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Wer heute krank wird, hat es in vielerlei Hinsicht schwer: Die Wartezeiten sind lang, die ökonomischen Vorgaben seitens der Kassen und der Politik wahnwitzig, die Bürokratie überbordend. Krankenhäuser werden heute als Unternehmen geführt, was keinen Gewinn bringt, kaum noch angeboten. Das Wohl des Patienten gerät zusehends aus dem Blickfeld, eine Arzt-Patienten-Beziehung auf Augenhöhe ist im Patientenalltag eine seltene Ausnahme – denn dafür wird kein Arzt bezahlt. Gernot Rainer kämpft für eine Kehrtwende in der Medizin: Ein Patient ist keine bloße Nummer, sondern ein Mensch, dem man zuhören muss, der ernstgenommen sein will. Als Insider weiß Rainer um die Schwächen unseres Systems und warnt davor, es Bürokraten und Politikern zu überlassen. Er plädiert für eine Medizin, die den Mensch wieder in den Mittelpunkt stellt – in jeder Beziehung.
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Seitenzahl: 204
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Dr. Gernot Rainer — KAMPF DER KLASSENMEDIZIN
Dr. Gernot Rainer
KAMPF DERKLASSENMEDIZIN
Warum wir ein gerechtes Gesundheitssystem brauchen
EINLEITUNG
1DAS SYSTEM IST BEDROHT
2TEILE UND HERRSCHE
3KEINE ZEIT
4BIG APPLE IS WATCHING YOU
5DAS DOGMA DER EFFIZIENZ
6DAS DOGMA DER EVIDENZ
7INNOVATIVE KRANKHEITEN
8„VERTRAUEN ALS VERMEINTLICHE GEFAHR“
9PRÄVENTION FÜR ARME
10 ALT UND KRANK
11 ANGEKÜNDIGTE REVOLUTIONEN FINDEN NICHT STATT
GLOSSAR
LITERATUR
Das Gesundheitswesen steht an einem Scheideweg. Viele Menschen spüren das, wenn sie selbst oder Angehörige mit dem Medizinsystem in Kontakt kommen. Das Personal in Krankenhäusern hat wenig Zeit oder ist gar nicht verfügbar. Wir hören von Protesten von Ärzten, Streiks und Gehaltskonflikten und politischen Reaktionen darauf, die den Ärzten Machterhalt und wirtschaftliche Interessen vorwerfen. Doch das allein ist es nicht. Tatsächlich sind die Konflikte nicht auf Österreich beschränkt. Auch in anderen Ländern in Europa gibt es zunehmende Turbulenzen im Gesundheitswesen. Und alle haben einen ähnlichen Kern: die Kritik an einer wachsenden Ökonomisierung der Medizin und einer Industrialisierung des Gesundheitswesens. Wurde vor einigen Jahren die Warnung vor einer „Medizin vom Fließband“ noch als überzogene Angstmache abgetan, ist genau das heute zunehmend Realität, die nicht nur ich als Arzt, sondern auch viele andere Gesundheitsberufe und noch mehr Patientinnen und Patienten mit Sorge wahrnehmen. Gleichzeitig sind die Veränderungen aber erst der Anfang einer weit dramatischeren Entwicklung.
Mit diesem Buch geht es mir allerdings nicht darum, die Zukunft des heimischen Gesundheitswesens schlechtzureden oder schwarzzumalen. Es geht mir um eine Analyse und vor allem darum, Therapievorschläge zu machen. Vielleicht lassen sich sogar manche Entwicklungen präventiv eindämmen. Als Arzt bin ich tagtäglich damit konfrontiert, klare und eindeutige Diagnosen zu treffen, um dann möglichst rasch und ebenso zielgerichtet Therapieentscheidungen zu verordnen. Genau das möchte ich möglichst emotionslos und sachlich fokussiert mit diesem Buch auch im Hinblick auf die Entwicklungen im Gesundheitswesen tun.
Bei der Betrachtung des Systems ist diese Diagnose eindeutig: Das System ist krank. Allerdings nicht, weil die Grundstruktur schlecht wäre, sondern weil es eine Dynamik gibt, die dabei ist, ein eigentlich gutes System zu zerstören. Das Absurde daran: Es wird uns eingeredet, dass alle Entwicklungen und Maßnahmen das Ziel haben, das System zu retten und zu sichern. Tatsächlich ist aber genau das Gegenteil der Fall: Es werden falsche Therapien angewendet. Und man doktert an vielen Einzelproblemen herum, ohne das System als Ganzes zu betrachten. Doch damit drehen wir uns im Kreis und machen alles nur noch schlimmer.
Meine Eltern sind Ärzte – mein Vater Anästhesist, die Mutter Allgemeinmedizinerin. Beide haben ihren Beruf mit großer Leidenschaft ausgeübt. Ich habe früh gemerkt, wie viel persönliche Beziehung zu den Patienten besteht. Diese Beziehung und das daraus resultierende Vertrauensverhältnis sind für eine erfolgreiche Behandlung fundamental.
Rückblickend erinnere ich mich an eine Geschichte, die mich als Arzt geprägt hat: Eine Patientin meiner Mutter hatte bereits mehrere Ärzte wegen schwerer Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule aufgesucht. Viele Untersuchungen wurden durchgeführt, die Ergebnisse waren aber allesamt nicht eindeutig. Der eine Arzt riet der Frau zur Operation, der nächste empfahl Schmerztabletten. Meine Mutter kannte die Patientin schon länger und wusste über sie und ihre zum damaligen Zeitpunkt schwierige Lebenssituation Bescheid. Sie stellte einen Zusammenhang zwischen den körperlichen Beschwerden und den, in diesem Fall, psychischen Auslösern her und schlug eine wirksame, antidepressive Therapie vor. Die Patientin vertraute dem Rat meiner Mutter – und ihr konnte gut geholfen werden. Entscheidend dafür waren der ganzheitliche Blick und das Vertrauensverhältnis zwischen meiner Mutter und ihrer Patientin.
Doch genau diese Vertrauensbasis geht zunehmend verloren. Sie ist ökonomisch nicht bewertbar, nicht effizient und auch nicht wissenschaftlich belegbar. Im Gesundheitswesen übernehmen zunehmend Experten für Kostenrechnung, Personalentwicklung, Controlling und Management das Sagen. Die betrachten das System und selbst den Menschen wie eine Maschine. Je besser die einzelnen Bereiche optimiert werden, umso günstiger und effizienter das System – so ihre Überlegung. Manche von den neuen Managern im Gesundheitswesen und ihre wachsende Zahl an externen Beratern haben jedoch keine Ahnung von Medizin. Sie kommen aus der Automobilindustrie oder von Lebensmittelkonzernen und meist von großen, internationalen Consultingunternehmen. Und sie setzen die gleichen Werkzeuge an: Effizienzsteigerung, Kostenoptimierung, Auslagerungen, Konzentration auf größere Einheiten.
Ihr Versprechen klingt für viele Menschen und Patienten durchaus verlockend: Das Gesundheitswesen ist teuer und die Kosten werden durch den medizinischen Fortschritt und die Überalterung der Gesellschaft explodieren. Deshalb muss man das System auf Ineffizienzen durchforsten, es dadurch nicht mehr ausschließlich nach den Bedürfnissen der Patienten – die jetzt Kunden heißen – ausrichten. Und vor allem: Kosten senken. Immerhin zahlen wir ja alle als Beitragszahler in das System, damit haben wir doch das Recht darauf, dass mit unserem Geld sorgsam umgegangen wird und wir die beste Leistung erhalten.
Definiert wird diese „beste Leistung“ allerdings folgendermaßen: Patienten sollen in möglichst kurzer Zeit und möglichst günstig wieder gesund gemacht werden. Hat also jemand Rückenschmerzen, erscheint ein starkes Schmerzmittel die kürzeste und beste Lösung. Der Hintergrund ist eine dramatische Verschiebung in Richtung eines rein ökonomischen Blickwinkels: eine am Reißbrett entworfene Standardisierung, in der ein Patient zur klassifizierbaren Diagnose und seine Beschwerden zum Befund werden. Der Arzt wird zum medizinischen Sachdienstleister. Spitäler werden Gesundheitsfabriken, auf Effizienz getrimmt, in Ordinationen wird im Rhythmus der Stechuhr behandelt. Es ist neben der stattfindenden Entmenschlichung, in einem Beruf, der menschlicher nicht sein könnte, vor allem auch ein zunehmend wachsender Zeitdruck im System, der Zuwendung unmöglich macht. Wer das dennoch haben will, muss es extra bezahlen.
Dieser Weg ist falsch. Er mag kostengünstiger erscheinen, aber auch das nur auf den ersten Blick. Denn fehlt die Vertrauensbasis und gibt es keine funktionierende Arzt-Patienten-Beziehung, dann schädigt das dramatisch den Behandlungserfolg. Ohne Vertrauen sinkt die sogenannte Compliance dramatisch, also die Adhärenz und Durchführung einer vorgeschlagenen Therapie. Dadurch entstehen dem System erhöhte Kosten durch Folgeschäden. Auch ist die Annahme irrig und schlichtweg falsch, dass sich der Patient, also der Mensch, beliebig standardisieren lässt. Denn wir sind keine Versatzstücke einer Fabrik. Jeder Mensch ist in hohem Maße individuell. Und auch wenn man eine evidenzbasierte und richtlinienkonforme Medizin betreibt, muss man den Menschen, den man als Arzt vor sich hat, behandeln – nicht eine Befundkonstellation. Dieses Buch ist also auch ein Plädoyer für ein solidarisches Gesundheitswesen, das tatsächlich das tut, was uns die Politik seit Jahren verspricht – nämlich den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen.
Wir nehmen sie meist als selbstverständlich hin – unsere Gesundheit. Ähnlich ist es mit unserem Gesundheitswesen: Wenn wir gesund sind, kümmern uns das System und die dortigen Entwicklungen wenig. Wir nehmen es ebenso als selbstverständlich hin, dass es Krankenhäuser, Hausärzte und Apotheken in erreichbarer Nähe gibt. Nur selten ist das System für gesunde Menschen Thema: Manche von uns nörgeln über die scheinbar hohen Kosten der Krankenversicherungen – ohne zu wissen, dass die Beitragssätze im europäischen Vergleich nicht nur sehr niedrig, sondern seit den 80er Jahren nicht mehr erhöht worden sind. Andere wünschen sich Selbstbehalte und fordern mehr Eigenverantwortung. Meist allerdings wissen wir sehr wenig vom Gesundheitswesen und wie es funktioniert. Auch wir Ärzte kennen oft nur jenen Ausschnitt des Systems, in dem wir tätig sind.
Wir wünschen uns gegenseitig Gesundheit zum Geburtstag und zum Jahreswechsel. Und wir wünschen uns rasch jemanden, der sich um uns kümmert, wenn unsere Gesundheit plötzlich abhandenkommt. Am Besten ist dann Tag und Nacht jemand da. Ist Gesundheit nicht mehr selbstverständlich und wir sind krank, wollen wir rasch wieder gesund werden. Dann wollen wir jemanden, der uns zuhört und uns heilt. Ob und was das kostet, ist meist Nebensache.
Doch genau das wird sich in den kommenden Jahren ändern, wenn sich die aktuellen Entwicklungen fortsetzen: Wollen wir jemanden, der uns zuhört und heilt, werden wir künftig dafür bezahlen müssen. Es wird eben keine Selbstverständlichkeit mehr sein, dass uns alles – und noch dazu sofort – zur Verfügung steht. Im Gesundheitswesen gehen massive Veränderungen vor sich, die bereits in kürzester Zeit alles, was wir kennen, auf den Kopf stellen werden. Es lohnt sich also, einmal den Stellenwert des Systems zu betrachten: Das Gesundheitssystem ist historisch aus der Not von Menschen entstanden, die sich eine Gesundheitsversorgung nicht leisten konnten. Für Menschen, die meist an Ursachen erkrankten oder verstarben, die uns heute keinen Gedanken mehr wert sind, weil sie rasch und billig behandelt werden können.
Es ist beispielsweise knapp 70 Jahre her, als in Wien der Film Der dritte Mann gedreht worden ist. Das zentrale Thema dabei war der Mangel an lebensnotwendigem Penicillin. Antibiotika waren überhaupt erst in der Zwischenkriegszeit entdeckt worden und boten gerade in den später kriegsgebeutelten Städten eine oft lebensnotwendige Medizin gegen Seuchen. Folglich war es damals äußerst lukrativ, das Medikament zu strecken und teuer am Schwarzmarkt zu verkaufen.
Unser solidarisches Gesundheitswesen kann nicht zuletzt solche Entwicklungen verhindern. Es ist etwas, das wir uns als Gesellschaft leisten, und es ist nichts, was per se in irgendeiner Form auf Gewinn ausgerichtet ist. Es ist ein zentrales Element einer Solidargemeinschaft. Und das heißt, dass wir alle gemeinsam zuständig dafür sind, im Krankheitsfall jeden zu versorgen, ganz gleichgültig, was er vorher eingezahlt hat oder nicht. Die Krankenversicherungen sind nicht als Sparkasse zu verstehen, sondern als eine Solidarleistung der Gesellschaft für den Einzelnen.
Dass wir uns grundsätzlich in Strukturen befinden, die zum Teil extrem ineffizient sind, soll hier gar nicht in Abrede gestellt werden. In föderalen Staaten muss alles mit den Bundesländern und Krankenkassen multipliziert werden. Dazu kommt, dass in einem dualen System wie dem Bestehenden die Krankenkassen nur für die niedergelassene Versorgung zuständig sind und die Bundesländer und Gemeinden für die Krankenhäuser. Die Krankenkassen zahlen für diese lediglich einen gedeckelten Fixbetrag. Werden also viele Patienten in Spitälern behandelt, ist das den Kassen sogar recht – sie zahlen nur einmal in einen großen Topf. Die Länder, denen zwischenzeitlich die meisten Krankenhäuser gehören, möchten wiederum, dass möglichst viele Patienten im niedergelassenen Bereich therapiert werden. Dann fallen dafür in den Spitälern und damit für sie keine Kosten an. Abgesehen von den Fixkosten – und dafür wollen sie auch weiterhin den Fixbetrag der Krankenkassen erhalten. Für die Patienten bedeutet das allerdings, dass sie meist im Kreis geschickt werden. Die Krankenkassen wiederum haben mit den Ärzten in jedem Bundesland eigene Tarife in Leistungskatalogen ausgehandelt. Ein Ultraschall kostet also etwa in Vorarlberg weniger als in Niederösterreich. Und nicht in jedem Bundesland werden auch die gleichen Kosten von den Krankenversicherungen übernommen.
Der Staat zieht sich in diesem Spiel der Kräfte zusehends aus seiner Verantwortung zurück. Tatsächlich reden wir hier aber über elementare gesellschaftspolitische Fragen. Der Staat ist maßgeblich zuständig und verantwortlich für Dinge wie Bildung, Gesundheit und dass die Menschen nicht auf der Straße verhungern. Doch genau diese Aufgaben sollen nun möglichst kostengünstig und effizient erledigt werden. Das klingt auf den ersten Blick gut, man wird kaum jemanden finden, der etwas dagegen hat. Das Problem dabei: Für die sogenannte öffentliche Hand scheint es neuerdings am günstigsten, wenn man mehr und mehr in die private Verantwortlichkeit verschiebt. Natürlich kann man Privatmedizin stark forcieren, das ist eine politische Willensentscheidung, die man treffen kann. Es sollte allerdings diskutiert werden, wohin das letztendlich führt. Vor allem aber auch, ob das die einzige Möglichkeit ist? Die Antwort ist: Nein. Es gibt Alternativen. Eine davon ist, den Blick vom System und den Strukturen abzuwenden und wieder hin zum Menschen, um den es in Wirklichkeit geht.
Genau diese Intention steckt in allen Menschen, die Gesundheitsberufe ergreifen – es geht ihnen um den Menschen. Und sie leiden darunter, weil genau das immer mehr in den Hintergrund rückt. Weil das System den Menschen als Maschine sieht, den man möglichst optimiert behandeln soll. Rasche und billige Fehlerbehebung soll aus Sicht jener, die das Gesundheitswesen bezahlen und organisieren, eine wirkliche Ursachenforschung ablösen. Der Mensch steht nicht mehr im Mittelpunkt, er steht im Weg. Dieses Buch soll letztlich hier Alternativen zeigen. Denn nicht nur Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, auch alle, die damit in Berührung kommen – als Kranke, als Angehörige und Verantwortliche –, nehmen die Veränderungen mit großem Unbehagen wahr.
Als ich begonnen habe, Medizin zu studieren, hatte das wenig damit zu tun, dass meine Eltern Ärzte waren. Eigentlich habe ich mich in Ermangelung einer besseren Idee in der damals längsten Schlange, die ich vor der Uni gefunden habe, angestellt – das war jene für das Medizinstudium. Ich dachte mir: „So viel Leute können sich nicht irren.“ Allerdings war das Studium zu Beginn recht enttäuschend. Es ging um die Themen, die mich nicht interessiert haben: Kolloquien über Chemie, Physik, Dinge, die mich schon in der Schule nicht sehr gefesselt haben. Interessant wurde es dann erstmals, und das war damals für die meisten Mediziner so, beim sogenannten Sezierkurs: Man erhält in einem großen, ganz stark formalingetränkten Raum eine menschliche Leiche zugeteilt. Sechs Studenten stehen am Tisch, drei jeweils an einer Seite eines Toten. Und dann wird strukturiert, nach Vorgaben der Lehrenden, Stück für Stück dieser Mensch seziert. Das ist ein Erlebnis der anderen Art, auf vielerlei Ebenen. Es ist gruselig, es ist sehr gewöhnungsbedürftig, weil nicht zuletzt dieser Formalingeruch dermaßen intensiv ist und jedes Kleidungsstück durchdringt und sich daran festsetzt. Man trägt das Erlebte also förmlich mit sich herum. Das Eigentliche dabei – nämlich ein Skalpell in die Hand zu nehmen und sich Stück für Stück letztendlich den Mechanismus Mensch anzusehen – geht Hand in Hand mit einer Vielzahl von Gefühlen und lehrt angehende Mediziner auch eine Ehrfurcht vor dem Leben und dem Wunder Mensch.
Wirkliche Begeisterung für das Studium habe ich dann aber eigentlich in den letzten Studienabschnitten erlangt, in denen wir uns zunächst mit der Physiologie alle menschlichen Funktionen ansehen und fragen, wie der Mensch im Gesunden funktioniert. Nur aus dem lässt sich dann die sogenannte Pathologie ableiten: Wenn genau an irgendeiner Stelle dieser Regelkreise ein Fehler auftritt und wie die verschiedensten Erkrankungen entstehen. Die intellektuelle Leistung eines Arztes beginnt dann, wenn man erstmalig mit einem Patienten konfrontiert ist, der sich nicht präsentiert mit „Ich habe das, was auf Seite 284 im 2000 Seiten starken Pathologiebuch steht“, sondern mit subjektiv erlebten und beschriebenen Symptomen.
Dieser Mensch hat ein gesundheitliches Problem und wünscht sich rasch jemanden, der sich um ihn kümmert. Hier beginnt die eigentliche Arbeit eines Arztes, nämlich das Vernetzen von Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten und Symptomen mit Erkrankungen. Richtig fasziniert hat mich Medizin in genau diesem Moment – also erst relativ spät – und dann nicht mehr losgelassen. Kranke Menschen wenden sich, wenn sie nicht gerade übertrieben skeptisch gegenüber der modernen Medizin sind, im Normalfall hilfesuchend an einen Arzt. Ab dem Moment, wo man krank ist, ist man im wahrsten Sinne des Wortes verletzlich. Man ist nicht im Besitz seiner ganzen Kräfte. Das induziert Angst. Daraus resultiert eine Ehrlichkeit im zwischenmenschlichen Kontakt, die man sonst im Normalfall nicht hätte. Durch den Moment, durch diese Verletzlichkeit, vor allem des Patienten, entsteht eine ganz eigene Gesprächsbasis. Und im optimalen Fall ist eben diese Ehrlichkeit und diese Gesprächsbasis schon Teil der Therapie. Dieses Öffnen und dass man weiß, was man jetzt tut, hat unmittelbare wichtige Konsequenz für den anderen.
Die kommende Verknappung der öffentlichen Mittel und Strukturen durch die Ökonomisierung des Systems werden zu einem Wegfall einer vertrauensvollen Arzt-Patienten-Beziehung führen. Doch genau diese ist für einen Behandlungserfolg und für die Folgekosten extrem wichtig. Wir wissen: Je besser diese Arzt-Patienten-Beziehung ist, desto höher wird die Compliance des Patienten sein. Das heißt: Er wird dann auch das tun, was sein Arzt ihm vorschlägt. Man kann so zeitgerecht behandeln, Therapiefehler verhindern und sicherstellen, dass kranke Menschen in späterer Folge nicht noch einmal und noch teurer ins System zurückkehren. Die Grundidee der freien Arztwahl macht letztendlich das aus, was eine vertrauensvolle Arzt-Patienten-Beziehung darstellt. Ein Patient sucht den Arzt aus, zu dem er Vertrauen hat. Vertrauen in die Entscheidungen und Ratschläge, die der Arzt einem gibt und von denen man geneigt ist, dass man sie auch umsetzt. Mit den Strukturen, die jetzt konzipiert werden, wird das in dieser Form künftig nicht mehr möglich sein. Man wird mehr oder weniger mit einem Arzt oder einer Ärztin konfrontiert sein, die gerade Dienst haben. Die Vorinformationen beziehen sie nicht aus einer länger bestehenden Beziehung zum Patienten, sondern aus einem Datensystem. Welche Folgen das haben kann, wird in den kommenden Kapiteln noch im Detail analysiert werden.
Zu beobachten ist derzeit ein dramatisches Zurückfahren der Spitalsstrukturen. Zugegeben, die Bettendichte und die Zahl der Standorte waren in Österreich sehr hoch. Weil alle Träger und folglich die dort Beschäftigten interessiert waren, die Strukturen auszulasten, hatte Österreich im internationalen Vergleich die höchsten Spitalsausgaben. Damit es nun bei Kürzungen und Verdichtungen nicht zu einer dramatischen Unter- oder Mangelversorgung kommt, müsste der niedergelassene Bereich hochgefahren oder so modifiziert werden, dass er die Verlagerungen und damit die kranken Menschen auffangen kann.
Ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn das nicht richtig gemacht wird, sind die bildgebenden Verfahren. Bei MRT- und CT-Untersuchungen, die schon jetzt erhebliche Engpässe im stationären Bereich erleiden, zeigen sich die dramatischen Fehlentwicklungen. Wenn etwa in meinem Fach ein auffälliges Lungenröntgen bei einem Patienten gesichtet worden ist, braucht man zwingend eine Computertomographie, weil es sich oft um eine mögliche Lungenkrebsdiagnose handelt. Nur so kann die weitere Diagnostik und Therapie optimal durchgeführt werden. Durch die Veränderungen im Spital und das neue Arbeitszeitgesetz sind zuletzt etwa in Wien in einem Großteil der Spitäler die Nachmittagsschichten schlichtweg weggefallen. Patienten müssen also warten oder in den niedergelassenen Bereich ausweichen. Dieser kann die benötigte Menge an Untersuchungen aufgrund von finanziellen Deckelungen allerdings nicht abarbeiten. Auch wenn diese Entwicklung kurzfristig immer wieder in medialen Diskussionen erscheint, dann eine Taskforce eingerichtet wird und andere Reihungen der Patienten vorgenommen werden soll, erlebe ich immer noch dasselbe, nämlich dass dringend nötige Untersuchungen mitunter bis zu zwei Monate dauern können. Im schlimmsten aller Fälle braucht man sich die Frage dann überhaupt nicht mehr stellen, weil gerade Lungenkrebs und Unterarten des Lungenkrebses rasch tödlich verlaufen können.
Beim Schreiben dieser Zeilen erinnere ich mich an ein Telefonat mit einer Patientin aus meiner Praxis, die ich vor wenigen Tagen ins Spital geschickt habe, weil sie ein sich nicht auflösendes Infiltrat nach einer Lungenentzündung im rechten Unterlappen hat, das über Monate nicht weggegangen ist. Da sollte zeitnah eine Lungenspiegelung, eine sogenannte Bronchoskopie, gemacht werden, weil sie akut wieder stark gefiebert hat. Die Patientin wird also im Krankenhaus vorstellig, der Blutbefund zeigt erhöhte Entzündungswerte, der diensthabende Arzt entscheidet richtig, sie am folgenden Morgen erneut für eine Bronchoskopie und Lungenspiegelung ins Krankenhaus zu holen. Das Ziel ist, mehr Informationen zu bekommen, um entscheiden zu können, ob und wie man interveniert, ob ein gezieltes Antibiotikum erforderlich ist oder eine immunsuppressive Therapie. Als sie dann am entscheidenden Tag ins Krankenhaus kommt – mit denselben Befunden, die am Tag davor an derselben Abteilung erhoben wurden –, wird ihr diesmal von einem anderen Arzt gesagt, dass man vorerst doch eine Woche lang ungezielt erneut ein Antibiotikum gibt. Hier sieht man leider deutlich, wie die mangelnde Kontinuität in der Betreuung zu inkonsistenten Entscheidungen führt.
Es ist derzeit ein Trend zu beobachten, dass künftig nur noch eine Art Grundversorgung für die gesetzlich Krankenversicherten stattfinden wird. Was darüber hinausgeht, wird zunehmend privat bezahlt werden müssen. Es zeigt sich parallel dazu eine zunehmende Verbesserung des privaten Sektors. Die Folge ist also ein Auseinanderdriften und eine immer stärker sichtbar werdende Zwei-Klassen-Medizin.
Ein weiteres Beispiel aus der Radiologie ist die Möglichkeit des PET-CTs. Das ist die Kombination zweier bildgebender Untersuchungsverfahren, der Positronen-Emissions-Tomographie und der Computertomographie, und die momentan modernste und präziseste Methode der Tumor-Diagnostik und genauen Lokalisation von Tumoren. Das ist grundsätzlich keine großartig neue Erfindung, aber sie steht nur in ganz geringem Maße zur Verfügung, weil es wenige Geräte gibt. Die wiederum sind restlos überlaufen und überlastet. Das Problem dabei ist, dass laut den aktuellen medizinischen Guidelines jeder potenziell operable Patient eigentlich eine solche Untersuchung haben sollte. Doch genau das ist schlichtweg nicht möglich, weil man diese Untersuchung etwa in Wien nicht bekommen hat. Also ist man in den vergangenen ein bis zwei Jahren nach St. Pölten ausgewichen, weil das dortige PET-CT nicht voll ausgelastet war. Heute allerdings sind auch dort keine freien Kapazitäten mehr zu bekommen. In der Wiener Privatklinik, die ebenfalls ein solches Gerät besitzt, bekommt man eine Untersuchung innerhalb von zwei Tagen. Insgesamt gibt es in Wien aktuell zwei private PET-CTs. Kostenpunkt einer Untersuchung: rund 1200 Euro. Genau das allerdings entscheidet, ob man operieren kann oder nicht. Im Fall von Lungenkrebs ist es das, was den Ausschlag gibt über eine mögliche Heilung oder das Versterben an dieser Erkrankung. Wenn ich zwei oder drei Monate zuwarte, ist viel Zeit vergangen, in denen ein schnell wuchernder Krebs einfach weiterwächst. Dann kann es sein, dass vor drei Monaten ein Patient noch operabel gewesen wäre, drei Monate später ist er es sicher nicht mehr. Anders formuliert: Man kann sich plötzlich echte Überlebensvorteile kaufen.
Grund ist eine dramatische Verschiebung in Richtung eines rein ökonomischen Blickwinkels. Die Sozialversicherung streitet seit Jahren mit privaten MR- und CT-Instituten über Honorare für die Untersuchungen. Die Ärztevertreter argumentieren mit Deckelungen durch die Krankenkassen. Sind diese erreicht, wollen die Ärzte keine Kassenpatienten mehr übernehmen. Die Sozialversicherung pocht hingegen auf die Leistungspflicht der Mediziner. Im Sommer 2016 forderte Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser von den Vertragsparteien, eine rasche Lösung zu finden. Andernfalls werde die Möglichkeit geschaffen, dass die Kassen Einzelverträge abschließen können. „Es ist völlig inakzeptabel, dass Menschen, die eine Verdachtsdiagnose auf Krebs oder eine sonstige lebensbedrohliche Erkrankung haben, wochenlang auf ein MR oder CT warten müssen, außer sie bezahlen“, kritisierte Oberhauser.1
Hintergrund all dieser Entwicklungen sind zwei scheinbar schlüssige Forderungen: jene nach Effizienz im System und jene nach Evidenz. Das Problem dabei ist, dass der Versuch, Gelder möglichst sinnvoll einzusetzen und nicht zu verschwenden und gleichzeitig Menschen nach wissenschaftlich fixierten Richtlinien zu behandeln, durchaus sinnvoll ist. Allerdings übersehen jene, die das vorantreiben, die Nebenwirkungen. Eine am Reißbrett entworfene Standardisierung, in der ein Patient zur klassifizierbaren Diagnose und seine Beschwerden zum Befund werden, lassen außer Acht, dass Menschen nicht standardisierbar sind. Gleichzeitig wird der Arzt zum medizinischen Sachdienstleister. Das Gleiche gilt für andere Gesundheitsberufe. Spitäler wiederum werden zu Gesundheitsfabriken und auf Effizienz getrimmt. In Ordinationen wird im Rhythmus der Stechuhr behandelt. Es ist neben der stattfindenden Entmenschlichung in einem Beruf, der menschlicher nicht sein könnte, vor allem auch ein zunehmend wachsender Zeitdruck im System, der Zuwendung unmöglich macht. „Zeit ist Geld“, so lautet die alte Formel der Industrialisierung. Und eine andere Formel aus der Physik definiert: „Leistung und Arbeit durch Zeit.“ Und tatsächlich denken jene, die das System reformieren wollen, ganz genau so: Viel Leistung für wenig Geld bekommt man dann, wenn in kurzer Zeit viel gearbeitet wird.
Ein Versuch, das System kostengünstiger zu machen, wurde 2013 gestartet und 2016 erweitert: Im Finanzausgleich, der die Verteilung der Steuermittel zwischen Bund, Ländern und Gemeinden regelt, wird ein sogenannter Kostendämpfungspfad bestimmt. Der Anstieg der Gesundheitsausgaben soll dabei pro Jahr fixiert und Schritt für Schritt gedämpft werden. 2020 sollen die Gesundheitsausgaben dann nur noch um 3,2 Prozent steigen. Das ist zwar angesichts der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten von ein bis zwei Prozent viel, lässt aber wenig Spielräume für unplanbare Entwicklungen. Kommen etwa neue und teure Medikamente oder Therapien auf den Markt, gibt es drei Möglichkeiten: Sie werden nicht von der öffentlichen Hand bezahlt oder die öffentliche Hand drückt den Preis und begrenzt somit das Angebot oder es muss eben in anderen Bereichen gespart werden. Um nicht missverstanden zu werden, sei hier gesagt, dass es nachvollziehbar ist, Kosten nicht bis zur Unfinanzierbarkeit steigen zu lassen.
Natürlich gibt es im Gesundheitswesen Ineffizienzen. Und eine Optimierung der Quervernetzung und ein Verhindern von Redundanzen bei der Befunderhebung zwischen niedergelassenem und stationärem Bereich ist zu begrüßen. Früher wurde, wenn ein Patient mit aktuellen radiologischen Bildern ins Spital gekommen ist, wieder ein CT gemacht. Wir haben uns den Luxus gegönnt, einfach noch einmal die Diagnostik zu machen. Sicherlich gab es zum Teil spezialisiertere Radiologen in den Kliniken, es macht für das bisschen Mehr an Qualität aber keinen Sinn, teure Befunde doppelt zu machen. Nicht zuletzt deswegen ist eine funktionierende elektronische Gesundheitsakte keine schlechte Idee, wenn man verhindern will, Untersuchungen unbegrenzt oft zu wiederholen. Und natürlich stimmt auch das Argument, dass die Versorgung derzeit oft an der falschen Stelle stattfindet. Es ist unbestritten, dass die teuerste Versorgung jene in Spitälern und Spitalsambulanzen ist. Die absurd teuersten Stellen, die wir uns leisten, sind Universitätskliniken, wenn man dort Blinddarmoperationen macht, weil gerade andere Kliniken nicht verfügbar sind. Eine sinnvolle, wohnortnahe Versorgung und eine echte Entlastung der Spitalsambulanzen würde also durchaus Sinn machen. Kurz: Wir haben also sehr wohl ein Gesundheitssystem, das teurer wird. Wir haben aber sicher nicht optimal effiziente Strukturen. Das Problem ist nur: Gespart wird, wo es am einfachsten geht.