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Katalie ist überzeugt, dass alles, was geschieht, schon einmal aufgeschrieben wurde. Auch als sie von einem mehrere Jahre zurückliegenden Vermisstenfall erfährt, ist sie sicher, dass sich hier ein Klassiker der Weltliteratur wiederholt. Tatsächlich stoßen die exzentrische junge Frau und ihr »Beschützer« Smiljan am Rande der dänischen Stadt Esbjerg auf die mumifizierte Leiche des verschwundenen Familienvaters. Doch in dem kleinen Dorf scheint niemand wirklich unglücklich über den Tod des Mannes zu sein. Was ist hier vor sechs Jahren geschehen? Und wie passt das alles in die Geschichte, in der Katalie und Smiljan sich offenbar befinden?
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Seitenzahl: 387
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Die Handlung und die Personen sind frei erfunden.Die Autorin wünscht sich, dass es niemals ähnliche Fälle gegeben hat oder geben wird.
Viel Hoffnung hat sie allerdings nicht.
Langsam, aber beharrlich schlich sich der Frühling in die Gammelgade. Wenn ich am Fenster stand und auf die Straße hinabblickte, konnte ich Lasse, den Inhaber des Buchladens im Erdgeschoss, dabei beobachten, wie er Stiefmütterchen in die Blumenkübel vor seinem Geschäft setzte, die über Nacht immer seltener erfroren. In den Bäumen, deren Knospen bereits zu bersten drohten, zwitscherten Vögel, und auch die Pudelmützen, Schals und Steppjacken verschwanden nach und nach aus Esbjergs Stadtbild.
Die Zeiger meiner Armbanduhr näherten sich gerade der Mittagsstunde, als ich den Bleistift zückte und auf den beiden zu diesem Zweck auf der Fensterbank bereitliegenden Zetteln eine Kleinigkeit notierte. Auf den einen schrieb ich neben der aktuellen Uhrzeit die Zahl vier. Und auf dem anderen vermerkte ich dazu die Worte: schläft noch.
Damit war ich zwei meiner Pflichten nachgekommen, die mich und meinen Vater ernährten und kleideten. Letzteres war allerdings kaum von Bedeutung, wenn man bedachte, dass meinem Vater sein grüner Morgenmantel vollends genügte.
Seit er von vielen sehr verärgerten Ex-Kunden und Ex-Freunden in ganz Dänemark gesucht wurde, verließ er meine Wohnung so gut wie gar nicht mehr. Aber konnte man diesen Leuten ihren Groll verdenken, da er ihre Ersparnisse mittels unsicherer Geldanlagen auf null gebracht hatte?
Niemand ahnte, dass er bei mir untergekrochen war. Nun – niemand außer Hasso Maiberg und Katalie Skjóldal. Und auf die Verschwiegenheit dieser beiden Personen mussten wir uns wohl oder übel verlassen.
Ich verließ meinen langweilig gewordenen Platz am Fenster und versuchte, mich bei einer selbst erfundenen Yogaübung zu entspannen. Auch dies war keine reine Körperertüchtigung, denn die Leitung von Yogakursen gehörte zu meinen zahlreichen Jobs. Im nahen Fitnesscenter war ich zudem so eine Art Hausmeister. Nicht, dass ich für das eine oder andere in irgendeiner Weise qualifiziert gewesen wäre, doch das störte dort niemanden. Die Hauptsache dabei war das persönliche Wohlgefühl, das sich durch einfache Übungen, versehen mit klangvollen Namen wie Schlafende Ente oder Boxendes Känguru, mühelos erzeugen ließ.
Während ich gerade meine Unterschenkel zu verknoten versuchte und gleichzeitig einen passenden Namen für die Verrenkung ersann, hörte ich die sich nähernden, schlurfenden Schritte meines Vaters. Er zog wortlos an mir vorbei und stellte sich an jenen Platz am Fenster, den ich soeben verlassen hatte. Sein Blick senkte sich auf die beiden dort ausliegenden Notizzettel.
»Nur vier?«, hörte ich ihn vorwurfsvoll fragen. »Sie werden die Haltestelle aufgrund deiner miesen Statistiken noch streichen.« Ein Stift kratzte über Papier und verriet meinen Vater als Fälscher meiner Aufzeichnungen. »Vierzehn liest sich wesentlich besser.« Er klang schon zufriedener. »Zweistellige Zahlen sind annehmbar. Und zu viel Ehrlichkeit schadet in solch einem Fall nur.«
»Du musst es ja wissen«, erwiderte ich und ertrug seine eigenmächtige Verfremdung der Tatsachen klaglos. Ich tat es selbst oft genug. Die Gammelgade lag ein wenig abseits der von Touristen großzügig besuchten Innenstadt Esbjergs. Eine Verschlechterung unserer Verkehrsanbindung hätte den kleinen Läden in unserer Nachbarschaft zum Nachteil gereicht.
»Schläft noch?« Soeben musste ihm die zweite Notiz ins Auge gefallen sein, und sie sagte ihm kaum mehr zu als die erste, wie der Klang seiner Stimme verriet. »Das kannst du doch gar nicht wissen.«
Jetzt wurde ich allmählich ärgerlich und löste die Verknotung meiner Gliedmaßen auf, während ich antwortete: »Das kann ich sehr wohl wissen, weil ich jede Stunde nachgesehen habe. Hinter den Fenstern dort drüben regt sich überhaupt nichts.« Wie fast immer drehte sich unser Gespräch um mehrere Zimmer im ersten Stock der Gammelgade 104, welche unserer Wohnung genau gegenüberlagen. Dort hauste eine ungewöhnliche Person, die für mich von Interesse war, denn ihre regelmäßige Überwachung bildete meine größte Einnahmequelle.
Katalie Skjóldal war vor gut einem halben Jahr in unser Leben gehüpft und hatte es durch ihre Art, die Dinge zu sehen, nachhaltig durcheinandergewirbelt. Sie im Auge zu behalten, war nicht immer leicht. Ihre sprunghafte Denkweise und die daraus resultierenden Taten nachzuvollziehen, stellte für mich oft ein Ding der Unmöglichkeit dar. Doch hinter dieser Dreiundzwanzigjährigen, die auf ihre Mitmenschen eher wie eine naive Dreizehnjährige wirkte, stand, zahlungskräftig und mächtig, ihr selbsternannter Elternersatz, der Industrielle Hasso Maiberg. Und eben dieser Mann, doppelt so schwer wie ich und zwei Köpfe größer, war kurz nach Katalies Einzug mein Arbeitgeber geworden.
Mein Job war auf den ersten Blick denkbar einfach. Ich hatte stets ein wachsames Auge auf die versponnene Katalie und erstattete ihm in regelmäßigen E-Mails darüber Bericht. Katalie, eine Vollwaise, die diesen Umstand bis heute nicht akzeptiert hatte und seitdem in ihrer eigenen Realität lebte, hielt mich häufig auf Trab. Da uns mittlerweile eine enge Freundschaft verband, fühlte ich mich beim Verfassen der E-Mails gelegentlich wie ein Verräter, doch Katalie sah die Dinge lockerer. Ich war ihr Beschützer, dazu abgestellt, für sie da zu sein. Maibergs stets wachsames Auge, das durch mich auf ihr ruhte, störte sie nicht. Leider war es, wie bereits erwähnt, nicht immer nachzuvollziehen, was Katalie umtrieb und in welche Situationen sie sich damit brachte.
»Du magst seit dem Aufstehen regelmäßig einen Blick über die Straße in ihre Fenster geworfen haben«, fuhr nun mein Vater fort. »Aber woher willst du wissen, dass die Wohnung nicht schon seit den frühen Morgenstunden verwaist ist? Du hast doch ausgeschlafen.«
Hellhörig geworden, gab ich alle Bemühungen, mich auf mein Yoga zu konzentrieren, auf und erhob mich von der Matte. »Soll das etwa heißen, ich habe ihren Weggang verpasst?«
Noch einmal trat ich ans Fenster und spähte hinüber auf die andere Seite der Gammelgade. Obwohl bei Katalie kein Licht brannte, konnte ich dank fehlender Gardinen Teile ihrer eigenwilligen Flohmarktmöblierung vor den mit Blumen selbst gestalteten Wänden klar erkennen. Dort regte sich nichts.
»Hast du sie etwa das Haus verlassen sehen?«, wollte ich wissen und versuchte nicht, mein Missfallen zu verbergen. Denn seit mein landesweit gesuchter Vater mein Schlafzimmer mit Beschlag belegte, lebte und nächtigte ich in diesem Wohnzimmer. Sollte er Katalie am frühen Morgen beobachtet haben, so musste er über mich, der ich mich nachts auf meiner Yogamatte zusammenrollte, einfach hinweggestiegen sein.
Mein Vater stellte sich dicht neben mich. »Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und trug eine Art Fliegennetz auf dem Kopf«, raunte er mir zu. »Wenn du mich fragst, frönt sie heute wieder ihrem neuen Hobby.«
Ich verdrehte gelangweilt die Augen. Seit dem Tode des Schusters Niklas Dommer, mit dem Katalie eine lose Freundschaft verbunden hatte, war sie dem morbiden Zauber von Beerdigungen verfallen. Ob es daran lag, dass ihre eigenen Eltern nach einem Flugzeugabsturz unauffindbar blieben, oder an ihrer ohnehin eigenartigen Weltanschauung, wusste ich nicht zu sagen. Doch seitdem der zigarrenrauchende Schuster aus dem Jeppesvej abgetreten war, lebte Katalie an den Wochenenden von Butterkuchen, belegten Broten und Unmengen von Tee und Kaffee. Eben allen Speisen, die nach einer Beisetzung gern gereicht wurden. Nicht zur trauernden Familie zu gehören, war dabei für Katalie kein Hinderungsgrund. Im Gegenteil. Sie gab vor, eine flüchtige Bekannte aus dem Alltag zu sein, und stets wurde ihr diese Behauptung abgenommen. Wer brachte es schon über sich, einem zarten Mädchen mit Pagenkopf und Zahnlücke zu misstrauen, das ein Fliegennetz als Schleierersatz auf dem Kopf spazieren trug?
»In dem Fall wird sie heimkehren, sobald sie genug salbungsvollen Reden gelauscht hat und satt geworden ist«, stellte ich fest und gab vor, mich wieder meinem Yoga widmen zu wollen.
»Wie du meinst.« Mein Vater klang nicht überzeugt. »Aber ich möchte darauf hinweisen, dass sie heute eine Tasche bei sich trug, als sie das Haus verließ.«
»Vermutlich lässt sie sich die Reste einpacken«, erwiderte ich leichthin, schloss demonstrativ die Augen und begann, leise zu summen.
Mein Vater deutete die Zeichen richtig und räumte schlurfend das Feld. Die nächsten Stunden würde er damit zubringen, die Kreuzworträtsel in der Daisy zu lösen, einem Käseblatt, in dem ich regelmäßig als Kummerkastentante fungierte. Mit dieser kleinen Rubrik trug ich einen weiteren Teil zu unserem Lebensunterhalt bei. Noch war ich weit davon entfernt, mir irgendwelche Sorgen zu machen.
Das wurde allerdings gegen Abend ganz anders.
Ich hatte mittlerweile zahlreiche Zahlen der Fahrgaststatistik gefälscht und den für Maiberg gedachten Bericht über Katalies Aktivitäten mit Plattitüden gefüllt, und noch immer gab es von ihr kein Lebenzeichen.
»Keine Trauerfeier dauert so lange«, schimpfte ich und sah zum wiederholten Male aus dem Fenster. »Was mache ich, wenn sie heute überhaupt nicht wiederkommt? Und morgen auch nicht und übermorgen auch nicht? So etwas ist schließlich schon vorgekommen.«
»Belüg Maiberg, wie du es in einem solchen Fall früher auch schon getan hast«, erwiderte mein Vater und legte sein Kreuzworträtsel zur Seite.
»Was soll ich ihm denn schreiben? Die besten Lügen bewegen sich bekanntlich am Rande der Wahrheit, aber in diesem Fall klingt das äußerst bizarr: Hat im Kostüm einer trauernden Witwe im Morgengrauen das Haus verlassen und ist seitdem verschollen? Maiberg würde umgehend auf meiner Fußmatte erscheinen, um mich in der Luft zu zerreißen. Und wir wissen, dass er dazu fähig ist.«
Mein früh gealterter Vater, der, wie es seine Art war, auch an diesem Tag nicht aus seinem Morgenmantel herausgefunden hatte, ging neben dem Kreuzworträtsellösen seiner zweiten Lieblingsbeschäftigung nach und zelebrierte eine späte Kaffeepause mit Puddinggebäck, wobei er jeden Bissen mit einem wohligen Seufzer feierte. Jetzt bedachte er mich mit einem vorwurfsvollen Blick.
»Ich habe dir ja gleich gesagt, dass etwas nicht stimmt. Für ihre Besorgungen nutzt Katalie ein Einkaufsnetz, aber niemals eine geräumige Reisetasche.«
»Reisetasche?« Ich hatte nicht übel Lust, ihm die Kaffeetasse aus der Hand zu reißen. »Von einer Reisetasche hast du zuvor nichts gesagt. Du hast lediglich von irgendeiner Tasche gesprochen.«
»Was hätte das für einen Unterschied gemacht?«
»Ihr Vorsprung wäre kleiner gewesen.« Grimmig blickte ich aus dem Fenster, überzeugt davon, wieder einmal ausgetrickst worden zu sein. »Weiß der Himmel, was sie gerade wieder anstellt, in welcher Geschichte sie zu stecken glaubt und wem sie nachspürt. In ihrer Welt wimmelt es von Spionen, Drachen, verrückten Wissenschaftlern und anderen Gestalten einer auf jede nur erdenkliche Weise verstümmelten Realität. Es kann Tage oder schlimmstenfalls Wochen dauern, sie wiederzufinden.«
»Oder ein ganzes Leben, falls sie von dir nicht gefunden werden will«, stellte mein Vater fest. »Was meinst du, wie lange kannst du vor ihrem Helikopter-Ersatzelternteil verheimlichen, dass sie dir wieder einmal durch die Lappen gegangen ist?«
»Noch ist nicht alles verloren«, murmelte ich. »Es ist ja nicht wie damals, als ich noch nicht wusste, mit wem ich es zu tun habe. Mein Überwachungsnetz ist dichter als vor einem halben Jahr. Über kurz oder lang wird es mir gelingen, ihre Spur zu finden.«
»Na, dann viel Glück, du alter Jagdhund. Lass die Fährte nicht zu kalt werden.« Mein Vater biss genüsslich in sein Puddingteilchen, schloss demonstrativ die Augen und begann zu summen.
Wenige Stunden zuvor
Edita saß an diesem Morgen nicht wie üblich in ihrem Kiosk in der Gammelgade, sondern auf einer harten Kirchenbank. Orgelmusik hallte von den weiß getünchten Wänden wider und verkürzte den wenigen Trauergästen, die sich großzügig über die Bankreihen verteilt hatten, die Wartezeit auf den Veranstaltungsbeginn. Dem Gatten ihrer besten Freundin Bente wurde heute die zweifelhafte Ehre zuteil, die Hauptperson einer Beerdigung zu sein. Alles sollte sich nun einmal nur um Ole Beer drehen, und trotzdem hatte der Hallodri es mal wieder geschafft, durch Abwesenheit zu glänzen. Die frischgebackene Witwe in der ersten Reihe vergoss heiße Tränen und klammerte sich an die Hand von Ole junior, der kaum die Milchzähne verloren hatte. Sie brachte selbst den Trauerredner in Verlegenheit, der sich nicht schlüssig zu sein schien, wann der Moment für seinen Einsatz gekommen war.
Gerade überlegte Edita, ob ihr Vorrat an Taschentüchern für Bentes Tränen an diesem Tag reichen würde, da zog dicht neben der Kioskbesitzerin eine schwarze Gestalt durch den Mittelgang und balancierte dabei ein originelles Blumengesteck voller bunter Windmühlen vor sich her. Sie kam Edita vage bekannt vor, aber die Verkäuferin schaute tagtäglich in so viele Gesichter, dass sie die meisten ohnehin keinem Namen zuordnen konnte. Als aber das kunterbunte Gesteck mittig vor dem Sarg platziert wurde, erkannte sie zu ihrer Überraschung die kleine Katalie aus der Nummer 104, die nun eine Bank vor ihr Platz nahm und erwartungsvoll nach vorn blickte.
Die Kioskbesitzerin konnte nicht umhin, sich zu fragen, in welcher Beziehung das etwas eigenartige Mädchen zu dem Verstorbenen gestanden haben wollte. Natürlich hatte Katalie seit ihrer Ankunft in der Gammelgade die Herzen vieler Menschen im Sturm erobert. Wohin man kam, wen man auch fragte, Katalie kannte jeder, weil sie sich gern unterhielt, immer freundlich und aufmerksam ihren Mitmenschen gegenüber war und kaum einen Tag verstreichen ließ, ohne ihre Runde durch die Läden zu drehen. Ganz im Gegensatz zu dem jungen Mann namens Smiljan, den sie als ihren Bruder ausgab, und der sich nur selten in Editas Kiosk blicken ließ. Laut Katalie war dieses Verhalten seiner Platzangst geschuldet.
Edita war sich nicht im Klaren darüber, welche Rolle dieser Smiljan in dem Leben des Mädchens spielte, doch er schien es gut mit ihr zu meinen, weswegen sie nicht weiter nachfragte. Eines Tages würde sie ohnehin alles über ihn erfahren, nahezu jedes Gerücht landete über kurz oder lang bei ihr.
Heute aber nagte die Neugier stark an ihr, denn Ole Beer war nicht Teil des täglichen Einerleis der Gammelgade gewesen. Als Seemann hatte er sich mehr auf dem Wasser denn bei seiner Familie aufgehalten und mehr Kollegen als Freunde besessen. Wo waren die Berührungspunkte zwischen ihm und Katalie?
Als endlich die ersten salbungsvollen Worte gesprochen wurden, beugte sie sich vor und tippte Katalie von hinten auf die Schulter. Das Mädchen wandte ihr das Gesicht zu und schien erfreut, eine Bekannte anzutreffen. Edita hätte sie gern gefragt, was sie hierher verschlagen hatte, doch nun begann die Rede des Predigers, und es wurde weniger laut geschluchzt, was jede noch so leise geflüsterte Unterhaltung unmöglich machte.
»Wir haben uns heute hier versammelt, um Ole Beer das letzte Geleit zu geben.« Edita fragte sich, wie man jemandem, der bereits seit Tagen auf dem Grunde des Meeres lag, das letzte Geleit geben konnte und wohin, schwieg aber.
Doch jetzt hörte sie Katalies Stimme leise flüstern: »Ole Beer? Wer ist das denn?«
Edita verkniff sich trotz allem Mitgefühl für die Witwe nur mühsam ein Grinsen. »Ole ist der Mann, den wir hier betrauern. Kann es sein, dass du auf der falschen Beerdigung bist und ihn gar nicht gekannt hast?«
Katalie zuckte mit den Schultern. »Muss so sein, ich hatte mich eigentlich für die Beisetzung einer alten Dame herausgeputzt. Im Grunde ist es völlig egal, wer dort im Sarg liegt. Die Greisin hätte ich ja auch nicht gekannt. Ich mag es lediglich, wenn alle zusammenkommen und nett über jemanden reden, der es nicht mehr hört.«
»Aha.« Mehr brachte Edita nicht heraus. Freiwillig einen Trauergottesdienst aufzusuchen, wäre ihr nicht eingefallen, aber möglicherweise hatte sie sich die positiven Aspekte einer solchen Veranstaltung auch noch nicht genug vor Augen geführt.
Gerade begann sie, in Gedanken eine Pro-und-Contra-Liste zu eröffnen, als der kleine Sohn Ole Beers vortrat, um eine Blume auf den Sargdeckel seines Vaters zu legen. Edita fand den Anblick rührend und verspürte einen Kloß im Hals, doch Katalies Gesicht versteinerte vor ihren Augen. Es war, als ob jemand einen Eiskübel über der jungen Frau ausgegossen und ihre Mimik eingefroren hätte. Der Geräuschpegel in der kleinen Kirche an Esbjergs Stadtrand schwoll wieder an, die wenigen Teilnehmer der Trauerfeier seufzten laut oder raschelten mit ihren Taschentüchern. Das Bild des kleinen Ole, wie der dem großen Ole einen letzten Blumengruß mitgab, war zu ergreifend.
»Traurig«, flüsterte Edita Katalie zu. »Es gibt wohl nichts Schlimmeres, als ein Kind vor einem Sarg stehen zu sehen, oder? Jetzt noch ein militärischer Gruß wie bei Kennedys Beisetzung und ich kann heute Nacht vor Kummer nicht schlafen.«
Katalie saß noch immer wie betäubt in ihrer Kirchenbank, die Augen starr auf das Kind gerichtet, das keine Träne vergoss und vermutlich das Ende der Feier herbeisehnte. Edita fürchtete schon, das Mädchen sei in eine Art katatonischen Zustand gesunken, da bemerkte sie, wie die Unterlippe der jungen Frau zu zittern begann.
Editas nächste Worte waren der hilflose Versuch einer Aufmunterung: »Nun ja, der Sarg ist leer. Das nimmt der Situation schon etwas von der Dramatik, findest du nicht?«
Mit weit aufgerissenen Augen wandte sich Katalie zu ihr um, und Edita überfiel das Gefühl, die Dinge nur noch schlimmer gemacht zu haben. »Leer? Was soll das heißen: Der Sarg ist leer? Särge haben nicht leer zu sein, nicht außerhalb eines Fachgeschäfts! Wird hier heute kein Toter betrauert?«
Katalies Stimme war, während sie sprach, immer lauter geworden. Schon wandten sich die ersten Köpfe in ihre Richtung. Edita hob beschwichtigend die Hände und beeilte sich zu versichern: »Doch schon. Nur glänzt Ole Beer gerade durch Abwesenheit. Der Mann war Fischer, musst du wissen. Eines Tages kam sein Boot nicht zurück in den Hafen. Man schickte Rettungskräfte aus, doch alles, was sie fanden, war sein führerlos auf dem offenen Meer treibender Kahn. Man hat noch lange nach ihm gesucht, irgendwann aber aufgegeben. Die Nordsee wird ihn nicht zurückgeben. Er liegt in seinem nassen Grab, und der Sarg hier gibt den Hinterbliebenen die Chance, Abschied zu nehmen, wie es üblich ist.«
»Das war eine nette Erklärung«, hörte Edita die vorwurfsvolle Stimme des Predigers sagen. »Können wir jetzt mit der Trauerfeier fortfahren?«
Edita schoss die Röte ins Gesicht. Hastig lehnte sie sich zurück und senkte den Blick. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Katalie, die sich nicht rührte. Erst als der Prediger seine Aufmerksamkeit wieder auf den abwesenden Ole richtete, wagte Edita es, wieder aufzuschauen.
Der Junge in dem offensichtlich für diesen Anlass geliehenen und schlecht sitzenden Anzug stand nun nicht mehr allein neben dem Sarg. Ein Herr, dem Verstorbenen in Statur und Gebaren nicht unähnlich, war vorgetreten, fasste das Kind an den Schultern und führte es nun mit sanftem Druck zurück zu seiner weinenden Mutter. Keine Träne zeigte sich auf dem Gesicht von Ole junior, der wortlos Platz nahm.
»Das Kind hat einen Maiberg«, hörte Edita Katalie flüstern, welche die Arme um ihren Körper schlang, als ob sie fröre. »Das ist gut. Jeder sollte einen Maiberg haben, wenn der leere Sarg einen aufzufressen droht.«
Edita war sich ziemlich sicher, dass Särge niemals Kinder fraßen, und was ein Maiberg war, entzog sich ihrer Kenntnis. Doch sie spürte instinktiv, dass diese Trauerfeier nicht so verlief, wie Katalie es sich ausgemalt hatte. Es wurde nicht in schönen Worten eines Menschen gedacht, der sein Leben gelebt hatte und den man, schweren Herzens zwar, aber in erster Linie dankbar, gehen ließ. Ole Beer war keine vierzig geworden, der Familie der Ernährer genommen, die Zukunft des Kindes und seiner Mutter ungewiss. Dies war keine Trauerfeier, die ein Loslassen bedeutete und Frieden schenkte.
Ob es diese Erkenntnis war, die die junge Frau vor ihr aus der Fassung gebrachte hatte, oder ob das trauernde Kind oder der leere Sarg Wirkung gezeigt hatten, wusste Edita nicht zu sagen. Sie beobachtete, wie Katalie aus der Kirchenbank rutschte und sich leise davonstahl. Die Kioskbesitzerin sah ihr nach und hoffte, dass Smiljan, ob nun Bruder oder nicht, ihr in den nächsten Stunden beistehen würde. Katalie wirkte zutiefst erschüttert.
In der Polizeiwache im Stengårdsvej war Polizeimeister Henk Mandven damit beschäftigt, die Anzeige einer aufgeregten Rentnerin aufzunehmen, die ihr bestes Kleidungsstück und ihre Geldbörse vermutlich nie wiedersehen würde. Auch im eher friedlichen Esbjerg legte man seinen Pelzmantel nicht ungestraft auf die nächstbeste Parkbank, um sich der Fütterung von Vögeln zu widmen.
Fürsorglich wie er war, hatte er der Dame bereits ein Taxi bestellt, denn die Abende wurden schnell kühl und ein unangenehmer Wind war im Laufe der letzten Stunden aufgekommen und blies vom Meer her eine eiskalte Brise ins Landesinnere.
Da bemerkte er aus den Augenwinkeln eine kleine, ganz in schwarz gekleidete Gestalt, die lautlos in die Wache schlich und den Geruch feuchter Kleidung mit hereinbrachte. Es musste mittlerweile zu regnen begonnen haben.
»Einen kleinen Augenblick, bitte«, unterbrach er das Geschnatter der Bestohlenen, verließ seinen Platz hinter dem Schreibtisch und die verdutzt dreinblickende Frau, um sich dem ihm wohlbekannten Neuankömmling zu widmen.
Ein halbes Jahr war es her, dass Katalie Skjóldal seinen Weg zum ersten Mal gekreuzt und ihm ganz nebenbei die Liebe seines Lebens zugeführt hatte. Ohne Katalie wäre ihm Agnes durch die Lappen gegangen und er wäre noch immer eine traurige Gestalt mit einer Matte aus falschem Haar auf seiner Halbglatze. Er verdankte ihr viel, ohne ihr etwas zu schulden. Und unabhängig davon ging eine seltsame Faszination von dem Mädchen aus, auch wenn sie an diesem Abend einen eher verzweifelten Eindruck auf ihn machte.
»Hallo Katalie.« Er bemerkte, dass ihr Mantel vor Nässe troff und die schwarzen Schuhe völlig durchweicht waren. »Ist etwas geschehen?«
»Ob etwas geschehen ist?« Sie sah ihn fassungslos an. »Natürlich ist etwas geschehen. Immerzu geschieht irgendwo irgendetwas. Falls es auch nur eine Sekunde der Weltgeschichte gibt, in der absolut gar nichts passiert ist, würde dieser Moment in allen Schulbüchern festgehalten werden müssen. Sind wir uns darin einig?«
Henk spürte bereits den Hauch von Unwirklichkeit, der Katalie stets zu umwehen schien und in jedem, der ihr begegnete, die gleiche Frage aufkeimen ließ: Was ist noch normal, und auf wen trifft dieser Zustand gerade zu?
»Du wirkst verstört«, wich er ihrer Frage aus. »Soll ich Smiljan anrufen und ihm sagen, wo du bist? Er könnte dich hier abholen.«
»Bloß nicht.« Die junge Frau presste eine offensichtlich leere Reisetasche an ihre Brust. »Smiljan leidet, wann immer er Geheimnisse vor Maiberg haben muss. Ich halte ihn lieber da raus. Darf ich in den Keller hinunter, Henk? Nur für eine kleine Stunde.«
Katalies Besuche im Keller der Polizeiwache waren auch so eine Sache, von der Henk Smiljan nichts erzählen durfte, damit der ominöse Maiberg nicht zu viel erfuhr. Schon seit Wochen kam Katalie regelmäßig zu ihm und bat darum, sich für eine Weile im Gruselkabinett der Wache umsehen zu dürfen.
Selbiges hatte seinen Namen von Henk und dessen Kollegen erhalten, weil dort Akten lagerten, die niemand an ihren richtigen Platz stellen konnte, weil sie schlichtweg noch keinen besaßen. Es waren Fälle, die in den Stapeln der ermittelnden Polizisten über Monate und manchmal sogar Jahre immer weiter nach unten gewandert waren. Irgendwann kam immer der Tag, da jemand seinen Schreibtisch in Ordnung brachte, auf eine jener Akten stieß und sie in das Gruselkabinett verfrachtete, wo sie blieb, bis entschieden werden konnte, wie damit weiter zu verfahren war. Meist handelte es sich um ungeklärte Delikte, zu groß, um sie einfach im Archiv verschwinden zu lassen, und zu klein, um über einen längeren Zeitraum hinweg Steuergelder dafür zu verschwenden.
Offiziell hätte Henk Katalies Wunsch niemals entsprechen dürfen. Aber er war nicht vierundzwanzig Stunden am Tag der offizielle Typ. Er wusste, dass sie keinen Schaden anrichten würde, und ließ ihr den Spaß, in den alten Fällen herumzustöbern und sich ihre Gedanken dazu zu machen. Warum Smiljan oder diese Person namens Maiberg Anstoß daran nehmen könnten, leuchtete ihm nicht ein. Überhaupt war er der Meinung, dass Katalie die meiste Zeit über gut allein zurechtkam.
»Gut, aber nur für eine Stunde«, stimmte er zu, fummelte einen Schlüssel vom Brett an der Wand und reichte ihn ihr.
Ein dankbares Kopfnicken später war Katalie aus seinem Blickfeld verschwunden und er konnte sich wieder der Seniorin zuwenden, die noch immer um ihren Pelzmantel trauerte.
In den folgenden Stunden ging es in der Wache zu wie in einem Taubenschlag, und Henk vergaß schlichtweg, Katalie in den Keller gelassen zu haben. Dann aber kam sie ihm unvermittelt wieder in den Sinn, und da ihm der Sinn nach einer verdienten Pause stand, stieg er die Kellertreppe hinab. Er passierte ein Archiv in absolut einwandfreiem Zustand, bevor er die Kammer erreichte, in der sich die noch abzulegenden Akten bis unter die Decke stapelten. Katalie, inzwischen wesentlich trockener als zuvor, hockte auf dem fleckigen Betonboden inmitten von Unterlagen, die sie einem braunen Umschlag entnommen hatte. Als sie den Kopf hob, erwartete er, ihr entwaffnendes Lächeln mit der auffälligen Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen zu sehen. Doch Katalie lächelte nicht. Im Gegenteil. In ihren Augen schwammen Tränen.
»Ich wusste nicht, wie oft es vorkommt«, flüsterte sie und schlang die Arme um ihren kindlichen Körper. »All die Jahre habe ich geglaubt, ich wäre eine Ausnahme, aber ich bin nur eine von vielen.«
Sie schien zu frieren, und Henk ärgerte sich, dass er seine Dienstjacke nicht dabeihatte, um sie ihr um die Schultern zu legen. So ging er tief in die Hocke und schloss sie in seine Arme, was Katalie dankbar geschehen ließ.
Erst als sie zu zittern aufhörte, wagte er, ihr eine Frage zu stellen: »Wovon redest du eigentlich?«
Sie machte sich von ihm los und wischte verstohlen eine Träne aus ihrem Augenwinkel. »Ich habe dir doch mal erzählt, dass mein Vater als König auf einer Karibikinsel lebt und meine Mutter im Verlies eines Hexenmeisters gestorben ist.«
Henk gelang es, kommentarlos zu nicken und dabei keine Miene zu verziehen. Schon als er diese Schilderung zum ersten Mal aus Katalies Mund gehört hatte, waren ihm die Parallelen zur sommersprossigen Heldin eines schwedischen Kinderbuches und zu Tolkiens Hobbit aufgefallen. Auch damals hatte er sich jeden Kommentar erspart.
»Nun, das ist eine hübsche Lüge, die mir besser gefällt als die Wahrheit. Es ist nämlich so, dass meine Eltern verlorengegangen sind. Irgendwo in Südamerika. Und Maiberg fühlt sich dafür verantwortlich, weil sie in seinem Auftrag unterwegs gewesen sind.« Sie schluckte. »Es gab eine nette Trauerfeier mit leeren Särgen, die ich damals als eine Lüge empfand. Und wenn man ohnehin schon die Unwahrheit erzählt, kann man sich doch auch etwas Schönes ausdenken, oder?«
Henk nickte. So gesehen war die Geschichte vom König der Karibikinsel wesentlich gefälliger.
»Ich dachte, mir seien als Einziger die Eltern einfach verlorengegangen. Ich glaubte, nicht genug aufgepasst zu haben, und Maiberg denkt wohl genauso, deswegen will er immer wissen, was ich gerade mache.« Sie tippte mit dem Finger gegen das seltsame Gebilde auf ihrem Kopf und fuhr fort. »Aber heute war ich zum ersten Mal auf einer Beerdigung, die genauso verlogen war wie die Trauerfeier für meine Eltern. Der Mann war gar nicht tot, sondern futsch. Und in der ersten Reihe heulte die kleine Familie Rotz und Wasser, als ob sie nicht wüssten, dass im Sarg höchstens alte Kataloge oder Eierkartons liegen. Ich hätte dem kleinen Jungen gern erzählt, an wie vielem sein Vater gerade jede Menge Spaß haben könnte, wenn man es nur in Gedanken zuließe, aber es war wohl nicht der passende Moment.«
»Das könnte stimmen. Nicht jedem ist es gegeben, die Wirklichkeit den eigenen Fantasien zu unterwerfen«, murmelte Henk und versuchte, sie vom kalten Boden hochzuziehen.
Doch Katalie machte sich schwer wie ein Sack Kartoffeln und wehrte sich gegen seine Bemühungen. »Aber da sind auch noch all die anderen, die auf jemanden warten!« Ihr Finger deutete auf die bis an die Decke reichenden Regale, deren Bretter sich unter ihrer Last bereits zu biegen begonnen hatten. »Sie sind hier und keiner kümmert sich darum.«
Für einen kurzen Moment hatte Henk den Faden verloren, blickte ratlos über die verstaubten Berge aus Papier und versuchte, Katalies Gedankengang nachzuvollziehen. »Vermisstenfälle!«, rief er schließlich aus, als ihm ein Licht aufging. »Du bist hier unten auf der Suche nach ähnlichen Fällen, in denen Menschen spurlos verschwunden sind.«
»Und jemanden wie mich zurückgelassen haben«, ergänzte Katalie ernst. »Ich warte noch immer auf die Rückkehr meiner Eltern.«
Dem Polizeiwachtmeister wurde das Herz schwer. »Weißt du, jeden Tag verschwinden irgendwo Menschen. Manchmal können wir nachvollziehen, warum und wohin. Beispielsweise, wenn ihr Leben ein einziges Chaos war und sie lieber weggelaufen sind. In anderen Fällen, beispielsweise, wenn ein kleines Charterflugzeug irgendwo in Südamerika abstürzt, können wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die Insassen tot sind. Es ist einfach wahrscheinlicher als Könige in der Karibik oder böse Hexenmeister.«
»Wahrscheinlichkeiten beinhalten immer auch den Freiraum des Irrtums. Sie lassen Platz für völlig andere Wahrheiten«, klang es bockig aus Katalies Mund.
Henk seufzte und griff nach den am Boden verstreuten Unterlagen, die er unsortiert zurück in den Pappordner stopfte. »Irgendwie habe ich das Gefühl, diese Samstagabendbeschäftigung tut dir nicht gut. Muss Teufel nicht mal Gassi gehen?«
Teufel, so wusste es Henk von Smiljan, war ein imaginäres Haustier, das ein gewaltiges Hundehalsband als Fußkettchen trug, welches Katalie bei ihren Spaziergängen an einer Leine hinter sich herschleifte. Und auch wenn Smiljan stets vorgab, nicht an den Teufel zu glauben, hegte Henk diesbezüglich leise Zweifel an seiner Aufrichtigkeit. Ihm war zu Ohren gekommen, dass auch Smiljan schon in der Gammelgade gesichtet worden war, wie er ein leeres Halsband hinter sich herzog.
Katalie war inzwischen nachdenklich geworden und murmelte: »Gib mir noch ein paar Minuten Zeit. Dann gehe ich heim und werde dich nicht mehr belästigen.«
»Du belästigst mich nicht, und du darfst auch gern wiederkommen«, beeilte er sich zu versichern. »Allerdings habe ich bald Feierabend und dann solltest du besser ebenfalls das Feld räumen.«
Sie nickte, doch ihre Konzentration galt bereits wieder der von Henk schlampig zusammengesammelten Akte. »Nur noch ein paar Minuten, dann bin ich weg«, versprach sie.
Widersprüchliche Gefühle stritten in Henk, als er die Stufen zur Wachstube hinaufstieg, wo er seine Kollegen reden hörte. Katalie schien ihm sehr aufgewühlt, und er verspürte das Bedürfnis, sie in dieser Verfassung nicht sich selbst zu überlassen. Andererseits erwartete Agnes, die heute Abend nicht wie üblich im Lawrence bediente, ihn zum Dinner mit Kerzenlicht.
An seinem Schreibtisch eingetroffen, hatte er bereits eine Entscheidung gefällt. Genau für Momente, wie dieser einer war, wurde Smiljan Sandhus bezahlt. Manchmal reichte eine starke Schulter eben nicht aus, da durfte es auch noch ein wachsames Auge sein.
Henk griff zum Telefon und wählte die Nummer des Mannes, mit dem ihn seit dem letzten Herbst eine lose Freundschaft verband. Nicht, dass sie einander je zu Hause besucht hätten, Henk hatte sogar den Eindruck, dass Smiljan schon der Gedanke daran unangenehm war. Vermutlich pflegte der junge Mann eine Hanfplantage auf seiner Fensterbank. Aber gelegentlich hatten sie sich auf ein Bier im Lawrence verabredet und Agnes bei der Arbeit zugeschaut. Alles in allem wirkte Smiljan auf Henk sehr vernünftig.
Nach kurzem Klingeln wurde abgehoben, und Henk hörte Smiljans Stimme, die einen alarmierten Unterton aufwies. »Sandhus? Hallo?«
»Smiljan, hier ist Henk.« Er sprach rasch weiter, um kein unnötiges Kopfkino in Gang zu setzen. »Es ist alles in Ordnung, Katalie ist hier bei mir. Doch möglicherweise könnte sie heute Abend jemanden zum Reden brauchen.«
»Alles in Ordnung?«, wiederholte Smiljan. »Wie kann alles in Ordnung sein, wenn sie bei dir auf der Wache sitzt und mich braucht? Sag mir sofort, was passiert ist.«
»Überhaupt nichts ist passiert«, rief Henk und dachte an Katalies Behauptung, dass dies in der Weltgeschichte quasi nie vorkam. »Sie ist lediglich in melancholischer Stimmung. Komm her, hol sie ab und kümmere dich ein bisschen um deinen Schützling.«
»Bin schon unterwegs.« Das Gespräch wurde unterbrochen und Henk warf einen Blick auf die große Wanduhr der Wachstube. Er war gespannt, wie lange der alte Twingo vom Stadtrand bis hierher brauchen würde.
Als er den schmächtigen jungen Mann, der sein blondes Haar wie stets zu einem Knoten zusammengerollt trug, zur Tür hereinkommen sah, war erstaunlich wenig Zeit vergangen. Henk war es gerade einmal gelungen, seine persönlichen Dinge zusammenzuraffen und den ihn ablösenden Kollegen auf den neusten Stand zu bringen. Jetzt wartete Smiljan am Tresen und sah sich mit angespannter Miene um.
»Sie ist im Keller«, erklärte Henk statt einer Begrüßung.
»Im Keller, warum das denn?« Die Stimme des Freundes klang schrill. »Sind dort etwa die Zellen? Hast du Katalie in Gewahrsam genommen?«
»Quatsch, sie frönt lediglich ihrem eigenartigen Hobby.«
Sein junger Freund entspannte sich sichtlich. Von einem tiefen Ausatmen begleitet, fragte er: »Welchem denn diesmal? Ich nehme kaum an, dass ihr im Untergeschoss der Polizeiwache Trauergottesdienste abhaltet.«
Henk runzelte die Stirn und schüttelte lediglich den Kopf, während er Smiljan den Weg wies. Auf der Treppe nach unten erzählte er in kurzen Worten von Katalies Interesse an den zwischengelagerten Akten und stellte verwundert fest, dass diese harmlose Erklärung nicht dazu angetan war, Smiljan zu beruhigen. Im Gegenteil, sein Freund wirkte plötzlich wieder alarmiert.
Nachdem sie den aufgeräumten Teil des Archivs passiert und das Gruselkabinett erreicht hatten, musste Henk einsehen, dass ihm in den letzten Minuten etwas entgangen sein musste. Der Raum war leer. Die Stelle, an der Katalie im Schneidersitz auf dem Betonboden gehockt hatte, wies noch feuchte Spuren ihrer durchweichten Schuhe auf. Doch von Katalie Skjóldal fehlte jede Spur.
»Ich verstehe das nicht.« Kopfschüttelnd blickte Henk auf die vollgestopften Regale und versuchte, jene Akte zu entdecken, in der Katalie zuletzt gestöbert hatte. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen.
»Ich schon.« Smiljan verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete ebenfalls die sie umgebenden Berge aus Papier. »Wir sind schon wieder in einer ihrer Geschichten. Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, um welche es sich handelt.«
»In einer Geschichte?« Henk warf ihm einen ratlosen Blick zu und hoffte auf weitere Erklärungen.
»Jeder denkbare Gedanke wurde bereits einmal gedacht.« Es klang, als würde Smiljan ein Zitat zum Besten geben. »Nicht nur gedacht, sondern auch aufgeschrieben. Kennst du die Geschichte, in der du dich befindest, weißt du auch, was du zu tun hast.«
»Das klingt gefährlich nach einer Weisheit aus Katalies Mund«, brummte Henk.
»Ist es auch«, bekräftigte Smiljan und deutete auf die Akten. »Fehlt etwas? Hat sie möglicherweise eine von denen mitgenommen?«
»Woher soll ich das wissen?« Henk hob die Schultern und vollführte eine Geste der Hilflosigkeit. »Hier lagern hunderte, vermutlich eher tausende Vorgänge. Ich gehe davon aus, dass sie alle auch digital erfasst worden sind, aber die elektronischen Daten mit diesem Wust hier unten abzugleichen, könnte Monate dauern.«
Smiljan stieß einen Fluch aus und trat gegen einen der unschuldigen Regalpfosten. »Haben wir denn gar keinen Anhaltspunkt? Was hat sie denn gesagt, wonach sie hier unten Ausschau hält?«
»Nach Vermissten«, erwiderte Henk, ohne lange überlegen zu müssen. »Das Mitleid für andere, die in völliger Unwissenheit leben, was aus ihren Angehörigen geworden ist, trieb sie um. Ich schätze, sie beschäftigt sich gedanklich einfach zu viel mit ihren Eltern.«
»Na, das ist doch ein Ansatz.« Smiljan wirkte erleichtert. »Um Katalie wiederzufinden, müssen wir nur in Erfahrung bringen, welche Vermisstenfälle hier unten lagern. Das können ja nicht so viele sein.«
Henk öffnete den Mund, bereit, Smiljans Illusionen zu zerstören, und schloss ihn wieder. Stattdessen sagte er: »Wie schon erwähnt: Wir wissen nicht, ob überhaupt etwas fehlt. Möglicherweise hat Katalie die von ihr zuletzt gelesene Akte einfach ins Regal gestopft. In dem Fall gibt es hier nichts zu entdecken.«
»Ich bin erledigt«, stöhnte der junge Mann an seiner Seite und schlug seine Stirn gegen den gleichen Pfosten, den er gerade noch mit Tritten malträtiert hatte. »Wenn Maiberg herausbekommt, dass Katalie verschwunden ist, wird er mich einen Kopf kürzer machen.«
»Was zugegebenermaßen tragisch wäre.« Henk verbiss sich ein Grinsen. »Warum belügst du ihn nicht einfach für eine Weile? Sie wird schon wieder auftauchen.«
Smiljan ließ endlich das Regal in Ruhe und sah zu ihm auf: »Und was, wenn nicht?«
Acht Jahre zuvor
Fassungslos blickte Milas Holm in das blutüberströmte Gesicht des Mannes, der gerade in seine Praxis gestolpert kam. Irgendetwas, er wusste nicht zu sagen, was für eine Waffe hier zum Einsatz gekommen war, hatte die Wangen von Sven Piehl zerfetzt und seine linke Augenbraue scheibenweise aufgeschnitten wie einen Brotlaib. Das meiste Blut troff aus der gespaltenen Lippe.
Milas hielt sich nicht mit Vorreden auf. Natürlich hätte er seinen Besucher darauf hinweisen müssen, dass er sich in einer Tierarztpraxis befand, doch er kannte Sven Piehl lange genug, um zu wissen, dass es dem jungen Mann egal war. Wie viele Menschen der Umgebung vertrat er die Meinung, dass eine Behandlung, die für Kühe gut genug war, auch für ihn reichen musste.
So platzierte Milas den Patienten neben dem Untersuchungstisch auf einem Stuhl, suchte Mullbinden, Desinfektionsmittel, Nadel und Faden zusammen und zog die Spritze mit dem örtlichen Betäubungsmittel auf.
»Wie ist das passiert, Sven?« Milas wusste, dass der junge Mann noch oft auf dem elterlichen Hof mit Hand anlegte und rechnete insgeheim damit, jetzt den Namen einer landwirtschaftlichen Nutzmaschine genannt zu bekommen. Vielleicht war Sven mit dem Gesicht in eine Kartoffelsortiermaschine geraten. Doch die Antwort, die er bekam, klang ebenfalls erschreckend plausibel.
»Das hat Nick getan.« Sven spuckte Blut, und Milas versuchte einzuschätzen, wie viele Stiche die Unterlippe des Mannes vertragen konnte.
»Ihr habt euch gestritten«, stellte Milas sachlich fest. »Ging es um ein Mädchen?« Bei Männern dieses Alters ging es seiner Meinung nach immer um Mädchen. Er selbst, der er die Vierzig schon eine Weile hinter sich gelassen hatte, besaß noch vage Erinnerungen daran.
»Er ist meiner Schwester blöd gekommen, da habe ich ihm die Meinung gesagt.«
Der Tierarzt stellte keine weiteren Fragen und setzte die ersten Stiche. Unter blöd gekommen konnte er sich bei einem Taugenichts wie Nick Iversen eine ganze Menge vorstellen. Er mochte voreingenommen sein, doch Sven, dessen Gesicht soeben in Fetzen gegangen war, hatte ein sanftes Gemüt und kam üblicherweise nie in Schwierigkeiten. Nick Iversen hingegen war eine Heimsuchung für jeden, der hier am Rande von Esbjerg lebte.
Als er die nächsten Stiche ausführte und zu seiner Freude feststellte, dass sich unter der tranchierten Braue ein intaktes Auge befand, ließ er doch noch einen seiner Standardsprüche vom Stapel. »Du hättest in die Stadt fahren sollen, Sven. Die Ärzte im Krankenhaus hätten dieses Puzzle besser wieder zusammengesetzt als ich.«
»Als Sie Papas beste Kuh nach dem Kaiserschnitt wieder zusammengeflickt haben, waren die Stiche so winzig klein, das hätte kein anderer besser hinbekommen«, murmelte Sven und verzog das Gesicht, als Milas den Faden strammzog.
»Ich verarzte Vieh, Schönheitsoperationen fallen nicht in meinen Aufgabenbereich«, brummte Milas, obwohl ihm die Erwähnung der wirklich gelungenen Kaiserschnittnaht an besagter Kuh schmeichelte. »Außerdem hättest du dann gleich bei der Polizei vorbeischauen und Anzeige erstatten können. Man darf Nick nicht alles durchgehen lassen. Und diese Narben, mein Bester, wirst du dein Lebtag nicht mehr los.«
»Der bekommt schon noch, was er verdient. Eines Tages, da …«
»Mach dich nicht unglücklich«, fiel ihm Milas ins Wort und tupfte zum wiederholten Male Blut vom Gesicht seines Patienten. »Überlass die Rache dem Gesetz. Eine Weile in der Zelle könnte auf einen wie Nick durchaus eine heilsame Wirkung haben.«
»Das Gesetz und seine Vertreter sind weit weg«, brummte Sven und unterdrückte einen weiteren Schmerzenslaut. »Und Nick ist verrückt. Nichts kann ihn stoppen, wenn er in Wut gerät.«
»Und genau das wird ihn eines Tages in den Knast bringen. Für immer.« Milas spürte, wie ihn ein Schauer überlief, als er daran dachte, dass nur ein Mord Nick Iversen für immer hinter Gitter bringen konnte. Und er mochte sich nicht ausmalen, wer das Opfer sein könnte. Zu sehr schätzte er all seine zwei- und vierbeinigen Nachbarn. »Mehr kann ich nicht für dich tun.« Der Tierarzt legte Nadel und Faden beiseite und beobachtete Sven dabei, wie er sich erhob und ans Waschbecken stürzte, um sein neues Gesicht im darüber angebrachten Spiegel einer Prüfung zu unterziehen.
»Ist doch ganz ordentlich geworden. Die Lippe scheint mir vielleicht ein kleines bisschen schief zu sein.« Er bewegte den Mund vorsichtig wie ein Karpfen. »Aber Küssen geht noch.«
»Da bin ich aber beruhigt.« Milas schob Sven beiseite, um sich die Hände zu waschen. »Wie sieht Nick aus? Hast du auch ein paar Treffer landen können?«
»Ja, aber mit den Fäusten.« Sven schien dies nachträglich zu bedauern. »Den muss man nicht zusammenflicken, das blaue Auge heilt auch so. Jede Wette, dass der Schweinehund jetzt am Strand steht und Flaschenpost spielt?«
»Flaschenpost?« Milas Holm überfiel eine dumpfe Ahnung. Bei einem Spiel dieses Namens war vermutlich Alkohol im Spiel.
»Er holt sich was zu trinken, säuft die Pulle leer, stopft einen Zettel hinein, damit irgendjemand neugierig wird, und füllt sie so gut er kann mit Pisse auf. Dann schraubt er sie zu und wirft sie in die Wellen.«
Angeekelt sah Milas seinen Patienten an. »Wie überaus originell. Klingt nach einer Beschäftigung für Zwölfjährige.«
Sven hob die Schultern, um kundzutun, wie egal ihm das war, und ließ sich von Milas zur Tür bringen. Die darauffolgenden Patienten waren Haustiere. Doch während Milas Holm Wurmkuren verabreichte und Impfdosen aufzog, war er in Gedanken bei Nick Iversen, dem dringend mal der Kopf zurechtgesetzt werden musste. Die Frage war nur, wer dies übernehmen sollte.
Zuständig erschien ihm spontan die bettlägerige Mutter des Unruhestifters, allerdings war die alte Hella Iversen kaum in der Lage, hart durchzugreifen. Ihre vielen Leiden machten das nahezu unmöglich. Milas ging davon aus, dass die Frau in den nächsten Jahren weiter abbauen und den Einfluss auf ihren erwachsenen Sohn noch gänzlich verlieren würde.
Nach einer Weile sah der Tierarzt ein, dass die Aufgabe schwerlich jemand anderem zugeschoben werden konnte. Weitere Verwandte besaß der junge Iversen nicht. Aktuell vermutlich nicht einmal einen Arbeitgeber, obwohl er sich gelegentlich an einer beruflichen Laufbahn versucht hatte, wie Holm vom Hörensagen wusste.
Gegen fünf Uhr schläferte er noch eine Hamsterdame ein, trocknete die Tränen der kleinen Besitzerin, setzte sich in seinen betagten Jeep und fuhr zum Strand.
Der Abschnitt, an dem sich die Jugend aktuell üblicherweise vergnügte, war ihm bestens bekannt. Als junger Mann hatte er selbst keine Strandparty ausgelassen, doch das war lange her.
Das Wetter an diesem Frühlingstag war nicht dazu angetan, sich länger als nötig an der Wasserkante niederzulassen. Und so entdeckte er rasch die einsame Gestalt mit den hochgekrempelten Hosenbeinen, die schwankend auf und ab ging und eine fast leere Weinflasche schwenkte. Offensichtlich war die letzte Flaschenpost noch nicht zu Wasser gelassen worden.
Milas Holm marschierte schnurstracks über den weichen Sand auf den jungen Mann zu. Dieser hob den Kopf und wartete geduldig, während der Tierarzt näherkam.
»Wollen Sie mittrinken, alter Knochenflicker?« Er lachte über seine eigenen Worte, wiederholte sie noch einige Male und setzte die Flasche an den Hals.
Anstatt auf das Angebot zu reagieren, kam Holm gleich auf den Punkt. »Schwere Körperverletzung«, brüllte er gegen den Seewind an und wartete auf die Wirkung seiner Worte. Doch das Gesicht Iversens blieb ausdrucklos. »Sven könnte dich anzeigen, und jeder Richter, der sein Gesicht sieht, würde dich für einige Jahre einbuchten.«
»Der hatte schon vorher so eine Hackfresse, ich schwöre.« Zwei Finger hebend, begann er zu kichern, als sei ihm gerade ein hervorragender Witz über die Lippen gekommen.
»Du bist auf dem besten Weg, dein Leben zu ruinieren«, versuchte Holm einen neuen Anlauf. »Mir kann das im Prinzip egal sein, aber es wäre schön, wenn du damit wenigstens warten könntest, bis deine Mutter unter der Erde ist.«
Iversens Miene verfinsterte sich. Das Lachen war ihm allem Anschein nach vergangen. »Halt die Klappe, alter Mann. Misch dich nicht ein, sonst kannst du ab morgen zusammen mit Sven in der Geisterbahn die Eintrittskarten abreißen. Eine Maske braucht ihr dazu beide nicht mehr, wenn ich mit dir fertig bin.«
Erst jetzt bemerkte Milas Holm die lange Drahtbürste, deren Holzgriff im Gürtel des Mannes steckte. Er hielt jede Wette, dass an den scharfen stählernen Borsten noch Blut und Hautfetzen von Sven Piehl klebten. Und er hatte kein Interesse daran, ebenfalls etwas zu dem Gemisch beizutragen.
Sich nervös über den Schnurrbart streichend, schätzte er seine Chancen ein. Sein Gegenüber war jünger, sportlicher und kräftiger als er selbst. Auf einen Kampf musste er sich mit Nick Iversen nicht einlassen, um die eigene Unterlegenheit anzuerkennen. Und zu einem Konflikt, der mit den Waffen des Verstandes ausgetragen wurde, würde sich der junge Mann wohl kaum überreden lassen. Milas Holm begriff, wie sinnlos seine Einmischung in dieser Angelegenheit war. Nick Iversen taugte nichts, war Abschaum der brutalsten Sorte, und der Versuch, ihm ins Gewissen zu reden, war zum Scheitern verurteilt. Der Junge besaß keinen guten Kern, an den man appellieren konnte.
Begleitet von einem Seufzer wandte er sich abrupt ab, entschlossen, Nick einfach stehenzulassen. Doch er hatte kaum zwei Schritte getan, als er ein Stampfen hörte, die Nähe eines anderen fühlte und in seinem Sichtfeld die harten Borsten auftauchten, mit denen sicher schon viel Rost von alten Autoblechen geschrubbt worden war. Mit einer für ihn ungewohnten Schnelligkeit wich Milas Holm zur Wasserlinie hin aus und vollführte eine Drehung, um seinem Angreifer ins Gesicht blicken zu können.
Nick Iversens ganzer Körper war auf Angriff ausgerichtet und die gespannten Muskeln bebten. Sein sonst ganz hübsches Gesicht unter dem blonden Haarschopf war zu einer Fratze verzerrt, Speichel glänzte auf seinen Lippen, die Augen hatten sich zu schmalen Schlitzen verengt. Milas Holm erkannte, warum Sven Piehl seinen Gegner als verrückt betitelt hatte. Dieser Mann war nicht mehr Herr seiner selbst und jedes weitere Wort überflüssig. Instinktiv trat Milas zurück und spürte die eiskalte Welle einer recht ruhigen Nordsee um seine Knöchel spülen.
Augenblicklich versuchte er, sowohl seinem Angreifer als auch dem Wasser zu entkommen und wich nun zur Seite aus, um über den Strand fliehen zu können.
Doch Iversen, die Drahtbürste erhoben und zum Schlag bereit, hatte seine nächste Aktion vorausgesehen und versperrte ihm den Weg. Erneut wurde Milas in Richtung Meer zurückgedrängt, die nächste Welle umspülte schon sein Knie, und jetzt trat auch Iversen ins flache Wasser und führte einen kräftigen, schlecht gezielten Hieb aus, mit dem er sich fast selbst verletzt hätte. Milas nutzte den Moment und rannte, so gut er es im nassen Sand vermochte, im großen Bogen um Iversen herum, der diesmal nicht schnell genug reagierte, um ihn erneut zum Meer zu drängen. Kaum, dass er trockenen Sand unter den Schuhsohlen spürte, versuchte der Tierarzt, sein Tempo zu beschleunigen, und flüchtete entlang der Wasserkante. Dicht hinter ihm hörte er Iversen brüllen.
»Feigling! Schwächling! Los, komm her und sag mir deine Meinung nochmal ins Gesicht, wenn du dich traust!«
Milas rannte weiter und verschwendete keinen Atemzug an überflüssige Reden. Er konnte von Glück sagen, dass Iversens Koordination unter dem Weinkonsum gelitten hatte. Anderenfalls hätte er gegen den Jüngeren keine Chance gehabt.
Besessen von der Angst, jeden Moment das scharfe Metall der Drahtbürste auf dem Gesicht zu spüren, rannte Milas immer schneller, und erst, als das Brüllen des Verrückten in seinem Rücken deutlich leiser klang, wagte er, dem wilden Pochen seines Herzens und den heftigen Seitenstichen nachzugeben und verlangsamte sein Tempo.
Ein Blick über die Schulter bestätigte, dass Iversen weit zurückgeblieben war. Der Betrunkene schien das Interesse an ihm verloren zu haben. Schwer atmend verließ der Tierarzt den nassen und leidlich festen Sand an der Wasserlinie, um sich über den Strand zu den Dünen hochzukämpfen.
Sein Herz klopfte noch immer wie wild, als er den ersten mit Strandgras bewachsenen Hügel erklomm. Und weit mehr als die Flanken schmerzte ihn jetzt sein hart getroffenes Ego. Er war nicht nur als Feigling und Schwächling beschimpft worden, er hatte sich auch so verhalten. Doch was konnte er einem Irren wie Iversen allein entgegensetzen?
Svens Worte schossen ihm durch den Kopf. Iversen würde irgendwann bekommen, was er verdiente. Dann fand sich dieser brutale Kerl in einer Gefängniszelle wieder. Oder im Grab.