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Vertriebene als Opfer? - Die Geschichte eines politischen Drahtseilakts
»Aus dem Osten« - Die Herkunftsgebiete der deutschen Vertriebenen
Der Exodus der Deutschen aus dem Osten - Flucht, Vertreibung, Zwangsausweisung
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Vertriebene als Opfer?
Die Geschichte eines politischen Drahtseilakts
Am 29. Mai 1999 bekannte Bundesinnenminister Otto Schily auf einer Veranstaltung des Bundes der Vertriebenen (BdV): »Die politische Linke hat in der Vergangenheit, das läßt sich leider nicht bestreiten, zeitweise über die Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, das den Vertriebenen zugefügt wurde, hinweggesehen, sei es aus Desinteresse, sei es aus Ängstlichkeit vor dem Vorwurf, als Revanchist gescholten zu werden, oder sei es in dem Irrglauben, durch Verschweigen und Verdrängen eher den Weg zu einem Ausgleich mit unseren Nachbarn im Osten zu erreichen. Dieses Verhalten war Ausdruck von Mutlosigkeit und Zaghaftigkeit.«1
Das war eine späte Einsicht. Viele der 14 Millionen Deutschen, die nach dem Krieg ihre Heimat verloren, hat sie nicht mehr erreicht. Damals kamen 2 Millionen Menschen bei Flucht und Vertreibung um, Deutschland verlor ein Viertel seines Territoriums. Abgesehen von der Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden hat nichts, was auf die NS-Wahnherrschaft zurückzuführen ist, der deutschen Gesellschaft so schwere Wunden geschlagen und das Land so versehrt. Doch die meisten Deutschen wollten das nicht sehen, nicht hören, nicht wissen. Mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Krieges hat Günter Grass in der Novelle Im Krebsgang betroffen bekannt: »Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos.«2 Daß mit dem Osten nicht nur die Vertriebenen, sondern alle Deutschen viel verloren hatten, dieses Bewußtsein schwand bald nach dem Krieg.
Schon der materielle Wert der deutschen Ostgebiete läßt sich kaum bemessen. Schlimmer jedoch wiegt der kulturelle Verlust. Es ist schwer, das Geschehen in angemessene Worte zu fassen und Pseudologiken, Abstraktionen sowie eine Rhetorik der Zwangsläufigkeit zu vermeiden.3 Die Geschichtsschreibung zur Vertreibung ist aus vielerlei Gründen besonders anfällig für Rechthaberei, oberlehrerhaftes Moralisieren und politische Instrumentalisierung, denn alle sind Betroffene, jeder hat seine eigene Wahrheit. Obwohl äußerlich kein Unterschied mehr feststellbar ist, so Karl Schlögel, besteht die mentale Kluft zwischen den Deutschen, die ihre Heimat verloren, und denen, die dieses Schicksal nicht erlitten haben, nach wie vor.4
In Millionen deutschen Wohnzimmern wurde nach dem Krieg geweint um den Verlust der Heimat. Man muß diese Trauer und diesen Schmerz benennen, das gehört zur geistigen Hygiene, sagt Rüdiger Safranski: »Es gibt eine deutsche Neurose. Alles, was deutsches Schicksal ist, steht unter Verdacht, das sitzt tief. Deutsche Vergangenheit hat die Vergangenheit des deutschen Großverbrechens zu sein, basta.«5
14 Millionen Deutsche waren nach 1945 ohne Heimat. Im allgemeinen Chaos des Zusammenbruchs trafen sie in den Besatzungszonen ein, und die Behörden wußten nicht, wie und wo sie diese Massen unterbringen und verwaltungsmäßig einordnen sollten. Vor 1953 findet man für die Heimatlosen Bezeichnungen von größter Beliebigkeit. Man sprach von Aussiedlern und Vertriebenen, von Flüchtlingen, Ostvertriebenen, Heimatvertriebenen, Ausgewiesenen und Heimatverwiesenen. 1947 setzte sich dann allmählich »Vertriebene« - expellees - durch, auch weil die amerikanische Besatzungsmacht das anordnete. Der Begriff sollte zum Ausdruck bringen, daß die Vertreibung endgültig war und keine Hoffnung auf Rückkehr bestand. Nach Gründung der Bundesrepublik wurde »Vertriebener« aus semantischen Gründen dem Begriff »Flüchtling« vorgezogen.
Flüchtling oder Vertriebener? Unterschiedliche Wahrnehmungen lassen erkennen, daß es eine gemeinsame Geschichte aller Vertriebenen nicht gibt; zu verschieden sind deren Schicksale und Erfahrungen. Hier sollen dennoch alle der Einfachheit halber als »Vertriebene« bezeichnet werden. Im Bundesvertriebenengesetz (BVFG) ist das Wort »Flüchtling« für diejenigen reserviert, die aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) geflohen sind.
Die Sowjetische Besatzungszone war bis 1949 Aufnahme- und Transitland für schier endlose Ströme von Flüchtlingen und Vertriebenen. Insgesamt nahm sie 4,3 Millionen Menschen auf; in Mecklenburg stellten Vertriebene die Hälfte der Bevölkerung. Trotzdem war das Thema Flucht und Vertreibung in der SBZ und späteren DDR tabu. Mit Rücksicht auf die Sowjetunion und die anderen »sozialistischen Bruderländer« durfte über Ausweisung und Vertreibung, gewaltsame Übergriffe der »Freunde« auf die deutsche Bevölkerung sowie Deportation und Zwangsarbeit nicht gesprochen werden. Das schlug sich im Sprachgebrauch nieder: Flüchtlinge und Vertriebene wurden als »Umsiedler« bezeichnet, bis auch dieser Begriff spätestens 1950 durch den »Neubürger« ersetzt wurde. Die Vertriebenen wurden zwangsassimiliert, doch nach der Wiedervereinigung offenbarte sich, daß trotz der Unterdrückung durch das SED-Regime kulturelle Inseln und einzigartige Milieus erhalten geblieben waren.
Egerländertreffen in Schwäbisch Hall, 26. August 1950
Die Wahl des Mottos »Wir bleiben der Heimat treu« erfolgte unter dem Eindruck der Vertreibung, noch herrschte der Rückkehrwunsch vor. Doch die vielen Millionen Vertriebenen aus dem Osten sollten für immer bleiben und für alle eine schwere Herausforderung darstellen. »Aus ihrem Land waren sie vertrieben worden, und in unserem wurden sie nicht heimisch. Sie hatten sich bei uns niedergelassen, sie hatten in unserer Stadt ihr Quartier aufgeschlagen, aber eigentlich bewohnten sie ihre verschwundene Heimat. Fortwährend sprachen sie darüber, was sie alles verloren hatten, und davon wollte keiner in der Stadt etwas hören«, schreibt Christoph Hein in dem Roman Landnahme.
Während in der DDR das totalitäre Regime das Thema Flucht und Vertreibung unterdrückte, wurde es in der alten Bundesrepublik beinahe von selbst gemieden. Die Westdeutschen sahen sich in der unsicheren und chaotischen Lage der ersten Nachkriegszeit überrollt vom Strom der vertriebenen Deutschen aus dem Osten, denen es ganz ohne Zweifel noch elender ging als ihnen selbst. Und für viele Vertriebene, die auf Solidarität oder einfach nur auf Mitgefühl gehofft hatten, war der Empfang im Westen ein Schock. Auf die Vertreibung folgte nun die bittere Erfahrung von Ausgrenzung und Ablehnung als unerwünschte Fremde. Mitleid müsse man mit ihnen nicht haben, denn sie seien allesamt Nazis, war eine weitverbreitete Ansicht. Walter Dirks und Eugen Kogon warnten deshalb schon 1947: »Die Nation gilt als eine Einheit im Guten, im Stolz, im Gewinn, im Sieg - sie wird auch im Bösen beim Wort genommen, als eine Einheit behandelt auch in der Niederlage und in der Schande. Die armen Opfer in Schlesien und Ostpreußen leiden stellvertretend für die wahren Schuldigen, und es ist ein Zufall, daß nicht wir es sind, du und ich, die stellvertretend leiden und sterben müssen.«6
Im Zusammenbruch von 1945 zerfielen die Deutschen in »zwei Schicksalsgemeinschaften« - in die der Einheimischen und die der Vertriebenen -, und diese beiden Lager traten zueinander in »Opferkonkurrenz«. 7 Dieser Konkurrenzkampf trug »deutliche Züge eines Nationalitätenkampfes und eines Klassengegensatzes«.8 Daß aus dem Osten vertriebene Deutsche im Westen als »Polacken« oder »dahergelaufenes Gesindel« beschimpft und gemieden wurden, zeigt, wie schnell jeder ein Fremder werden und von Diskriminierung bedroht sein kann.
Die erlittenen Traumata während der Vertreibung, soziale Isolation und Deklassierung sowie das Ringen um eine Identität zwischen Hier und Dort machte das Heimischwerden in der fremden Umgebung oft geradezu unmöglich. Die Betroffenen schwiegen oder öffneten sich allenfalls spät und nur zögernd ihren nächsten Angehörigen.
Seit den 1960er Jahren spielte das Schicksal der Vertriebenen in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit kaum noch eine Rolle, und auch die Erinnerung an das historische Ostdeutschland schwand zusehends, bewahrt nur noch in den landsmannschaftlichen Biotopen. Man tolerierte es jetzt sogar, wenn die ostmitteleuropäischen Staaten die Inkorporation Ostdeutschlands als die Rückkehr »urpolnischer Gebiete« feierten und verschwiegen, daß hier einmal Deutsche gelebt hatten. Vertriebene galten pauschal als Revanchisten, weshalb es unter Intellektuellen verpönt war, sich mit Flucht und Vertreibung der Deutschen zu beschäftigen.
In den 1980er Jahren gelang es allmählich, wenn auch stockend, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und die Geschichte von der Ankunft der 14 Millionen Deutschen aus dem Osten zu erzählen. Einen Auftakt stellte die erste kritische wissenschaftliche Bilanz dar, die 1987 auf einer Tagung unter Leitung von Helga Grebing zum Thema Vertriebene und Flüchtlinge gezogen wurde.9 Bis dahin lieferten Autoren zur Ankunft der Vertriebenen nach 1945 für gewöhnlich eine allgemein akzeptierte Erfolgsgeschichte und sprachen von einer gelungenen Integration. Anpassung und Eingliederung waren demnach das Ergebnis der gemeinsamen Anstrengung von Einheimischen und Vertriebenen. Die enormen Anpassungsschwierigkeiten der ersten Jahre, die diskriminierende und rassistische Ausgrenzung der Ortsfremden durch Dorf- und Kleinstadtbewohner wurden nicht erwähnt. Man betrachtete das Geschehene vorzugsweise aus dem Blickwinkel der Westdeutschen, während die Perspektive der Vertriebenen, die auch deren persönliche Vorgeschichte bis zu Flucht, Vertreibung, Ankunft und Eingliederung im Westen umfaßt, kaum zur Geltung kam. Daran haben auch die vielen landesgeschichtlichen und methodisch innovativen Forschungsarbeiten, die in den vergangenen Jahren entstanden sind, kaum etwas zu ändern vermocht, da sie wegen ihres räumlich begrenzten Schwerpunkts meist nur wenig Beachtung finden.
Integration soll mehr sein als die Summe der vereinigten Teile. Die Deutschen der Nachkriegszeit verstanden unter Integration aber rein bürokratisch-zweckrationales Handeln. Es überwog eine ausgeprägt materialistische Vorstellung, während persönliche Betroffenheit, Trauer, Traumatisierung und Schmerz nicht wahrgenommen wurden,10 obwohl viele Anzeichen dafür sprechen, daß Millionen Deutsche schwer traumatisiert waren. Gustav Seibt sieht in der bundesrepublikanischen Landschaft Hinweise dafür: »Man hat noch nicht über die Anthropologie der deutschen Nachkriegsgesellschaft nachgedacht. Aber wer sie zu schreiben versuchte, der müsste von der massenhaften Elementarerfahrung von Obdachlosigkeit und Flucht ausgehen. Ist sie nicht einbetoniert in der sichtbaren Oberfläche dieser Gesellschaft? In den Hunderttausenden Eigenheimen, in ihrer peniblen Reinlichkeit, ihrer heimatlosen, frostig anmutenden Gleichförmigkeit und ihren überheizten Wohnzimmern? In den Fußgängerzonen und Einkaufszentren, in der geschrubbten Ordentlichkeit, Befestigtkeit und Solidität der Lebensumstände? (…) Das Gefühl für die Heimat stand, jedenfalls in den Dichtungen der Menschheit, immer neben der Erinnerung an Flucht und Entwurzelung. Warum sollte das ausgerechnet heute anders sein?«11
Der Schmerz über den Verlust der Heimat saß tief und konnte durch den Lastenausgleich allenfalls gemildert werden. Das war ein Tropfen auf den heißen Stein, eine Hilfe für den Neuanfang in der Fremde, in der man sich auf Dauer würde einrichten müssen. Aber eine Entschädigung, das konnte und sollte er nicht sein, obwohl man es in der nach Westen ausgerichteten Republik gerne so gesehen hätte.
Die oft gepriesene materielle Integration der Heimatlosen im Wirtschaftswunderland gelang letztlich, weil die Vertriebenen nicht in der Rolle der Betroffenen verharrten, sondern selbst Hand anlegten und durch ihre Leistungs- und Anpassungsbereitschaft, ihre Arbeits- und bald auch ihre Kaufkraft das Wirtschaftswunder ganz entscheidend mittrugen. Überliefert ist aber die Geschichte der Einheimischen, die, überschwemmt vom Flüchtlingsstrom, angeblich ganz allein durch gewaltige Leistungen die Heimatlosen integrierten. Für die Historikerin Helga Grebing gehört die Ignoranz gegenüber den Landsleuten aus dem Osten zu den deutschen Verdrängungsleistungen nach 1945, war gleichfalls eine »Unfähigkeit zu trauern«.12
Die Aufnahme und Ansiedlung der Entwurzelten war ein langer, bis heute nicht abgeschlossener Prozeß voller Spannungen und Rückschläge und keineswegs eine ungebrochene Erfolgsgeschichte. Er forderte Anpassung und Veränderung von der zwangsweise zugezogenen Bevölkerung wie von den Einheimischen. Die Fremden brachen ein in die bis dahin weitgehend homogenen Gesellschaften auf dem Land. Ihre Andersartigkeit führte dazu, daß überkommene Abgrenzungen sich auflösten und Gegensätze aufeinandertrafen. Mit der Ankunft der ost- und südostdeutschen Vertriebenen veränderte sich das Antlitz West- und Mitteldeutschlands in einem bis dahin ungekannten Ausmaß. Sie leisteten einen substantiellen Beitrag zu Entprovinzialisierung, Säkularisierung und Urbanisierung Deutschlands und stellten damit einen gewichtigen Modernisierungsfaktor dar.13
Es ist an der Zeit, die Vertriebenen selbst in den Mittelpunkt der Untersuchungen zu stellen, wie es die vom Bonner Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland initiierte Ausstellung »Flucht - Vertreibung - Integration« 2005 getan hat. Unter großer medialer Beachtung wurde hier erstmals mit den Augen der Opfer auf die Ankunftsgeschichte geschaut.
Es ist an der Zeit, ideologische Gräben zuzuschütten und sich der Zäsur zu widmen, die die Ankunft der Vertriebenen für Deutschland darstellt und es so nachhaltig prägte wie kaum ein Ereignis zuvor.
Es ist an der Zeit, deutsche Vertriebene endlich als Opfer zu begreifen, die nicht nur unter Flucht und Vertreibung gelitten haben, sondern auch unter der Hartherzigkeit ihrer eigenen Landsleute.
Das maßgeblich vom Bund der Vertriebenen (BdV) propagierte »Zentrum gegen Vertreibungen« erhitzte längere Zeit nicht nur in Deutschland die Gemüter. Sechzig Jahre nach Kriegsende trat plötzlich vehement die Erinnerung daran zutage, daß auch Deutsche im Zweiten Weltkrieg und danach Opfer von Grausamkeiten geworden sind, Opfer des Bombenkrieges oder von Flucht und Vertreibung. Das ließ bei vielen Besorgnis aufkommen.14 Dieser Wendepunkt im öffentlichen Bewußtsein wurde - so Michael Schwartz - von ihnen nicht als Chance, sondern als Bedrohung empfunden. Es steht nicht die kollektive Verantwortungsgemeinschaft zur Disposition, sondern es geht um die Aufnahme der deutschen Opfer von Krieg und Nachkrieg in die allgemeine Erinnerung. Der Kampf um Anerkennung der Vertriebenen als Opfer richtet sich weniger gegen die ostmitteleuropäischen Nachbarvölker als vielmehr auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Auf gesellschaftlicher Ebene sind es gerade Vertriebene und Aussiedler mit ihren Nachkommen, die Interesse an unseren östlichen Nachbarn zeigen und persönliche Beziehungen zu ihnen unterhalten; auf der politischen Ebene sollen sie jedoch nichts zu melden haben.15 Gesellschaft und Politik müssen zusammengeführt werden, ebenso Erinnerung und Geschichte, aber das kann nur geschehen, so Karl-Peter Schwarz, »wenn die Erinnerung gesellschaftlich akzeptiert und ernst genommen wird. Geschichte, die ganzen Opfergruppen das Recht auf Erinnerung abspricht und ihnen den Zutritt zum öffentlichen Raum verwehren will, ist einer offenen Gesellschaft nicht zuträglich. Sie verhindert, daß ein frischer Wind auch jene Nischen erfassen kann, in denen sich ideologischer Mief festgesetzt hat. Sie ist auch nicht hilfreich in den Beziehungen zu den Nachbarländern, wo sich mutige Historiker und Intellektuelle den nationalistischen und postkommunistischen Geschichtsklitterungen widersetzten und die Vertreibung der Deutschen als das bezeichneten, was sie war, nämlich ein Unrecht und ein Verbrechen.«16
Die aktuelle Debatte bietet allen Deutschen die Chance, sich der eigenen Vergangenheit zu öffnen. Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, wirbt dafür, der Geschichte der Vertriebenen endlich mehr Raum zu geben: »Das Thema gehört nicht Verbänden, Interessengruppen oder Ideologen (…), das Leid von Flucht und Vertreibung geht uns alle an.«17
Als sich die Westfälische Landessynode im November 1948 mit der »Aufgabe der Westkirchen an den Ostvertriebenen« befaßte, zeichnete einer der Referenten ein erschütterndes, aber durchaus realistisches Bild: »Die seelische Verfassung der Flüchtlingsmassen kann man in diesem Moment vielleicht am besten dadurch charakterisieren, daß sie irre geworden sind am guten Willen der Besatzungsmächte, der Behörden, der Parteien, auch der Kirche, ihnen zu helfen.« Das Flüchtlingspotential sei »voller revolutionärer Antriebe«, hieß es, »Millionen Menschen im deutschen Volk verwandeln sich in asoziale Typen. Sie gehören nirgendwohin.«18
Daß die Aufnahme der 14 Millionen nicht zur politischen Dauermalaise wurde und die befürchtete Radikalisierung ausblieb, dafür zahlten die Vertriebenen mit Verleugnung ihres Schmerzes und kultureller Selbstaufgabe. Schlesier, Ostpreußen, Pommern, Deutschböhmen und Banater Schwaben, die über Jahrhunderte beigetragen haben zur Vielfalt der deutschen Identität, hatten fern der Heimat nichts mehr zu melden. Sie mußten sich anpassen im Westen ihres Vaterlandes, das ihnen zur kalten Heimat werden sollte.
»Aus dem Osten«
Die Herkunftsgebiete der deutschen Vertriebenen
Berlin lag bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mitten in Deutschland; Görlitz und Frankfurt an der Oder waren keine hoch subventionierten Gemeinden in Grenzregionen, sondern prachtvolle Städte inmitten des Reiches. Noch heute erinnern in Berlin die historischen Kopfbahnhöfe an die Verbindungen in die einstmals deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße. Vom Stettiner Bahnhof, den man zu DDR-Zeiten zum Nordbahnhof machte, und vom Schlesischen Bahnhof, der in der späten DDR Hauptbahnhof hieß und nach der Wende zum Ostbahnhof wurde, fuhren die Züge nach Breslau, Stettin, Danzig und Königsberg ab. Noch gibt es Spuren, die daran erinnern, daß Deutschland jahrhundertelang über Oder und Neiße hinausreichte. Wer auf dem Berliner S-Bahnhof Friedrichstraße die Stahlkonstruktion sorgsam betrachtet, wird anhand der Firmenstempel feststellen, daß die Produzenten der Träger in »Grünberg/Schlesien« oder »Stettin« beheimatet waren.
Deutschlands einstiger Osten - Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen sowie die brandenburgische Neumark - machten mehr als ein Viertel des Reichsterritoriums aus. Breslau, Königsberg, Danzig und Stettin waren wichtige Metropolen Deutschlands. Rudolf von Thadden fragt sich verwundert, wie die Erinnerung an sie innerhalb einer Generation aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen verschwinden konnte: »Versteht man unter deutschem Osten einfach die DDR, oder evoziert der Begriff noch die Vorstellungen, die man früher einmal mit ihm verband, nämlich Gedanken an deutsche Lebenswelten östlich von Oder und Neiße? Noch vor anderthalb Generationen lagen Leipzig und Dresden in Mitteldeutschland, nicht in Deutschlands Osten.«1
Mit dem Erinnern an Flucht und Vertreibung kehren die Herkunftsgebiete der Vertriebenen, alte deutsche und deutsch geprägte Regionen, ins allgemeine Bewußtsein zurück. Beinahe vergessen scheint, daß ganze Landstriche jenseits der heutigen deutschen Ost-und Südostgrenzen einst deutsch oder maßgeblich von Deutschen geprägt waren. Dort lagen die Wurzeln der 14 Millionen vertriebenen Deutschen.
Der Kalte Krieg ist vorbei, die ideologischen Angriffe, der Revanchismusverdacht, dem man sich aussetzte, wenn man Schlesien nur erwähnte, gehören der Vergangenheit an. Aber nun stellt sich die Frage: Wie weit ist den Deutschen der historische deutsche Osten bereits entrückt? Viele Dokumentationen sorgen für mediale Präsenz und vermitteln den Eindruck großer emotionaler Nähe. Bei näherem Hinsehen offenbart sich aber, daß den meisten Deutschen das historische Ostdeutschland und die deutschen Siedlungsgebiete in Ost- und Südosteuropa gleichgültig sind. Deutsche Reiseunternehmen bieten ganz unbeanstandet Fahrten »in die Masuren« an, während sie sich niemals erlauben könnten, für einen Urlaub »in Toscana« zu werben. Die einstigen deutschen Kulturlandschaften im Osten sind dem innerdeutschen Wahrnehmungshorizont entrückt.
Es scheint, als sei dieser Verlust, die »halbseitige Reduktion der deutschen Existenz«, wie Karl Schlögel es bezeichnet, ohne Folgen für das innere Gleichgewicht der Deutschen geblieben.2 Seit sechzig Jahren gehören Schlesien, Ost- und Westpreußen, Pommern und die brandenburgische Neumark nicht mehr zu Deutschland. Seit sechzig Jahren leben die Deutschen nicht mehr in Prag, Brünn und Karlsbad, im Böhmerwald, in Eger und Gablonz. Dessenungeachtet hat Hannah Arendt viele Jahre nach dem Ende des Krieges bekannt: »In meiner Art zu denken und zu urteilen komme ich immer noch aus Königsberg.«3 Das Erbe des deutschen Ostens bleibt ein Teil deutscher und europäischer Geistesgeschichte. Joseph von Eichendorff, Simon Dach, Johann Gottfried Herder, E.T.A. Hoffmann, Käthe Kollwitz, Lovis Corinth, Hannah Arendt, Erich Mendelsohn, Johannes Bobrowski, Siegfried Lenz, Alfred Döblin, Andreas Schlüter, Andreas Gryphius, Arthur Schopenhauer, Kurt Schumacher, Gerhart Hauptmann, Horst Bienek, Günter Grass, Christa Wolf, Rudolf Virchow, Adalbert Stifter, Janosch, Rainer Maria Rilke, Franz Kafka - sie alle sind Teil des Kulturerbes, das der historische deutsche Osten hervorgebracht hat.
Deutschland reichte einst bis an die Memel und darüber hinaus bis nach »Nimmersatt, wo das Reich sein Ende hat«. Dieser heute in Litauen gelegene Ort war der nördlichste des Reiches im fernen Ostpreußen. Mit der Provinz Ostpreußen und ihrer Hauptstadt Königsberg verband man nicht nur Königsberger Klopse, Trakehner Pferde und Bernstein, sondern auch die Weltbäder Rauschen, Cranz, Nidden und Neukuhren, wo Thomas Mann Urlaub machte. Die ehrwürdige Hansestadt Danzig mit der Marienkirche und dem weltbekannten Krantor gehören zum alten Westpreußen, ebenso die in das UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommene Marienburg an der Nogat, die größte Burganlage der Welt und einst Sitz des Deutschen Ordens.
U-Bahnhof Weberwiese in Berlin, vormals Memeler Straße
Am 21. Dezember 1930 wurde der nach der ostpreußischen Stadt Memel benannte Bahnhof in Betrieb genommen. Mit der einseitigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als »Friedensgrenze« durch die DDR-Machthaber 1950 erhielt er dann den Namen des Mitbegründers der Polnischen Sozialistischen Partei Julian Marchlewski. Mitte der 1990er Jahre fielen die zu Ost-Berliner Zeiten angebrachten Wandkacheln allmählich von den Wänden, und der ursprüngliche Name wurde wieder sichtbar. Bei der Sanierung im Jahre 2003 wurden die unerwünschten Spuren der Erinnerung restlos getilgt. In ähnlicher Weise verfuhr man in Berlin mit dem Stettiner Bahnhof (heute Nordbahnhof) und dem Schlesischen Bahnhof (heute Ostbahnhof).
Westlich schließt die seit 1945 geteilte Provinz Pommern an mit der Hauptstadt Stettin am unteren Lauf der Oder. Zu Hinterpommern gehören die Ostseebäder Misdroy, Leba und Kolberg. Heute ist fast vergessen, daß der östliche Teil Brandenburgs, immerhin ein Drittel seiner Fläche, zur Neumark östlich von Frankfurt an der Oder gehört.
Das kulturell reichste Land des alten deutschen Ostens ist Schlesien mit der Hauptstadt Breslau. Schlesien, das sind barocke Kulturlandschaften, das Hirschberger Tal, das Riesengebirge, das Glatzer sowie das Waldenburger Bergland, das sind die Friedenskirchen von Jauer und Schweidnitz sowie die reichen Städte entlang der Oder bis nach Oberschlesien, dem großen Industrierevier mit Oppeln, Beuthen, Königshütte, Ratibor und Gleiwitz.
Aus dem engeren Staatsverband des Deutschen Reiches und der Habsburgermonarchie schieden neben der Provinz Posen und Teilen Westpreußens nach den Pariser Vorortverträgen die deutschen Gebiete in Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien aus. Damit gerieten das Egerland, die Kulturlandschaften entlang der Elbe und im Riesen- und Isergebirge, Prag und Mährisch Schlesien, die jahrhundertelang deutsch geprägt waren, in den Strudel des Nationalitätenkampfes.
Im Zuge des Landesausbaus und der Kolonisation haben sich deutsche Siedlungen und Siedlungsgebiete auch außerhalb des geschlossenen deutschen Sprachraums im südöstlichen Europa herausgebildet. 4 Die Landnahme erfolgte auf friedlichem Weg, denn die jeweiligen Landesherren selbst haben die Siedler gerufen und durch Zusicherung besonderer Rechte dazu gebracht, in öden und menschenarmen Gebieten Land unter den Pflug zu nehmen. Diese Gebiete zogen sich vom äußersten Nordosten, dem Baltikum, wo seit dem Mittelalter eine deutschbaltische Führungsschicht in Reval, Riga und Dorpat Kultur und Landesausbau nachhaltig prägte, bis in das historische Polen, wo deutsche Siedler im mittelpolnischen Lodzer Industrierevier sowie in Wolhynien und Galizien ansässig waren. Im Zarenreich traf man in den Städten Rußlands, an der Wolga, am Schwarzen Meer und auf der Halbinsel Krim auf bedeutende deutsche Minderheiten. Am Mittel- und Unterlauf der Donau und ihrer Nebenflüsse bis zum Schwarzen Meer, in den Hochländern am Fuße der Tatra und der Karpaten sowie in der Krain haben sich seit dem Mittelalter deutsche Siedler niedergelassen.
Caspar David Friedrich, Böhmische Landschaft mit dem Milleschauer,1808
Caspar David Friedrich wurde 1774 im vorpommerschen Greifswald geboren. Seine Familie hatte das katholische Schlesien zu Beginn des 18. Jahrhunderts wegen ihres protestantischen Glaubens verlassen müssen. Wenn man die stimmungsvollen böhmischen Landschaften des Malers betrachtet, meint man darin noch die Sehnsucht seiner Vorfahren nach der alten Heimat zu entdecken. Ein Vierteljahrtausend später verschlug es wiederum viele böhmische Vertriebene an die Ostseeküste, die dort niemals heimisch wurden, denn - so beschrieben Sudetendeutsche ihre Eindrücke von der Landschaft - »der Wind hat gestört«, »die Berge fehlten«, und »Strohdächer kannten wir nicht«.
Deutsche Bevölkerung in den deutschen Ostgebieten sowie in den deutschen Siedlungs gebieten in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu Beginn des Zweiten Weltkriegs5Länder, Landesteile, Provinzen (nach dem Gebietsstand vom 31. Dezember 1937)Deutsche Bevölkerung (im September 1939)Deutsche Ostgebiete gesamt9 955 000Ostpreußen2 473 000Pommern1 884 000Ostbrandenburg642 000Schlesien4 576 000Freie Stadt Danzig380 000Baltische Staaten gesamt250 000Estland17 000Lettland63 000Litauen*118 000Litauen (übriges Staatsgebiet)52 000Polen gesamt1 200 000Posen-Westpreußen335 000Ost-Oberschlesien330 000Östliches Teschener Schlesien40 000Mittelpolen360 000Wolhynien65 000Galizien70 000Tschechoslowakei gesamt3 544 000Sudetendeutsche Gebiete3 012 000übriges Böhmen und Mähren259 000westliches Teschener Schlesien67 000Hultschiner Ländchen52 000Slowakei130 000Karpato-Ukraine24 000Ungarn gesamt600 000Westungarn70 000Ungarisches Mittelgebirge220 000Budapest30 000Schwäbische Türkei220 000Batschka und Banat40 000übrige Gebiete20 000* mit dem 1923 annektierten ostpreußischen MemelgebietLänder, Landesteile, Provinzen (nach dem Gebietsstand vom 31. Dezember 1937)Deutsche Bevölkerung (im September 1939)Übertrag15 549 000Rumänien gesamt782 000Siebenbürgen gesamt253 000Banat274 000Sathmar/Bibor/Maramures34 000Buchenland (Bukowina)81 000Dobrudscha15 000Bessarabien93 000Alt-Rumänien32 000Jugoslawien gesamt536 000Banat126 000Batschka und Baranja191 000Syrmien72 000Slawonien69 000Bosnien, Serbien, Herzegowina30 000Kroatien14 000Untersteiermark und Übermurgebiet13 000Krain6 000Gottschee15 000Sowjetunion gesamt1 400 000Wolgagebiet420 000Wolhynien (Ost)60 000übrige Ukraine360 000Krim60 000Nordkaukasus100 000Südkaukasus30 000übrige europäische Gebiete160 000asiatische Gebiete210 000gesamt18 267 000
Im Mittelalter war es der König von Ungarn, der seine Grenzgebiete im Norden und Osten durch deutsche Wehrbauern, Handwerker, Bergleute und Kaufleute erschließen und verteidigen ließ. Auf diese Initiative geht das Siedlungswerk der Zipser Sachsen in der heutigen Slowakei mit den Städten Käsmark und Leutschau zurück. Es folgten die Siebenbürger Sachsen im heutigen Rumänien. Ihre prächtigen Kirchenburgen um Klausenburg und Hermannstadt prägen seit mehr als achthundert Jahren die fruchtbaren Landstriche Transsylvaniens. Krain, die Gottschee, die Untersteiermark um Marburg an der Drau und Laibach waren ebenfalls seit dem Mittelalter mit deutschen Siedlungen durchsetzt.
In der Neuzeit ließ das Habsburgerreich jene Gebiete besiedeln, die man den Osmanen abgerungen hatte: Die Donauschwaben kamen im 18. Jahrhundert nach Ungarn, in die »Schwäbische Türkei« südlich des Plattensees um Fünfkirchen herum, in das Ofener Bergland zwischen Raab, Donauknie und Plattensee mit dem Zentrum Budapest, in die Batschka zwischen Donau und Theiß mit dem Zentrum Neusatz in der heute serbischen Vojvodina, sowie in das Banat, die Grenzregion zwischen Serbien und Rumänien mit dem Zentrum Temeswar. Nach dem Ende der Habsburgermonarchie fanden sich rund 1,5 Millionen Donauschwaben in den drei Nachfolgestaaten Ungarn, Rumänien und Jugoslawien wieder. Deutsche zogen in das Buchenland mit der Hauptstadt Czernowitz, also in die heutige Bukowina, die zwischen Rumänien und der Ukraine aufgeteilt ist, nach Sathmar in der nordöstlichen Großen Ungarischen Tiefebene sowie in Teile des späteren Jugoslawien zwischen Save und Donau mit der Stadt Esseg (Slawonien, Bosnien, Syrmien) sowie in die Dobrudscha im heutigen Bulgarien. Die russischen Zaren riefen im 19. Jahrhundert die Bessarabiendeutschen in Gebiete, die heute zu Moldawien und zur Ukraine gehören. Ein Nachfahre dieser bessarabiendeutschen Siedler ist Bundespräsident Horst Köhler.
Die friedliche Landnahme hat das Zusammenleben mit den alten Bewohnern dieser Landstriche gefördert. Der wechselseitige Einfluß hat sich in der Wirtschaftsweise, im kulturellen Leben, in den Sitten und Gebräuchen niedergeschlagen. Konflikte blieben nicht aus, aber das Neben- und Miteinander trat stärker in Erscheinung als das Gegeneinander. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam dann mit dem Nationalismus Zwietracht auf im habsburgischen Vielvölkerstaat: Die bis dahin privilegierten Deutschen wollten sich mit ihrem Minderheitenstatus nicht abfinden, und die Staatsvölker strebten nach ethnisch homogenen Nationalstaaten.
Marktplatz in Kulm
Von Kulm ging der Missionsfeldzug des Deutschen Ordens in Preußen aus. Im Jahre 1233 stellte er hier die sogenannte Kulmer Handfeste für die Städte Thorn und Kulm aus. Sie wurde zum Vorbild für die Stadtrechte in Preußen, und auch die Rechte von Bauern und anderen Landbesitzern lehnten sich an das in der Handfeste formulierte Recht an. Auf diese Weise wurde die Kulmer Urkunde zu einer Art preußischem Grundgesetz. In der Kulmer Altstadt, die beherrscht wird von dem 1567 bis 1572 erbauten Renaissancerathaus, wurde 1895 Kurt Schumacher geboren, der erste Nachkriegsvorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Oft wird spekuliert, wie sich die SPD und die Bundesrepublik entwickelt hätten, wenn dieser Vorsitzende nicht so früh verstorben wäre. Sehr wahrscheinlich hätte der Lastenausgleich für die Vertriebenen ganz anders ausgesehen.
Die Unterdrückung ethnischer, nationaler und religiöser Minderheiten gehörte seit den ersten fragilen friedenspolitischen Gehversuchen in Versailles und Saint Germain zur Tagesordnung, so daß Präsident Wilsons Friedensordnung zu einer Farce wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg galten die Deutschen in Ost- und Südosteuropa als Angehörige des Staatsvolkes, das den Krieg verloren hatte. Trotz des allseits proklamierten Selbstbestimmungsrechts der Völker nahm man in Versailles bei der Festlegung der neuen Staatsgrenzen wenig Rücksicht auf sie. Ihre Siedlungsgemeinschaften wurden zum Teil willkürlich auseinandergerissen. Als Minderheit mußten sie ihre Eigenständigkeit gegen die nationalstaatlichen Ambitionen der jeweiligen Staatsvölker verteidigen. Da die Agrar- und Schulgesetze nach 1918 fast überall gegen die deutsche Minderheit gerichtet waren, bargen sie nicht nur sozialen, sondern auch nationalen Sprengstoff. Kleinliche Schikanen der Behörden waren an der Tagesordnung. Die Deutschen wehrten sich dagegen durch Zusammenschluß ihrer Siedlungsgemeinschaften innerhalb der jeweiligen Staaten und durch gemeinsame Aktionen der europäischen Minderheiten im Rahmen des Völkerbundes, doch es gelang ihnen nicht, wesentliche Verbesserungen durchzusetzen.
Die wachsende Unzufriedenheit mit den bestehenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen hatte zur Folge, daß unter den bis dahin weitgehend liberal-konservativen oder apolitischen Deutschen außerhalb der Reichsgrenzen radikal-nationalistische Bewegungen Fuß faßten. Diese gerieten nach 1933 zunehmend in den Sog der nationalsozialistischen »Volkstums- und Grenzlandpolitik« - mit verheerenden Konsequenzen: Infolge des von Deutschland ausgehenden Zweiten Weltkriegs und des nationalistischen Wahns wurden die Deutschen - sofern sie nicht bereits geflohen waren - aus den Ostgebieten sowie aus den alten Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa vertrieben. 14 Millionen Menschen verloren ihre Heimat.
Der Exodus der Deutschen aus dem Osten
Flucht, Vertreibung, Zwangsausweisung
Der vom nationalsozialistischen Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg hat rund 60 Millionen Menschen - Soldaten und Zivilisten - das Leben gekostet. Unter den Toten waren über 25 Millionen Sowjetbürger sowie 6 Millionen Juden, die Opfer des industriellen Massenmords in den deutschen Vernichtungslagern oder der Mordaktionen von Polizeibataillonen des SD und der SS in Osteuropa wurden. Auch Polen hat unter der NS-Besatzungs- und Germanisierungspolitik schwer gelitten. Diese Politik der Gewalt, die in den totalen Vernichtungskrieg mündete, kehrte sich schließlich gegen die Deutschen selbst. Es setzte die Vertreibung ein: der Deutschen aus dem östlichen Europa, der Finnen aus Karelien, der Polen aus den ostpolnischen Gebieten, der Ungarn aus der Slowakei und der Italiener aus Istrien. Begonnen hatte das verbrecherische Treiben schon während des Krieges mit den Zwangsdeportationen von Krimtataren, Tschetschenen, Wolgadeutschen und Einwohnern der baltischen Staaten innerhalb der Sowjetunion, den Zwangsumsiedlungen von Polen aus dem seit 1939 besetzten Westpolen in das Generalgouvernement und der Vertreibung, Deportation und Vernichtung der europäischen Juden.1
Der sich über mehrere Jahre hinziehende Prozeß von Flucht und Vertreibung der Deutschen kann in drei Phasen unterteilt werden. Er nahm je nach Gebiet, aus dem sie vertrieben wurden, verschiedene Formen an. Hier zu unterscheiden ist wichtig, denn nicht nur der Zeitpunkt von Flucht und Vertreibung, auch das Herkunftsgebiet - etwa in exponierter Lage weit im Osten - wirkte sich auf das Schicksal der Vertriebenen aus.
Der Exodus begann mit der Flucht vor der Sowjetarmee, es folgten sogenannte wilde Vertreibungen durch polnische und tschechoslowakische Machthaber, die vor Beginn der Grenzverhandlungen Fakten schaffen wollten; am Ende stand die vertraglich festgelegte Vertreibung nach dem Potsdamer Abkommen.
Im Juli 1944 wurden die Bewohner des Memellandes hinter die Memel evakuiert, im Oktober zogen die ersten sowjetischen Truppen in Ostpreußen ein. Trotz des ausdrücklichen Verbots von Gauleiter Erich Koch machten die Zivilisten sich nun auf den Weg nach Westen, vor allem als die Schreckensmeldungen von Nemmersdorf, das am 21. Oktober 1944 nach sowjetischer Besetzung noch einmal von der deutschen Wehrmacht zurückerobert werden konnte, die Runde machten. Die von der NS-Propaganda veröffentlichten Bilder des Grauens lösten eine Massenpanik unter der ostpreußischen Zivilbevölkerung aus. Mit der daraufhin einsetzenden Fluchtwelle aus Ostpreußen begann der große Exodus.
Noch weit mehr Menschen setzten sich in Bewegung, als die Sowjetarmee Mitte Januar 1945 in einer Großoffensive über die Weichsel nach Westen vorstieß. Rund 4 bis 5 Millionen flüchteten aus Danzig, Ost- und Westpreußen, Ober- und Niederschlesien, Hinterpommern und Ostbrandenburg. Hunderttausende starben an Entkräftung und Kälte, ertranken in der Ostsee, verbluteten nach sowjetischen und anglo-amerikanischen Bombenangriffen oder wurden von der Front überrollt und von sowjetischen Soldaten vergewaltigt.
Ein wichtiger Chronist der Ereignisse ist Lew Kopelew, der 1945 als Offizier am Einmarsch der Sowjets in Ostpreußen beteiligt war und später wegen humaner Behandlung des Feindes nach Sibirien verbannt wurde. Der zeitlebens für Frieden und Menschlichkeit streitende russische Schriftsteller und Bürgerrechtler hat sich damals gefragt: »Warum müssen Polen und wir uns Ostpreußen, Pommern, Schlesien nehmen? Lenin hatte seinerzeit schon den Versailler Vertrag abgelehnt, aber dies war schlimmer als Versailles. In den Zeitungen, im Radio riefen wir auf zur heiligen Rache. Aber was für Rächer waren das, und an wem haben sie sich gerächt?«2
Im Frühjahr 1945 dachte kaum einer der Flüchtenden, daß er die Heimat nie wiedersehen würde. Vor allem viele Reichsdeutsche aus Schlesien, Ost- und Westpreußen, Ostbrandenburg und Pommern warteten nur auf das Ende der Kampfhandlungen und machten sich dann unverzüglich auf den Heimweg. Allein nach Breslau kehrten Zehntausende zurück, insgesamt waren es über eine Million Flüchtlinge. Auch wenn die Heimkehr mit vielen Gefahren verbunden war, zogen sie dieses Risiko der Flucht ins Ungewisse vor.
Nach der Kapitulation strömten auch aus der Sowjetischen Besatzungszone und den deutschböhmischen Gebieten Flüchtlinge zurück in ihre Heimat, weil niemand wußte, wohin mit ihnen. Sowjetische Ortskommandanten in der SBZ, die infolge Nachschubmangels nicht einmal ihre Truppen versorgen konnten, wiesen die Flüchtlinge häufig ab. Man entledigte sich ihrer, indem man sie auf eine Irrfahrt ins Ungewisse schickte. Das lief aber den polnischen Anstrengungen zuwider, die Deutschen in den »wiedergewonnenen Gebieten« loszuwerden, und so sperrten polnische Kommandos Ende Mai 1945 die Oder- und Neißebrücken zunächst vorübergehend und von Juli an endgültig. Schon nach kurzer Zeit stauten sich auf dem Westufer der Flüsse die Massen, die in den Osten zurückkehren wollten, während auf dem Ostufer jene ausharrten, die von dort abgeschoben wurden.
Deutsche Juden waren die ersten, die aus Deutschland vertrieben wurden, und zwar nicht durch die Sieger, sondern durch ihre Landsleute.Breslauer, die sich nach Israel retten konnten, haben dort den Verband ehemaliger Breslauer gegründet und erinnern in einer deutschsprachigen Publikation bis heute an die Heimat, die sie unter den Nationalsozialisten verloren haben. In Breslau befand sich eine der wichtigsten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Während man in der Bundesrepublik gern von »Wrocław« spricht, erinnert man in Israel ganz selbstverständlich an die reiche deutsch-jüdische Vergangenheitder Hauptstadt Schlesiens. Unter den 1938 aus Breslau verjagtenJuden war auch der Historiker Fritz Stern, der 1995 in einem Vortrag bekannte: »In einem Interview gefragt: ›Was fällt Ihnen bei dem Wort Heimat ein?‹, gab ich die mich völlig überraschende sofortigeAntwort: ›Heimatlos‹.«
Bis es zu diesem Stau kam, waren schon etwa 400 000 Flüchtlinge aus der SBZ in ihre Heimat zurückgekehrt, die Hälfte davon nach Schlesien. Weitere 800 000 Schlesier kamen bis Ende Juni aus dem Sudetenland zurück. Das bedeutete, daß von knapp 10 Millionen Einwohnern aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße rund 7,5 Millionen bis in den Mai 1945 hinein vor der Sowjetarmee flohen, danach aber machten sich 1,5 Millionen auf den Rückweg. Von der Entvölkerung besonders betroffen war Ostpreußen, dessen Population von 2,65 Millionen auf 800 000 sank, während die anderen Gebiete immerhin die Hälfte der Bewohner behielten, Schlesien zum Beispiel 2,5 von knapp 5 Millionen Ende 1944.
In den Ländern Ostmitteleuropas und bei den alliierten Siegermächten war bereits sehr früh die Entscheidung gefallen, die Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße zu vertreiben. Während der ersten Kriegskonferenz Ende November 1943 in Teheran verständigten sich Roosevelt, Churchill und Stalin darauf, daß die sowjetisch-polnische Nachkriegsgrenze längs der Curzon-Linie verlaufen solle, wo sie bereits nach dem Ersten Weltkrieg gezogen worden war, bevor Polen sie 1921 nach dem Polnisch-Sowjetischen Krieg weit nach Osten verschoben hatte.
Spätestens seit der Konferenz von Teheran war Churchill und Roosevelt klar, daß Stalin die polnischen Ostgebiete bis hin zur Curzon-Linie, die Hitler ihm im Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 zugesprochen hatte, zu behalten gedachte. Daß Polen für die Verluste im Osten entschädigt werden sollte, indem es entsprechend nach Westen verschoben wurde, war damit im Prinzip beschlossene Sache.
Bei ihrer Zusammenkunft in Jalta im Februar 1945 bestätigten die drei Regierungschefs die Curzon-Linie als polnische Ostgrenze und faßten als Westgrenze die Oder-Neiße-Linie ins Auge. Polen wurde im Osten eine Fläche von 180 000 Quadratkilometern mit einer ethnisch mehrheitlich nichtpolnischen, national gemischten Bevölkerung - allerdings inklusive der großen polnischen Kulturmetropolen Lemberg und Wilna - zugunsten der Sowjetunion genommen; dafür wurden dem Land im Westen 103 000 Quadratkilometer mit fast rein deutscher Bevölkerung - inklusive der bedeutenden Städte Stettin, Breslau und Danzig - zu Lasten Deutschlands zugesprochen.
Während der Potsdamer Konferenz im Juli 1945 einigten sich die Siegermächte sowohl auf die vorläufigen Grenzziehungen bis zum Abschluß eines Friedensvertrages als auch auf die Massenausweisung der Deutschen aus dem sowjetischen Vorfeld in Polen, in der Tschechoslowakei und in Ungarn. Im Artikel XIII des Potsdamer Protokolls legten sie fest: »Die drei Regierungen haben die Frage unter allen Gesichtspunkten beraten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß. Sie stimmen darin überein, daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll.«3
Als Vorbild für die zwangsweise Massenaussiedlung diente den Westmächten der im Vertrag von Lausanne 1923 sanktionierte griechisch-türkische »Bevölkerungsaustausch«, der trotz der Härten für die Betroffenen als Erfolg galt. Der Entscheidung lag die Hoffnung zugrunde, daß durch die »Entmischung« historisch gewachsener Gemeinschaften in Ostmittel- und Südosteuropa und die Schaffung ethnisch homogener Staaten schwelende Minderheitenkonflikte beseitigt und damit der Frieden in diesen Regionen gesichert werden könne. Eine Rolle spielte auch, daß die Nationalsozialisten selbst 1939/40 großangelegte Aus- und Umsiedlungsaktionen in Osteuropa durchgeführt hatten. Churchill machte keinen Hehl daraus, daß »reiner Tisch« mit den Deutschen gemacht werden müsse. Aus seiner Sicht war die Massenvertreibung eine unschöne, aber unvermeidliche Begleiterscheinung der Neuordnung Europas nach 1945.
Im Artikel XIII verständigten sich die Alliierten zudem darauf, daß der gemeinsame Kontrollrat als höchste Regierungsinstanz in Deutschland die »gerechte Verteilung dieser Deutschen auf die einzelnen Besatzungszonen« zu prüfen habe, darüber hinaus sollte er über den Umfang bereits erfolgter »Überführungen« berichten und eine Schätzung zu Zeitplan und Ausmaß weiterer Transporte vorlegen. Die polnische und die tschechoslowakische Regierung sowie der Alliierte Kontrollrat in Ungarn wurden ersucht, »inzwischen weitere Ausweisungen der deutschen Bevölkerung einzustellen, bis die betroffenen Regierungen die Berichte ihrer Vertreter an den Kontrollausschuß geprüft haben«.4 Die USA und Großbritannien erklärten sich damit einverstanden, daß die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße unter polnische und das nördliche Ostpreußen unter sowjetische Verwaltung gestellt wurden. Die endgültige Regelung der Grenzfrage sollte einer Friedenskonferenz vorbehalten sein.
Die Nationalsozialisten hatten Rassismus und Nationalismus gesät, jetzt traf Deutschland die Rache der Opfer. Alle einst vom nationalsozialistischen Deutschland besetzten mittel- und osteuropäischen Staaten haben in der Vertreibung der Deutschen eine Vergeltung für das Unrecht des NS-Regimes gesehen, doch die Vertreibung und die Errichtung einer polnischen Administration in den deutschen Ostgebieten gingen, so bemerkte schon Martin Broszat, »über die Liquidierung der Herrschaft des Dritten Reiches weit hinaus«.5 Man wollte unumkehrbare Fakten schaffen, bevor die (west-)alliierte Bereitschaft zur Vertreibung nachließ. Bereits vor der Potsdamer Konferenz wurden 450 000 Deutsche aus der Tschechoslowakei und ebensoviele aus dem polnischen Machtbereich vertrieben. Das war die erste Phase der Vertreibung.
Die »wilden« Vertreibungen durch Polen setzten am 20. Juni 1945 ein und dauerten ungefähr einen Monat. Die nicht unvorbereitete Armee veranstaltete Razzien und ließ die Menschen, die ihr dabei ins Netz gingen, den Weg bis zur Oder zu Fuß zurücklegen; selbst für Kranke gab es keine Transportmittel. Aufgrund des Einspruchs sowjetischer Militärs und polnischer Behörden, welche die Deutschen als Arbeitskräfte benötigten, wurden die Aktionen jedoch Mitte Juli gestoppt.
Am 21. November 1945 beschloß der Alliierte Kontrollrat, die im nördlichen Ostpreußen, in den polnisch besetzten Gebieten, in der Tschechoslowakei und in Ungarn verbliebenen Deutschen auszuweisen und nach Deutschland abzuschieben. Von den 6,65 Millionen Menschen sollten 2,75 Millionen in der sowjetischen, weitere 2,25 Millionen in der amerikanischen, 1,5 Millionen in der britischen und 150 000 in der französischen Zone aufgenommen werden. Nach Berechnungen der Alliierten mußten in den vier Besatzungszonen knapp 15 Millionen Neubürger versorgt und integriert werden, und zwar vor allem in ländlichen Gebieten. Die Bevölkerung Schleswig-Holsteins stieg damals um 73,1, die Niedersachsens um 51,9 und die Bayerns um 32,7 Prozent.
Die Alliierten hatten zwar vertraglich vereinbart, daß die »Überführung« der Deutschen »in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen« solle, doch davon konnte unter den herrschenden Verhältnissen keine Rede sein. Nach einer Anweisung des polnischen Ministeriums für öffentliche Verwaltung vom Juni 1945 war die »freiwillige Ausreise« zu fördern, und zwar indem man die Deutschen so lange drangsalierte, bis auch die »hartnäckigsten Feinde des Polentums den Mut verlieren«, in Polen zu bleiben. Probate Mittel waren Enteignung, unzureichende Versorgung, Verweigerung von ärztlicher Behandlung, Ausschluß der Kinder vom Schulbesuch, die Beseitigung der »Spuren des Deutschtums« und die Duldung von Diebstählen und Vergewaltigungen, wenn die Opfer Deutsche waren. Unter diesen Umständen verließen annähernd 550 000 Deutsche Polen bis Ende 1945 »freiwillig«. Noch in den Zügen wurden sie ausgeraubt.
Das im November 1945 eingerichtete »Ministerium für die wiedergewonnenen Gebiete« warb zugleich nachdrücklich für die Umsiedlung in die ehemals deutschen Gebiete, weil die dort lebenden 1,7 Millionen Polen (davon 1,4 Millionen vertriebene Polen aus den abgetretenen polnischen Ostgebieten) bei weitem nicht ausreichten, die 103 000 Quadratkilometer zu bevölkern. Als aber über Jahre kein nennenswerter Zuzug erfolgte, entschloß sich Warschau, die zunächst wegen ihrer deutschen Staatsangehörigkeit ebenfalls schikanierten Masuren, Ermländer, Kaschuben und Oberschlesier nach rassistischen Kriterien als Autochthone - also als »repolonisierbar« - zu klassifizieren und von der Verfolgung auszunehmen.
Die Ausweisung der Deutschen verlief in mehreren Etappen. Nach der Zwangsräumung eines hundert bis zweihundert Kilometer breiten Streifens unmittelbar östlich von Oder und Neiße im Mai 1945 folgte im Juni die Vertreibung der Bewohner Danzigs. Mitte Juli 1945 beendeten die Sowjets die wilden Vertreibungen der Deutschen aus Ostbrandenburg sowie Hinterpommern und Niederschlesien, da die von ihnen kontrollierte SBZ überfüllt war und die Westmächte um Aufschub der Transporte bis in den Herbst gebeten hatten. Die im Herbst 1945 angesetzte Räumung Hinterpommerns, Westpreußens, des südlichen Ostpreußen und Oberschlesiens wurde in den Wintermonaten unterbrochen, aber im Frühjahr 1946 wieder aufgenommen. Dadurch kamen im Zuge der »Operation Schwalbe« 1,37 Millionen Deutsche direkt in die Westzonen. Von Februar bis Dezember 1946 erfolgten organisierte Aussiedlungen in Absprache mit den Alliierten. Etwa 1,5 Millionen Menschen gelangten in die britische und 1,84 Millionen bis November 1947 in die sowjetische Zone. Insgesamt verließen in dieser Zeit fast 3,5 Millionen Deutsche die Ostgebiete.
Noch bis 1950 trafen vereinzelt Transporte mit Frauen, Kindern und Alten aus Ostpreußen ein, wo vor allem junge Frauen von den Sowjets zur Zwangsarbeit herangezogen worden waren, andere kamen aus den polnischen Internierungslagern, in denen Angehörige der deutschen Minderheit Zwangsarbeit leisten mußten. Die ein bis zwei Millionen Deutschen - darunter die als »repolonisierbar« geltenden »Autochthonen« im Ermland, in Masuren und in Oberschlesien -, die nach 1950 in Polen blieben, wurden zwangspolonisiert: Sie mußten polnische Namen annehmen und sich zu Polen erklären.
In der Tschechoslowakei kam es vor allem in Prag, aber auch im Sudetenland schon in den ersten Nachkriegstagen zu Übergriffen des Militärs, »revolutionärer Garden« und auch von Zivilisten. Staatspräsident Edvard Beneš gelobte am 12. Mai 1945 in Brünn: »Wir werden Ordnung machen unter uns, insbesondere auch hier in der Stadt Brünn mit den Deutschen und allen anderen. Mein Programm ist - ich verhehle es nicht -, dass wir die deutsche Frage in der Republik liquidieren müssen. Bei dieser Arbeit werden wir alle eure Kräfte brauchen.«6 Nicht zuletzt die Popularität der Henlein-Partei vor dem Krieg hat dazu beigetragen, daß die Sudetendeutschen nun pauschal zu Verrätern an der ersten tschechoslowakischen Republik und zu Nationalsozialisten erklärt wurden.
Wie es damals massenpsychologisch um die tschechische Gesellschaft bestellt war, hat Emilia Hrabovec deutlich gemacht: Der Entschluß zur Vertreibung der Deutschen sei auch aus dem kollektiven schlechten Gewissen eines Volkes entstanden, »das mit der eigenen jüngsten Vergangenheit, dem im wesentlichen kampf- und widerstandslosen Hinnehmen der Rückschläge der letzten sieben Jahre, nicht fertig werden konnte«. So sei »manche hypernationalistische Gebärde in Wirklichkeit nur ein verzweifelter Versuch« gewesen, »die unrühmliche persönliche Vergangenheit, die Feigheit, Untätigkeit oder gar (…) die Kollaboration mit dem Feind zu kaschieren«. 7
Die Diskriminierung der Deutschen bestand unter anderem in der Verpflichtung, weiße oder gelbe Armbinden zu tragen oder weiße Stoffflicken mit einem »N« (für Nemec - Deutscher). Öffentliche Verkehrsmittel durften sie nicht benutzen, Amtsstellen nur mit Genehmigung betreten. Die ihnen zugestandenen Lebensmittelmengen entsprachen den Rationen, die Juden während der Kriegszeit erhalten hatten. Jederzeit konnten sie interniert werden. Ein Dekret vom 21. Juni 1945 ordnete die sofortige Einziehung des landwirtschaftlichen deutschen Besitzes an. Die vollständige und entschädigungslose Enteignung aller Deutschen regelten weitere Dekrete, erlassen zwischen dem 19. Mai und dem 25. Oktober 1945. Lediglich jene, die sich »entweder aktiv am Kampf für die Befreiung beteiligt oder unter dem nazistischen Terror gelitten haben«, blieben von der Beschlagnahmung ihres Vermögens zunächst ausgenommen, aber auch sie ereilte schließlich das Schicksal der Vertreibung.
Aussiedlung von Sudetendeutschen, 1947 (Filmausschnitt)
In Böhmen, Mähren und Schlesien waren tausend Jahre Deutsche zu Hause. 1918 fanden sie sich in einem Staat Tschechoslowakei wieder, der für die meisten nicht der ihre werden sollte. Diese fortan »Sudetendeutsche« Genannten waren für die Forderung nach Anschluß an Deutschland empfänglich, die der Vorsitzende der Sudetendeutschen Partei, Konrad Henlein, erhob. Nachdem der »Anschluß« 1938 tatsächlich erfolgt war, sahen viele Tschechen und Slowaken in den mehr als 3 Millionen Deutschen im tschechoslowakischen Staat vor allem Verräter. Nach 1945 rächten sie sich an den Sudetendeutschen, indem sie diese enteigneten, drangsalierten und schließlich vertrieben. In Viehwaggons schaffte man sie aus dem Land. Beim Überqueren der tschechisch-deutschen Grenze warfen die Sudetendeutschen ihre weißen Armbinden aus dem Zug, die sie als Deutsche brandmarkten.
In dem mehrfach preisgekrönten Roman Die Unvollendeten hat Reinhard Jirgl die Vertreibung auf seine Weise geschildert: »Zuerst (…) drangen von-Überall-her die Warnschreie menschlicher Stimmen an: !Heutmorgen sind Viele schon erschlagen & erschossen worden -.- In der kleinen Stadt Komotau im Sudetenland wurden seit Stunden Straßen & Gassen mit immerdenselben Durchsagen in tschechischer Sprache beschallt.
30 MINUTEN ZEIT - MIT HÖCHSTENS 8 KILO GEPÄCK PRO PERSON - AM BAHNHOF SICH EINZUFINDEN - DIEJENIGEN, DIE GEGEN DIESEN BEFEHL VERSTOSSEN; WERDEN NACH DEN KRIEGSGESETZEN BESTRAFT - (...) Die Flüchtlinge kamen Einhalbesjahr zu früh, denn die tschechischen Behörden hatten der Willkür Freienlauf gelassen & die Sudetendeutschen nach eigenem Gutdünken aus dem Land geschmissen (die sowjetische Seite ließ gewähren...).«8
Bis heute wird die Vertreibung der sudetendeutschen Bevölkerung in der Tschechischen Republik vielfach beschönigend als Odsun - Abschub - bezeichnet. Dabei war die Lage der Bedrängten so beängstigend und demütigend, daß tschechische Quellen allein für das Jahr 1946 unter den Deutschen 5558 Selbstmorde verzeichneten - manchmal von ganzen Familien gemeinsam begangen, nachdem man die Sonntagskleider angelegt hatte.9
Von Herbst 1944 an kam es zu massiven Evakuierungen und Fluchtbewegungen aus den deutschen Siedlungsgebieten im südlichen Mitteleuropa. So wurden bis März 1945 rund 100 000 der insgesamt 140 000 Deutschen aus der Slowakei und fast alle der 95 000 Deutschen aus Kroatien in das »Protektorat Böhmen und Mähren«, ins Sudetenland oder nach Österreich umgesiedelt. Ebenfalls im Herbst 1944 flüchtete ein großer Teil der Deutschen aus Jugoslawien, andere wurden evakuiert. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten 540 000 Deutsche in Jugoslawien, vor allem im Westbanat, in der Batschka, in Syrmien, Slawonien, dem Baranja-Dreieck und in Kroatien. Zu diesen donauschwäbischen Gruppen kamen noch 30 000 Deutsch-Untersteirer und Gottscheer im slowenischen Siedlungsraum. Bei Kriegsende 1944/45 verblieben 195 000 Donauschwaben unter jugoslawischer Herrschaft, von denen die meisten in Lagern Zwangsarbeit verrichten mußten.
Die Deutschen in Jugoslawien wurden kollektiv schuldig gesprochen und der Kollaboration mit ihren Landsleuten bezichtigt. Über Nacht wurden sie zu rechtlosen Staatsfeinden. Die Beschlüsse des »Antifaschistischen Rates der Volksbefreiung Jugoslawiens« (AVNOJ) von 1943 und vom November 1944 sahen die Enteignung allen deutschen Besitzes sowie die Internierung aller Deutschen in Lagern vor, von denen viele nach der Machtübernahme durch die jugoslawische Volksbefreiungsarmee im »Blutigen Herbst« 1944 Opfer von Racheakten der Partisanen wurden.
Der katholische Erzbischof von Freiburg und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, hat als kleiner Junge die Massaker an deutschen Zivilisten, unter ihnen sein erst sechzehnjähriger Bruder, in Philippsdorf (Filipova) miterleben müssen. »Ich war damals sechs Jahre alt und erinnere mich an viele Details: Wie am Morgen alle Männer zwischen sechzehn und sechzig antreten mussten, und wie gegen Abend, als die Dämmerung einsetzte, 212 Männer begleitet von Titos Partisanen und von Wagen mit Schaufeln, Spaten und Pickeln unter Gewehrfeuer hinausgetrieben wurden, um sich ihr Grab zu schaufeln. Sie mussten sich nackt ausziehen und wurden brutal niedergemetzelt und verscharrt. Ich höre die Schüsse heute noch - nach sechzig Jahren. In meinen Ohren klingen noch die bangen Fragen, das Weinen und die Verzweiflung der Mütter, der Ehefrauen, der Kinder.«10 Rund 67 000 deutsche Zivilisten sind in den jugoslawischen Arbeits- und Vernichtungslagern, etwa dem berüchtigten Lager in Rudolfsgnad, wo allein 11 000 Donauschwaben starben, umgekommen.
Aus Rumänien wurden Ende August und Anfang Oktober 1944 etwa 100 000 Deutsche evakuiert. Der größere Teil der Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben blieb hingegen zurück. Anfang 1945 deportierte man rund 75 000 von ihnen zum Arbeitseinsatz in die Sowjetunion.
Die Vertreibung der Deutschen aus Ungarn begann im Januar 1946 in den Ortschaften entlang der Grenze zu Österreich, in denen die donauschwäbische Bevölkerung zusammengedrängt worden war. Die Revanchegelüste der ungarischen Gesellschaft gegen die Donauschwaben waren wohl hauptsächlich auf »eine schwer definierbare Neigung« zurückzuführen, »die Wut über die eigene Niederlage« auf einen Bevölkerungsteil zu übertragen, »der eben mit Deutschland, dem Partner in Krieg und Niederlage, identifiziert werden konnte«.11 Ursprünglich war unter Hinweis auf die Kollektivschuld der Deutschen die Aussiedlung der gesamten, etwa 500 000 Menschen zählenden deutschen Minderheit in Ungarn geplant. Betroffen waren von den Maßnahmen schließlich etwa 117 000 Deutsche. Nach einer Unterbrechung im Juni wurden die Transporte in die amerikanische Zone im November 1946 wieder aufgenommen, im Dezember aber vollständig eingestellt.12
In Ungarn gab es einen engen Zusammenhang zwischen der Politik der Vertreibung und der Bodenreform, die im östlichen Teil Europas nach 1945 umgesetzt wurde. In der Ungarischen Tiefebene konnte der von Kommunisten und Nationalisten geweckte Landhunger nämlich nur mit dem Boden der »Schwaben« gestillt werden, und so wurden gerade nicht die »Naziaktivisten«, die meist nur wenig oder kein Land besaßen, sondern die Eigentümer der mittelgroßen und größeren Hofstellen vertrieben, die den »Naziaktivitäten« überwiegend ablehnend gegenübergestanden hatten. Vor diesem Hintergrund führte der ungarische Minister für Wiederaufbau, József Antalls, auf einer Kabinettssitzung am 22. Dezember 1945 aus, es sei »aus nationalpolitischer Sicht nicht zu bezweifeln, daß es im Interesse Ungarns liegt, wenn möglichst viele Deutsche das Land verlassen. Es wird nie wieder eine solche Gelegenheit geben, die Deutschen loszuwerden.«13
Die wenigen Stimmen in den westlichen Ländern, die sich kritisch zu den Vorgängen in Mitteleuropa äußerten, verhallten ungehört. Das galt auch für den Leserbrief des britischen Philosophen und Mathematikers Bertrand Russell, der am 23. Oktober 1945 in der Times veröffentlicht wurde: »In Osteuropa werden jetzt Massendeportationen von unseren Alliierten durchgeführt in einem beispiellosen Rahmen, und ein offensichtlich vorsätzlicher Versuch wird unternommen, viele Millionen Deutsche auszurotten, nicht durch Gas, sondern indem man ihnen ihre Häuser und Nahrung wegnimmt, um sie einen langsamen quälenden Hungertod sterben zu lassen. Das wird nicht gemacht als ein Akt des Krieges, sondern als Teil einer vorsätzlichen ›Friedens‹-Politik. (…) Sind Massendeportationen Verbrechen, wenn sie während des Krieges von unseren Feinden begangen werden, und gerechtfertigte Maßnahmen sozialer Regulierung, wenn sie durch unsere Alliierten in Friedenszeiten durchgeführt werden? Ist es humaner, alte Frauen und Kinder herauszuholen und in der Ferne sterben zu lassen, als Juden in Gaskammern zu ersticken?«14
Die New York Times vom 13. November 1946 bezeichnete die Potsdamer Protokolle als den »unmenschlichsten Beschluß, der jemals von zur Verteidigung der Menschenrechte berufenen Regierungen gefaßt wurde«.15 Die Menschen, die den Einmarsch sowjetischer Truppen und die damit einhergehenden Verbrechen überlebt hatten, waren noch immer nicht in Sicherheit. Sie wurden zu Hunderttausenden Opfer von Mangelerkrankungen und Seuchen, oder sie wurden nach dem Abzug sowjetischer Truppen östlich von Oder und Neiße durch Polen und in der Tschechoslowakei durch Tschechen und Slowaken mißhandelt und ermordet. Deutsche, die vor dem Zweiten Weltkrieg auf polnischem Gebiet gelebt hatten, wurden nun von der polnischen Sicherheitspolizei als Verräter betrachtet und zur Zwangsarbeit abkommandiert.
In einem Bericht des Bundesarchivs über die Gewalttaten der Vertreibung wird zur Lage in Polen unter anderem folgendes festgestellt: »Die Gewaltakte bestanden vorwiegend in Mißhandlungen brutalster, teils sadistischer Art mit Peitschen, Gummiknüppeln oder Gewehrkolben, teils bis zur Todesfolge, ferner in willkürlichen Erschießungen und Erschlagungen wie auch Vergewaltigungen von Frauen.«16 Ähnlich wie im sowjetischen und polnischen Machtbereich war es in der Tschechoslowakei und in Jugoslawien, während es in Ungarn zu deutlich weniger Übergriffen auf die Deutschen kam.
Katharina Elliger, geboren 1929, erlebte als Sechzehnjährige die Vertreibung aus ihrer oberschlesischen Heimatstadt. Aus Angst vor polnischen Übergriffen flüchtete sie mit Mutter und Schwester auf die böhmische Seite und irrte Ende 1945 südlich der Grafschaft Glatz im tschechischen Herrschaftsgebiet umher: »An einem Abend kamen wir an einen Hof, der abgelegen in einer Mulde lag. (…) Wir gingen in die weitläufige Diele hinein. Dort brannte Licht. Um den großen runden
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