das Gewissen immer eine gewisse Sorge um andere impliziert und nicht mit dem Hedonismus einhergeht, lehnte Mao diese Vorstellung ab. Er vertrat die Ansicht: »Ich glaube nicht, dass diese [Gebote wie ›du sollst nicht töten‹, ›du sollst nicht stehlen‹ oder ›du sollst nicht verleumden‹] etwas mit dem Gewissen zu tun haben. Ich glaube, sie dienen nur der Selbsterhaltung und entstanden aus Eigennutz.« Alle Erwägungen sollten »nur auf dem eigenen Kalkül basieren, auf keinen Fall aber auf der Befolgung externer ethischer Gebote oder dem so genannten Verantwortungsgefühl …«

Maos Haltung war geprägt von grenzenloser Selbstsucht und Verantwortungslosigkeit.

Diese Eigenschaften waren seiner Meinung nach den »Großen Helden« vorbehalten – einer Gruppe, zu der er sich selbst auch zählte. Über diese Elite sagte er:

Alles, was ihrer Natur fern ist, wie Einschränkungen und Zwänge, muss von ihrer gewaltigen Charakterstärke hinweggefegt werden … Wenn Große Helden ihren Impulsen freien Lauf lassen, sind sie wunderbar mächtig, stürmisch und unbesiegbar. Ihre Macht ist wie ein Wirbelsturm, der sich aus einer tiefen Schlucht erhebt, oder wie ein Sexbesessener auf der Suche nach einem Partner … nichts kann sie aufhalten.

Eine andere zentrale Charaktereigenschaft, die Mao nun in seinen Kommentaren zum Ausdruck brachte, war seine Freude an Aufruhr und Zerstörung. »Ungeheure Kriege«, schrieb er, »wird es geben, so lange Himmel und Erde bestehen, sie werden nie aussterben … Die ideale Welt der großen Gleichheit und Harmonie [da tong, die ideale konfuzianische Gesellschaft] ist ein törichtes Konzept.« Das war nicht einfach die Aussage eines Pessimisten, nein, Mao glaubte, dass man den Kriegszustand anstreben müsse. Auch die Bevölkerung wünschte sich das seiner Meinung nach. »Ein lang anhaltender Frieden«, behauptete er,

ist für die Menschen unerträglich, daher müssen in diesem friedvollen Zustand immer wieder Wellen der Unruhe geschaffen werden … Ein Blick in die Geschichte lehrt uns, dass wir die Zeiten [des Krieges] verehren, in denen sich ein Drama nach dem anderen ereignete … denn dann macht die historische Lektüre großen Spaß. Die Zeiten des Friedens und des Wohlstands dagegen langweilen uns … Die menschliche Natur liebt plötzliche, schnelle Veränderungen.

Mao setzte sich einfach darüber hinweg, dass es einen Unterschied macht, ob man über turbulente Ereignisse liest oder verheerende Umwälzungen selbst erlebt. Er ignorierte die Tatsache, dass Krieg für die überwältigende Mehrheit Elend bedeutete.

Selbst gegenüber dem Tod vertrat er eine unbekümmerte Haltung:

Der Mensch ist von Natur aus neugierig. Warum sollten wir dem Tod anders gegenüberstehen? Wollen wir nicht das Unbekannte erleben? Der Tod ist der große Unbekannte, den man nie kennen lernen wird, wenn man weiterlebt … Manche fürchten sich davor, weil die Veränderung zu drastisch ist. Aber ich denke, dass gerade das so wunderbar daran ist: Wo sonst auf der Welt können wir eine so phantastische und drastische Veränderung erleben?

Unter Verwendung des majestätischen »Wir«, fuhr Mao fort: »Wir lieben es, auf einem Meer des Aufruhrs zu segeln. Wenn man sich vom Leben in den Tod begibt, ist das der größte Aufruhr. Ist es nicht wunderbar!« Diese Aussage wirkt auf den ersten Blick vielleicht surreal, passt aber zu einer späteren Äußerung Maos. Als unter seiner Herrschaft über 10 Millionen Chinesen verhungerten, erklärte Mao seinem inneren Führungskreis, es spiele keine Rolle, wenn Menschen sterben würden, dass der Tod vielmehr gefeiert werden müsse. Wie so oft wandte er diese Maxime nur auf andere Menschen an, nicht aber auf sich selbst. Sein Leben lang war er förmlich besessen davon, Mittel und Wege zu finden, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Er perfektionierte seine Sicherheit und nahm stets die beste medizinische Betreuung in Anspruch.

Bei der Frage »Wie verändern wir [China]?« betonte Mao vor allem die Macht der Zerstörung: »Das Land muss … zerstört und dann neu geformt werden.« Diese Aussage übertrug er auf die ganze Welt – selbst auf das Universum: »Das gilt für das Land, die Nation und die Menschheit … Die Zerstörung des Universums ist nichts anderes … Menschen wie ich sehnen sich nach seiner Zerstörung, denn wenn das alte Universum zerstört ist, wird ein neues Universum gebildet. Das ist doch besser!«

Diese Ansichten, die Mao mit vierundzwanzig so deutlich formulierte, bildeten sein ganzes Leben lang den Kern seines Denkens. 1918 waren die Aussichten gering, dass er sie je in die Praxis umsetzen würde, daher hatten sie keine Wirkung. Dennoch hinterließ Mao einen gewissen Eindruck bei seinen Mitmenschen. Sein Lehrer Yang Chang-chi schrieb am 5. April 1915 in sein Tagebuch: »Mein Student Mao Tse-tung sagte, dass … sein … Vater ein Bauer war und jetzt als Händler tätig ist… Dennoch ist er [Mao] so ein feiner und ganz besonderer Mensch. Findet man wirklich selten … Weil Bauernfamilien oft außergewöhnliche Talente hervorbringen, ermutigte ich ihn …«13 Allerdings schien Mao keine Führungsqualitäten zu besitzen. Ein anderer seiner Lehrer sagte später, er habe in der Schule »kein besonderes Führungstalent« gezeigt.14 Als Mao versuchte, eine Art Club zu gründen, und Aushänge machte, zeigten nur wenige Interesse, und es kam nichts dabei heraus. Ein Dutzend Freunde gründete im April 1918 eine Studiengesellschaft des Volkes, doch Mao wurde nicht zum Vorsitzenden gewählt.15

Mao hatte sogar Mühe, nach dem Abschluss seiner Lehrerausbildung im Juni 1918 Arbeit zu finden. Damals war es für Universitätsabsolventen üblich, im Ausland weiterzustudieren. Wenn die eigene Familie die Studenten nicht unterstützen konnte, wie es bei Mao der Fall war, bot sich die Möglichkeit einer Kombination aus Arbeit und Studium in Frankreich an. Da Frankreich im Ersten Weltkrieg so viele junge Männer verloren hatte, benötigte das Land Arbeitskräfte (die chinesischen Arbeiter hatten unter anderem die Aufgabe, die Leichen von den Schlachtfeldern zu räumen).

Einige von Maos Freunden gingen nach Frankreich, Mao nicht. Die Aussicht auf körperliche Arbeit schreckte ihn ab. Auch ein weiterer Faktor spielte offenbar eine Rolle: Man musste Französisch lernen. Mao war kein Sprachtalent, sein ganzes Leben lang sprach er nur seinen lokalen Dialekt. Er beherrschte nicht einmal putonghua, die »Allgemeinsprache«, die sein eigenes Regime zur Amtssprache erklärte. 1920 war es angesagt, nach Russland zu gehen, und auch Mao spielte mit dem Gedanken (einer Freundin sagte er, »mein Herz ist voller Glück und Hoffnung« bei dem Gedanken),16 doch die Tatsache, dass er dafür Russisch lernen musste, brachte ihn davon ab. Er machte einen Versuch und nahm Unterricht bei dem russischen Emigranten (und Agenten) Sergei Polewoj. Aber laut Polewoj verhöhnten die anderen Schüler Mao, weil er nicht einmal das kyrillische Alphabet behalten konnte, und er gab beleidigt auf.17 Im Gegensatz zu den meisten seiner radikalen Zeitgenossen, darunter der Großteil der zukünftigen kommunistischen Parteiführer, ging Mao weder nach Frankreich noch nach Russland.

Stattdessen borgte sich Mao nach seiner Ausbildung Geld und machte sich auf in die Hauptstadt Peking, um dort sein Glück zu versuchen. Peking war 1918 eine der schönsten Städte der Welt. Vor prächtigen Palästen zogen Kamele durch die Straßen. Die kaiserlichen Gärten, in deren Nähe Mao eine Unterkunft fand, waren gerade für die Öffentlichkeit freigegeben worden. Als der Winter kam, staunten er und seine Freunde (die alle wie er aus dem Süden stammten und noch kaum je Schnee oder Eis gesehen hatten) über die gefrorenen Seen und die mit schweren Eiszapfen behängten Trauerweiden und breitkronigen Winterpflaumen, die sie umstanden.

Doch das Leben in der Hauptstadt war hart. Die Modernisierung hatte China Freiheit und Chancen gebracht, aber kaum materielle Vorteile. Ein Großteil des Landes war immer noch extrem arm. Mao wohnte mit sieben Freunden in drei winzigen Zimmern. Zu viert quetschten sie sich auf ein »kang«, ein geheiztes Ziegelbett, und unter der einzigen Decke lagen sie so dicht, dass einer, wenn er sich umdrehen wollte, die anderen warnen musste. Die acht hatten zusammen nur zwei Mäntel und mussten sich daher abwechseln, wenn sie nach draußen wollten. Abends ging Mao zum Aufwärmen in die Bibliothek und las.18

Mao kam in Peking nicht voran. Eine Zeit lang fand er Arbeit als Hilfsbibliothekar und verdiente acht Yuan im Monat – davon konnte man leben. Zu seinen Aufgaben gehörte es, die Namen der Leute aufzuschreiben, die zum Zeitunglesen kamen, und viele von ihnen erkannte er als führende Intellektuelle. Er selbst aber machte keinen Eindruck auf sie und wurde nicht weiter beachtet. Mao fühlte sich vor den Kopf gestoßen und nahm das sehr übel. Später behauptete er, die meisten hätten ihn »nicht einmal wie ein menschliches Wesen« behandelt.19 Nach nicht einmal sechs Monaten verließ er Peking wieder. Er war so pleite, dass er sich Geld leihen musste, um wenigstens in Etappen nach Hause reisen zu können. Im April 1919 kehrte er nach einem kurzen Aufenthalt in Shanghai, wo er seine Freunde nach Frankreich verabschiedete, wieder nach Changsha zurück. Er hatte einen Blick auf das intellektuelle und politische Leben kosmopolitischer Großstädte geworfen, wenn auch nur von außen, und nun musste er sich mit einer niedrigen Position als Geschichtslehrer an einer Grundschule in seiner Heimatprovinz zufrieden geben.

Mao war nicht gerade ein Vorzeigelehrer. Er war nie ordentlich gekämmt und schien seine Kleider nicht zu wechseln.20 Seine Schüler erinnern sich an einen unordentlichen Mann mit Löchern in den Socken und selbstgemachten Baumwollschuhen, die fast auseinander fielen. Aber zumindest hielt er sich an die Grundregeln des Anstands. Zwei Jahre später, als er an einer anderen Schule lehrte, beschwerte man sich über ihn, weil er mit nacktem Oberkörper unterrichtete. Als er gebeten wurde, sich anständig zu kleiden, antwortete Mao: »Es wäre auch nicht skandalös, wenn ich splitternackt wäre. Sie können von Glück sagen, dass ich nicht völlig nackt bin.«

Maos Rückkehr nach Changsha fiel mit einem Wendepunkt in der Geschichte Chinas zusammen. Es gab in China damals einige Enklaven ausländischer Mächte, die nicht der chinesischen Rechtssprechung unterstanden und zum Schutz ihrer Bewohner häufig Kanonenboote in der Nähe stationiert hielten. Die neu erwachte öffentliche Meinung in China verlangte, dass diese »Minikolonien« an China zurückgegeben werden sollten. Doch die Pariser Friedenskonferenz von 1919, an der auch eine chinesische Delegation teilnahm, erlaubte Japan, das Gebiet von Shandong zu behalten, das die Japaner im Krieg von Deutschland erbeutet hatten. Die nationalistische Empörung schlug hohe Wellen. Am 4. Mai 1919 fand in Peking zum ersten Mal in der chinesischen Geschichte eine große Demonstration statt. Man warf der Regierung den »Ausverkauf« Chinas vor und protestierte gegen Japan, weil es am chinesischen Territorium festhielt. Die Bewegung erfasste ganz China. In vielen Städten wurden japanische Waren verbrannt, und Läden, die sie verkauften, wurden demoliert. Viele Chinesen waren von der republikanischen Regierung enttäuscht, weil sie es nicht geschafft hatte, bessere Bedingungen mit den ausländischen Mächten auszuhandeln als ihr Mandschu-Vorgänger, die Forderung nach drastischeren Maßnahmen wurde laut.

In Changsha, wo Japan, die USA und Großbritannien sogar Konsulate eröffnet hatten, wurde ein militanter Studentenbund gegründet, dem auch Lehrer angehörten. Mao wurde Herausgeber der organisationseigenen Zeitschrift Xiang-Fluss-Rundschau. In der ersten Ausgabe verkündete er seine radikalen Ansichten: »Wir müssen nun anzweifeln, was wir nicht anzuzweifeln wagten, Methoden anwenden, die wir nicht anzuwenden wagten.«21 Das Projekt war praktisch ein Einmannunternehmen: Nicht nur, dass Mao die meisten Artikel selbst schreiben musste, und das bei brütender Hitze, während Wanzen über den Stapel chinesischer Klassiker rannten, die ihm als Kopfkissen dienten, er musste die Zeitung auch noch selbst auf der Straße verkaufen. Es erschienen lediglich fünf Ausgaben.

Gelegentlich schrieb Mao Artikel für andere Zeitungen, darunter auch zehn Artikel über das Thema Frau und Familie. Mao setzte sich für die Unabhängigkeit der Frau ein, für die freie Partnerwahl bei der Heirat und die Gleichstellung von Mann und Frau – Ansichten, die unter Radikalen nicht ungewöhnlich waren. Seine Aufsätze wurden wohl durch den Tod seiner Mutter am 5. Oktober 1919 inspiriert, die er sehr liebte.22 Er hatte ihr Rezepte für Medikamente zur Behandlung ihrer Krankheiten geschickt, sie litt an Diphtherie und einer tuberkulösen Erkrankung der Lymphknoten. Außerdem sorgte er dafür, dass sie zur Behandlung nach Changsha gebracht wurde. Im Frühjahr 1919 ließ sie sich dort zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben im Alter von 52 Jahren zusammen mit ihren drei Söhnen fotografieren – ein Bild von Frieden und Harmonie. Maos Gesichtsausdruck zeugt von ruhiger Entschlossenheit und Unnahbarkeit. Anders als seine beiden Brüder, die bäuerliche Kleidung tragen und unbeholfen wirken, hat Mao in seinem langen Gewand, der traditionellen Bekleidung der Lehrer und Vornehmen, etwas Würdevolles an sich.

Maos Mutter scheint ihren Sohn bedingungslos geliebt und verwöhnt zu haben. Sein Verhalten ihr gegenüber war dagegen nicht nur von starken Gefühlen, sondern auch von Selbstsucht geprägt. Später erzählte er einem Mitglied seines engsten Stabs eine aufschlussreiche Geschichte: »Als meine Mutter starb, sagte ich ihr, ich könne es nicht ertragen, sie so leiden zu sehen. Ich wollte ein schönes Bild von ihr in Erinnerung behalten, daher sagte ich ihr, dass ich eine Weile nicht kommen würde. Meine Mutter war ein sehr verständnisvoller Mensch und stimmte zu. Daher habe ich immer noch das Bild von meiner Mutter als einer gesunden und schönen Frau in Erinnerung, und so wird es immer bleiben.«23 Noch an ihrem Sterbebett ging es Mao weniger um seine Mutter, sondern um sich, und er verhehlte das auch nicht.

Seinen sterbenden Vater behandelte Mao so kühl, wie es zu erwarten war. Yi-chang starb am 23. Januar 1920 an Typhus. Vor seinem Tod wollte er seinen ältesten Sohn noch einmal sehen, aber Mao kam diesem Wunsch nicht nach. Er zeigte auch keinerlei Trauer um ihn.24

In einem Artikel vom 21. November 1919 schrieb Mao kurz nach dem Tod seiner Mutter unter der Überschrift »Über die Unabhängigkeit der Frau«: »Frauen können körperlich so schwer arbeiten wie Männer. Nur während der Schwangerschaft können sie diese Arbeit nicht verrichten.« Seine Lösung für die »Unabhängigkeit der Frau« lautete daher: »Frauen sollten sich… vor der Ehe ausreichend vorbereiten, damit sie sich selbst ernähren können.«25 Als Mann wollte Mao ganz eindeutig nicht für eine Frau sorgen. Er wollte keine Verantwortung für sie übernehmen. Mehr noch, seine Behauptung, dass Frauen die gleiche schwere körperliche Arbeit wie Männer verrichten könnten (was eindeutig nicht der Realität entsprach), zeigte, dass er auch keine besonders zarten Gefühle für Frauen hegte. Als er an die Macht kam, ging es ihm, was Frauen betraf, vor allem darum, sie zur Schwerarbeit zu verpflichten. 1951 verfasste er sein erstes Motto für den Tag der Frau: »Tut euch zusammen, damit ihr euch an der Produktion beteiligen könnt …«26

Ende 1919 starteten radikale Studenten und Lehrer in Hunan eine Kampagne mit dem Ziel, den Warlord der Provinz, einen gewissen Chang Ching-yao, zu stürzen. Mao reiste mit einer Delegation nach Peking, um sich die Unterstützung der Zentralregierung zu sichern, übernachtete in einem tibetischen Tempel und verfasste auf dem Altar Petitionen und Pamphlete. Die Delegation erreichte ihr Ziel zwar nicht, doch Mao lernte als führender Radikaler aus Hunan einige berühmte Persönlichkeiten kennen, darunter den bekannten Liberalen Hu Shi und Li Ta-chao, einen prominenten Marxisten.27

Aber erst auf dem Rückweg hatte Mao in Shanghai eine wichtige Begegnung, die sein Leben verändern sollte. Im Juni 1920 besuchte er Professor Chen Tu-hsiu, den damals führenden marxistischen Intellektuellen in China, der gerade dabei war, eine chinesische kommunistische Partei (KPC) zu gründen. Mao hatte ihn in einem langen Artikel als »hellen Stern der Geisteswelt« beschrieben.28 Der 40-jährige Chen war der unumstrittene Führer der chinesischen Marxisten, ein charismatischer, impulsiver Mann und begeisterter Vertreter der marxistischen Ideologie.

Die Idee zur Gründung einer kommunistischen Partei stammte allerdings nicht vom Professor und auch von keinem anderen Chinesen. Sie kam aus Moskau.29 1919 hatte die neue sowjetische Regierung die Kommunistische Internationale ins Leben gerufen. Mit Hilfe der Komintern sollte die Revolution vorangetrieben und die Weltpolitik im Sinne Moskaus beeinflusst werden. Im August startete Moskau ein umfangreiches Geheimprogramm zur Vorbereitung eines Umsturzes in China, eine Aktion, die drei Jahrzehnte lang währte und die Entsendung von Geld, Beratern und Waffen umfasste und schließlich zum Erfolg führte. 1949 kamen die Kommunisten unter Mao an die Macht – der nachhaltigste außenpolitische Triumph der Sowjetunion.

Im Januar 1920 nahmen die Bolschewiken Mittelsibirien ein und schufen damit eine Überlandverbindung nach China. Im April schickte die Komintern Grigori Woitinski als Vertreter nach China.30 Im Mai wurde ein Zentrum in Shanghai gegründet, mit der Absicht, wie ein anderer Agent nach Moskau meldete, »eine kommunistische Partei aufzubauen«. Woitinski regte Professor Chen dann zur Gründung einer kommunistischen Partei an. Im Juni meldete Woitinski nach Moskau, dass Chen zum Parteisekretär (das heißt zum Vorsitzenden der Partei) ernannt werden würde, und dass er »Revolutionäre in verschiedenen Städten« kontaktiere.

Genau zu diesem Zeitpunkt fand Maos Besuch bei Professor Chen statt. Es war Zufall, dass Mao in die Gründungsphase der KPC geriet. Mao war nicht als Gründungsmitglied eingeladen. Offenbar wurde er nicht einmal darüber informiert, dass eine Partei gegründet werden sollte. Die etwa acht Gründungsmitglieder waren alle bedeutende Marxisten, und Mao hatte noch nicht einmal erklärt, dass er an den Marxismus glaubte. Die Partei wurde im August gegründet,31 nachdem Mao Shanghai wieder verlassen hatte.Ref 1

Mao war zwar kein Gründungsmitglied, gehörte aber zum direkten äußeren Kreis. Von Professor Chen erhielt er den Auftrag, eine Buchhandlung in Changsha zu eröffnen und dort Parteiliteratur zu verkaufen. Der Professor war gerade damit beschäftigt, seine einflussreiche Monatszeitschrift Neue Jugend zum Parteiorgan umzubauen. In der Juliausgabe fanden sich Berichte über Lenin und die Sowjetregierung. Ab Herbst wurde das Magazin von der Komintern subventioniert.32

Mao hatte die Aufgabe, die Neue Jugend und andere kommunistische Veröffentlichungen zu vertreiben (und auch andere Bücher und Zeitschriften zu verkaufen). Er war zwar kein überzeugter Kommunist, aber ein Radikaler. Außerdem liebte er Bücher und war dankbar für eine Stelle. Schon bald nach seiner Rückkehr nach Changsha erschien eine Anzeige für die Buchhandlung mit der folgenden, von ihm selbst verfassten Erklärung: »Auf der ganzen Welt gibt es keine neue Kultur. Nur in Russland an der Küste des Arktischen Ozeans wurde die kleine Blüte einer neuen Kultur entdeckt.« Die Buchhandlung bestellte umgehend 165 Hefte der Juliausgabe von Neue Jugend, bei weitem die größte Bestellung. Auch die 130 Hefte der Arbeiterwelt, einer neuen Parteizeitschrift für Arbeiter, waren ein großer Posten. Fast alle Zeitschriften, die die Buchhandlung bestellte, waren radikal und prorussisch eingestellt.33

Mao riskierte mit seinen kommunistischen Aktivitäten nicht viel, denn sie waren nicht verboten. Zu der Zeit war das kommunistische Russland sogar in Mode. In Changsha wurde eine Russische Studiengesellschaft gegründet, die sogar den Bezirksvorsitzenden als Vorstand hatte. Die Popularität Russlands basierte größtenteils auf einer Lüge der neuen russischen Regierung: Sie verkündete, sie wolle auf die alten zaristischen Privilegien und Gebiete in China verzichten, obwohl sie nicht die Absicht hatte. Das von Russland kontrollierte Gebiet umfasste über 100 000 Hektar und stellte damit den größten Anteil an ausländischen Konzessionen, wie die Gebiete genannt wurden.

Mao war für die Buchhandlung verantwortlich, stellte aber einen Freund an, der sich darum kümmerte. Hier kam ein entscheidender Wesenszug Maos zum Vorschein: Er hatte ein Talent zum Delegieren, und er fand stets die geeigneten Leute. Er selbst verlieh sich den Titel »spezieller Verbindungsmann«, warb bei Reichen um Unterstützung und verhandelte mit Verlagen, Bibliotheken, Universitäten und führenden Intellektuellen im ganzen Land.34 Professor Chen und andere namhafte Personen bürgten für die Buchhandlung, die Mao einen ganz neuen Status verschaffte und ihm half, die angesehene Position als Rektor der Grundschule zu erhalten, die zu seinem alten Lehrerseminar gehörte.

Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Mao inzwischen Parteimitglied war, allerdings galt er im November dank der Buchhandlung als »einer von uns«.35 Als Moskau die Gründung einer Organisation namens Sozialistische Jugendliga in Hunan beschloss, um damit Nachwuchsarbeit für die Partei zu betreiben, wurde Mao angesprochen, die Aufgabe zu übernehmen. Im folgenden Monat erklärte er in einem Brief an Freunde in Frankreich, er sei »sehr damit einverstanden, das russische Modell zur Reform Chinas und der Welt anzuwenden«. Damit brachte er zum ersten Mal kommunistische Ansichten zum Ausdruck.36

Mit fast 27 Jahren war Mao Kommunist geworden – nicht nach einer idealistischen Suche und auch nicht aus leidenschaftlicher Überzeugung, sondern weil er zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war und eine Aufgabe erhielt, die ihm sehr gelegen kam. Er war in eine expandierende Organisation eingebunden worden.

Siao-yu, sein bester Freund aus der damaligen Zeit, war der Ansicht, die Kosten der russischen Methode seien zu hoch. Aus Frankreich schrieb er an Mao, was er und einige andere dachten:

Wir sind nicht der Meinung, dass einige für das Wohl der Mehrheit geopfert werden sollten. Uns schwebt eine gemäßigte Revolution durch Erziehung vor, eine, die nach dem Wohl aller strebt… Wir halten Revolutionen im russischen Stil – im marxistischen – für ethisch falsch …37

Mao fasste diesen Ansatz mit den Worten zusammen: »mit friedlichen Mitteln nach dem Glück aller streben«. Er erhob keine ideologischen Einwände dagegen, sondern führte nackten Realismus ins Feld: »Ich habe dazu zwei Kommentare …: Das ist in der Theorie alles schön und gut, kann aber nicht in die Praxis umgesetzt werden.« Mao weiter: »Ideale sind wichtig, aber die Realität ist noch wichtiger«.38

Mao war kein gläubiger Anhänger. Dieser Mangel an tief empfundener Überzeugung führte zu einer sehr unkonventionellen und ungewöhnlichen Beziehung zur Partei, und zwar sein ganzes Leben lang, selbst als er deren Vorsitzender war.

3

Halbherziger Anhänger (1920–1925, 26–31 Jahre)

Zur gleichen Zeit, als Mao in der Kommunistischen Partei Fuß fasste, entspann sich auch eine Beziehung zur Tochter seines ehemaligen Lehrers Yang Chang-chi. Yang Kai-hui war acht Jahre jünger als Mao und sollte seine zweite Frau werden.

Sie wurde 1901 in einem idyllischen Ort in der Nähe von Changsha geboren. Das zarte und sensible Kind wuchs bei seiner Mutter auf, die aus einer Gelehrtenfamilie stammte. Der Vater lebte elf Jahre im Ausland, in Japan, Großbritannien und Deutschland, und studierte Ethik, Logik und Philosophie. Als er im Frühjahr 1913 nach Changsha zurückkehrte, brachte er europäische Sitten mit und ermunterte seine Tochter, gemeinsam mit ihm und seinen männlichen Schülern zu essen, was damals unerhört war. Das schöne, elegante, sensible und wortgewandte Mädchen schlug alle jungen Männer in den Bann.

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