Kanus - Maylis de Kerangal - E-Book

Kanus E-Book

Maylis de Kerangal

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Immer stimmt irgendetwas nicht. Wenn die Freundin Zoé plötzlich fremd wirkt, ihre Stimme ein ungewohntes Timbre aufweist, weil sie sich, wie sich endlich erweist, für einen Job beim Radio einem Sprechtraining unterzogen hat. Wenn sich nach Jahren der Fernbeziehung die langersehnte Nähe zu Sam nicht einstellt, weil sich die Liebenden nur übers Telefon kannten und sich ihre wahren Stimmen nicht synchronisieren wollen. Oder wenn der Vater es nicht übers Herz bringt, die von der verstorbenen Mutter gesprochene Ansage auf dem gemeinsamen Anrufbeantworter zu löschen – und damit ihre Stimme auf ewig verschwinden zu lassen.

Die acht ungleichen Frauenstimmen dieser alle Sinne ansprechenden Geschichten erzählen von Momenten, in denen Nähe und Entfremdung ineinander vibrieren. Wo eine winzig kleine Verschiebung im Gefüge allesentscheidend ist und Liebe in Skepsis umschlägt, Befangenheit in Zutrauen. Momente, die Raum für befreiend Neues schaffen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 156

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cover

Titel

Maylis de Kerangal

Kanus

Erzählungen

Aus dem Französischen von Andrea Spingler

Suhrkamp

Impressum

Zur optimalen Darstellung dieses eBook wird empfohlen, in den Einstellungen Verlagsschrift auszuwählen.

Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

Um Fehlermeldungen auf den Lesegeräten zu vermeiden werden inaktive Hyperlinks deaktiviert.

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Canoës bei Éditions Gallimard, Paris.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Anzinger und Rasp, München

Umschlaggemälde: Pool Chair, (c) Michael Ward, 2021, Acryl auf Leinwand, 18" x 24", Sammlung des Künstlers

eISBN 978-3-518-77545-5

www.suhrkamp.de

Kanus

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Biwak

Gebirgsbach und Ätherrauschen

Mustang

Nevermore

Ein leichter Vogel

after

Ontario

Ariane

Informationen zum Buch

Kanus

Biwak

Ich wartete, dass die Zeit verging, ausgestreckt auf einem horizontal gestellten Zahnarztstuhl, den Blick verloren an der Polystyrol-Zwischendecke, die Füße in der Luft, und biss in eine Alginatpaste mit Fluorgeschmack, die an meinen Zähnen hart wurde. Aus der Ferne drang das Tohuwabohu des Boulevards zu mir, die hinter mir stehende junge Ärztin ließ die Instrumente auf ihrer Ablage klirren, und ich lauschte den Klängen orientalischer Musik in diesem kleinen Urzeitchaos, während die Gebissabformung vonstattenging. Ich hatte also den Mund voll und konzentrierte mich, um nicht zu schlucken, als die Zahnärztin mir ihr Handy unter die Nase hielt: Sehen Sie mal, ein menschlicher Unterkiefer aus dem Mesolithikum, man hat ihn 2008 in der Rue Henry-Farman gefunden, im fünfzehnten Arrondissement.

Auf dem Display erkannte ich deutlich, beleuchtet wie ein kostbares Objekt vor schwarzem Hintergrund, einen Kieferknochen, der noch vier Backenzähne in ihren Alveolen aufwies und dessen vorstehende Kinnspitze etwas wie Appetit, Kraft, Willen ausdrückte. Gute Zähne, wenn auch abgenutzt. Sehr wichtig, der Unterkiefer, fuhr die Zahnärztin mit Flötenstimme fort und steckte das Handy in die Tasche ihres Kittels, er ist der einzige bewegliche Gesichtsknochen, und Sprechen, Essen, Sehvermögen oder sogar Stehen, im Gleichgewicht bleiben, all das hat mit ihm zu tun, unser Organismus ist an dieser Schaukel aufgehängt. Ich schloss die Augen.

Seit ein paar Monaten vergällen Schwindelanfälle und Migränen mir das Leben. Treten irgendwann plötzlich auf, überfallen mich ohne Vorwarnung – die Kopfschmerzen eher am Abend. Ich versuche, Gemeinsamkeiten in ihrem Auftreten auszumachen, ob es Schlafmangel ist, Alkoholmissbrauch, Ärger, aber ich finde nichts und bin eine labile, verletzliche Frau geworden, immer auf der Hut. Erst gestern Nachmittag, während ich an der dringenden und schlecht bezahlten Übersetzung der Untertitel einer ganzen Staffel der Serie Out into the Open saß – sechs jugendliche Ausreißer überleben in einem Wald in Oregon –, zuckte der Schmerz wieder in meiner Schläfe, zunächst verstohlen, sozusagen heimlich, aber hinterhältig und imstande, das wusste ich aus Erfahrung, mir von einer Sekunde zur anderen den Kopf in Brand zu stecken. Dabei war die Wohnung in tiefe Stille getaucht, erfüllt von der Resonanz, die in den ruhigen Stunden an vertrauten Orten entsteht, wenn sie leer, desaktiviert sind wie verlassene Basislager und bei langem Hinschauen rätselhafte Formen, unbekannte Reliefs, seltsame Spuren zum Vorschein kommen. Zwanzig Minuten später lag ich im Dunkeln.

Legen wir los? Die Zahnärztin sah auf die Uhr, rückte die blaue Maske unter ihren persischen Augen zurecht, ich öffnete weit den Mund, und sie beugte sich über mich, um die Abdruckform von meinem Oberkiefer abzunehmen, indem sie heftig am Griff des Metalllöffels rüttelte, der an meinem Gaumen klebte – die Wucht überraschte mich, ich dachte, meine Zähne würden sich aus dem Zahnfleisch lösen –, dann nahm sie den Abdruck heraus und untersuchte ihn lange, drehte ihn im Licht in alle Richtungen, bevor sie zufrieden nickte, während ich kleine Steinchen, Krümel der rosa Paste in eine Schüssel spuckte. Super, jetzt machen wir dasselbe mit dem unteren Zahnbogen. Sie bewegte sich in ihren roten Turnschuhen geschmeidig durch den Raum, Zehengang und schmale Taille einer Tänzerin, der Zopf als Metronom, dann setzte sie sich auf einen Hocker neben den Behandlungssessel, mischte auf ihrem Tischchen eine neue Dosis Alginat mit Wasser an, konzentriert, und ich wischte mir mit einem Papiertuch das Kinn ab. Wo war das, der prähistorische Kiefer?, hörte ich mich fragen – die Worte kamen mir über die Lippen wie weitere Steinchen, letzte Krümel von rosa Paste –, während ich ihre arbeitenden, runden, muskulösen, von Sommersprossen übersäten Arme beobachtete. Sekunde, wir schauen gleich nach. Sie stand auf, schob den gut gefüllten Abdrucklöffel – ein Brei von quietschender Textur – in meinen Mund, und dann hörte ich, wie sie sich am Waschbecken die Hände wusch, bevor sie mit ihrer hellen Stimme antwortete: Es war in der Rue Henry-Farman, beim Pariser Heliport, Metrostation Balard.

Mein Blick wanderte wieder zur Decke, ich stellte mir die Seineschleifen in der Höhe von Boulogne vor, die Inseln, den Périphérique, während die drei Namen, Farman–Heliport–Balard, Namen, die ebenfalls schnell fest werden, in meinen Schläfen dröhnten und mich in dieses Viertel zurückversetzten, wo Olive Formose wohnte, in ihre Wohnung, in der ich drei Tage verbracht hatte, als ich dreizehn war, und nach und nach verschwammen die Quadrate der Styroporplatten, ihre flockige, luftige Struktur über mir zu einem breiten Strom von Begegnungen und Trübungen, in dem die Erinnerungen Strudel bildeten wie eine Rippströmung an der Küste.

Ich nannte sie manchmal Tante Olive, das mochte sie nicht: Olive Formose war nicht meine Tante, sondern eine Freundin meiner Mutter, die in Paris lebte, seit ihr Verlobter bei einem Hubschrauberunfall in der Reede von Le Havre umgekommen war – ich muss drei oder vier gewesen sein. Von ihr wusste ich, dass sie allein wohnte, kein Kind hatte und fürs Fernsehen arbeitete, nicht viel im Grunde, aber entscheidende Daten – Tragödie und Showbusiness, Einsamkeit –, mit denen eine Frauengestalt umrissen war, die mich anzog und die mir nahestand, auch wenn sie mit der mir vertrauten Welt nicht das Geringste zu tun hatte. Olive besuchte uns nie, schrieb wenig, rief selten an, doch meine Mutter fuhr jedes Jahr nach Paris, um einige Tage mit ihr zu verbringen, und sie versäumte niemals dieses Treffen, das sicherlich, es wird mir jetzt bewusst, Verhandlungen mit meinem Vater über ihre Abwesenheit und nicht wenig Organisation erforderte, denn meine Brüder wurden am Tag vor ihrer Abreise unausstehlich und ich träge, abweisend, nicht unzufrieden, sie in Schwierigkeiten zu bringen – obwohl ich es genoss, die Tochter einer Frau zu sein, die nach Paris fuhr, um ihre Freundin zu besuchen, und hätte sie nicht fahren können, wäre es auch meine Niederlage gewesen, dennoch, ich konnte mir nicht helfen: Mit Olive, das sah ich auf den Fotos, die sie zusammen an unbekannten Orten zeigten, lachend und legendär, Kippe im Mund, mit zerzaustem Haar und gebräunten Beinen, wurde meine Mutter jemand anderes, eine besondere, geheimnisvolle Frau, und ich war eifersüchtig auf dieses Geheimnis.

An einem Novembertag, an Allerheiligen, bin ich es, die aufbricht. Wie eine Königin schreite ich durch den Bahnhof von Le Havre, in einem bordeauxroten Wollgabardinemantel mit Gürtel, Levi’s Jeans und neuen Turnschuhen, die Griffe einer lederbesetzten Reisetasche umklammernd, und ohne einen Blick für die Geschwister, die mich begleitet haben, neidisch, missgünstig, ihr Schicksal beklagend, während ich mich davonmache. Am Ende der Zugfahrt steht Olive da, kleiner und älter als in meiner Erinnerung, in Bundfaltenhose und Kimonojacke mit Glencheckmuster, eine schwarze Baskenmütze auf dem Kopf. Mit roten Lippen, den Kopf zur Seite geneigt, lächelt sie mir zu, ich spüre, dass sie mich mustert, du bist groß für dein Alter, es wird dunkel, wir nehmen die Metro, ich merke mir die Namen der Stationen, dann kommt die Endhaltestelle, eine Brasserie an der Place Balard, ich hoffe, du hast Hunger, die Lichter funkeln auf den goldenen Rohren, ich lasse sie nicht aus den Augen, der Kellner hat eine Hasenscharte und nennt sie Miss Olive, ich nehme ein Entrecote mit Pommes und eine Mousse au Chocolat, ihr Abendessen besteht aus einem pochierten Ei und einem Irish Coffee, danach drängen wir uns in den engen Aufzug, die Zweizimmerwohnung im letzten Stockwerk öffnet sich auf den nächtlichen Himmel, und in der Ferne glitzert die Seine. Olive schenkt sich einen Whisky ein und drückt lange ihre Stirn an das große Glasfenster. Ich freue mich, dich kennenzulernen. Auf der Couch im Wohnzimmer liegt ein Schlafsack, ich bette den Kopf auf ein Batikkissen, Lichtstrahlen bestreichen die Decke, bläuliche Aureolen wandern über die Wände: Ich schlafe unter freiem Himmel. Out into the Open. In der Nacht höre ich die Hubschrauber.

Die Maschine war explodiert, als eines der Rotorblätter die Wasseroberfläche berührte, und ihr Verlobter, der am Steuer saß, war mit ihr zerborsten. Die pulverisierte Materie seines Körpers auf der Meeresoberfläche verstreut, verschwunden im opaken Ärmelkanal. Hitze und Staub. Ich ertappte sie manchmal dabei, wie sie mit dem Blick den Flug der Zivilschutzhubschrauber über dem Périphérique verfolgte und dabei vor sich hin redete, wodurch die Fensterscheibe beschlug – ich fragte mich, ob sie eine Stimme hörte. Wir nahmen alle unsere Mahlzeiten im Café ein – sie kochte nicht –, gingen abends im Odéon-Viertel ins Kino, und eines Morgens begleitete ich sie zum Fernsehen. Das große Leben. Am letzten Tag kracht spätnachmittags der Donner, Blitze durchschneiden den Himmel, und die Scheiben klirren. Das ist dein letzter Abend. Wir trinken zusammen ein Glas Hochprozentigen. Ich bin gewachsen. Mein Schwerpunkt hat sich um ein paar Zentimeter verschoben.

He! Die drei Minuten sind vorbei, wir nehmen es raus. Ich öffne die Augen auf den Styroporhimmel, in dem die Hubschrauber tanzen. Die Zahnärztin ist über mich gebeugt, ganz nah, ihr Anhänger, ein kleines Kanu aus vergoldetem Metall, baumelt über meiner Nasenspitze. Wir sind bald fertig, ich werde Sie erlösen.

Später füllt sie verschiedene digitale Formulare aus – Kostenvoranschlag, Rechnungen, Kostenübernahme –, und ich lasse meinen Blick über ihren Schreibtisch schweifen, verweile bei ein paar Gebissmodellen, die sich zwischen Werbekugelschreibern und anderen Labor-Goodies in einer Ecke sammeln, irritiert von diesen seltsamen Repliken aus blauem, rosafarbenem oder grauem Gips, von diesen einsamen, stummen, wie aus ihrem Skelett herausgelösten menschlichen Kiefern, von denen manche, weit geöffnet, aus voller Kehle zu schreien scheinen, während andere, verkniffen, die Zähne zusammenbeißen. Unwillkürlich fange ich an, mir den Kiefer zu massieren: Die Finger an meinen Schläfen reiben das Gelenk, sie betasten die Kinnlade, wandern wieder hoch zum Ohr, kneten meine Wangen. Die Zahnärztin spricht von einem nächsten Termin und einer eventuell angeratenen Computertomografie des Temporomandibulargelenks, doch ihre Stimme klingt jetzt fern, und ich kann mich nicht sattsehen an diesen Gipsformen, die so exakt, so detailliert sind – ein winziger Spalt zwischen zwei Backenzähnen, die gezackte Kante eines Schneidezahns, eine Rille im Schmelz eines Eckzahns –, dass sie sich mit Gegenwart aufladen, jede in Korrelation zu einem bestimmten Wesen, einem Individuum, das sich, vielleicht angstvoll, mit seinem Zahnproblem hier auf diesem Behandlungsstuhl ausgestreckt hatte. Ich entziffere jetzt die mit Bleistift auf die Sockel der Gipsgebisse geschriebenen Vor- und Nachnamen und erinnere mich, dass die Untersuchung der Zähne, ob in Einzelfällen oder bei Massenkatastrophen, manchmal die alleinige Möglichkeit formeller Identifizierung ist, genauso zuverlässig wie genetische oder klassische Fingerabdrücke – Olive, in einer dünnen flaschengrünen Strickjacke, die das Schlüsselbein und den pulsierenden zarten Hals freilässt: Er hat kein Grab, man hat nichts gefunden, womit man ihn hätte identifizieren können, keinen Überrest, nicht einmal eine Medaille, nicht einmal einen Zahn.

Die Sitzung ist zu Ende. Die Zahnärztin hat mir, professionell, eins nach dem andern, alles kurz wiederholend, die Papiere ausgehändigt, ich habe ihr meine Krankenversicherungs- und meine Kreditkarte gereicht, und jetzt packe ich meine Sachen in den Rucksack, mache mich bereit, das Feld zu räumen, doch sie rührt sich nicht: Ich kann nicht sehen, was sie auf dem Computer anschaut, aber ihr Ausdruck verändert sich. Sie runzelt die Stirn, ihre Finger klicken mit der Maus, und ihr Gesicht erhellt sich, als sie den Bildschirm zu mir dreht, auf dem wieder das Foto des Unterkiefers erscheint, die große Reliquie, und wir, auf einmal zusammengerückt, Schulter an Schulter, lesen laut über ihren Schreibtisch hinweg: Am Ufer eines ehemaligen Seinearms schlagen Nomaden, die letzten vorgeschichtlichen Jäger und Sammler, ihr Lager auf; Rastplätze, Biwaks; sie machen dort wiederholt Halt, verarbeiten das Wild, zerlegen das Fleisch, schaben die Häute ab, behauen die Pfeilspitzen und hinterlassen Spuren, die zehntausend Jahre später Archäologen auf Knien monatelang zu Tage fördern, Scherben aus Silex und Sandstein, tierische Überreste, Anzeichen für eine Feuerstelle und, etwas abseits davon, nahe bei einem Femurfragment, dieser alte Mund mit seinen vier Zähnen, dieser hartnäckige menschliche Knochen, dieses Überbleibsel, das nichts kleingekriegt hat, weder die Erde noch der Fluss, nicht einmal zehntausend Jahre Aneignung des Bodens und Eroberung des Himmels. Man weiß nicht, ob er aus einem Grab stammt. Angesichts des Kiefers ohne Stimme habe ich mich gefragt, wie diese Männer und Frauen wohl gesprochen haben, ich hätte sie gern gehört. Heute befindet sich an der Grabungsstelle von 2008 eine Müllsortieranlage.

Die Zahnärztin erhob sich, kam hinter ihrem Schreibtisch hervor, und ich begleitete synchron und wieder sicher auf den Beinen ihre Bewegung. An der Tür sagte sie noch einmal, eine gestörte Okklusion des Kiefers könne durchaus die Ursache meiner Migräne und Schwindelanfälle sein, und gab mir die Hand, die ich achtlos ergriff, in Bann gezogen von den in die Ecke geräumten Gipsmäulern, diesen lautlosen und zerbrechlichen Mündern, die schlecht sitzenden Membranblöcken glichen, und an meinen eigenen Mund denkend, der nicht richtig schloss und sich bald zu ihnen gesellen würde.

Gebirgsbach und Ätherrauschen

Ich habe heute Abend mein neues Radio bekommen, ein Optalix Vintage in einem schönen Orange, ich habe es von allen Seiten bewundert, und kaum hatte ich die Batterien eingelegt, spuckte es sein Geknister aus – spitze Töne wie Pfeile, die irgendein im Gehäuse versteckter sadistischer Miniaturbogenschütze abschießt. Ich entdeckte das gezahnte Rädchen an der Seite des Apparats und drehte fieberhaft, um eine hörbare Frequenz auf UKW zu finden. Ich hatte das Gefühl, schwimmend eine andere Dimension der Realität zu durchqueren, eingetaucht in ein Rauschen elektromagnetischer Wellen, als eine menschliche Stimme vor Tropenwald-Atmo aus den Tiefen aufstieg: … wissenschaftliche Beobachtungen haben ergeben, dass Schimpansen und Rhesusaffen bei Auseinandersetzungen die Stimme senken, um den anderen Mitgliedern der Gruppe zu zeigen, dass sie bereit sind zu kämpfen, ihre Ressourcen zu schützen und ihren Status zu behaupten. Ich hielt den roten Skalenzeiger an, lauschte den aufgezeichneten Schreien der Primaten und dem Rascheln des Blätterdachs, dann war die Sendung zu Ende, eine Frauenstimme mit rauem, männlichem Timbre verabschiedete sich von den Zuhörern und wies noch darauf hin, dass die kommende Nacht die längste des Jahres sein würde.

Anstatt einzuschlafen, lasse ich jetzt meine Gedanken schweifen: Die Laute der Schimpansen und Rhesusaffen, die Radiostimmen, deren Geschlecht verfließt, die Nacht als Klangreflektor, all das beschwört jenen eisigen Freitag im Dezember herauf, an dem ich Zoé wiedergesehen habe, nach einer erheblichen Zeitspanne, die nichts anderem geschuldet war als beiderseitiger Nachlässigkeit, worauf wir uns per SMS einigten und uns damit ersparten, banal das hektische Leben in den westlichen Millionenstädten, den mangelnden Platz und die verrinnende Zeit zu beschuldigen.

Die Legende will, dass wahre Freunde diejenigen sind, die, wenn sie sich treffen, sofort wieder anknüpfen können, »als hätten sie sich erst gestern getrennt«, und an jenem Abend, als Zoé auf der Terrasse des Babylonian Café erschien, strahlend, schwarze Cabanjacke, türkischroter Lippenstift und passende Boots, hatte ich zunächst genau dieses Gefühl: Sie war da. Ich sah, wie sie sich, erfasst vom rötlichen Schein der Heizstrahler, zwischen den Tischen hindurchschlängelte, sie setzte sich ohne Umschweife, wir bestellten fürs Erste zwei White Russian und blickten uns beim Anstoßen in die Augen, Wiedersehen verpflichtet. Doch vor unseren Cocktails aus Milch und Wodka und obwohl wir uns gewiss als feste Freundinnen betrachteten – wir hatten immerhin Hand in Hand Gymnasium, Universität und die üblichen »ersten Male«, die diese Jahre mit sich bringen, absolviert –, fing die Szene an, sich in die Länge zu ziehen: Anstatt direkt auszupacken, flüchteten wir uns in Banalitäten, in zwanglosen Smalltalk, der allein die Funktion hatte, wir wussten es beide, die Situation in der Schwebe zu halten, den Moment hinauszuzögern, da wir endlich reden würden.

Na, hab ich mich verändert? Ihre Augen blinkten mich an wie Silberfischchen. Vorspiel terminado, dachte ich. Ich hätte ihr gern eine triviale, leichte Antwort gegeben, mir mit einem dahingesagten »jeder ändert sich« eine Olive aus dem marokkanischen Schälchen geangelt, aber tatsächlich saß Zoé mir gegenüber wie eine Doppelgängerin ihrer selbst, ohne dass ich erkennen konnte, woher diese Dissonanz kam – ich hatte bloß das Gefühl, fieberhaft an dem gezackten Rädchen eines Transistorradios zu drehen, um das Rauschen nicht mehr zu hören und die richtige Frequenz meiner Freundin wiederzufinden.

Verunsichert klammerte ich mich an ihre Art zu rauchen – mit abgeknicktem Handgelenk und der Kippe, die zwischen Mittel- und Zeigefinger hängt –, sich vor Verlegenheit in die Innenseiten der Wangen zu beißen oder ihr Haar zurückzuwerfen, und erleichtert erkannte ich sie in ihrer Sonnigkeit, ihrer Begeisterung, ihrem Ehrgeiz wieder, als sie ihre neue Stelle beim Rundfunk erwähnte, wo sie hoffte, auf Sendung zu gehen. Doch ein unsichtbarer Missklang genügte, etwas an ihr unstimmig wirken zu lassen, das Bild von ihr zu stören, das in all diesen Jahren in mir entstanden war. Erst als sie einen Anruf auf ihrem Handy annahm und sich entfernte, mir den Rücken zukehrte, wurde mir bewusst, dass Zoé nicht mehr so sprach wie zuvor. Ihre Stimme beziehungsweise die einzigartige Schwingung, die sie in die Luft sandte und die ich unter Tausenden als ihre erkannt hätte, diese Stimme war nicht mehr in ihrem Körper, sondern wie synchronisiert von einer kaum unterschiedlichen, aber modifizierten anderen. Deine Stimme, sagte ich und strich mir automatisch über die Kehle, deine Stimme hat sich verändert. Zoé richtete sich auf: Findest du? Ich nickte, und sogleich verzog sich ihr Mund zu einem Siegesgrinsen wie bei einem Tennisspieler, der einen entscheidenden Punkt gemacht hat: cool! Da ich meine Verwunderung zu erkennen gab, erklärte sie: Ich will meine beschissene Stimme nicht mehr.