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Zwei vollkommen unterschiedliche Frauen wagen eine Flucht aus den Zwängen einer post-apokalyptischen Gesellschaft und entdecken nicht nur die erschreckende Wahrheit über den Hintergrund dieser Gesellschaft, sondern enthüllen auch ein über viele Jahrhunderte gehütetes Geheimnis. Gemeinsam mit neu gewonnenen Freunden suchen sie einen Weg in die Freiheit.
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Seitenzahl: 463
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Rainer Gellrich, Jahrgang 1964
Begeisterter Science-Fiction-Leser, geprägt durch Werke von Christopher Samuel Youd, Stanislaw Lem, Robert A. Heinlein, Isaac Asimov und Frank Herbert.
Unter dem Titel „Syberian Cluster“ begann er ab 2018 damit, seine Gedanken in einer Reihe von Erzählungen niederzulegen.
Bisher erschienen:
KAOTATU – Die Verlorenen (2020)
No Gara – Die verbotene Zone (2021)
Schwestern der Ewigkeit – Eine geheimnisvolle Hinterlassenschaft
Sie kamen aus der Tiefe des Raums.
Aus den Wirren der Frühzeit erhoben sie sich,ihren Horizont zu erweitern.
Sie lernten, die Große Leere zu durchquerenund suchten nach neuem Lebensraum.
Mit der Vielzahl neu entdeckter Sternensystemevergrößerte sich die Varianz und bald überließen dieEltern ihre Kinder sich selbst.
Die Kinder blickten zu den Sternen hinauf.Sie spürten die Verbindung und verarbeiteten siein Mythen und Monumenten.
Doch die Eltern erinnerten sich ihrer Kinderund schickten Botschaften aus.
Von einem dieser Sternensysteme aus würde manden Ursprung dieser Botschaften im Sternbild„Perseus“ vermuten.
Rainer Gellrich
KAOTATU
Die Verlorenen
Syberian Cluster I
© 2020 Rainer Gellrich
(2) 2023
Umschlag: Rainer Gellrich
Lektorat: Jutta Haarth
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
ISBN
Paperback:
978-3-347-13735-6
Hardcover:
978-3-347-13736-3
e-Book:
978-3-347-13737-0
Großschrift:
978-3-347-58942-1
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
DANKSAGUNG
Schwer zu sagen, wem ich alles danken sollte: Denjenigen, die mir die Ideen und Vorlagen für die Handlungen und Personen gegeben haben oder denjenigen, die mir die Zeit und den Raum gegeben haben, dieses Werk über die Jahre entstehen zu lassen?
Der größte Teil meines Dankes sollte meiner Frau gelten, die mich während der Zeit des Entstehens ertragen hat.
Trotz ihres grundsätzlichen Desinteresses am Science-Fiction Genre hat sie sich durch alle Kapitel gearbeitet und mich dabei unterstützt, aus verwirrenden Gedanken nachvollziehbare Inhalte zu formen und mir die Zeit und Motivation gegeben, dieses Werk zu vollenden.
Gleiches gilt für meine Schwiegermutter, die sich mit steigender Begeisterung als Lektorin zur Verfügung gestellt hat und mit mir nicht nur um die Grammatik im Skript, sondern auch um so manche Eigenschaft der Figuren gerungen hat.
Inhaltsverzeichnis
1 – Erwachen
2 – Veränderung
3 – Alarm
4 – Entwicklung
5 – Ablösung
6 – Wissen
7 – Bestätigung
8 – Wege
9 – Auftrag
10 – Orientierung
11 – Gelegenheit
12 – Aufbruch
13 – Flucht
14 – Tiefe
15 – Patrouille
16 – Trennung
17 – Dunkelheit
18 – Erkundung
19 – Perspektive
20 – Malin
21 – Vana
22 – Hinweise
1 – Erwachen
Es mag Zeiten geben, an die sich zurück zu erinnern, jeden mit Schrecken erfüllt. Dennoch können wir nur aus der Erinnerung lernen, wie es zu verhindern gewesen wäre, dass es überhaupt dazu gekommen ist.
Wäre es zu verhindern gewesen? War es wirklich unvermeidbar?
So etwas wie eine unbedingte Vermeidbarkeit gibt es nicht. Selbst das Universum dreht sich unaufhaltsam. Und wenn es sich auch nur um sich selbst dreht. Es aufzuhalten, steht nicht in unserer Macht.
Es sind die Menschen, die mit ihren Handlungen für das verantwortlich sind, was wir nun als unsere Vergangenheit betrachten müssen.
Aus den Chroniken
Was?
SCHMERZ.
… Schmerz …
…
Was ist …?
SCHMERZ.
… Schmerz.
…
Dunkelheit.
Nur Dunkelheit?
SCHMERZ.
…
Nichts.
Nur Dunkelheit.
Wer bin ich?
… wo bin ich?
Ein schwebender Verstand in der Dunkelheit?
…
So viele Fragen.
Diese Dunkelheit, …
Sie ist undurchdringlich.
Was ist undurchdringlich? Die Dunkelheit?
Was?
Wer?
…
Dunkelheit.
…
Fragen. Nur Fragen.
…
Bedrückende Dunkelheit.
Ich denke, also bin ich. Eine uralte Wahrheit, aber dennoch ein Fakt. Logik? Ja, Logik, aber …
Woher weiß ich … Wahrheit?
Wer?
…
SCHMERZ.
… Schmerz.
Immerhin. Sammeln wir mal die Fakten: Es gibt Schmerz und Dunkelheit. Wieso sammle ich Fakten? … Ich bin …?
Nur noch mehr Fragen. Fragen und weitere Fragen in Fragen.
Bewegung?
Funktioniert Bewegung?
Was ist Bewegung? Wieso denke ich an Bewegung?
…
Wie kann ich mich bewegen?
Was bin ich?
Wo? … und warum?
…
Nur keine Panik.
…
Hören.
Eine Sinneserfahrung.
Man müsste etwas hören.
Es ist nichts zu hören.
…
Sprechen? …
…
Nein. Sprechen geht nicht.
…
Bewegen?
Atmen. Ja, ich atme.
…
Ein … aus. Das gilt als Bewegung. Bewegung ist möglich. Check.
…
Augen öffnen?
Nein, da passiert nichts.
Dunkelheit und Stille bleiben. Habe ich die Augen geöffnet? Kann sein.
…
SCHMERZ.
Was war das?
Ich bin da. In völliger Dunkelheit und Stille.
…
Körpererfahrung.
Atmung geschieht durch Muskelbewegung. Also müssten auch andere Muskeln reagieren.
Herzschlag? Vermutlich, ist aber nicht spürbar.
Denken und Bewusstsein. Check.
…
Zeit. Vergeht die Zeit?
Vermutlich.
Wir haben Vermutungen und Fakten.
Wie viel Zeit mag vergehen … vergangen sein, seit …?
Seit wann?
Wie lange besteht dieser Zustand bereits?
Wo bin ich?
Neue Fragen, aber keine Antworten.
… Schmerz.
Ich muss mich bewegen. Ich muss meine Umgebung wahrnehmen können, aber wie?
Wo bin ich?
SCHMERZ.
※
Dor‘El war in völliger Hochstimmung.
Noch vor einigen Zyklen, nachdem sie ihre Erste Bildung erhalten hatte, war sie sich unsicher gewesen, ob es richtig war, den Job als Medi-Technikerin anzunehmen. Naja, „anzunehmen“ war der falsche Begriff. Es war eher ein „nicht zurückweisen” als eine Annahme.
Genau genommen war es eine verbindliche Zuweisung. Sie wurde zwar gefragt, ob sie die Zuweisung annehmen würde, aber es war einfach undenkbar, eine Entscheidung der Älteren in Frage zu stellen.
Sie war eine Aspirantin gewesen und durch die Bildung hatte man in ihr die Anlagen für eine MTech gefunden und verstärkt. Danach wurde ihr eine Tätigkeit als MTech in der Klinik zugewiesen.
Die MTech waren wichtig für die Gemeinschaft.
Man hatte natürlich immer das Recht, eine Zuweisung abzuweisen, aber Dor’El war nicht bekannt, dass dies jemals geschehen war. Außerdem war es eine schöne Zeremonie. Man trat in den Saal der Älteren und alle anderen Aspiranten waren anwesend. Dann wurde die Große Auswahl verkündet.
Man unterzog sich der Prozedur der finalen Bildung und wenn man daraus erwachte, erhielt man eine Schärpe mit dem Muster der zugewiesenen Tätigkeit.
Diese Schärpe hing jetzt bei Dor’El über dem Bett in der Unterkunft. Sie war blau mit einem silbrigen Rand und sie hatte sie seit diesem Tag nie wieder getragen.
Das war weder notwendig noch möglich, denn die Vorschriften besagten, dass Dor’El ihren Dienst in einem weißen Kittel mit blauen Rändern auszuüben hatte, wie ihn jede der MTech trug.
Weiß war die vorherrschende Farbe. Alle Wände waren weiß, die Decken und Böden grau und mit den Leitstreifen zur Orientierung bemalt. Alles in allem wirkte die Klinik sehr steril, aber das sollte sie ja auch sein. „Sauber und ordentlich, wie es sich gehört” - pflegte man den neuen MTech in der Phase der Eingewöhnung nach der Zuweisung einzuprägen. Das Betrachten der Schärpe bewirkte in ihr immer eine gewisse Hochstimmung und gab ihr die notwendige Sicherheit zurück, wenn sie einmal wieder das Gefühl hatte, die tägliche Routine würde sie überfordern. Sie erinnerte sich dann daran, mit welcher wichtigen Tätigkeit die Älteren sie betraut hatten. Dann ging es ihr wieder besser.
„Die Kaste der MTech garantiert das Überleben der Menschheit” - so stand es in großen Buchstaben über der Eingangstür zur Klinik, aber im Gegensatz zu den anderen MTech dachte sie immer noch viel an die anderen Aspirantinnen, die mit ihr im gleichen Durchgang gewesen waren. Sie würde selbst die ATech oder die KTech ihres Durchganges nie verachten, denn ohne Nahrungsanbau oder Techniker … nein, schnell schüttelte Dor’El den Kopf. Solche Gedanken gehörten weder ausgesprochen noch in die Zeit ihrer Tätigkeit, die sie in der Klinik verbrachte.
Einmal hatte sie versucht, ihre Gedanken mit einer anderen MTech zu teilen, aber nur Unverständnis zurückerhalten. Danach hatte sie ihre Ansichten und Fragen stets für sich behalten.
Viel gab es nicht zu tun und Dor’El dachte oft an die ersten Schichten ihrer Eingewöhnung zurück, als sie noch jung und unerfahren war, aber voller Stolz, zu einer Elite zu gehören, von der man in den Unterkünften immer mit einer gewissen Ehrfurcht sprach. Sie hatte sich vorgenommen, dies niemals anderen gegenüber zu zeigen.
Nach nur wenigen Zyklen kam dann ihre große Chance. Sie erhielt eine besondere Zuweisung: Einen eigenen Patienten.
Das brachte ihr bei den anderen MTech bewundernde oder vielleicht auch abschätzende Blicke ein. Dor’El konnte das manchmal nicht genau unterscheiden. Sie konnte ihr Glück jedenfalls kaum fassen und freute sich von da an jeden Tag auf den Schichtbeginn, sodass die anderen MTech sie schon damit aufzogen.
Eine MTech, die nach so kurzer Zeit schon eine Sonderaufgabe erhielt und es kaum erwarten konnte, sie anzutreten, das war außergewöhnlich und brachte ihr einen gewissen Abstand ein.
Ein eigener Patient.
Das war ab jetzt der einzige Zweck ihrer Tätigkeit und Dor’El konnte an nichts anderes denken, als an ihre Schicht und die darauffolgende Ruhezeit. Dieser Ablauf würde sich von jetzt an nicht mehr ändern.
Dor’El machte das nichts aus. Sie ging völlig auf in der neuen Rolle, in der sie sich immer sicherer fühlte. Ja, sie war eine MTech und trug nichts anderes mehr als ihren Kittel mit allen ID Clips daran, die sie für diese Tätigkeit benötigte. Sie hatte sogar einen Clip mehr, als die anderen, denn sie hatte ja eine besondere Zuweisung erhalten.
Zunächst hatte sie sich gewundert: ein „eigener” Patient. Was mochte das bedeuten?
Das kannte sie aus der Bildung so noch nicht: Nur CMTech kümmerten sich um besondere Patienten. Die MTech waren ihnen dabei behilflich. Die Sorge der MTech galt den allgemeinen Aufgaben in der Klinik. Besondere Aufgaben wurden von den CMTech erledigt. Jetzt hatte man allerdings sie – kurz nach Abschluss ihrer Bildung - mit der Aufsicht über einen einzelnen Patienten beauftragt.
Immer noch wurde Dor’El heiß in ihrem Kittel, wenn sie darüber nachdachte, und sie musste sich am Rücken kratzen, als ihr dort der Schweiß herunterlief. Ein eigener Patient. Was für eine anspruchsvolle Aufgabe für eine junge MTech wie sie.
Sie teilte sich den Patienten zwar mit einer Kollegin, aber Bor’sha war das offenbar nicht so wichtig wie ihr.
Bor’sha war ganz ihr Gegenteil: gedrungen, dunkle Haare, immer schlecht gelaunt und niemand mit dem man sich gern lange allein in einem Raum aufhielt. Aber vermutlich beruhte das ja auf Gegenseitigkeit. Dor’El verbrachte gern den Großteil ihrer Schicht allein. Es machte ihr nichts aus, allein zu sein. Warum auch?
Die Tätigkeit, die man ihr mit dem Patienten zugeteilt hatte, war nur grob umrissen worden: beobachten und Veränderungen melden. Mehr nicht. Vermutlich war das der Grund, warum man sie einer noch unerfahrenen MTech zuweisen konnte. Dor’El war gut darin, Anweisungen auszuführen, also tat sie genau das: beobachten und Meldungen machen. Und es machte ihr Freude, so eine Tätigkeit auszuführen.
Ein eigener Patient.
Immer wieder ging ihr Blick durch das Beobachtungsfenster in den Behandlungsraum. Dort lag „Sie” - oder doch „Es”?
Nein, Dor’El war sich sicher: das Objekt war weiblich. „Objekt” Dor’El schüttelte den Kopf. Niemals würde sie in den Berichten ein „Objekt” erwähnen. Nicht in den Berichten, die sie anfertigen durfte. Warum auch? Immerhin gehört es zur Ausbildung einer MTech, den menschlichen Körper in allen seinen Teilen zu kennen und seine Teile …
Dor’El brach den Gedanken ab und lachte leise.
Ein eigener Patient. Das war die richtige Ausdrucksweise, auch wenn es im Log so nicht stand. „Objekt“. Das klang irgendwie falsch, fand Dor’El.
Sie hatte die Eintragungen ihrer Vorgängerinnen gelesen und sich nicht viel dabei gedacht. Erst jetzt war es ihr aufgefallen: die anderen kümmerten sich um ein Objekt mit einer Vorgangsnummer. Sie hingegen hatte einen Patienten. Einen Patienten, allerdings einen Patienten ohne Namen. Eine Patientin.
Im Log war kein Name eingetragen.
Dor’El setzte sich auf den Hocker vor dem Beobachtungsfenster. Was war mit ihr los? Sie stellte damit bereits die Ziele und Lerninhalte der Bildung einer MTech infrage, wenn sie nur über das nachdachte, was ihr jetzt gerade in den Sinn kam.
Sie dachte über ihren Auftrag nach. Ihr war das Wohl ihres Patienten ein Anliegen? Ja, sie war wirklich eine geborene MTech, auch, wenn es das eigentlich so gar nicht gab. Dor’El wunderte sich erneut über ihre eigenen Gedanken.
Sie schüttelte den Kopf, stand wieder auf und strich sich den Kittel glatt.
Da lag sie also. Eine stumme Gestalt in einem seltsamen grauen Anzug, der eng am Körper anlag und nur das Gesicht freigab. In einem abgesonderten Raum voller Geräte mit blinkenden Anzeigen. Einen solchen Anzug, wie die Gestalt ihn anhatte, hatte Dor’El noch nie gesehen. Was könnte das für ein Stoff sein? Gern hätte sie ihn einmal berührt, aber die Frau - Dor’El beschloss, sie fortan immer nur so zu benennen - war durch die dicke Scheibe des Beobachtungsfensters von ihr getrennt.
Dor’El war sich sicher, dass das eine Frau war. In den Daten des Log war nur von einem „Objekt“ die Rede, aber auch der CMTech sprach von einem „Patienten“. Bor’sha hatte überhaupt kein Wort für die Frau, aber Bor’sha sprach sowieso nur wenig.
Doch Dor’El konnte nicht anders. Sie war sich vollkommen sicher: Die Patientin im Beobachtungsraum war eine Frau.
War ihr das heute erst aufgefallen?
Einige Tage lang hatte sie jetzt schon diese Körperformen betrachtet und jede Rundung war ihr so vertraut, dass sich Dor’El fragte, warum diese Frau hier in der Klinik unter ständiger Beobachtung lag. Die Frau, die sich nicht bewegte, zu der man aber auch niemanden in den Raum ließ. Dor’El konnte zwar nur wenig von der liegenden Gestalt erkennen, aber schon das Profil ließ sie oft an die Scheibe treten. Die Frau hatte sehr ausgeprägte Gesichtszüge – jedenfalls von der Seite her, die Dor’El betrachten konnte.
Warum lag sie hier nur?
Dor’El stand so dicht am Beobachtungsfenster, dass ihr Atem an der Scheibe kondensierte.
Sie wischte die Scheibe wieder trocken und trat einen Schritt zurück. Sie überlegte: „Seit wann habe ich diese Aufgabe?“
Obwohl das Chrono ihr nicht antworten würde, blickte sie auf die Anzeige und sprach halblaut vor sich hin: „Warum denke ich gerade heute darüber nach? Was war denn gestern?“
Die Tür wurde aufgeschoben und rastete in die Halterung.
Bor’sha hatte sie aufgerissen, wie es ihre Art war und war in den Raum gestürzt.
Dor’El zuckte zusammen.
Hatte Bor’sha etwas von ihrem Selbstgespräch mitbekommen?
Doch Bor’sha kümmerte sich nicht um sie. Sie hatte sich das Log gegrabscht und ging die letzten Einträge durch.
„Is‘ was?“, Bor’sha blickte kurz auf.
Dor’El wollte gerade ansetzen, den Übergabebericht zu formulieren, aber irgendwas störte sie, heute.
Heute? Ja, heute.
Sie steckte ihre Hände in die Taschen ihres Kittels und blickte Bor’sha an, die noch im Log stöberte.
„Nein, alles in Ordnung.“
„Gut“, brummelte Bor’sha.
Sie schob das Log auf den Tisch und lümmelte sich auf den Hocker.
Dor’El fühlte sich überflüssig, aber im Grunde genommen war sie es auch. Ihre Schicht war beendet, aber irgendetwas war heute anders.
Sie drehte sich um und blickte durch die Scheibe auf die schlafende Frau. Aufgrund der liegenden Position fiel es ihr schwer, die Größe genau zu schätzen, aber sie musste relativ groß sein.
Groß und schlank.
Ganz das Gegenteil von Bor’sha, die damit begonnen hatte, mit den Fingernägeln irgendwelche Reste aus ihren Zähnen zu puhlen.
Dor’El blickte noch einmal zurück, drehte sich dann um und schob die Tür zum Raum von außen zu.
2 – Veränderung
Wenn wir die uns vorgegebene Autorität infrage stellen, gefährden wir die Stabilität der Ordnung, die in der Vergangenheit die Ursache für das Versagen der herrschenden Klassen war.
Nur durch das ständige Bestreben der Gemeinschaft nach Einhaltung dieser Ordnung im Gedenken an die Fehler aus der Vergangenheit ist das Überleben der Menschheit gesichert.
Die Ordnung ist im Kodex festgehalten.
Abweichungen von den darin enthaltenen Regeln gefährden die Gemeinschaft und damit das Überleben der Menschheit.
Aus den Chroniken
Zwei Tage lang war nichts passiert, aber heute … Dor’El hatte es mit zittrigen Fingern im Log vermerkt: Sie atmet.
Hatte die Frau zuvor denn nicht geatmet?
Was für eine Frage. Aber sie war berechtigt, diese Frage.
Dor’El war sich dessen nicht sicher und hatte sich schon gefragt, ob es gut war, das so ins Log zu schreiben, aber bisher hatte sie alle angezeigten Werte immer ins Log eingetragen.
Sie atmet.
Ein solcher Eintrag war in den älteren Einträgen des Log nicht zu finden gewesen. Egal. Dor’El hatte diese Beobachtung jetzt gemacht und im Log verzeichnet. Alles andere wäre nicht korrekt gewesen. Also war es vollkommen richtig, das jetzt so einzutragen.
Bei der Visite nahm der CMTech das Log, überflog die Einträge und schaute durch das Beobachtungsfenster, ohne Dor’El nur ein Wort der Aufklärung über diese Frau zu gönnen. Aber das musste der CMTech ja auch nicht. Das tat er nie.
Heute störte sich Dor’El jedoch daran. Warum gerade heute? Sollte sie ihn fragen?
Welcher MTech stand es zu, dem CMTech ungefragt selbst eine Frage zu stellen? Das war in den Vorschriften doch ganz klar festgelegt und Dor’El tat immer das, was man ihr in der Bildung beigebracht hatte: so schwieg sie und wartete. Jeden Tag. So auch heute, auch wenn es ihr heute irgendwie schwerfiel.
Der CMTech gab ihr das Log zurück und sie steckte es in die Halterung. Hatte er heute gezögert? Hatte auch er bemerkt, dass die Frau atmete? Hatte er den Eintrag im Log gesehen? Dor’El wunderte sich: Was war denn seit heute anders? War sie es?
Die Klinik hatte sich nicht geändert. Die Gänge auch nicht. Ihre Schicht nicht. Ihre Pflichten nicht. Die Anzeigen schon, aber das sollte doch auch so sein – oder etwa nicht? Was war der Unterschied zwischen dieser Frau und den anderen Patienten in der Klinik? Ihr fehlte natürlich die Möglichkeit eines Vergleichs.
War denn ein Vergleich wirklich notwendig? Das Leben in der Klinik verlief doch genau nach dem Kodex, dessen Inhalte sie mit der Bildung erhalten hatte, wie jede andere MTech in den anderen Stationen der Klinik auch.
In Dor’El kam der Gedanke auf, dass diese Frau vielleicht etwas Besonderes sein könnte, wenngleich sie keine Vorstellung hatte, warum. Sicher, so eine Kleidung hatte sie noch nie gesehen, aber sie war ja auch noch nie aus Komplex C6 herausgekommen. Wer mochte diese fremde, schöne Frau nur sein? Und … warum war sie hier?
Ja, soweit Dor’El es durch das Fenster sehen konnte, war diese Frau eine Schönheit: keine offensichtlichen Verletzungen, eine schlanke Erscheinung mit fein gezeichneter Muskulatur und filigranen Fingern. Der Kopf wurde größtenteils von einer Kapuze bedeckt, die nur das Gesicht frei ließ. Der graue Anzug der Frau ging an den Armen bis an die Handgelenke. Die Füße hingegen wurden vollkommen vom Anzug bedeckt. Dor’El fragte sich, ob die Füße ebenfalls „normal” aussehen würden oder ob die Frau … nein. Abweichende Gedanken waren nicht zulässig. Überhaupt über die Frau nachzudenken, verstieß gegen den Kodex. Schnell beendete sie diese Gedanken.
Sie schüttelte den Kopf und schloss dabei die Augen, als würde sie damit alles löschen, an das sie soeben gedacht hatte.
Dor’El drückte ihre Nase an die Scheibe des Beobachtungsfensters. So konnte sie dem Gesicht der Frau etwas näherkommen.
Immer wieder hatte sie in den letzten Tagen dieses Gesicht bewundert, obwohl sie es nur im Profil erkennen konnte: Diese sanften Augenbrauen, die langen Wimpern, die sanft geschwungene Nase, die Abzeichnung der Wangenknochen, die Lippen, das markante Kinn und der schmale Hals, der in die Wölbungen der Brust überging … und jetzt kam dazu noch eine leichte Bewegung im Brustbereich dazu: die Frau atmete. Sie atmete – und es war ihre Entdeckung gewesen.
Sie hatte es entdeckt.
Ihr Glücksgefühl über die Entdeckung ließ sie mit einem Mal innehalten: Hatte die Frau früher wirklich nicht geatmet? Das wäre doch unmöglich. Erst jetzt kam ihr die Absurdität ihrer Beobachtung in den Sinn und sie dachte intensiver darüber nach.
Das Stundensignal ließ Dor’El aufschrecken. Wie lange mochte sie in die Betrachtung der Frau und ihren Gedanken schon versunken sein? Bald war Wachwechsel und Dor’El musste noch die Daten des heutigen Tages ins Log eintragen. Aber … die Frau atmete. Kein Zweifel.
Dor’El stieß sich die Nase an die Scheibe des Beobachtungsfensters. War da noch eine andere Bewegung gewesen?
Schnell wischte sie den Fettfleck von der Scheibe, damit Bor’sha keinen Grund für eine Rüge hatte. Schon einmal hatte man ihr vorgeworfen, im Dienst eingenickt zu sein, dabei hatte sie nur die Linien auf dem Fußboden betrachtet, weil es sonst gerade nichts anderes zu tun gab.
Doch. Da war es wieder. Dor’El war sich ganz sicher: Der Nasenflügel hatte sich bewegt. War das normal? Angestrengt blickte sie durch die Scheibe auf den Brustkorb. Gab es hier auch eine Bewegung? Gleichzeitig kramte sie in ihrem Gedächtnis. Sie atmet. Warum sollte die Frau auch nicht atmen? Jeder Mensch atmet. Wenn die Frau ein Mensch war, musste sie atmen. Das war doch ganz natürlich.
Die Frau ist war Mensch – oder nicht?
Was sollte sie sonst sein?
Natürlich war sie ein Mensch und Menschen atmen.
Hatte die Frau gestern geatmet? Vorgestern? Die Tage davor?
Gab es zuvor schon andere Bewegungen?
Dor’El überkam ein Anflug von Panik.
Hatte sie das die ganze Zeit übersehen? Warum fiel es ihr jetzt auf? Warum nur ihr? Warum jetzt?
Hastig griff sie nach dem Kontroll-Pad und aktivierte die Übersicht.
Eindeutig blinkte die Anzeige im Feld für die Atmung. Auch „Herzschlag” zeigte einen normal anmutenden Verlauf.
Dor’El wurde seltsam zumute.
Mit zittrigen Fingern überflog sie die Logs der letzten Tage.
Hier war ihr Eintrag. Sie suchte weiter.
Es gab davor keine früheren Einträge für „Atmung” oder „Herzschlag”. Sie hatte sich nicht geirrt. Aber ihr war es auch noch nie aufgefallen.
Wie konnte das sein?
War die Frau im Nebenraum eben erst zum Leben erwacht?
Eben erst?
Was war die Tage zuvor? … die letzten Zyklen? die Zeit, bevor …?
Sie hatte das bisher nicht bemerkt? Ihr Magen zog sich zusammen.
Da war nur dieser eine Eintrag von ihr: Atmung. Sonst gab es keine. Warum hatte man das früher nicht eingetragen? Warum hatte sie es jetzt eingetragen?
Der CMTech hatte den Eintrag doch gesehen – oder nicht? Gesagt hatte er nichts. Und Bor’sha?
Dor’El dachte nach.
Kaum vermochte sie sich zu erinnern, seit wie vielen Tagen sie schon die Nachtschicht innehatte. Seit ihrer Zuweisung? Was hatte sie eigentlich davor gemacht? An irgendetwas vor ihrer Bildung konnte sie sich nicht mehr erinnern.
Sie hatte die Bildung erhalten und kurz darauf die Zuweisung zu dieser Patientin.
Dor’El kam sich vor, als wäre sie zu schnell aus einem Traum erwacht und sortierte jetzt Traum und Realität.
Ihre Finger flogen über das Pad. Sie musste den Übergabebericht schnell auf den aktuellen Stand bringen, ohne dass die nächste Schicht Verdacht schöpfte.
Gerade als sie den letzten Eintrag speichern konnte, krachte die Tür zum Flur in die Halterung und Bor’sha stolperte missmutig herein.
Dor’El zuckte zusammen und konnte das Pad gerade noch vor einem Sturz auf den Boden bewahren.
„Wünsche einen schönen Dienstbeginn …”
„Hmm? Ja, … Isso.” Bor’sha war vermutlich nie guter Laune. Am Morgen schon gar nicht, aber Dor’El hatte sich daran gewöhnt.
„Irgendwas … los gewesen?” Wirkliches Interesse war von Bor’sha nicht zu erwarten, aber die Frage gehörte ansatzweise zum Protokoll.
„Alles gut, keine Veränderungen. Atmung und Puls innerhalb der Norm.” Dor’El hätte sich beinahe an ihren eigenen Worten verschluckt. Nur nichts anmerken lassen.
„Ohkee.” Bor’sha war nicht wirklich interessiert, was die jüngere Kollegin zu melden hatte, sondern seufzte und lümmelte sich auf den Beobachtungssitz.
Sie hatte es nicht bemerkt? Dor’El wurde schwindelig. Sie hielt sich schnell an der Tischkante fest. Bor’sha schien auch das nicht zu bemerken, denn sie hatte sich schon herumgedreht.
„Was ist mit … hier?”
„Was?” Dor’El hatte die Tür zum Gang schon beinahe aufgeschoben und zuckte zurück.
„Na, die Hübsche hier.” Bor’sha wies auf das Fenster.
„Na, das habe ich doch gesagt. Steht doch im Bericht”, stammelte Dor’El.
„Hmm. Nagut”, brummelte Bor’sha und brachte den Sitz in eine halb liegende Position.
„Dann tummel dich und sei pünktlich wieder da”, ließ sie noch von sich hören und drehte sich wieder um.
Dor’El beeilte sich, den Raum zu verlassen. Fast wäre sie im Flur mit einer anderen MTech zusammengestoßen. Mit einer gemurmelten Entschuldigung reihte sie sich in den Strom des Schichtwechsels ein und konzentrierte sich darauf, in der Menge nicht weiter aufzufallen.
※
SCHMERZ.
Sie fühlte sich „zurückgekehrt“.
Zurück, an einen Ort. An diesen Ort.
Zurück aus einem Universum der Dunkelheit. Zurück aus der Dunkelheit. Nur Dunkelheit?
Was mache ich hier? Wo bin ich? … wer bin ich?
…
Ach ja. Fragen ohne Antworten.
…
Was war zuletzt?
Richtig: Bewegung.
Check - ich atme.
Sie konzentrierte sich auf die Atmung und spürte, wie ihre Lungen sich immer wieder füllten und leerten.
Ich atme durch die Nase. Check.
Auch das konnte sie nach einigen Atemzügen deutlich spüren. Check.
…
Atmung als Methode der Zeitmessung?
Es amüsierte sie, trotz dieser sonderbaren Situation.
Zeit schreitet voran. Unter „normalen“ Umständen ist das ganz natürlich. Wie kam sie jetzt darauf, das hier anzuwenden? Egal. Jetzt gab es wichtigere Fragen, die zu klären waren.
Sie zählte einige Atemzüge ab und lauschte dann auf die Geräusche in ihrer Umgebung, dann wandte sie sich wieder anderen Punkten zu:
Kann ich mich irgendwie bewegen? Was geht – was nicht?
Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Stellte sich ihren Körper vor und versuchte, ihre Konzentration auf etwas Kleines - einen Finger - zu fokussieren.
Mehrere Atemzüge lang passierte nichts.
Dann plötzlich - SCHMERZ.
※
Dor’El schreckte auf.
Sie legte das Log beiseite, in dem sie gerade die Eintragungen der letzten Schicht durchlas. Wie immer, hatte Bor’sha nur wenig über den Verlauf der letzten Schicht zu berichten und Dor’El hatte es sich angewöhnt, selbst im Log die automatischen Meldungseinträge zu lesen. Bor’sha schrieb nie viel ins Log, aber immerhin füllte sie alle notwendigen Eintragungen von den Anzeigen aus.
Dor’Els Blick wanderte vom Log zu den Anzeigen.
Sie war sich sicher gewesen, dass sich die Frau bewegt hatte. Im Log fand sie nichts, aber …
Irgendetwas war jetzt anders als noch wenige Cents zuvor.
Sie hielt eine Hand an das Fenster und fokussierte den Blick über den Handrücken hinweg. Tatsächlich: es war deutlich zu erkennen, wie sich der Brustkorb hob und senkte. Keine Frage: Die Frau atmete. Das war ihr gestern schon aufgefallen, aber …
Aber was war es, was Dor’El gerade jetzt aufgefallen war? Ihr Blick ging zwischen den Anzeigen und der Frau hin und her.
„Irgendwas ist anders.” Dor’El ertappte sich bei einem Selbstgespräch.
Einige Cents lang starrte sie durch das Fenster auf den liegenden Körper dieser Frau, dann glaubte sie, etwas gefunden zu haben: Lag die Hand schon immer auf der Handkantenseite?
Sie vermochte den Blick kaum vom Fenster abzuwenden, als sie das Log suchte, öffnete und nach Aufnahmen der liegenden Frau durchblätterte. Deutlich waren sie nicht und viele zeigten nur wenig Details, aber dann fand Dor’El eine Aufnahme von der Seite. Es war genau die Seite, die durch das Fenster zu erkennen war. Und auf dieser Aufnahme lag die Hand mit dem Handrücken auf dem Tisch.
Die Aufnahme war vor zwei Tagen dem Log hinzugefügt worden. Die Hand war klar zu erkennen und es gab keinen Zweifel: Die Hand, die jetzt mit der Handkante auf dem Tisch lag, lag auf der Aufnahme noch flach auf dem Tisch.
Dor’El überprüfte die Sicherungen und alle Anzeigen des Raumes, in dem die Frau lag. Alles normal. Niemand hätte den Raum unbemerkt betreten und die Hand drehen können. Die Anzeigen bestätigten das: niemand hatte die versiegelte Tür geöffnet, den Raum betreten und die Hand gedreht. Das ließ nur den Schluss zu, dass die Frau das selbst gemacht haben musste, aber allen Berichten nach lag die Frau hier schon sehr lange Zeit in tiefer Stasis und immerhin war dieser Raum nur deshalb so eingerichtet worden, um … ja, warum eigentlich?
Um die Frau zu beobachten.
Dor’El dachte nach: Das war die Erklärung, die sie in der Einweisung vom CMTech erhalten hatte. Sie hatte bisher noch nie in Frage gestellt, welche Aufgabe - außer der lückenlosen Beobachtung der hier liegenden Frau - sie und Bor’sha hier eigentlich hatten.
Sie wusste auch nicht, seit wann genau diese Beobachtungen an der Frau hier in der Klinik durchgeführt wurden. Im Log ging sie die Einträge durch und versuchte, den Anfang zu finden. Das Log begann kurz vor ihrer Zuweisung zu dieser Tätigkeit. Die ersten Einträge ließen Dor’El erkennen, dass sie nicht die erste MTech war, die mit dieser Tätigkeit betraut wurde, aber seit wann die Frau hier wirklich lag, das stand hier nicht. Sie hatte keinen Zugriff auf die Logs vor Beginn ihrer Tätigkeit.
Dor’El sah vom Log auf. Noch nie zuvor hatte sie sich darüber Gedanken gemacht. War das überhaupt zulässig?
Sie fuhr sich mit der Hand durch ihr kurzes Haar. Hatte sie geträumt? War sie gerade erst aufgewacht? Ihr kam plötzlich alles so unwirklich vor.
Deutlich spürte sie, dass ihr warm wurde. Ja, sie schwitzte mit einem Mal regelrecht. Sie spürte die Tropfen, die ihr den Rücken herunter rannen und es juckte zunehmend. Der Juckreiz war unangenehm und Dor’El rieb sich den Rücken an der Stuhllehne.
Was sollte sie nur tun? Sollte sie ihre aktuelle Beobachtung im Log vermerken? Was, wenn sie sich irrte? War das ein Anzeichen von Überarbeitung?
Man hatte sie gewarnt: so etwas könnte vorkommen. Ihre Vorgängerin war nicht ohne Grund nicht mehr in der Tätigkeit. Näheres wusste sie natürlich nicht, aber es musste einfach einen Grund gegeben haben. Alles hatte einen Grund. Bor’sha hatte nie nähere Auskunft gegeben und Dor’El wusste, dass sie nicht weiter nachfragen durfte.
Wieder nahm sie das Log in die Hand, suchte das zuvor schon betrachtete Bild und wieder verglich sie das Bild mit dem, was sie durch das Fenster beobachten konnte. Kein Zweifel: Die Hand der Frau lag jetzt anders als auf der Aufnahme. Das war eine unumstößliche Tatsache.
Sie atmete und sie bewegte sich.
Was würde der CMTech sagen, wenn sie das im Log erwähnte? War das überhaupt etwas, was sie ihm zusätzlich noch sagen sollte? Musste sie jetzt etwas machen? Gab es eine Vorschrift für diesen Vorgang? Gab es eine Meldepflicht, die sie erfüllen musste? Gehörte das ins Log?
Oder besser nicht?
Sie sank auf ihrem Stuhl zusammen. Was jetzt? Sie wünschte, sie hätte jemanden, mit dem sie darüber sprechen könnte, aber … warum dachte sie jetzt daran?
Was war nur mit ihr los?
Seit einigen Tagen fühlte sie sich seltsam unsicher. Seit ihrer Beobachtung, dass die Frau atmete, war ihr Leben nicht mehr im Gleichgewicht. Sie fürchtete sich und sank auf dem Beobachtungssitz zusammen.
※
SCHMERZ
Schmerz, … Dunkelheit
Flackernde Lichter?
Sie war sich nicht sicher, ob es etwas zu bedeuten hatte, … natürlich musste es etwas zu bedeuten haben, denn immerhin …
Ja. Ja? Was?
Sie konnte sich erinnern, dass sich etwas verändert hatte.
Sie konnte sich überhaupt an etwas erinnern. Es gab ein „früher“ und ein „jetzt“.
Früher waren da nur Dunkelheit und Schmerz, jetzt gab es eine Veränderung: regelmäßige und unregelmäßige Impulse. Fast, als gäbe es ein Blinken in der Dunkelheit.
…
Was war mit ihrem Gedächtnis los? Da war: … nichts. Wirklich nichts?
Nicht viel.
Sie ging noch einmal durch, an was sie sich erinnern konnte: Bewegung. Also versuchte sie, sich in irgendeiner Weise zu bewegen. Langsam.
Sie konnte atmen. Ganz bewusst atmen. Das war gut.
Dennoch - keine Verbesserung des aktuellen Gesamtzustandes, aber … sie besann sich. Vermutlich war jede kleine Veränderung eine Verbesserung.
Sie begann damit, ihre Umgebung zu „ertasten”.
Was geht, was geht nicht?
Atmung. Ja, sie konnte sich bewusst darauf konzentrieren. Spontane und unbewusste Atmung. Das war gut.
Herzschlag? Nicht zu spüren. Ohne die Möglichkeit einer Sensorabnahme, … sie besann sich: eine Hand auf die Brust legen. Das könnte helfen. Habe ich eine Hand?
Körperempfinden. Sie versuchte, sich an Muskeln ihres Körpers zu erinnern und einzelne davon anzusprechen.
Das Ergebnis war eher enttäuschend. Sie hatte erwartet, aus einer Reaktion Schlüsse über ihren Körper, ihre Position und ihre Umgebung zu erhalten, aber da war noch keine Veränderung zu früher festzustellen, obwohl, … Mit aller möglichen Konzentration hatte sie zuvor versucht, sich zu strecken, um eine eventuell anzunehmende, liegende Position bestätigt zu bekommen, aber das Experiment war in einer Explosion von Schmerzen geendet und sie hatte das Gefühl, als ob zwischen dieser Erfahrung und dem Jetzt einiges an Zeit vergangen wäre.
Gab es eine Zeit der Dunkelheit? Eine messbare Zeit?
War dieser Schmerz, der sie überkam, vielleicht der Grund, warum sie das Gefühl hatte, dass sie immer wieder von vorn begann? Der Schmerz. Immerhin ein Körpergefühl. Unangenehm - ja, schmerzhaft, aber sie hatte das Gefühl, ihn als Bestätigung zu registrieren, überhaupt am Leben zu sein.
Das gab ihr den Ansporn, nicht zu verzweifeln, sondern sich weiterhin dem Schmerz zu stellen.
Der Schmerz. Unausweichlich, aber derzeit offenbar das einzige Zeichen von Leben. Sie musste weiterhin versuchen, mehr als nur erste Anzeichen von Leben in sich zu entdecken. Obwohl jeder Versuch, mehr über sich und ihre Umgebung zu erfahren, bisher in einer Schmerzwelle und in Dunkelheit geendet hatte.
Ja, der Schmerz. Das war ein Problem. Sie dachte kurz darüber nach, ob der Schmerz wirklich immer in eine längere Zeit der Dunkelheit mündete, oder davon unabhängig war.
So kam sie zu dem Entschluss, diese großen Schmerzwellen lieber zu vermeiden, damit sie mit ihrem Experiment weiter machen konnte. Dieses „Experiment“ durch das sie festzustellen versuchte, wo sie war und wie es um sie stand.
Nun, immerhin ließ das Ganze bisher den Schluss zu, dass das Experiment zumindest das eine Ergebnis erbrachte: Bewegung ist möglich, aber etwas hinderte sie. Was genau war das?
Sollte sie einen weiteren Versuch wagen? Sie war sich zunächst unsicher, fasste aber neuen Mut, denn eine Betrachtung ihrer bisher bekannten Situation – insbesondere die Tatsache, dass sie zu wenig über ihre aktuelle Situation wusste, gab ihr den Antrieb, weiter zu machen. Besser so, als gar nicht.
Schäden - bis auf den starken Schmerz und die vollkommene Dunkelheit - konnte sie noch nicht feststellen. Das war schon mal eine gute Beobachtung, die sie mit Dankbarkeit verzeichnete.
Langsam erforschte sie ihre Muskulatur. Sie konzentrierte sich wieder auf die Atmung und bemerkte eine Reaktion durch die Bewegung des Brustkorbes: Spürte sie da eine harte Unterlage?
Dann war es durchaus denkbar, dass sie sich in einer liegenden Position befand. Außerhalb des Brustkorbes war nichts. Bevor sich eine Panik in ihr ausbreiten konnte, befahl sie sich, nicht darüber nachzudenken, was mit dem Rest ihres Körpers geschehen sein konnte, sondern zwang ihre Gedanken dazu, weiter nach Reaktionen zu suchen.
Sie wollte schon aufgeben und sich der nahenden Dunkelheit ergeben, da verspürte sie plötzlich ein Kribbeln und zwar auf beiden Seiten ihres Brustkorbes.
„Ich habe Arme” - durchfuhr es sie. „Das ist gut.“
So schlimm konnte es also um den Gesamtzustand nicht stehen. Vermutlich hatte sie zu den anderen Regionen ihres Körpers nur noch keine Verbindung, aber genau das galt es ja herauszufinden.
Weiter … immer weiter. Sie gewann neuen Mut und noch gab es keinen neuen Schmerzanfall, sondern nur ein allgemeines Unwohlsein.
Das Kribbeln wurde zu einem Brennen, aber trotzdem vermochte sie den Bereich ihrer Wahrnehmung weiter auszudehnen und sie hatte mit einem Mal den Eindruck, als ob sie beide Arme komplett, wenn auch stark brennend wahrnehmen konnte und somit das entstehende Bild einer liegenden Position - liegend, auf einer harten Oberfläche - bestätigen könnte.
Arme. Sie entsann sich: Arme und Hände. Finger.
… Faust.
Der Gedanke war da, aber sie brauchte viele Anläufe, bis sie daraus einen Befehl für ihre Hände formulieren konnte.
Faust … ballen.
Brennende Finger schlossen sich zu einer Faust.
SCHMERZ.
Eine erneute Explosion von Schmerz beendete jegliche Gedanken an ein geglücktes Experiment.
Ihre Welt tauchte ab in eine tiefe Dunkelheit.
3 – Alarm
Neues Wissen entsteht oft aus dem Studium bekannten Wissens. So werden Antworten in den Fragen gefunden, die durch die Beobachtung neuer und unbekannter Phänomene entstehen.
Es ist eine Verpflichtung, zukünftigen Generationen den Zugang zum Wissen der derzeitigen Generation zu ermöglichen und dieses Wissen zu pflegen und zu mehren.
Wissen beinhaltet immer auch Verantwortung. Es wird eine Heilige Aufgabe sein, das Wissen der Vergangenheit zu bewahren.
Aus den Chroniken
Das Schrillen des Alarms und die flackernden Lichter auf den Anzeigen rissen Dor’El aus ihren Gedanken.
Dor’El war zu keiner gezielten Bewegung in der Lage. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Anzeigen. Der Alarm schrillte in ihren Ohren und unterdrückte jede Bewegung und jeden weiteren Gedanken.
Das Aufschlagen der Tür und ihre Bewegung zum Aus-Schalter geschahen beinahe gleichzeitig. Der CMTech stand mit offenem Kittel in der Tür und starrte an ihr vorbei – zum Fenster.
Auch Dor’El drehte jetzt den Kopf zum Fenster und sah sofort, dass die Frau die Hand zur Faust geballt hatte.
Viele Anzeigen pulsten in wilden Mustern. Blinkende Lichter, die die Vitalfunktionen anzeigten, überboten sich in einem Feuerwerk, welches Dor’El noch nie gesehen hatte.
Der Raum füllte sich mit Leuten.
Dor’El kannte viele davon nur flüchtig. Aber sogar Bor’sha war darunter. Ihrer Erscheinung nach, war sie geradewegs aus dem Schlaf gerissen worden und trotz des Schrecks belustigte sich Dor’El an der eigenartigen Fußbekleidung von Bor’sha: Sie hatte ihre Kollegin noch nie in solchen alten Sandalen gesehen.
„Ruhe jetzt!“ Der CMTech versuchte, die Situation unter Kontrolle zu bringen.
Fast schon mechanisch reichte Dor’El ihm das Log.
„Sie hatte also Recht.“ – hörte Dor’El ihn murmeln. „Woher wusste sie das?“
Dor’El konnte sich keinen Reim darauf machen, wen der CMTech meinte, aber er war der CMTech und Dor’El konnte ihn ja nicht einfach danach fragen.
Obwohl er ein Mann war, hatte er hier das Kommando und natürlich würde sie noch alles erfahren, was sie wissen müsste.
Dor’El bemerkte allerdings, dass es sie irgendwie störte, nicht über alles informiert zu sein. Dennoch versuchte sie, sich jetzt noch zurück zu halten und drehte sich wieder zum Fenster um.
Die anderen MTech drängten sich am Fenster und Dor’El gelang nur ein kurzer Blick zwischen ihnen hindurch. Doch der kurze Blick reichte ihr für eine Bestätigung: Die Frau hatte die Hand zur Faust geballt. Kein Zweifel.
Die Anzeigen pulsierten immer noch. Sie lebte. Ja selbstverständlich lebte sie. Warum also der Alarm?
Dor’El wunderte sich wieder über ihre eigenen Gedanken.
Man hatte ihr beigebracht, die Anzeigen zu lesen. Sie war jedoch immer davon ausgegangen, dass die Anzeigen bisher nur deshalb so wenige und so geringe Werte anzeigten, da die Frau in Stasis lag und hatte diesen Zustand als Normalität angenommen.
Das hatte sich jetzt wohl geändert: sie war offenbar erwacht. Erwacht?
Wieder strich sich Dor’El über den Kopf und blickte sich um.
Andere MTech drängten in den Raum. Einige betrachteten die Anzeigen, andere drängelten sich zum Fenster durch.
Es wurde langsam unangenehm voll im Raum.
Der CMTech hatte das Log beiseitegelegt und trat neben sie.
„Hmm?“, entfuhr es ihr.
„Was, …?“ Der CMTech schien aus tiefen Gedanken zu erwachen. Er hob den Kopf.
„Äh. Alle raus! Raus, bis auf die diensthabende MTech!“ Eine klare Aussage. „RAUS! Los, alle raus! RAUS!“
Das war eindeutig und klar zu verstehen, trotz des allgemeinen Trubels.
Der Raum leerte sich wieder, aber die Tür blieb halb offen, da der CMTech sie bei seinem Eintreffen so schnell aufgerissen hatte, dass sie aus den Laufschienen gebrochen war.
Dor’El stand verwirrt mitten im Raum und war sich unsicher, was sie tun sollte.
Der CMTech stand, auf das Pult gestützt, vor dem Fenster. Seine Stirn berührte fast die Scheibe.
Einige Clicks lang herrschte absolute Stille im Raum. Nur die rhythmischen Signale der Überwachungseinheiten zirpten ihren Chor.
Dor’Els Blicke wanderten über die Anzeigen, die sich immer mehr denjenigen Werten näherten, die sie auch von anderen Patienten aus der Bildung her kannte. Normalwerte.
Sie begann, die Werte anhand der ihr bekannten Parameter zu vergleichen. Keine Frage: die Frau begann, aufzuwachen, denn die Werte stiegen stetig an.
„Aufwachen“, was für ein Begriff für das, was hier gerade geschehen war. Wieso aufwachen? Die Frau hatte geschlafen? So lange geschlafen?
Wie lange eigentlich genau?
Egal: Es war aber nicht zu übersehen. Hatte die Frau geschlafen oder sich in Stasis befunden, wachte sie jetzt auf. Alles deutete darauf hin.
Für Dor’El war die Tätigkeit hier zunächst eine Routine, die gemacht werden musste. Sie hatte nie den Drang verspürt, etwas zu hinterfragen. Ihre Aufgabe war es, die Werte zu überwachen und alles im Log einzutragen. Bisher hatte sie angenommen, dass die angezeigten Werte für die hier liegende Frau als „Normalzustand“ anzusehen waren, auch wenn die üblichen Lebenszeichen weit unter denen lagen, die sie in der Bildung als Norm gelernt hatte. Erst kürzlich war in ihr ein besonderes Interesse an der Frau erwacht. Sie war sich sicher, dass das nur ihr so ging und um nicht aufzufallen, verbarg sie ihre Neugier gegenüber allen anderen in der Klinik.
Bor’sha hatte sogar einmal den Verdacht geäußert, dies wäre gar keine lebende Person, sondern nur eine Puppe und nur deshalb hier, damit sie eine Aufgabe hätten. Vielleicht als Teil einer weiteren Bildung.
Dor’El hatte sich seinerzeit nicht dazu geäußert. Etwas infrage zu stellen, war unüblich für eine MTech. Das hatte sich jetzt alles geändert. Der Beweis lag auf der anderen Seite der Scheibe.
Sie wachte auf.
Der CMTech schüttelte den Kopf und sofort wandte Dor’El sich wieder ihm zu. Er war zwar ein Mann, aber dennoch der CMTech in diesem Bereich der Klinik.
„Äh, ja?”
Dor’El blickte ihn erwartungsvoll an.
„Ich, … wir … klären erst einmal, …“ Der CMTech schien sichtlich verwirrt und suchte nach Worten. Dor’El fragte sich plötzlich, ob Männer grundsätzlich mit derartigen Situationen … Nein. Derartige Gedanken waren gefährlich. Zu schnell könnte sie sich daran gewöhnen - und was noch schlimmer wäre - es versehentlich aussprechen.
Verstöße gegen die im Kodex festgelegten Ethnologie-Grundsätze waren ein schwerer Verstoß. Es sollte schon Fälle von Verhaftungen wegen derartiger Äußerungen gegeben haben. Nein, Dor’El verdrängte schnell alle Gedanken an geschlechtsspezifische Unterschiede (wie kam sie jetzt nur dazu, an so etwas zu denken?) und hob nur den Kopf – „Ja?”
„Schon gut. Machen wir weiter.” Der CMTech schien sich jetzt gefasst zu haben. Er legte das Log auf den Tisch und drehte sich um.
Mit einem „Ich melde mich!”, rauschte er aus dem Raum.
Das war aber nicht das, was Dor’El erwartet hatte oder was ihr jetzt half, die Verwirrung zu bewältigen, aber das war alles, was sie vom CMTech als Anweisung erhielt. Also riss sie sich zusammen und ließ sich wieder auf den Beobachtungssitz nieder.
Sie hatte tatsächlich kurz daran gedacht, dass der CMTech seiner Aufgabe nicht gewachsen war. Ängstlich ging ihr Blick zur Tür, als erwartete sie, für diesen Gedanken sofort bestraft zu werden. Warum dachte sie jetzt so etwas? Sie bekam den Gedanken nicht wieder aus dem Kopf.
Eine Zeit lang saß sie so da, dann nahm sie das Log wieder in die Hand und trug die Messwerte der Anzeigen ein.
Den Rest der Schicht verbrachte Dor’El wieder allein. Bis auf die höhere Aktivität der Anzeigen und die schräg in der Öffnung hängende Tür, fast ein Tag, wie jeder andere. Ein Tag, der jedoch eine Besonderheit aufwies, über die Dor’El immer wieder nachsann: Sie war erwacht.
Bor’sha übernahm die Schicht. Wie immer ohne große Fragen oder ein wirkliches Interesse am Übergabebericht, trotz des Alarms und des Aufruhrs. Wie immer flog das Log unbeachtet in die Ecke. Wie immer erlosch ihr Interesse an Dor’Els Anwesenheit innerhalb weniger Cents und so machte sich Dor’El auf den Weg zu ihrer Unterkunft, als wäre nichts geschehen.
Sie nahm die anderen MTech auf dem Gang kaum wahr. Es war etwas geschehen. Nicht nur die Fremde, auch Dor’El war erwacht.
※
SCHMERZ.
Er pulste.
Sie stöhnte innerlich, akzeptierte den Schmerz aber als Zeichen, am Leben zu sein. Als Zeichen, dass sie einen Körper hatte, in dieser Dunkelheit. Als Zeichen, dass Zeit verging und als Möglichkeit der Orientierung.
Was war die letzte Aktion?
Körperspannung.
Sie hatte versucht, sich zu bewegen.
Sie musste unbedingt die Augen öffnen, sofern dies der Grund für die Dunkelheit war.
Sie musste sich orientieren.
Nur so konnte sie herausfinden, in welcher Lage sie sich befand und wie sie daraus entkommen könnte.
Entkommen?
Wohin?
Woher?
Wo bin ich?
Wer bin ich?
Sie kramte in ihrem Gedächtnis, aber da war nicht viel.
Sie konnte sich lediglich an die letzten Aktionen erinnern: Sie begann damit, ihren Körper zu erforschen. Vermutlich war sie unbeschädigt, aber für eine genaue Analyse war es natürlich noch zu früh.
Sie versuchte, den Kopf zu heben.
SCHMERZ.
Dunkelheit.
※
Die Tage wechselten sich ab.
Bor’sha schien sich der Veränderung kaum bewusst zu sein, jedenfalls kam es Dor’El so vor. Vermutlich ignorierte sie auch nur jede Art von Veränderung.
Der CMTech ließ sich auch nur selten blicken und Dor’El hatte den Eindruck, dass er nicht nur ihre Anwesenheit mied, sondern auch die der anderen MTech.
Obwohl es deutlich gegen den Kodex verstieß, führte der CMTech während Dor’Els Schichten keine Visiten mehr durch. Dor’El hütete sich davor, einen möglichen Verstoß gegen den Kodex zu melden, immerhin war er der CMTech. Er würde schon wissen, was er tat und vermutlich hatte er einen anderen Auftrag. Dennoch kam es ihr seltsam vor.
Die Frau schien jetzt zu schlafen. Jedenfalls hatten sich alle Anzeigen etwas beruhigt, wenngleich sie auch noch nicht denen glichen, die Dor’El erwartet hatte. Die Messbereiche lagen jetzt alle etwas weiter über denen vor dem Alarm. Ab und zu gab es mal einen größeren Ausschlag, aber sonst war alles ruhig.
Dor’El hatte sich außerhalb der Schicht in einen anderen Bereich der Klinik geschlichen und unter dem Vorwand, einen Auftrag für einen notwendigen Datenabgleich zu haben, einen raschen Blick in das Log eines anderen Patienten geworfen.
Die diensthabende MTech hatte weder besonders interessiert, noch argwöhnisch reagiert, aber Dor’El kam sich vor, als würde sie gegen den Kodex der Älteren verstoßen, was vermutlich ja auch der Fall war und sie hoffte, dass es niemandem auffallen würde. Ein seltsames Gefühl.
Das Log unterschied sich jedoch im Aufbau derart von dem bei ihrem Patienten, dass sie so schnell kaum etwas erkennen konnte, was ihr geholfen hätte.
Einen solchen Beobachtungsraum, wie den, in dem sie ihren Dienst versah, gab es offenbar auch in keinem anderen Raum der Klinik. Die anderen Räume waren alle einander ähnlich, aber zu ihrem vollkommen anders: Immer ein Bett, um das man herum gehen konnte und viel weniger Anzeigen und Kontrollen an den Wänden.
Das allein schon reichte, um Dor’El Angst zu machen. Nie zuvor hätte sie es gewagt, vom direkten Weg zwischen dem Beobachtungsraum und ihrer Unterkunft abzuweichen. Jetzt aber kam sie auf Gedanken, die sie zutiefst verunsicherten: Was war der Grund für ihre derzeitigen Gedanken und Aktivitäten? Warum gab es nur bei ihr einen solchen Beobachtungsraum mit einer trennenden Scheibe? War diese Frage überhaupt zulässig? Es war sehr verwirrend und machte ihr große Angst.
Sie nutzte dennoch jede Gelegenheit, um in andere Bereiche der Klinik auch nur flüchtige Blicke zu werfen und erwischte sich immer wieder dabei, dies gleichzeitig als gefährliches Fehlverhalten zu verzeichnen, wodurch sie jeden ihrer Schritte vorsichtig plante, doch es fiel ihr auf, dass niemand außer ihr daran Anstoß nahm. Niemand schien sie zu bemerken, wenn sie ihren Weg zum Schichtwechsel durch die anderen Bereiche der Klinik verlegte.
So stieg ihr Mut von Tag zu Tag.
Sie hatte sich zwar früher auch stundenlang vor das Beobachtungsfenster gesetzt, aber jetzt keimte ein besonderes Interesse in ihr auf, die auf der anderen Seite liegende Frau ganz genau zu betrachten.
Ja, sie interessierte sich auch zunehmend für die sich immer mehr verändernden Anzeigen, trug alles ins Log ein und wunderte sich darüber, dass es Bor’sha vollkommen egal zu sein schien, was sich alles veränderte.
Ein rotes Licht blinkte auf einem der Anzeigepanels.
Nur ein Licht, kein akustischer Alarm.
Mehr rote Lichter.
Kein Alarm.
Dor’El schwang sich zur Konsole herum.
Vor Überraschung weiteten sich ihre Augen. Viele Anzeigen hatten die Grenze der Maximalwerte beinahe erreicht und einige von ihnen standen sogar auf dem Maximum, aber außer den sich zunehmend vermehrenden roten Lichtern, gab es keine Meldung und keinen Alarm. Sie verharrte eine Weile in stummer Beobachtung, aber immer noch ertönte kein akustischer Alarm und auch der CMTech stürmte nicht in den Raum.
Sie suchte auf der Konsole herum und fand den Grund dafür: in der großen Aufregung vor einigen Tagen, hatte der CMTech den Alarm wohl komplett abgeschaltet, ihn aber nicht wieder aktiviert. Das war niemandem bisher aufgefallen und daher blieb es jetzt ruhig.
Dor’Els Herzklopfen synchronisierte sich mit dem Flackern der Alarmanzeigen, und sie spürte eine Spannung in sich aufsteigen, da sie jetzt allein Zeugin der Ereignisse bleiben würde, wenn niemand der anderen MTech in der Klinik davon erfuhr.
Dann blieb ihr beinahe das Herz stehen. Sie hatte sich wieder zum Fenster gedreht und blickte direkt in das Gesicht der Frau im Nebenraum.
Ja. Die schlafende Frau hatte den Kopf gedreht und es schien, als blickten sie sich beide direkt an. Sie hatte jedoch die Augen geschlossen, aber für Dor’El fühlte es sich dennoch so an, als ginge der Blick der Frau direkt durch sie hindurch.
Einige Herzschläge lang verharrte Dor’El in einer etwas unbequemen Haltung und als sie versuchte, sich wieder normal hinzusetzen, wäre sie beinahe komplett vom Stuhl gefallen.
Die Frau hatte nicht nur den Kopf gedreht, sondern auch die Hand lag wieder flach auf dem Tisch. Das alles war mit Zufall oder Reflexen nicht mehr zu erklären.
Dor’El bestätigte die angezeigten Sensoralarme und bald veränderte sich das rote Lichtermeer in ein Feld aus gelben, orangenen und grünen Lichtern.
„Unerklärliche Reflexe, Fehlalarm, keine weiteren Befunde” hatte der CMTech ins Log eingetragen, als damals der Alarm los gegangen war. Jetzt war sich Dor’El ganz sicher, dass das nicht stimmen konnte: die Frau bewegte sich. Der CMTech hatte keine korrekten Einträge hinterlassen und ließ jetzt sogar die Visiten ausfallen. Ging er davon aus, dass sie das nicht merken würde?
Bor’sha, da war sich Dor’El sicher, hatte jedenfalls nichts bemerkt. Sie jedoch wurde immer aufmerksamer und alles kam ihr immer merkwürdiger vor.
Was war mit der Frau los? Sie schlief und erwachte jetzt? Sie bewegte sich? Das war mehr als nur ein Reflex, das war eine normale Bewegung. Was käme wohl als nächstes?
※
Schmerz.
Verschwommene Eindrücke.
Sie fühlte eine harte Oberfläche.
Mühsam konzentrierte sie sich darauf, ihrem Körper Befehle zu erteilen. Bewegung. Wahrnehmung. Verarbeiten sensorischer Eindrücke.
Definition und Unterscheidung haptischer, akustischer und optischer Reize.
Sie war sich sicher, ein Oben und Unten unterscheiden zu können und verband dies mit dem Eindruck, flach auf einer harten Oberfläche zu liegen. Damit erhielt sie eine erste Orientierung im Raum und begann damit, ihre Beobachtung über ihre Körperwahrnehmungen zu erweitern.
Über einen Oberkörper war sie sich sicher und sie konnte vermehrt spüren, dass ihr Rücken in einen Unterkörper münden musste.
Warum auch nicht?
Sie spannte ihren Rücken an und genoss einen bestätigenden Schmerz, der ihr signalisierte, dass sie noch lebte und die Kontrolle über ihre Körperfunktionen zurückerlangte.
Selbstbewusst öffnete sie die noch immer zur Faust geballten Finger und senkte die Hand, um sie auf der Oberfläche, auf der sie offenbar flach lag, abzustützen.
Mit großer Konzentration und Anstrengung stellte sie sich ihre Position im Raum vor und versuchte, sensorische Informationen zu erhalten, doch da war nichts – nur diese Dunkelheit.
Sie kämpfte mit ihren Muskeln und Nerven und zwang sich dazu, den Kopf auf die Seite zu drehen.
Mit einem Mal spürte sie, dass sich eine Übelkeit in ihr auszubreiten begann. Dennoch empfand sie es dankbar als Bestätigung, dass die von ihr beabsichtigte Bewegung ein Erfolg gewesen war, denn sie hatte auf der einen Kopfseite plötzlich einen anderen Eindruck.
Hörte sie etwas in der Dunkelheit?
Dunkelheit. Stille.
Die Dunkelheit war jetzt nicht mehr ganz so undurchdringlich, wie zuvor.
Sie konzentrierte sich.
Es kam ihr vor, als wäre die Dunkelheit einem schemenhaften Grau gewichen. Auf der einen Seite heller, als auf der anderen.
Sie fühlte sich erschöpft und kämpfte gegen das Gefühl, wieder in diese Dunkelheit abzudriften.
Nein, sie wollte mehr von ihrer Umgebung erfahren. Jetzt musste sie aber erst einmal wieder etwas Kraft sammeln, und einen nächsten Schritt planen: Die Augen öffnen. Versuchen, mehr über die Umgebung zu erfahren, in der sie sich befand.
Die Dunkelheit umfing sie wieder. Sie ließ sich hineinsinken, dankbar, diesmal keinen stechenden Schmerz zu spüren.
※
Dor’El befreite sich aus der Schockstarre. Zum ersten Mal konnte sie das Gesicht der Frau genauer betrachten. Sanft geschwungene Augenbrauen, eine kleine Nase, sanft betonte Wangenknochen, einen wohlproportionierten Mund mit leicht geröteten Lippen in einem halbrunden Gesicht. Kurz gesagt: eine sehr angenehme Erscheinung. Fast schon eine Schönheit.
„Eine Schönheit?“ Woher hatte sie diesen Begriff? Dor’El musste sich auf den Beobachtungssitz fallen lassen. Seit wann beurteilten MTech ihre Patienten in diesen Begriffen? Seit wann empfand sie so etwas wie Schönheit? Der Begriff war ihr seltsam fremd, aber er traf zu. Schönheit und Freude. Ja, das war es, was ihr in den Sinn kam, wenn sie die Frau betrachtete.
„Hübsche“ hatte Bor’sha gesagt, aber da hatte Dor’El noch nichts dabei empfunden. Jetzt fühlte sie sich nicht mehr sicher, was sie darüber denken sollte.
So etwas hatte sie so noch nie verspürt. Was war los? War sie krank? Sie fühlte sich nicht krank. Sie fühlte sich gut. Dor’El beschloss, darüber doch mit dem CMTech zu sprechen. Vielleicht war sie einfach zu lange allein mit der Frau gewesen?
Jetzt jedenfalls versuchte sie, sich wieder zu entspannen und nahm sich ausgiebig Zeit für eine intensive Betrachtung der Frau, denn es gab für sie im Moment sonst nichts anderes zu tun und es gefiel ihr, genau das zu tun: Die Frau beobachten. Das war ja ihre eigentliche Tätigkeit.
Unter den Bedingungen der vorherrschenden Beleuchtung fiel es Dor’El allerdings schwer, die Hautfarbe der Frau näher zu bestimmen. Sie hatte keine Zweifel mehr, dass es sich um eine Frau handelte. Und die Hautfarbe? War sie ein wenig dunkler als ihre?
Dor’El stutzte. Noch nie hatte sie darüber nachgedacht. Warum gerade jetzt?
Warum die Frau hier allerdings seit vielen Zyklen schlafend - da war Dor’El sich dann doch nicht ganz so sicher - gelegen hatte, entzog sich ihrer Kenntnis. Sie sann darüber nach, wie lange die Frau hier wohl schon lag. Die Logs waren dabei leider keine Hilfe.
Dor’El gefiel es, am Fenster zu sitzen und die Frau zu betrachten. Ihr wurde ganz angenehm warm dabei.
„Was mit dir los?” Bor’sha stürmte in den Raum.
Dor’El schrak hoch. Wie lange hatte sie schon, die Arme auf die Fensterbrüstung gestützt? Wie lange war sie in die Betrachtung der Frau versunken? Sie hätte es nicht sagen können.
„Alles in Ordnung. Keine Vorkommnisse.” Dor’El rappelte sich hoch und versuchte, sich zu fangen. Sie suchte nach dem Log, um es korrekt zu übergeben.
„Lass ma‘. Mach ich schon.” Bor’sha war wieder mal im Normalzustand. Dor’El hingegen schlug das Herz bis in den Hals.
„Gut.” Dor’El beeilte sich, aus dem Raum heraus zu kommen und fragte sich, warum sich anscheinend niemand - außer ihr - Gedanken um diese Frau machte. Die Frau, die hier schon seit so langer Zeit lag. Als Beobachtungs-… Objekt?
In Dor’El keimte mehr als nur Mitleid auf. War es Wut? War das nicht schon wieder ein Verstoß gegen den Kodex der Älteren? Sie wusste es nicht und genau das verunsicherte sie immer mehr.
Sie nahm heute wieder einen Umweg zur Unterkunft, aber der CMTech war nicht in seinem Raum. Enttäuscht schlich sie voller betrübter, fragender Gedanken durch die Gänge in ihre Unterkunft. Doch sie fand keine Ruhe vor diesen bohrenden Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen.
Einerseits war da ihre Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber, dem Kodex der Älteren, andererseits empfand sie jetzt eine tiefe Bindung zu dieser Frau, die ja - genau betrachtet - den Mittelpunkt ihres Lebens ausmachte.
Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr stieg eine Verzweiflung in ihr auf. Sie fühlte sich plötzlich eingeengt und rezitierte die Lehren des Kodex, die sie schon in der ersten Phase ihrer Bildung gelernt hatte:
Wir sind hier.
Hier ist Sicherheit.
Nichts kann uns bedrohen.
Wir sind Gemeinschaft.
Die Gemeinschaft schützt uns.
Niemand bedroht die Gemeinschaft.
Außen ist Dunkelheit.
Außen ist Unsicherheit.
Außen ist kein Leben.
Das Wissen der Älteren bewahrt uns.