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Eine transsibirische Fahrt ins Ungewisse und die Geschichte einer außergewöhnlichen Anziehung – zupackend und zart erzählt Maylis de Kerangal von zwei Menschen, die nicht wissen, wohin; von der Weite der russischen Landschaft und einem Fluchtplan, der so undurchführbar wie verführerisch scheint.
Aljoscha ist Zwangsrekrut. Zusammen mit zahlreichen anderen russischen jungen Männern befindet er sich in der transsibirischen Eisenbahn. Was ihn von den anderen unterscheidet: Seit er den Zug bestiegen hat, ist er entschlossen zu desertieren. Jede Haltestelle birgt die Versuchung der Flucht, doch wird er es allein nicht schaffen. Während er mitternachts auf den schmalen Gängen eine Zigarette raucht, trifft er auf Hélène, eine Französin, die älter ist als er. Sie sprechen keine gemeinsame Sprache, und doch scheint es eine geheimnisvolle Verbindung zwischen den beiden zu geben. Als Hélène ihn mit in ihren Wagen der ersten Klasse nimmt, wird sie unausgesprochen zu seiner Komplizin. Doch wie soll sie, die selber auf der Flucht ist, dem Jungen helfen?
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Seitenzahl: 101
Maylis de Kerangal
Weiter nach Osten
Roman
Aus dem Französischen von Andrea Spingler
Suhrkamp Verlag
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Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel Tangente vers l’est bei Éditions Gallimard, Paris.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.
© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024© Éditions Gallimard, Paris, 2012
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Umschlaggestaltung: Kosmos Design, Münster
Umschlagfoto: Robert de Boer
eISBN 978-3-518-78034-3
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Die da kommen aus Moskau
Hinter ihm gehen die Türen auf
Der erste Gang ist leer
Es klopft an der Tür
Hélène hat ihre Decke zurückgeschoben
Im Morgengrauen des letzten Tags
Informationen zum Buch
Weiter nach Osten
Die da kommen aus Moskau und wissen nicht, wohin sie fahren. Es sind viele, über hundert, junge Kerle, blass, geradezu bleich, abgezehrt und kahlgeschoren, die Arme sehnig, der Blick starr, der Oberkörper in ein khakifarbenes Unterhemd gezwängt, Tarnhosen und Slips mit Eingriff, das fromme Kettchen baumelt auf der Brust, Wände aus Kerlen in den Gängen, sitzende, stehende, auf den Pritschen liegende Kerle, die ihren Arm, ihre Füße, ihre resignierte Langeweile ins Leere hängen lassen, über vierzig Stunden sind sie schon hier, dicht an dicht, eingekeilt in der Latenzzeit des Zugs, Rekruten.
Bei der Einfahrt in den Bahnhof stehen sie auf, drücken sich an die Fenster, pressen das Gesicht an die Scheibe oder drängeln sich an den Türen, schubsen, beugen sich hinaus, versuchen etwas zu sehen, Glieder verknäuelt und Hälse gereckt, als bekämen sie nicht genug Luft, Kraken, doch es ist seltsam, sie steigen zwar aus, um auf dem Bahnsteig zu rauchen oder sich die Beine zu vertreten, aber sie entfernen sich nie sehr weit, sammeln sich vor den Trittbrettern, Herdentrieb, und zucken mit den Schultern, wenn man sie fragt, wohin sie fahren: Man hat ihnen Krasnojarsk und Barnaul gesagt, man hat ihnen Tschita gesagt, aber es ist immer dasselbe, man sagt ihnen nichts, General Smirnow mag auf Pressekonferenzen noch so sehr versichern, die Dinge veränderten sich, die Rekruten würden mit Rücksicht auf die Familien von nun an ihren Einsatzort erfahren; jenseits von Nowosibirsk, so scheint es, bleibt Sibirien, was es immer war: eine Grenzerfahrung. Eine Grauzone. Hier oder dort, das wäre also egal; hier oder dort, was ändert das schon? Nach der Übergabe des Gepäcks verfrachtet man alle in die Transsibirische und los.
Dann die unumkehrbaren Schienen, die das Land auffalten, Russland ausbreiten, ausbreiten, ausbreiten in ihrem Verlauf zwischen dem 50. und dem 60. nördlichen Breitengrad, und die Jungs, die in den Waggons kleben, die geschorenen Schädel bleich, die Schläfen schweißnass, unter ihnen Aljoscha, zwanzig Jahre alt, kräftig gebaut, doch der Körper von gegensätzlichen Impulsen gesteuert, der Rumpf vorgebeugt, während die Schultern, cholerisch, nach hinten gezogen sind, ein Teint wie Zement, die Augen schwarz, postiert ganz hinten im Zug, am Ende des letzten Wagens, in einem mit Ölfarbe angestrichenen Abteil, einer mit drei Öffnungen versehenen Zelle, die sich die Raucher angeeignet haben. Dort hat er einen Platz gefunden, eine noch freie Lücke zwischen zwei anderen Körpern. Seine Stirn ist an die Heckscheibe des Zugs gedrückt, die auf die Gleise hinausgeht, er lehnt sich dagegen, um mit sechzig Stundenkilometern die Erde vorbeiziehen zu sehen, in diesem Moment eine wollige graulila Steppe – sein Scheißland.
Bis zuletzt hat Aljoscha geglaubt, er werde nicht fahren. Bis zum 1. April, dem Tag der traditionellen Frühjahrseinberufung, hat er gedacht, er könne dem Militärdienst entgehen, das System austricksen und sich freistellen lassen, und übrigens gibt es in Moskau keinen Einzigen zwischen achtzehn und siebenundzwanzig, der nicht dasselbe versucht. Bei diesem Spiel sind die Söhne aus guter Familie im Vorteil, die anderen lavieren sich durch, während ihre Mütter sich auf dem Puschkin-Platz die Kehle aus dem Leib schreien, in noch größerer Zahl seit dem Martyrium des Soldaten Sytschow und versammelt um Valentina Melnikowa, die Vorsitzende des Komitees der Soldatenmütter – beeindruckend, wütend, resolut, und wenn die Kameras auftauchen, strecken sie ihnen die entschlossenen Gesichter entgegen: Ich will nicht, dass meiner da hingeht, außerdem trinkt er nicht! Ist keine Zurückstellung mehr möglich, gibt es zunächst die Lösung des falschen Attests, zum Wucherpreis bei Ärzten gekauft, die sich die Scheine direkt in die Brusttasche stecken, und die Familien, die es sich vom Mund abgespart haben, betrinken sich erleichtert. Die frontalen Bestechungsversuche, die kommen danach, wenn die Angst allmählich die Nächte auffrisst, sie sind wirkungsvoll, aber langsam zu bewerkstelligen, und gleichzeitig rast die Zeit – Erkundigungen einholen über die Einflusskanäle in den Behörden, die richtige Person ausmachen, die intervenieren kann, all das dauert ewig. Und schließlich, wenn man nichts mehr tun kann, wenn alles zu spät ist, gibt es noch die Mädchen. Eine finden noch vor dem Winter und ihr ein Kind machen, das ist, was einem bleibt, denn ab dem 6. Monat gilt eine Schwangerschaft als Befreiungsgrund. Man darf also nicht trödeln, die Jungs werden nervös, die Mädchen auch, denn sie wollen ihren Liebsten nicht zum Wehrdienst aufbrechen sehen, das heißt in den Krieg, oder sie liebäugeln mit dem Eheglück, doch die meisten sind allein und schämen sich dafür. Es wird hitzig, bald schmeißt man die Gummis weg, schafft auf knarzenden Matratzen Tatsachen und zeigt der Armee den Stinkefinger.
Ein Mädchen als Rettung, an diesem Punkt war Aljoscha noch vor sechs Monaten – Aljoscha, der keine Mutter mehr hat und kein Geld. Abend für Abend hatte er sich rasiert, sich gewöhnliche Brillantine in die Haare geschmiert und seine besten Klamotten angezogen – langsame Verrichtungen, zögerliche Gesten, wenig Überzeugung –, dann war er hinausgegangen in die harte Nacht, hatte vor den Bars den Schritt verlangsamt und ins Innere gespäht, in ihre schwarzrote Tiefe, war in Fast Foods rumgehangen und schließlich in der Disko gelandet zusammen mit einem jüngeren Nachbarn, einem kleinen verkrüppelten Gauner, der überall freien Zutritt hatte und ihn mit schnarrender Stimme zum Handeln aufforderte, na los, man muss sich ein bisschen einsetzen, es wird dir nicht einfach in den Schoß fallen, prophezeite er erfahren, während er den in Technospasmen vereinten Körpern zuschaute, denen Aljoscha den Rücken zuwandte, da er in sich gekehrt am Tresen stand, die Schultern hochgezogen, der Rücken rund, die Nase in einem Glas Whisky, das er nicht bezahlen konnte. Bald war er nur noch in der gigantischen Siedlung herumgeirrt, in der er mit seiner Großmutter lebte, hatte sich in die Treppenhäuser gesetzt, in den Innenhöfen gewartet: er hatte aufgegeben, beendet, was nie begonnen hatte, diese Demütigung, diesen Schwindel. Kein Mädchen war je gekommen, um ihn zu retten, auch nicht die, die in seinen Träumen über den Schulhof ging, fatal und ruhigen Schritts, langer roter Wollmantel, schwarze Lederhandschuhe, graue Fellmütze, darunter blond: ein eigener Planet – sie schon gar nicht.
Sie haben Nowosibirsk verlassen und den riesigen Hauptbahnhof, die hohen Wände von milchigem Grün, die gekachelte Halle mit der Akustik eines Stadtbads – ein Eistempel. Aljoscha hat Angst. Sibirien, verflucht! Das denkt er, einen Stein im Magen und geradezu in Panik bei der Vorstellung, immer noch weiter vorzudringen in dieses Land, von dem er weiß, dass es eines der Verbannung ist, das riesige Verlies des Zarenreichs, bevor es zum Land des Gulags wird. Ein Sperrgebiet, eine stumme, gesichtslose Zone. Ein schwarzes Loch. Der monotone Rhythmus des Zugs dämpft nicht etwa seine Angst, sondern facht sie an und belebt sie, spult die Kolonnen von Deportierten ab, Spitzhacke in der Hand, im Schneesturm, die Reihen windiger Baracken im Nirgendwo, die Haare, die der Frost in der Nacht auf die Bretterböden geklebt hat, die steifgewordenen Leichen unter dem Permafrost, verwackelte Bilder eines Gebiets, aus dem man nicht zurückkommt. Draußen geht der Nachmittag zu Ende, in ein paar Stunden ist es Nacht, doch diese Nacht wird sich nicht mit menschlichen Träumen bevölkern, das weiß Aljoscha auch, nichts hier ist dem Menschen gemäß, nichts Vertrautes wird ihn hier empfangen, gerade das erschreckt ihn, diese Kontinentaltasche im Innern des Kontinents, diese Enklave, die die Unermesslichkeit als Grenze hat, dieser endliche Raum, der aber grenzenlos ist – und, das ist seltsam, dem Bild entspricht, das die Astrophysiker vom Universum selbst zeichnen –, all das macht Angst, das versteht man sofort, Aljoscha hat Schiss, sein Herz hämmert in der Brust, und so wie der Zug mit konstanter Geschwindigkeit vorwärtsrollt, nimmt das Entsetzen des Jungen zu: am Ende der Schienen wird die Kaserne stehen und die dedowschtschina, das Schikanieren der Wehrpflichtigen, und wenn er dort ist, wenn die Rekruten im zweiten Jahr ihm mit der Zigarette den Schwanz verbrennen, ihn die Latrinen auslecken lassen, ihn am Schlafen hindern oder in den Arsch ficken, wird er allein sein, niemand wird ihm helfen können.
Ein paar Jungs sind eingetreten, bilden gleich einen Kreis, schwafeln von Weibern und Saufereien, sie haben rote Gesichter, glasige Augen, und wenn der Zug schaukelt, lachen sie, verlieren das Gleichgewicht, halten sich irgendwo fest, meistens aneinander, umklammern sich, rempeln sich an. Aljoscha raucht wie ein Bekloppter – Papirossi, rustikale Zigaretten mit einem Pappzylinder als Mundstück – und wirft verstohlene Blicke auf sie, denkt, es ist Zeit, dass er zwischen ihnen Platz nimmt, breitbeinig, Bier in der Hand, um auch seine kleine Geschichte zu erzählen. Aber er kann es nicht, er weiß nicht, was er sagen soll, denn er ist zwanzig, noch jungfräulich – obwohl er schon mit dem Planet-Mädchen geschlafen hat, das er in seinen Armen hielt, er auf dem Rücken, sie auf der Seite, den Kopf in seine Schulterhöhle gebettet, die halb geöffneten Lippen genau auf Höhe seiner Achsel und ihr Atem wie ein Wärmestrom, der seinen ganzen Körper einhüllt, ihr offenes Haar –, also jungfräulich und eher enthaltsam. Abwarten, nicht auffallen, chamäleonhaft mit denen, die da sind, verschmelzen, durchsichtig werden, und schließlich hockt Aljoscha sich hin, zieht die Schultern hoch, senkt den Kopf, drückt die Augen an die Knie, ich bin nicht da, es gibt mich nicht – so wie die kleinen Kinder, die sich beim Versteckspiel die Augen zuhalten, anstatt sich zu verstecken, weil sie glauben, unsichtbar zu sein, wenn sie selbst nichts sehen.
Als er endlich den Kopf wieder hebt, muss er blinzeln. Im Licht der Glühbirne glänzen die militärgrau gestrichenen Abteilwände, auf denen sich die Schatten abzeichnen, der Raum ist so abgeschlossen wie ein Kerker und umso enger, umso überfüllter, als alles rundherum sich ausdehnt, sich leert, je weiter der Zug vorankommt, je weiter er in die Ebene vorstößt. Fliehen. Der Gedanke durchzuckt den Jungen plötzlich, eine blitzartige Gewissheit, so greifbar wie ein Stein, und genau in diesem Augenblick taucht die Transsibirische in einen Tunnel ein, fliehen, so schnell wie möglich abhauen, verschwinden, unterwegs abspringen.