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1774: Bolithos Karriere nimmt einen steilen Aufstieg, nachdem er als Dritter Offizier auf der Fregatte Destiny nach Rio de Janeiro ausgelaufen ist, um einen verschwundenen Geldtransporter zu suchen. Schwierige Tage unter dem Kommando eines harten Kommandanten, der Tod eines Freundes und eine große Liebe lassen Bolithos charakterliche und seemännische Qualitäten offenbar werden.
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Seitenzahl: 455
Alexander Kent kämpfte im Zweiten Weltkrieg als Marineoffizier im Atlantik und erwarb sich danach einen weltweiten Ruf als Verfasser spannender Seekriegsromane. Er veröffentlichte über 50 Titel (die meisten bei Ullstein erschienen), die in 14 Sprachen übersetzt wurden, und gilt als einer der meistgelesenen Autoren dieses Genres neben G.S. Forester. Alexander Kent, dessen richtiger Name Douglas Reeman lautet, war Mitglied der Royal Navy Sailing Association und Governor der Fregatte »Foudroyant« in Portsmouth, des ältesten noch schwimmenden Kriegsschiffs.
1774: Bolithos Karriere nimmt einen steilen Aufstieg, nachdem er als Dritter Offizier auf der Fregatte Destiny nach Rio de Janeiro ausgelaufen ist, um einen verschwundenen Geldtransporter zu suchen. Schwierige Tage unter dem Kommando eines harten Kommandanten, der Tod eines Freundes und eine große Liebe lassen Bolithos charakterliche und seemännische Qualitäten offenbar werden.
Alexander Kent
Leutnant Bolithos Handstreich in Rio
Roman
Aus dem Englischen
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Neuausgabe bei RefineryRefinery ist ein Digitalverlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Juni 2018 (1)
© der deutschen Ausgabe: Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 1981© Highseas Authors Ltd., 1980Titel der englischen Originalausgabe: Stand into Danger Covergestaltung: © Sabine Wimmer, Berlin
ISBN 978-3-96048-136-2
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Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
I Willkommen an Bord
II Bruch mit der Vergangenheit
III Jäher Tod
IV Spanisches Gold
V Klinge gegen Klinge
VI Eine Frage der Disziplin
VII Im Zwiespalt
VIII Verfolgungsjagd
IX Pallisers List
X Eines Mannes Verlangen
XI Mit knapper Not
XII Geheimnisse
XIII An sicherem Ort
XIV Die letzte Chance
XV Mut im rechten Augenblick
XVI Nur ein Traum
XVII Die Schlacht
Epilog
Anmerkungen
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
I Willkommen an Bord
FÜR WINIFRED, IN LIEBE
Richard Bolitho drückte dem Mann, der seine Seekiste zur Pier getragen hatte, ein paar Münzen in die Hand. Ihn fröstelte in der naßkalten Luft. Obwohl der Vormittag schon halb herum war, lagen die langgestreckten Häuserreihen von Plymouth und die Umgebung noch in Nebelschwaden gehüllt. Kein Windhauch war zu spüren, alles wirkte düster und unheimlich.
Bolitho reckte sich und ließ seine Blicke angestrengt über das kabbelige Wasser des Hamoaze schweifen. Dabei spürte er die ungewohnt steife Leutnantsuniform, die – wie alles in seiner Seekiste – funkelnagelneu war: die weißen Aufschläge auf seinem Rock ebenso wie der Hut mit der im Dreieck hochgeschlagenen Krempe, den er etwas ungeschickt auf sein schwarzes Haar gestülpt hatte. Sogar Kniehose und Schuhe stammten aus demselben Geschäft in Falmouth – seiner Heimatstadt in der Grafschaft auf der anderen Uferseite –, von demselben Schneider, der, wie schon seine Vorfahren, neuernannte Seeoffiziere eingekleidet hatte, seit man sich erinnern konnte.
Dies war ein großer Augenblick für Richard Bolitho, die Verwirklichung all seines Hoffens und Strebens: dieser erste, oft unerreichbar scheinende Schritt vom Kadettenlogis zur Offiziersmesse, zur Würde eines Königlichen Seeoffiziers.
Er drückte seinen Hut so fest in die Stirn, als wolle er sich damit noch einmal selber bestätigen. Es war tatsächlich ein großer Augenblick.
»Sie wollen auf die Destiny, Sir?«
Der Mann, der seine Seekiste getragen hatte, stand immer noch neben ihm. In dem trüben Licht wirkte er ärmlich und abgerissen, doch unverkennbar als das, was er einmal gewesen war: ein Seemann.
Bolitho sagte: »Ja, sie muß irgendwo da draußen liegen.«
Der Mann folgte seinem Blick über das Wasser, doch seine Augen schienen in unbekannte Fernen zu schauen.
»Eine schöne Fregatte, Sir. Knapp drei Jahre alt.« Er nickte traurig. »Sie wird schon seit Monaten ausgerüstet. Es heißt, für eine lange Reise.«
Bolitho dachte über den Mann und all die Hunderte von Männern nach, die in den Häfen und Küstenorten herumlungerten, Arbeit suchten und sich dabei nach der See sehnten, die sie so oft aus vollem Herzen verflucht hatten.
Aber man schrieb jetzt Februar 1774, und bekanntlich befand sich England seit Jahren im Frieden. Sicherlich gab es hier und da auf der Welt kriegerische Zusammenstöße, aber dabei ging es meist um örtliche Handelsinteressen oder um Selbstbehauptung. Die alten Feinde blieben trotzdem die gleichen: entschlossen, ihre Zeit abzuwarten und den schwachen Punkt des Gegners zu finden, um diesen eines günstigen Tages zu benutzen.
Schiffe und Männer, die einst ihr Gewicht in Gold wert gewesen waren, hatte man ausgemustert. Die Schiffe verrotteten, die Seeleute – wie diese zerlumpte Gestalt mit fingerloser rechter Hand und einer tiefen Narbe auf der Backe – hatte man ohne Abfindung und Versorgung einfach an Land gesetzt.
Bolitho fragte: »Auf welchem Schiff sind Sie gefahren?«
Der Mann schien plötzlich zu wachsen, als er antwortete:
»Auf der Torbay, Sir. Unter Käpt’n Keppel.« Genauso schnell sank er wieder zusammen. »Gibt’s eine Chance für mich bei Ihnen an Bord, Sir?«
Bolitho schüttelte den Kopf. »Ich bin neu und weiß noch nicht, wie es auf der Destiny aussieht.«
Der Mann seufzte. »Ich werde Ihnen ein Boot rufen, Sir.«
Er steckte zwei Finger seiner heilen Hand in den Mund und ließ einen durchdringenden Pfiff ertönen. Als Antwort hörte man durch den Nebel das Plätschern von Riemen, und dann näherte sich langsam ein Ruderboot.
Bolitho rief: »Zur Destiny,bitte!«
Als er sich umdrehte, um seinem abgerissenen Begleiter noch ein paar Münzen zuzustecken, war der schon wie ein Geist im Nebel verschwunden.
Bolitho kletterte ins Boot, zog seinen neuen Umhang fester und klemmte den Säbel zwischen die Knie. Das Warten war vorüber. Es hieß nicht länger: übermorgen oder morgen. Es war jetzt.
Das Boot dümpelte und gluckste in dem kabbeligen Wasser, während der Ruderer Bolitho mit wenig Sympathie musterte. Wieder so ein junger Fant, der armen Seeleuten das Leben zur Hölle machen wird, dachte er wohl. Und er mochte überlegen, ob der junge Offizier mit dem ernsten Gesicht und dem schwarzen, im Nacken zusammengebundenen Haar überhaupt wußte, was er für das Übersetzen bezahlen mußte. Er sprach mit dem Akzent eines Mannes aus dem Westen. Auch wenn er nur ein »Ausländer« vom jenseitigen Ufer war, aus Cornwall, so würde er sich doch von ihm nicht anschmieren lassen.
Bolitho rekapitulierte noch einmal, was er bisher über sein neues Schiff erfahren hatte: drei Jahre alt, hatte der zerlumpte Träger gesagt. Er sollte es wissen. Denn ganz Plymouth grübelte darüber, warum man sich in diesen schweren Zeiten solche Mühe mit der Ausrüstung und Bemannung einer Fregatte machte.
Im übrigen: Mit achtundzwanzig Kanonen bestückt, dabei schnell und beweglich, war die Destiny ein Schiffstyp, von dem die meisten jungen Offiziere träumten. Im Krieg war eine Fregatte nur lose der Flotte zugeordnet, war schneller als jedes größere Schiff und stärker als jedes kleinere: kurz, ein Faktor, mit dem man rechnen mußte. An Bord einer Fregatte gab es auch bessere Aussichten auf frühzeitige Beförderung, und später – wenn man den Gipfel, nämlich das Kommando über solch ein Schiff, erreicht hatte – bot sie auch Aussicht auf kühne Unternehmungen und reiche Prisengelder.
Bolitho dachte an sein letztes Schiff, das Linienschiff Gorgon: vierundsiebzig Kanonen, riesengroß und plump, mit einem Gewimmel von Menschen, mit gewaltigen Segeln, meilenlangem Tauwerk und riesigen Masten und Rahen. Es war außerdem eine Schule gewesen, eine sehr strenge Schule, in der die jungen Kadetten und Fähnriche vieles lernen mußten, vor allem aber, ihre Gefühle zu beherrschen und auch Ungerechtigkeiten zu ertragen.
Bolitho schaute hoch, als der Bootsmann sagte: »Müßte jetzt in Sicht kommen, Sir.«
Bolitho spähte nach vorn, froh über die Unterbrechung. Was hatte seine Mutter gesagt, als er sich von ihr in dem großen grauen Haus in Falmouth verabschiedet hatte? »Wirf alles hinter dich, Dick. Du kannst nichts ungeschehen machen. Darum paß jetzt auf dich auf. Die See taugt nicht für Träumer.«
Die Nebelwand wurde erst dunkler und teilte sich dann, als das vor Anker liegende Schiff aus dem Dunst auftauchte. Das Boot näherte sich seinem Bug von der Steuerbordseite und schwabberte unter dem weit vorragenden Klüverbaum nach achtern. Wie Bolithos neue Uniform auf der nassen Pier, so schien die Destiny in den trüben Nebelschwaden zu schimmern.
Von ihrer schlank wirkenden, schwarz-gelben Bordwand bis zu den drei Mastspitzen war sie ein Vollblut. Ihre Wanten, Stage und Pardunen waren neu geteert, ihre Rahen sauber quergebraßt, und jedes Segel war sorgfältig aufgetucht.
Bolitho schaute zur Galionsfigur empor, die ihn zu begrüßen schien. Es war die schönste Figur, die er je gesehen hatte: ein barbusiges Mädchen, dessen ausgestreckter Arm auf den fernen Horizont zu weisen schien. In der anderen Hand hielt es einen Lorbeerkranz. Nur die goldenen Blätter und die starren blauen Augen setzten Farbakzente in das reine Weiß der Gestalt.
Zwischen zwei Riemenschlägen erläuterte der Bootsmann: »Man sagt, der Holzschnitzer hat seine junge Braut als Modell für die Figur benutzt, Sir.« Er zeigte grinsend seine häßlichen Zähne. »Ich wette, er hat ein paar Kerls wegboxen müssen, ehe er sie bekam.«
Bolitho musterte die Fregatte, als sie an ihrer Bordwand entlangdümpelten, und sah, daß sich ein paar Leute auf der Laufbrücke hoch über ihm zu schaffen machten. Sie war ein schönes Schiff. Er hatte Glück gehabt.
»Boot ahoi!«
Sein Bootsmann antwortete: »Aye! Zur Destiny!«
Bolitho bemerkte einige Bewegung an der Fallreepspforte, aber keine große Aufregung. Die Antwort auf den Anruf hatte genug ausgesagt. »Aye« hieß: Das Boot brachte einen Offizier, der aber nicht alt genug war, um jemanden an Bord zu beunruhigen, geschweige denn den Kommandanten.
Bolitho stand auf, als zwei Matrosen ins Boot sprangen, um es festzuhalten und seine Kiste herauszuholen. Bolitho musterte sie kurz. Er war noch nicht ganz achtzehn Jahre, aber seit seinem zwölften Lebensjahr auf See und hatte in dieser Zeit gelernt, Matrosen einzuschätzen.
Sie sahen kräftig und zäh aus, aber das Äußere konnte manches verbergen. Viele Seeleute waren der Auswurf von Gefängnissen und Schwurgerichten, die man an Bord geschickt hatte, anstatt sie zu deportieren oder dem Henker zu übergeben.
Die Matrosen traten in dem dümpelnden Boot beiseite, als Bolitho dem Ruderer Geld gab. Der Mann steckte es in sein Wams und grinste. »Danke, Sir. Und viel Glück!«
Bolitho kletterte das Fallreep hoch und trat durch die Pforte im Schanzkleid aufs Deck der Fregatte. Er staunte über den Unterschied zu einem Linienschiff, obwohl er ihn erwartet hatte. Die Destiny schien nahezu chaotisch vollgestopft mit vielerlei Dingen; von den zwanzig Zwölfpfündern auf ihrem Oberdeck bis zu den kleineren Stücken weiter achtern schien jeder Quadratzoll sinnvoll genutzt. Da lagen und hingen sauber aufgeschossene Schoten, Fallen und Brassen, standen in ihren Klampen festgezurrte Beiboote und exakt ausgerichtete Musketen in ihren Gestellen am Fuß jedes Mastes, während dazwischen und überall sonst, wo noch Platz war, Männer hantierten, die er alle bald namentlich kennen würde.
Ein Leutnant trat zwischen den Fallreepsgästen vor und fragte: »Mr.Bolitho?«
Bolitho rückte seinen Hut zurecht. »Aye, Sir. Melde mich an Bord!«
Der Leutnant nickte nur kurz. »Folgen Sie mir. Ihre Sachen lasse ich nach achtern bringen.« Er gab einem Matrosen eine leise Anweisung und rief dann laut: »Mr. Timbrell! Schicken Sie ein paar Leute in den Vortopp! Es sah da oben aus wie in einem Affenstall, als ich das letztemal nachschaute.«
Bolitho zog im letzten Augenblick den Kopf ein, als sie unter den Überhang des Achterdecks traten. Auch hier schien ihm alles eng und überfüllt: noch mehr Kanonen, jede sorgsam hinter ihrer geschlossenen Stückpforte festgezurrt, dazu der Geruch von Teer und Tauwerk, frischer Farbe und eng zusammengedrängten Menschen – das Flair eines lebenden Schiffes.
Er versuchte, den Leutnant, der ihn nach achtern zur Offiziersmesse führte, abzuschätzen. Er war schlank, hatte ein rundes Gesicht und den etwas gequälten Ausdruck eines Mannes, der zeitweise Verantwortung trägt.
»Da wären wir.«
Der Leutnant öffnete eine Lamellentür, und Bolitho trat in sein neues Heim. Trotz der Zwölfpfünder mit ihren schwarzen Mündungen, die daran erinnerten, daß es an Bord eines Kriegsschiffes keinen Platz gab, der vor herumfliegendem Eisen sicher war, sah der Raum überraschend gemütlich aus. Er enthielt einen langen Tisch wie in einem Kadettenlogis, aber mit hochlehnigen Stühlen statt der Bänke, wie er sie jahrelang gewohnt gewesen war. Dann gab es Wandgestelle für Trinkgläser, andere für Säbel und Pistolen, und der Fußboden war mit bemaltem Segeltuch bespannt.
Der Leutnant wandte sich zu Bolitho um und musterte ihn aufmerksam. »Ich heiße Stephen Rhodes und bin der Zweite Offizier.« Er lächelte und wirkte dadurch jünger, als Bolitho ihn eingeschätzt hatte. »Da dies Ihr erstes Kommando als Offizier ist, will ich versuchen, es Ihnen so leicht wie möglich zu machen. Nennen Sie mich Stephen, wenn Sie wollen, aber vor den Leuten ›Sir‹.« Rhodes wandte den Kopf und rief: »Poad!«
Ein kleiner hagerer Mann in blauem Jackett huschte durch eine andere Tür herein.
»Bringen Sie Wein, Poad. Dies ist unser neuer Dritter Offizier.«
Poad machte eine kleine Verbeugung. »Ist mir ein Vergnügen, Sir.«
Als er davoneilte, bermerkte Rhodes: »Ein guter Steward, aber er klaut. Sie lassen also besser nichts Wertvolles herumliegen.« Er wurde wieder ernst. »Unser Erster Offizier ist in Plymouth, hat da irgendwas zu erledigen. Er heißt Charles Palliser. Anfangs wirkt er etwas barsch. Er ist schon seit Indienststellung der Destiny mit unserem Kommandanten an Bord.« Unvermittelt wechselte er das Thema. »Sie können froh sein, dieses Kommando bekommen zu haben.« Es klang wie ein Vorwurf. »Sie sind noch sehr jung. Ich bin dreiundzwanzig und nur darum schon Zweiter Offizier, weil mein Vorgänger umgekommen ist.«
»Im Kampf gefallen?«
Rhodes grinste. »Nein, nichts Heroisches. Er wurde von einem Pferd abgeworfen und brach sich das Genick. Ein prima Bursche in seiner Art, aber so ist es nun einmal.«
Bolitho beobachtete den Messe-Steward, der Gläser und eine Flasche in Reichweite von Rhodes abstellte. Er sagte: »Ich war selber überrascht, als ich diese Kommandierung bekam.«
Rhodes sah ihn forschend an. »Das klingt nicht sehr begeistert. Sind Sie nicht gern zu uns gekommen? Mann, es gibt Hunderte, die vor Freude an die Decke springen würden, wenn sich ihnen eine solche Chance böte.«
Bolitho schaute weg. Ein schlechter Anfang.
»Das ist es nicht. Aber mein bester Freund wurde vor einem Monat getötet.« Jetzt war es heraus. »Ich kann es immer noch nicht glauben.«
Rhodes’ Blick wurde milder; er schob ihm ein Glas hin.
»Trinken Sie, Richard. Das wußte ich nicht. Manchmal kann ich es nicht begreifen, warum wir all dies hier auf uns nehmen, anstatt – wie andere – bequem an Land zu leben.«
Bolitho lächelte ihn an. Außer seiner Mutter zuliebe hatte er in letzter Zeit kaum einmal gelächelt.
»Was haben wir für Befehle, Stephen?«
Rhodes ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. »Niemand außer unserem Kommandanten weiß Bestimmtes. Wir machen eine lange Reise südwärts, das ist gewiß. In die Karibik vielleicht oder noch weiter.« Er schüttelte sich und starrte auf die nächste Stückpforte. »Gott, bin ich froh, daß wir diese Nässe hier bald hinter uns haben.« Er nahm einen schnellen Schluck. »Wir haben eine gute Besatzung, zum größten Teil wenigstens, mit den üblichen Galgenvögeln dazwischen. Der Steuermann ist erst kürzlich vom Maat zum Deckoffizier befördert worden, aber er ist ein guter Navigator, wenn er auch gegenüber seinen Vorgesetzten manchmal etwas wichtig tut. Und heute abend werden wir unser volles Kontingent an Midshipmen bekommen. Zwei davon sind erst zwölf, beziehungsweise dreizehn Jahre alt.« Er grinste. »Seien Sie nicht zu lasch mit ihnen, Richard, nur weil Sie selber vor kurzem Midshipman waren. Wenn etwas schiefgeht, sind nämlich Sie dran, nicht die Jungen.«
Rhodes zog eine Uhr aus der Hosentasche. »Der Erste Offizier muß jeden Augenblick zurückkommen. Ich scheuche jetzt besser schon die Fallreepsgäste raus. Er liebt eine tadellose Vorstellung, wenn er an Bord kommt.«
Er zeigte auf eine kleine, mit Segeltuchwänden abgeteilte Kammer. »Die gehört Ihnen, Richard. Sagen Sie Poad, was Sie brauchen, dann wird er die anderen Stewards anweisen, sich darum zu kümmern.« Impulsiv streckte er Bolitho die Hand hin. »Schön, daß Sie bei uns sind. Willkommen!«
Bolitho saß in der leeren Messe und lauschte auf das Geräusch der Blöcke und Leinen und der trappelnden Füße über seinem Kopf. Er hörte rauhe Stimmen, das Trillern einer Bootsmannsmaatenpfeife, als irgendein Ausrüstungsstück aus einem längsseit liegenden Boot an Bord gehievt wurde, um dort registriert und in irgendeiner Last verstaut zu werden.
Bald würde Bolitho die Gesichter der Mannschaft kennen, ihre Stärken und ihre Schwächen. Und in dieser niedrigen Messe würde er sein tägliches Leben, seine Hoffnungen und Enttäuschungen mit seinen Messekameraden teilen: mit den beiden anderen Wachoffizieren, mit dem Offizier der Seesoldaten, dem neuernannten Steuermann, dem Schiffsarzt und dem Zahlmeister – den wenigen Auserwählten unter der Besatzung von rund zweihundert Seelen.
Er hätte den Zweiten Offizier gern noch nach dem Kommandanten gefragt. Aber Bolitho war zwar sehr jung für seinen Rang, doch immerhin erfahren genug, um zu wissen, daß die Frage ungehörig gewesen wäre. Aus Rhodes’ Sicht wäre es Wahnsinn gewesen, einem eben an Bord Gekommenen zu vertrauen und ihm gegenüber seine persönliche Meinung über den Kommandanten der Destiny zu äußern.
Bolitho öffnete die Tür zu seiner kleinen Kammer. Sie war kaum länger als die pendelnd aufgehängte Koje, bot aber daneben genügend Platz zum Sitzen. Ein Stück privates Territorium, soweit man in einem kleinen, von Leben überquellenden Kriegsschiff davon reden konnte. Doch im Vergleich zu seiner Hängematte im übervollen Kadettenlogis des Orlopdecks war dies ein Palast.
Seine Beförderung war sehr schnell gekommen, wie Rhodes bemerkt hatte. Wenn der ihm unbekannte Leutnant nicht durch einen Sturz vom Pferd umgekommen wäre, hätte es diese freie Stelle kaum gegeben.
Bolitho öffnete die obere Hälfte seiner Seekiste und hängte einen Spiegel an einen der massiven Balken neben der Koje. Er betrachtete sich darin und bemerkte die dünnen Linien, die sich infolge der Anstrengungen der letzten Jahre um seinen Mund und seine Augen eingegraben hatten. Er war auch magerer geworden, muskulös und sehnig, wie es nur Bordernährung und harte Arbeit fertigbringen.
Poad schaute zu ihm herein. »Ich könnte ein Mietboot anheuern und in die Stadt schicken, um etwas Sonderproviant für Sie zu besorgen, Sir.«
Bolitho lächelte. Poad war wie ein Standbesitzer auf einem Markt in Cornwall.
»Ich habe mir schon einiges herbestellt, danke.« Er bemerkte Poads Enttäuschung und fügte hinzu: »Aber wenn Sie sich darum kümmern wollen, daß es richtig verstaut wird, wäre ich Ihnen verbunden.«
Poad nickte kurz und trollte sich. Er hatte sein Angebot gemacht, und Bolitho hatte richtig reagiert. Irgendwann würde schon etwas für ihn dabei herausspringen, wenn Poad die privaten Vorräte der Offiziere unter seine Obhut nahm.
Eine Tür ging geräuschvoll auf, und ein hochgewachsener Offizier trat in die Messe, warf seinen Hut auf eine Kanone und rief gleichzeitig nach Poad.
Er musterte Bolitho ausgiebig, wobei er alles, von den neuen Schuhschnallen bis zur Haartolle, in sich aufzunehmen schien.
Er sagte: »Ich bin Palliser, die Nummer Eins.«
Er hatte eine lebhafte Art zu sprechen. Als Poad mit einem Krug Wein hereinkam, blickte er zu ihm hinüber.
Bolitho betrachtete den Ersten Offizier neugierig. Er war sehr groß und mußte sich daher unter die niedrigen Decksbalken bücken. Ende der Zwanzig, schien er aber die Erfahrungen eines weit Älteren zu besitzen. Er und Bolitho trugen die gleiche Uniform, doch waren sie so verschieden voneinander, als ob ein Abgrund zwischen ihnen läge.
»Sie sind also Bolitho.« Seine Augen wanderten über den Rand des Bechers zu ihm. »Sie haben ein gutes Führungszeugnis; das heißt: auf dem Papier. Aber dies ist eine Fregatte, Mr. Bolitho, und kein überbemanntes Linienschiff Dritten Ranges. Hier ist es erforderlich, daß sich jeder Offizier und jeder Mann voll einsetzt, damit dieses Schiff schnellstens seeklar wird.« Er nahm noch einen kräftigen Schluck. »Melden Sie sich also bitte an Deck. Nehmen Sie die Barkasse, und fahren Sie an Land. Sie müssen die Umgebung hier doch kennen, wie?« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Gehen Sie mit einem Rekrutierungskommando ans Westufer und durchkämmen Sie die umliegenden Ortschaften. Little, der Stückmeistersmaat, wird Sie begleiten. Er kennt das Geschäft. Wir haben auch ein paar Plakate, die Sie in den Gasthöfen aufhängen können. Wir brauchen etwa zwanzig tüchtige Burschen, kein Gesindel. Unsere Besatzung ist zwar komplett, aber wie es damit am Ende einer langen Reise aussieht, ist ein anderes Kapitel. Ein paar Leute werden wir zweifellos verlieren. Jedenfalls hat es der Kommandant so befohlen.«
Bolitho hatte geglaubt, er könne erst einmal auspacken, seine Leute kennenlernen und nach der langen Fahrt von Falmouth etwas zu sich nehmen.
Um seine Anordnung abzurunden, sagte Palliser fast nebenbei: »Heute ist Dienstag. Seien Sie bis Freitagmittag zurück. Verlieren Sie keinen von Ihren Leuten, und lassen Sie sich nicht übers Ohr hauen!«
Mit lautem Türknall rauschte Palliser aus der Messe und rief draußen irgendeinen Namen.
Rhodes tauchte in der offenen Tür auf und lächelte ihm ermutigend zu. »Pech gehabt, Richard. Aber er gibt sich härter, als er ist. Er hat Ihnen eine gute Gruppe für die Aufgabe ausgesucht. Ich habe Erste Offiziere kennengelernt, die einem Anfänger eine Auslese von Halunken mitgegeben hätten, nur um ihm nach erfolgloser Rückkehr tüchtig Zunder geben zu können.« Er zwinkerte ihm zu. »Mr. Palliser wird bald selber ein Schiff haben. Denken Sie immer daran, es hilft einem beträchtlich.«
Bolitho lächelte. »In diesem Fall mache ich mich besser gleich auf den Weg.« Er hielt einen Moment inne. »Und vielen Dank noch für den Willkommensgruß.«
Rhodes ließ sich in einen Stuhl fallen und dachte ans Mittagessen. Er hörte, wie draußen in der Barkasse die Riemen klargelegt wurden und der Bootssteurer seine Befehle gab. Was er bisher von Bolitho gesehen hatte, gefiel ihm. Gewiß, er war noch sehr jung, aber er machte den Eindruck, als ob er im Kampf oder bei schwerem Wetter seinen Mann stehen würde.
Seltsam, daß man sich niemals Gedanken über die Sorgen und Probleme seiner Vorgesetzten machte, so lange man noch Midshipman war. Ein Offizier, ob jung oder alt, war einfach eine Art höheres Wesen. Eines, das schimpfte und schnell die Mängel bei einem Anfänger entdeckte. Aber jetzt wußte er es besser. Selbst Palliser hatte Angst vor dem Kommandanten. Und wahrscheinlich fürchtete dieser wiederum, bei seinem Admiral oder einem noch Höherstehenden aufzufallen.
Rhodes lächelte. Denn ein paar kostbare Augenblicke lang war er mit sich und der Welt zufrieden.
Little, der Stückmeistersmaat, trat – die großen Hände in die Seite gestemmt – einen Schritt zurück und sah zu, wie seine Männer ein weiteres Werbeplakat aufhängten.
Bolitho zog seine Uhr heraus und blickte über den Dorfanger, als die Kirchenuhr die Mittagsstunde schlug.
Little sagte verdrießlich: »Wär’s vielleicht Zeit für einen Schluck, Sir?«
Bolitho holte tief Luft. Wieder ein Tag nach einer schlaflosen Nacht in einem kleinen, nicht besonders sauberen Gasthof, und immer mit der Sorge, daß sein Rekrutierungskommando selber desertieren könnte, trotz Rhodes beruhigender Worte über die gute Auswahl. Aber Little hatte dafür gesorgt, daß es bisher glatt gegangen war. Sein Name paßte überhaupt nicht zu ihm, er war stämmig und übergewichtig, ja dick, und sein Bauch hing wie ein Sack über den Gurt seines Entermessers. Wie er das bei den schmalen Rationen des Zahlmeisters schaffte, war ein Rätsel. Aber er war ein guter Mann, erfahren und ausgekocht, ihn legte niemand herein.
Bolitho sagte: »Noch eine Station, Little, und dann . . .« Er lächelte ihm schuldbewußt zu. »Dann gebe ich für alle einen aus.«
Da strahlten sie: sechs Matrosen, ein Korporal der Seesoldaten und die beiden jungen Spielleute, die wie Zinnsoldaten aussahen.
Ihnen machte es nichts aus, daß der Erfolg ihres Werbezugs miserabel gewesen war. Das Auftauchen von Bolithos Werbern erregte gewöhnlich wenig Interesse, ausgenommen bei Kindern und kläffenden Dorfkötern. Alte Erfahrungen wurden hier – so nahe der See – nicht so schnell vergessen. Viele erinnerten sich noch an die gefürchteten Preßkommandos, die rücksichtslos Männer von ihren Familien weggerissen und auf die Schiffe des Königs gezerrt hatten, wo sie den harten Bedingungen eines Krieges ausgesetzt waren, dessen Ursache sie nicht einmal kannten. Und wie viele dieser Leute waren nie zurückgekehrt!
Bolitho hatte bisher vier Freiwillige gewonnen – aber Palliser erwartete zwanzig – und sie mit einem Begleiter zur Destiny geschickt, bevor sie es sich wieder anders überlegen konnten. Zwei von ihnen waren Berufsseeleute, die anderen Knechte, die ihren Arbeitsplatz verloren hatten – ungerechterweise, wie beide versicherten. Bolitho hatte den Verdacht, daß es vielleicht dringendere Gründe für ihre freiwillige Meldung gab, doch blieb ihm keine Zeit, sie auszufragen.
Sie trampelten über den ungepflegten Dorfanger, dessen hohes nasses Gras Bolithos schöne neue Schuhe und Strümpfe beschmutzte. Little legte einen Schritt zu, und Bolitho überlegte, ob es richtig gewesen war, ihnen allen einen Drink zu versprechen. Er gab sich innerlich einen Ruck. Bisher hatte nichts ordentlich geklappt, nun konnte es kaum noch schlimmer kommen.
Little stieß einen Pfiff aus. »Vor der Kneipe stehen Männer, Sir.« Er rieb sich die großen Hände und sagte zu dem Korporal: »Auf, Dipper, laß deine Spielleute loslegen!«
Die beiden Winzlinge in Soldatenuniform warteten, bis ihr Korporal den Befehl an sie weitergab; während der eine dann einen Wirbel auf seiner Trommel schlug, zog der andere eine Querpfeife aus dem Brustriemen und stimmte eine Tanzmelodie an.
Der Korporal hieß Dyer. Bolitho fragte: »Warum nennen Sie ihn Dipper[1]?«
Little grinste mit abgebrochenen Zähnen, dem untrüglichen Kennzeichen eines Berufsboxers.
»Du meine Güte, Sir, weil er Taschendieb war, bevor ihm die Erleuchtung kam, sich zu den Ochsen[2] zu melden.«
Die Männergruppe vor dem Gasthaus schien sich zu zerstreuen, als die Matrosen und Seesoldaten näherkamen. Nur zwei Gestalten blieben stehen, und ein ungleicheres Paar konnte man sich kaum denken.
Der eine war klein und quirlig und hatte eine scharfe Stimme, die Trommel und Querpfeife leicht übertönte. Der andere war groß und kräftig, bis zum Gürtel nackt, und seine Arme und Fäuste hingen herunter wie Waffen, die nur auf ihren Einsatz warteten.
Der kleine Mann, ein Ausrufer vom Jahrmarkt, der sich zunächst über das plötzliche Verschwinden seines Publikums geärgert hatte, sah nun die Seeleute und wandte sich ihnen munter zu.
»Well, well, well, wen haben wir denn da? Söhne des Meeres, echte britische Teerjacken!« Er zog seinen Hut vor Bolitho. »Und ein richtiger Gentleman an ihrer Spitze, zweifellos!«
Bolitho sagte müde: »Lassen Sie die Leute wegtreten, Little. Ich sorge inzwischen dafür, daß der Wirt Bier und Käse herausbringt.«
Der Schausteller schrie: »Wer von euch Tapferen wagt einen Kampf mit meinem Boxer?« Sein Blick wanderte von Mann zu Mann. »Eine Guinee[3] demjenigen, der gegen ihn zwei Minuten auf den Füßen bleibt!« Die Münze blitzte zwischen seinen Fingern. »Ihr braucht nicht zu gewinnen, Jungs, nur zwei Minuten kämpfen und auf den Füßen bleiben!«
Er hatte jetzt ihre volle Aufmerksamkeit gewonnen, und Bolitho hörte, wie der Korporal Little zuflüsterte: »Wie wär’s, Josh? Eine ganze Guinee!«
Bolitho hielt an der Tür des Wirtshauses inne und schaute sich den Preisboxer zum ersten Mal näher an. Er sah aus, als habe er Kräfte für zehn, wirkte aber trotzdem verzweifelt und bemitleidenswert, wie er so ins Leere starrte. Seine Nase war deformiert, und sein Gesicht zeigte die Spuren vieler Kämpfe: auf Jahrmärkten, vor dem Landadel, vor jedem, der dafür zahlte, Männer um einen blutigen Sieg kämpfen zu sehen. Bolitho wußte nicht, wen er mehr verachtete, den Mann, der von dem Boxer lebte, oder denjenigen, der auf ihn und seine Schmerzen wettete.
Er sagte nur kurz: »Ich bin drin zu finden, Little.« Der Gedanke an ein Glas Bier oder Apfelwein belebte ihn wieder.
Little dachte bereits an andere Dinge. »Aye, Sir.«
Es war ein freundlicher kleiner Gasthof. Der Wirt eilte herbei, um Bolitho zu begrüßen, wobei sein Kopf fast an die Decke stieß. Ein Feuer prasselte im Kamin, und es roch nach frisch gebackenem Brot und geräuchertem Schinken.
»Setzen Sie sich dorthin, Herr Leutnant. Ich kümmere mich um Ihre Leute.« Er bemerkte Bolithos Gesichtsausdruck. »Tut mir leid, Sir, aber Sie verschwenden Ihre Zeit in dieser Gegend. Im Krieg sind hier viele gepreßt worden, und wer zurückkam, ist in die großen Städte wie Truro und Exeter gegangen und hat sich dort Arbeit gesucht.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, hätte ich vielleicht unterschrieben.« Er grinste. »Aber so. . .«
Etwas später saß Bolitho am Feuer, ließ den Matsch auf Strümpfen und Schuhen trocknen und hatte seinen Rock aufgeknöpft, der nach der ausgezeichneten Pastete der Wirtin recht stramm saß. Ein großer alter Hund hatte sich zu seinen Füßen niedergelassen und schnarchte wohlig in der Wärme.
Der Wirt flüsterte seiner Frau zu: »Hast du ihn dir angesehen? Ein Offizier des Königs – aber er ist noch ein halbes Kind!«
Bolitho fuhr aus seinem Halbschlaf auf und reckte sich; in halber Höhe schienen seine Arme zu erstarren, als er von draußen lautes Geschimpfe und brüllendes Gelächter hörte. Er sprang auf, griff nach Hut und Säbel und versuchte zur gleichen Zeit, seinen Uniformrock zuzuknöpfen.
Er rannte fast zur Tür; als er ins helle Licht hinaustrat, sah er, wie sich Matrosen und Seesoldaten vor Lachen bogen, während der kleine Schausteller schrie: »Ihr habt geschummelt! Ihr müßt geschummelt haben!«
Little warf die Goldmünze hoch und fing sie wieder in seiner kräftigen Hand auf. »Ich nicht, Kamerad. Offen und ehrlich, wie’s bei Josh Little immer zugeht!«
Bolitho mischte sich ein. »Was ist hier los?«
Korporal Dyer erklärte, immer wieder prustend vor Lachen: »Er hat den großen Preisboxer auf den Rücken gelegt, Sir. So was hab’ ich im Leben nicht gesehen!«
Bolitho blickte Little an. »Wir sprechen uns später. Jetzt lassen Sie die Leute antreten. Wir haben noch mehrere Meilen bis zum nächsten Ort.«
Als er sich umdrehte, sah er mit Verwunderung, wie der kleine Schausteller auf den Boxer losging. Letzterer stand da wie zuvor, als ob er sich die ganze Zeit nicht bewegt hätte oder gar zu Boden geworfen worden wäre.
Der Schausteller ergriff eine kurze Kette und schrie: »Das ist für deine verdammte Dummheit!« Die Kette landete klirrend auf dem nackten Rücken des Mannes. »Und dies dafür, daß du mich um mein Geld gebracht hast.« Wieder schlug er zu.
Little schaute Bolitho unbehaglich an. »Hier, Sir, ich gebe dem Burschen sein Geld zurück. Ich kann’s nicht mit ansehen, daß der arme Kerl wie ein Hund verprügelt wird.«
Bolitho mußte heftig schlucken. Der große Preisboxer hätte seinen Peiniger mit einem einzigen Schlag töten können. Aber vielleicht war er schon so weit abgestumpft, daß er weder Schmerz noch sonst etwas empfand.
Bolitho hatte einfach genug. Erst dieser schlechte Auftakt auf der Destiny, dann sein Mißerfolg bei der Rekrutierung – und nun dieser entwürdigende Anblick. Er brachte das Faß einfach zum Überlaufen.
»Sie da, hören Sie sofort auf!« Bolitho machte ein paar Schritte vorwärts, während ihm seine Leute teils bewundernd, teils amüsiert zuschauten. »Legen Sie die Kette augenblicklich hin!«
Der Schausteller schien zunächst eingeschüchtert, gewann aber schnell sein früheres Selbstvertrauen zurück. Von einem so jungen Leutnant hatte er nichts zu befürchten, erst recht nicht hier in der Gegend, wo er oft auftrat und beliebt war.
»Es ist mein gutes Recht!«
Little knurrte: »Überlassen Sie den Lumpen mir, Sir. Ich werde ihm sein ›gutes Recht‹ zeigen!«
Die Angelegenheit schien Bolitho aus den Händen zu gleiten. Einige Dorfbewohner waren hinzugekommen, und Bolitho sah schon seine Leute in eine regelrechte Schlacht mit der Bevölkerung verwickelt, bevor sie sich zu ihrer Barkasse durchschlagen konnten.
Er drehte dem frechen Schausteller den Rücken zu und trat an den Boxer heran. Aus der Nähe wirkte er sogar noch größer, aber statt seiner Größe und Muskeln sah Bolitho nur die Augen, die halb unter vernarbten Brauen verborgen lagen.
»Sie wissen, wer ich bin?«
Der Mann nickte, wobei sein Blick auf Bolithos Mund gerichtet war, als lese er die Worte dort ab.
Freundlich fragte Bolitho: »Wollen Sie in den Dienst des Königs treten? Auf der Fregatte Destiny in Plymouth?« Er stockte, als er das mühsame Verstehen in den Augen des Mannes sah. »Wollen Sie mit mir kommen?«
Genauso langsam, wie der Mann nickte, nahm er – ohne einen Blick auf den mit offenem Mund dastehenden Schausteller zu werfen – sein Hemd und eine kleine Tasche auf.
Bolitho wandte sich zu dem Schausteller um, sein Ärger war nun dem Gefühl billigen Triumphes gewichen. Wenn sie das Dorf hinter sich hatten, würde er den Boxer sowieso freilassen.
Der Schausteller schrie: »Das können Sie nicht machen!«
Little näherte sich ihm drohend. »Hör auf, Kamerad! Mehr Respekt vor einem Offizier des Königs, oder . . .« Er ließ keinen Zweifel über das »Oder«.
Bolitho befeuchtete sich die Lippen. »Antreten, Leute! Korporal, übernehmen Sie das Kommando!« Er sah, daß der Boxer die Seeleute beobachtete, und fragte: »Ihr Name? Wie heißen Sie?«
»Stockdale, Sir.« Selbst der Name kam nur mühsam heraus, seine Stimmbänder mußten in vielen Kämpfen Schaden gelitten haben, so daß sie nur noch heisere Töne hervorbrachten.
Bolitho lächelte ihm zu. »Also, Stockdale. Ich werde Sie nicht vergessen. Sie können uns verlassen, wann Sie wollen.« Er blinzelte Little zu. »Jedenfalls bevor wir unser Boot erreichen.«
Stockdale schaute den kleinen Schausteller an, der auf einer Bank saß und die Kette noch immer in der Hand baumeln ließ. Dann brach es keuchend aus ihm heraus: »Nein, Sir, ich werde Sie nicht verlassen. Jetzt nicht und nie.«
Bolitho sah, wie er sich bei den anderen einreihte. Die offensichtliche Ernsthaftigkeit des Mannes rührte ihn.
Little sagte ruhig: »Machen Sie sich keine Sorgen, Sir. Diese Geschichte wird im Nu an Bord bekannt sein.« Er beugte sich vor, so daß Bolitho Bier und Käse riechen konnte. »Ich bin in Ihrer Division, Sir, und werde jeden Lumpen zusammenschlagen, der es wagt, Ihnen Ärger zu machen!«
Ein Strahl blassen Sonnenlichts fiel auf die Kirchturmuhr, als das Rekrutierungskommando schweigend dem nächsten Dorf entgegenmarschierte; Bolitho war froh über das, was er eben getan hatte.
Dann begann es zu regnen, und er hörte Little sagen: »Nicht mehr lange, Dipper, dann geht’s zurück an Bord und zu einem kräftigen Schluck.«
Bolitho musterte Stockdales breite Schultern. Ein weiterer Freiwilliger, das machte im ganzen fünf. Er neigte den Kopf unter dem Regen. Fehlten aber noch fünfzehn.
Im nächsten Dorf war es eher noch schlimmer, und es gab dort nicht einmal einen Gasthof. Der Gutsbesitzer erlaubte ihnen mit offensichtlichem Widerstreben, in einer unbenutzten Scheune zu schlafen. Er behauptete, das Haus voller Gäste zu haben, und außerdem . . . Das Wort sprach Bände.
Die Scheune war an einem Dutzend Stellen undicht und stank wie eine Kloake. Die Seeleute, die an äußerste Sauberkeit in ihren engen Quartieren gewohnt waren, gaben ihrer Unzufriedenheit laut Ausdruck.
Bolitho konnte sie dafür nicht tadeln; als Korporal Dyer ihm meldete, daß Stockdale verschwunden sei, antwortete er: »Das überrascht mich nicht, Korporal. Aber halten Sie ein Auge auf die übrigen!«
Eine Weile noch dachte er über den verschwundenen Stockdale nach und wunderte sich, daß ihm der Verlust naheging. Vielleicht hatten Stockdales schlichte Worte ihn doch tiefer berührt, als er selber glaubte. Er schien ihm einen Wendepunkt zu markieren, eine Art Glücksbringer zu sein.
Little rief plötzlich: »Allmächtiger Himmel! Sehen Sie sich das an!«
Stockdale trat pudelnaß ins Licht ihrer Laternen und legte einen Sack vor Bolithos Füße. Die Männer traten heran, als die Schätze daraus im spärlichen Licht sichtbar wurden: mehrere Hühner, frisches Brot, Töpfe mit Butter, eine halbe Fleischpastete und – als Höhepunkt – zwei große Krüge voll Apfelwein.
Little schnaufte: »Ihr beiden rupft die Hühner! Du, Thomas, paßt auf, daß keine ungebetenen Gäste kommen!« Er sah Stockdale an und holte die Guinee heraus. »Hier, Kamerad, die hast du sauer verdient!«
Stockdale hörte kaum hin. Als er sich über den Sack beugte, krächzte er: »Es war sein Geld. Behalten Sie’s.« Zu Bolitho sagte er: »Dies ist für Sie, Sir.« Er hielt ihm eine Flasche hin, die aussah, als enthielte sie echten Kognak. Das rundete das Bild ab: Der Gutsbesitzer hatte sicher die Finger im örtlichen Schmuggel an der Küste.
Stockdale sah Bolitho an. »Ich sorge schon für Sie, Sir.« Bolitho fiel auf, daß er sich unter den geschäftigen Seeleuten bewegte, als hätte er sein ganzes Leben dazugehört.
Little bemerkte ruhig: »Schätze, Sie können aufhören, sich Sorgen zu machen, Sir. Der gute Stockdale ist allein so viel wert wie fünfzehn Mann, jedenfalls nach meiner Schätzung.«
Bolitho trank einen Schluck Kognak, während Fett aus einem Hühnerschenkel auf die Manschette seines neuen Hemdes tropfte. Er hatte eine Menge dazugelernt, nicht zuletzt über sich selber.
Sein Kopf sank nach hinten, und er fühlte nicht mehr, wie Stockdale ihm den Becher vorsichtig aus der Hand nahm.
Bolitho kletterte das Fallreep an der Bordwand der Destiny hoch und lüpfte seinen Hut kurz zum Achterdeck[4] hin. Die dicken Wolken und der Nebel waren verschwunden, und die Häuser von Plymouth jenseits des Homoaze schienen sich im warmen Mittagslicht zu sonnen.
Er war müde und steif von dem langen Marsch, außerdem verschmutzt vom Nachtquartier in Scheunen oder bescheidenen Gasthöfen. Der Anblick seiner sechs Rekruten, die vom Wachtmeister gemustert und dann nach vorn gebracht wurden, trug wenig dazu bei, seine Stimmung zu heben. Der sechste Freiwillige war erst vor knapp einer Stunde zu ihnen gestoßen, kurz ehe sie ihr Boot erreichten: ein sauber gekleideter, keineswegs wie ein Matrose aussehender Mann von etwa dreißig, der angab, Apothekergehilfe zu sein. Er wolle eine lange Seereise machen, um Lebenserfahrung zu sammeln und zu sich selber zu kommen, behauptete er. Seine Geschichte klang ebenso unwahrscheinlich wie die der beiden Knechte, aber Bolitho war zu müde, um sich lange Gedanken darüber zu machen.
»Ah, Sie sind also zurück, Mr. Bolitho!«
Der Erste Offizier stand an der Querreling des Achterdecks, seine schlanke Gestalt hob sich nur als Silhouette vom blassen Winterhimmel ab. Er hielt die Arme vor der Brust verschränkt und hatte die Neuankömmlinge offenbar schon die ganze Zeit, seit die Barkasse längsseit gekommen war, beobachtet. Knapp fügte er hinzu: »Kommen Sie bitte gleich nach achtern.«
Bolitho stieg zur Backbord-Lauf brücke hinauf und begab sich zum Achterdeck. Sein Gefährte der letzten Tage, Stückmeistersmaat Little, strebte einem Niedergang zu, wahrscheinlich, um sich mit seinen Freunden einen »kräftigen Schluck« zu genehmigen. Im Nu war er unter Deck verschwunden und damit in seiner eigenen Welt. Bolitho fühlte sich plötzlich fast so fremd wie vor drei Tagen, als er das Deck zum ersten Mal betreten hatte.
Er stand vor dem Ersten Offizier und legte grüßend die Hand an den Hut. Palliser sah ausgeruht und gepflegt aus, wogegen sich Bolitho noch mehr wie ein Landstreicher vorkam.
Bolitho meldete: »Sechs Rekruten, Sir. Der große Bursche war Boxer und könnte ein wertvoller Zuwachs werden. Der als letzter an Bord kam, hat für einen Apotheker in Plymouth gearbeitet.« Sein Bericht klang ihm selbst schwerfällig. Palliser hatte sich nicht gerührt, und auf dem Achterdeck war es ungewöhnlich still. Bolitho schloß: »Ich habe mein Bestes getan, Sir.«
Palliser zog seine Uhr heraus. »Gut. Während Sie weg waren, ist der Kommandant an Bord gekommen. Er wollte Sie sehen, sobald Sie zurück sind.«
Bolitho starrte ihn an. Er hatte ein Donnerwetter erwartet. Sechs statt zwanzig, und darunter einer, der nie ein Seemann werden würde!
Palliser ließ seinen Uhrdeckel zuschnappen und sah Bolitho kühl an. »Hat der lange Landaufenthalt Ihr Gehör beeinträchtigt? Der Kommandant will Sie sehen. Das heißt an Bord dieses Schiffes nicht ›nachher‹ oder ›gleich‹, sondern in dem Augenblick, in dem der Kommandant diesen Gedanken ausgesprochen hat.«
Bolitho blickte entschuldigend auf seine schmutzigen Strümpfe und Schuhe. »Tut mir leid, Sir, aber ich dachte, Sie hätten befohlen . . .«
Palliser schaute schon woanders hin; er beobachtete einige Leute, die auf dem Vorschiff arbeiteten. »Ich hatte Ihnen befohlen, zwanzig Mann zu bringen. Hätte ich sechs Mann verlangt, wie viele hätten Sie dann wohl gebracht? Zwei? Überhaupt keinen?« Überraschenderweise lächelte er plötzlich. »Sechs, das ist schon ausgezeichnet. Nun aber ab zum Kommandanten. Es gibt Schweinepastete zu Mittag, also beeilen Sie sich, sonst ist nachher nichts übrig.« Er wandte sich energisch um und rief: »Mr. Slade, was machen diese Faulpelze da eigentlich? Verdammt noch mal!«
Bolitho eilte leicht benommen den Niedergang hinunter und durchs Achterschiff. Gesichter wurden im Halblicht zwischen den Decks undeutlich sichtbar, Gespräche verstummten, als er vorbeihastete. Der neue Offizier geht zum Kommandanten. Wie mag er sein?
Zu lasch – oder zu hart?
Ein Seesoldat stand, Muskete bei Fuß, als Ehrenposten vor der Kajüte. Sein Oberkörper schwankte leicht im Rhythmus des an seiner Ankertrosse zerrenden Schiffes. Seine Augen funkelten im Lichtschein der Laterne, die an einem Decksbalken über ihm hin und her schaukelte. Sie brannte Tag und Nacht, wenn der Kommandant an Bord war.
Bolitho bemühte sich, wenigstens sein Halstuch etwas zurechtzuzupfen und die rebellische Haartolle aus dem Gesicht zu streichen. Der Posten gab ihm dazu genau fünf Sekunden Zeit, dann stieß er kurz mit der Muskete aufs Deck.
»Der Dritte Offizier, Sir!«
Der Türvorhang öffnete sich, und ein struppiger Mann in schwarzer Jacke, wahrscheinlich der Schreiber des Kommandanten, warf einen ungeduldigen, auffordernden Blick heraus: wie ein Lehrer, der einen zu spät kommenden Schüler hereinruft.
Bolitho preßte seinen Hut fester unter den Arm und betrat die Kajüte. Im Vergleich zum übrigen Schiff war sie geräumig. Ein zweiter Vorhang trennte den hintersten Teil vom Speiseraum und der danebenliegenden Schlafkammer. Die schrägen Heckfenster, welche die ganze Breite des Achterschiffs einnahmen, leuchteten warm in der Sonne, während Decksbalken und Möbelstücke in dem vom Wasser reflektierten Licht schimmerten.
Kapitän Henry Vere Dumaresq hatte offenbar an einem Fenster gestanden und aufs Wasser hinuntergeschaut: er drehte sich ungewöhnlich behende um, als Bolitho den Raum betrat.
Bolitho bemühte sich, ruhig und entspannt zu wirken, aber es gelang ihm nicht. Solch einen Menschen wie den Kommandanten hatte er noch nie gesehen. Sein Körper war breit und untersetzt, und der Kopf saß so dicht auf den Schultern, als hätte er keinen Hals; er wirkte genau wie der übrige Mann: mächtig. Alles an Dumaresq machte den Eindruck ungewöhnlicher Kraft. Little hatte gesagt, der Kommandant sei erst achtundzwanzig, aber er sah so alterslos aus, als ob er sich nie verändert hätte und nie verändern würde.
Er ging Bolitho entgegen, um ihn zu begrüßen, und setzte dabei die Füße wie mit bewußt gebändigter Kraft auf. Bolithos Blick fiel auf seine Beine, die durch teure weiße Strümpfe auffielen. Die Waden schienen so dick zu sein wie anderer Leute Oberschenkel.
»Sie sehen etwas ramponiert aus, Mr. Bolitho.« Dumaresq hatte eine tiefe, wohlklingende Stimme, mit der er bei Sturm an Deck sicher gut durchdrang; doch Bolitho vermutete, daß sie auch Wärme und Sympathie ausdrücken konnte.
Er sagte verlegen: »Aye, Sir. Ich habe ... Ich war mit dem Rekrutierungskommando unterwegs.«
Dumaresq wies mit dem Kopf auf einen Stuhl. »Setzen Sie sich.« Er hob die Stimme: »Rotwein!«
Fast augenblicklich erschien ein Steward und goß Wein in zwei schön geschliffene Gläser. Danach zog er sich genauso unauffällig zurück.
Dumaresq setzte sich – kaum einen Meter entfernt Bolitho gegenüber. Sein Auftreten und seine Energie wirkten einschüchternd. Bolitho verglich ihn mit seinem letzten Kommandanten. Auf dem riesigen Vierundsiebzig-Kanonen-Schiff war der Kommandant immer ungeheuer weit weg gewesen, fern vom Geschehen in Offiziersmesse und Kadettenlogis. Nur in kritischen Lagen oder bei zeremoniellen Anlässen hatte er seine Anwesenheit spüren lassen, blieb aber auch dann immer auf Distanz.
Dumaresq sagte: »Mein Vater hatte die Ehre, vor einigen Jahren unter dem Ihren dienen zu dürfen. Wie geht es ihm?«
Bolitho dachte an Mutter und Schwester in dem alten Haus in Falmouth: wie sie auf die Heimkehr von Kapitän James Bolitho warteten; wie seine Mutter die Tage zählte und vielleicht auch davor bangte, daß er sich sehr verändert hatte. James Bolitho hatte in Indien einen Arm verloren, und als sein Schiff außer Dienst gestellt wurde, hatte man ihn auf unbestimmte Zeit auf die Reserveliste gesetzt.
Bolitho sagte: »Er müßte jetzt wieder zu Hause sein, Sir. Aber da er einen Arm verloren hat und damit die Aussicht, im Dienst des Königs zu bleiben, weiß ich nicht, wie es mit ihm weitergehen wird.« Er brach ab, erschrocken darüber, daß er seine Gedanken offen ausgesprochen hatte.
Aber Dumaresq deutete nur auf das Glas. »Trinken Sie, Mr. Bolitho, und sprechen Sie sich aus. Mir ist wichtiger, daß ich erfahre, was Sie denken, als daß Sie über meine Reaktion nachdenken.« Der Satz schien ihn selber zu belustigen. »Es geht uns allen ähnlich. Wir können uns wirklich glücklich schätzen, daß wir dies hier haben.« Sein großer Kopf drehte sich nach links und rechts, als er die Blicke durch die Kajüte schweifen ließ. Er sprach vom Schiff, von seinem Schiff, das er offenbar mehr als alles andere liebte.
Bolitho sagte: »Ein schönes Schiff, Sir. Es ist eine Auszeichnung für mich, hierher kommandiert worden zu sein.«
»Ja.«
Dumaresq beugte sich vor, um die Gläser neu zu füllen. Wieder bewegte er sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit und setzte seine Kräfte wie seine Stimme nur sparsam ein.
Er sagte: »Ich habe von Ihrem großen Kummer gehört.« Er hob eine Hand. »Nein, nicht von jemandem an Bord. Ich habe eigene Quellen, denn ich will meine Offiziere ebensogut kennen wie mein Schiff. Wir werden in Kürze auf eine Reise gehen, die eine Menge einbringen, aber auch nutzlos ausgehen kann. Auf jeden Fall wird sie nicht leicht. Wir müssen alle traurigen Erinnerungen hinter uns lassen, ohne sie deswegen zu vergessen. Dies ist ein kleines Schiff, jeder Mann an Bord muß seinen Platz voll ausfüllen. Sie haben unter einigen hervorragenden Kommandanten gedient und dabei sicherlich viel gelernt. Doch auf einer Fregatte ist manches anders. Hier gibt es nur wenige Leute, die sich nicht voll einsetzen müssen, und ein Offizier gehört bestimmt nicht zu ihnen. Sie werden anfangs vielleicht Fehler machen, die werde ich milde beurteilen; aber wenn Sie Ihre Autorität mißbrauchen, werde ich gnadenlos dazwischenfahren. Vermeiden Sie es, bestimmte Leute zu bevorzugen, denn die würden Sie eines Tages ausnutzen.«
Er lachte in sich hinein, als er Bolithos ernstes Gesicht sah. »Leutnant zu sein ist schwerer, als es zu werden. Denken Sie immer daran: Die Leute schauen auf Sie, wenn Schwierigkeiten auftreten; Sie müssen dann so handeln, wie es Ihnen richtig scheint. Ihr bisheriges Leben hat in dem Augenblick aufgehört, als Sie das Kadettenlogis verließen. Auf einem kleinen Schiff ist kein Platz für Einzelgänger mit Anpassungsschwierigkeiten. Sie müssen ein Teil des Ganzen werden, verstehen Sie?«
Bolitho saß wie gebannt auf seiner Stuhlkante. Dieser seltsame Mann hielt ihn mit dem zwingenden Blick seiner weit auseinanderstehenden Augen wie in einem Schraubstock gefangen.
Bolitho nickte. »Ja, Sir, ich verstehe.«
Dumaresqs Blick entspannte sich, als vom im Schiff die Glocke zweimal angeschlagen wurde.
»Gehen Sie jetzt zum Essen. Ich bin sicher, daß Sie Hunger haben. Mr. Pallisers schlaue Methoden, zu neuen Leuten zu kommen, produzieren gewöhnlich Appetit, wenn schon nicht mehr.«
Als Bolitho aufstand, fügte Dumaresq ruhig hinzu: »Diese Reise ist für viele Leute sehr wichtig. Unsere Kadetten haben meist einflußreiche Eltern, die wünschen, daß ihre Sprößlinge sich auszeichnen und vorwärtskommen – in einer Zeit, da der größte Teil der Flotte aufgelegt ist und langsam vermodert. Unsere Fachkräfte, die Deckoffiziere, sind ausgezeichnet, und wir haben einen guten Stamm erstklassiger Seeleute. Die Neuen müssen sich anstrengen, da mitzuhalten … Ein letzter Punkt, Mr. Bolitho, und ich hoffe, mich hierin nicht wiederholen zu müssen: Auf der Destiny steht Loyalität obenan. Loyalität mir gegenüber, Treue zum Schiff und zu Seiner Britischen Majestät. In dieser Reihenfolge!«
Bolitho fand sich – noch immer verwirrt von dem kurzen Gespräch – außerhalb des Türvorhangs wieder.
Poad tauchte auf und fragte aufgeregt: »Alles erledigt, Sir. Ich habe Ihre Sachen an einem sicheren Platz verstaut, wie befohlen.« Er lief ihm zur Offiziersmesse voran. »Den Beginn der Mahlzeit habe ich so lange hinausgeschoben, bis Sie fertig waren, Sir.«
Bolitho betrat die Messe, die – im Gegensatz zum letzten Mal – voller Männer war, die sich laut unterhielten.
Palliser stand auf und sagte in den Lärm hinein: »Meine Herren, unser neuer Kamerad.«
Bolitho sah, daß Rhodes ihn anlächelte, und war froh über dieses freundliche Gesicht. Er schüttelte Hände und murmelte etwas, das ihm angebracht schien. Obersteuermann Julius Gulliver war genauso, wie ihn Rhodes beschrieben hatte: unfrei, gezwungen, irgendwie hinterhältig. Leutnant John Colpoys, der die Seesoldaten an Bord befehligte, errötete leicht, als er Bolitho die Hand schüttelte und etwas affektiert sagte: »Sehr erfreut, mein Lieber.«
Der Schiffsarzt wirkte rund und gemütlich wie eine aufgeplusterte Eule und roch nach Schnaps und Tabak. Und da war noch Samuel Codd, der Zahlmeister, ein – wie Bolitho schien – ungewöhnlich heiterer Vertreter seines Berufsstandes. Schönheit zeichnete ihn nicht aus, denn er hatte sehr große Schneidezähne im Oberkiefer und ein so kleines, fliehendes Kinn, daß die obere Hälfte seines Gesichts ständig die untere zu vertilgen schien.
Colpoys sagte: »Hoffentlich können Sie Karten spielen.«
Rhodes lächelte. »Probieren Sie’s doch mal mit ihm.« Zu Bolitho sagte er: »Er wird Ihnen das Fell über die Ohren ziehen, wenn Sie sich mit ihm einlassen.«
Bolitho setzte sich neben dem Arzt an den Tisch. Dieser holte einen goldgefaßten Kneifer heraus, der zu seinen roten Pausbacken wenig paßte, und stellte fest: »Pastete vom Schwein. Ein sicheres Zeichen dafür, daß wir bald auslaufen. Danach«, er warf dem Zahlmeister einen Blick zu, »sind wir wieder auf Samuels Vorräte angewiesen, von denen die meisten schon vor zwanzig Jahren als ungenießbar erklärt wurden.«
Gläser klirrten, und die Luft wurde schwer von Dampf und Essensdüften. Bolitho musterte die Tischrunde. So also sahen Offiziere aus, wenn sie sich außer Sichtweite ihrer Untergebenen befanden.
Rhodes flüsterte: »Was halten Sie von ihm?«
»Vom Kommandanten?« Bolitho versuchte, seine Gedanken zu ordnen. »Ich bin beeindruckt. Er ist so, so …«
Rhodes winkte Poad, ihm die Karaffe mit Wein zu bringen. »Gefährlich?«
Bolitho lächelte. »Anders. Aber etwas Angst macht er einem schon.«
Palliser unterbrach ihre Unterhaltung. »Wenn Sie gegessen haben, machen Sie sich mit dem Schiff vertraut, Richard. Vom Kiel bis zum Flaggenknopf, vom Klüverbaum bis zur Hecklaterne. Wenn Ihnen etwas unklar ist, fragen Sie mich. Machen Sie sich möglichst schon mit den Deckoffizieren und den jungen Unteroffizieren bekannt, und prägen Sie sich die Namen Ihrer eigenen Division ein.« Er zwinkerte dem Leutnant der Seesoldaten zu, aber nicht schnell genug, so daß Bolitho es noch bemerkte. »Ich bin sicher, Mr. Bolitho wird alles daransetzen, daß seine Leute es bald mit denen aufnehmen können, die er uns heute so erfolgreich an Bord gebracht hat.«
Bolitho sah auf den Teller nieder, den ein Steward vor ihn hingestellt hatte. Das heißt: Von dem Teller war wenig zu sehen, da er bis zum Rand mit Essen überhäuft war. Palliser hatte ihn also mit seinem Vornamen angesprochen und sogar einen Witz über seine Freiwilligen gemacht. Demnach waren das die wirklichen Menschen hinter der starren Haltung und den Fesseln der Rangordnung draußen an Deck. Er hob den Blick und ließ ihn über den Tisch wandern. Wenn man ihm Zeit ließ, würde er sich unter ihnen wohlfühlen, dachte er.
Rhodes sagte zwischen zwei Bissen: »Ich habe gehört, daß wir mit der Montagstide auslaufen. Ein Bursche der Admiralität war gestern an Bord. Er weiß gewöhnlich Bescheid.«
Bolitho versuchte sich zu erinnern, was der Kommandant gesagt hatte: Loyalität steht obenan. Dumaresq hatte fast die letzten Worte seiner Mutter wiederholt: Die See ist kein Ort für Träumer.
Füße trappelten über ihren Köpfen. Bolitho hörte, wie weitere schwere Netze mit Vorräten zum Gezwitscher einer Bootsmannsmaatenpfeife an Bord gehievt wurden.
Bald würden sie weit weg vom Land sein, weg von den schmerzlichen Erinnerungen, den Gedanken an das, was er verloren hatte. Ja, es war gut, wieder unterwegs zu sein.
Wie Leutnant Rhodes vorausgesagt hatte, machte Seiner Majestät Fregatte Destiny am Morgen des nächsten Montag klar zum Ankerlichten. Die letzten Tage waren für Bolitho so schnell vergangen, daß er hoffte, auf See würde es an Bord etwas ruhiger zugehen als zuletzt im Hafen. Palliser hatte ihn jede Wache in Trab gehalten. Der Erste Offizier gab sich nie mit dem äußeren Schein zufrieden, sondern legte Wert darauf, daß Bolitho ihm den Sinn seiner Arbeit erklärte, seine Meinung äußerte und Vorschläge – zum Beispiel über den Austausch von Leuten seiner Wache machte. So schnell er mit sarkastischen Bemerkungen zur Hand war, so flink war Palliser auch darin, die Gedanken eines Untergebenen in die Tat umzusetzen.
Bolitho dachte oft daran, was Rhodes über den Ersten Offizier gesagt hatte: »Hinter einem eigenen Kommando her.« Palliser würde bestimmt sein Bestes für das Schiff geben und ebenso entschieden jedes Versagen bekämpfen, dessen Folgen ihm angelastet werden könnten.
Bolitho hatte sich eifrig bemüht, die Männer, mit denen er direkt Zusammenarbeiten mußte, kennenzulernen. Anders als auf den gewaltigen Linienschiffen, hing das Überleben einer Fregatte nicht von der Dicke ihrer hölzernen Bordwände, sondern von ihrer Beweglichkeit ab. Die Besatzung war in Divisionen eingeteilt, weil sie so am besten eingesetzt werden konnte.
Der Fockmast mit seinen Rahsegeln – zuunterst Fock, darüber Mars, Bram und Royal; dazu die Stagsegel: Klüver und Außenklüver – war entscheidend für schnelle Halsemanöver, aber auch bei der Wende, wenn das Schiff mit dem Bug durch den Wind ging. Wichtig war er auch im Gefecht, wenn der Kommandant plötzlich abfallen wollte, um das empfindliche Heck des Gegners mit einer Breitseite zu beharken. Am achteren Ende des Schiffes standen Steuermann und Rudergänger und nutzten jeden Mast, jeden Zoll Segel, um das Schiff mit den sparsamsten Kommandos auf Kurs zu halten.
Bolitho hatte die Aufsicht am Großmast. Als höchster der drei Masten war er in Abschnitte unterteilt, ebenso die Männer, die an ihm aufenterten, ohne Rücksicht darauf, was sie bei schlechtem Wetter dort oben erwartete.
Diese flinken Toppsgasten waren die Elite der Mannschaft, während an Deck zur Bedienung der Fallen, Schoten, Halsen und Brassen die weniger gewandten Leute abgestellt waren, die neu rekrutierten oder älteren Matrosen, denen man die Arbeit mit der vom Salzwasser steifen Leinwand, einhundert Fuß und mehr über Deck, noch nicht oder nicht mehr zumuten konnte.
Rhodes befehligte am Fockmast, während ein Steuermannsmaat den Besanmast unter sich hatte, der wegen seiner geringeren Segelzahl am leichtesten zu bedienen war und zur Handhabung seines Gaffelsegels vor allem Körperkräfte brauchte. Die Wache der Seesoldaten auf dem Achterdeck und eine Handvoll Matrosen genügten, um mit dem Besan fertig zu werden.
Bolitho gab sich große Mühe, mit dem Oberbootsmann, einem furchterregenden Mann namens Timbrell, gut auszukommen. Timbrell hatte ein von Wind und Wetter gezeichnetes Gesicht und war wie ein antiker Krieger über und über mit Narben bedeckt. Er war der Erste unter den Seeleuten. Sobald sie frei von Land waren, trat Timbrell nach Anweisung des Ersten Offiziers in Aktion. Er beseitigte Sturmschäden, besserte Stengen und Rahen aus, erneuerte – wo es erforderlich war – den Farbanstrich und sorgte dafür, daß alle Fugen dicht, das stehende und laufende Gut in Ordnung waren, und hatte noch ein Auge auf die Fachleute, die sich mit diesen verschiedenen Arbeiten beschäftigten: Schiffszimmermann, Segelmacher und viele andere.
Timbrell war Seemann bis in die Fingerspitzen und konnte für einen jungen Offizier ein guter Freund sein, aber auch ein schlimmer Feind, wenn er falsch behandelt wurde.
An diesem speziellen Montagmorgen ging der Betrieb auf der Destiny noch vor dem ersten Tageslicht los. Der Koch hatte eine schnelle Mahlzeit bereitet, als ob er dafür verantwortlich sei, daß sie bald in Fahrt kamen.