Karl und ich - Baptiste Giabiconi - E-Book
SONDERANGEBOT

Karl und ich E-Book

Baptiste Giabiconi

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Baptiste Giabiconi wurde 2008 zum ersten Mal an Karl Lagerfelds Seite gesehen und machte sich in den folgenden 10 Jahren nicht nur als Karl Lagerfelds Muse und enger Freund, sondern auch als Model einen Namen. Ihn verband eine ganz besondere Beziehung mit Karl Lagerfeld, der für ihn Freund, Tutor und Vaterfigur war. Karl Lagerfeld betrachtete ihn als Ziehsohn und machte ihn zu seinem Erben. Giabiconi beschreibt ihre liebevolle, intensive Freundschaft, die Anlass für zahlreiche Gerüchte wurde. Und er erzählt von „seinem Karl“, wie nur er ihn kannte. Karl Lagerfeld und Baptiste Giabiconi sind Teil des Glanz und Glamour der Modewelt, hinter deren Kulissen sie sich bewegten und in die Baptiste faszinierende Einblicke bietet. Ein sehr persönlicher Blick auf Karl, für alle, die diesem Ausnahmekünstler und seiner Welt noch einmal ganz nah kommen wollen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 273

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eine Freundschaft, eine Vater-Sohn-Beziehung, der Künstler mit seiner Muse — die Geschichte einer tiefen Verbundenheit

Baptiste Giabiconi wurde 2008 zum ersten Mal an Karl Lagerfelds Seite gesehen und machte sich in den folgenden zehn Jahren nicht nur als Karl Lagerfelds Muse, sondern auch als Model und Sänger einen Namen. Mit Karl Lagerfeld, zugleich Freund und Vaterfigur, verband ihn eine ganz besondere Beziehung. In den letzten zehn Lebensjahren des Modezaren waren die beiden unzertrennlich.

Jetzt erzählt Baptiste von Karl, dem Mann, der ihn unter seine Fittiche nahm und liebte wie einen Sohn. Er beschreibt ihn als netter, als nahbarer, als ihn die Öffentlichkeit erlebte und will dieses Buch als Hommage an seine Großzügigkeit seines verstorbenen Freundes verstanden wissen.

Zugleich bietet er einen spannenden Blick hinter die Kulissen der Modewelt, in der er sich an der Seite des großen Idols Karl Lagerfeld bewegte und die Welt der Glitzerati ein Teil derer die beiden waren.

Karl Lagerfeld selbst, stets verschlossen im Hinblick auf sein Privatleben, ermutigte Baptiste, eines Tages diese Geschichte zu erzählen – frei von Klischees und Hörensagen.

BAPTISTE GIABICONI

KARLund ich

DIE GESCHICHTE EINER BESONDEREN FREUNDSCHAFT

Aus dem Französischen von Bettina Seifried

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Karl et moi bei Éditions Robert Laffont, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© Éditions Robert Laffont, Paris 2020

© der deutschsprachigen Ausgabe 2021 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ulrike Strerath-Bolz

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design unter Verwendung eines Fotos von © Sammlung von Baptiste Giabiconi.

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-641-27300-2V002

www.heyne.de

Heiliger Jean-Baptiste, wir bitten dich, mach, dass sich die göttliche Vorsehung für jeden Einzelnen von uns vollzieht, damit wir dereinst vereint im Himmelreich lobpreisen können den Ewigen. Amen.

Fürbitte an den heiligen Jean-Baptiste

»Der Sinn des Lebens ist das Leben.«

Karl Lagerfeld

An dem Tag, als Karl der Welt abhanden kam, fiel mein Blick auf ein paar Seiten, die seine Handschrift trugen. Kurze Anweisungen in rasch hingeworfenen Zügen, wie seine Modeentwürfe, auf mit den Initialen KL geprägten Briefbogen. Auf der letzten Seite, nach seiner Unterschrift, war etwas hinzugefügt worden: »Ich möchte einen Nachhall des Unwirklichen hinterlassen, wie im großen Lied von Malheur – Ich bin der Welt abhanden gekommen.«

Das traf mich, es tat mir weh. Ich konnte es nicht verstehen. Wieso brachte Karl die letzten zehn Jahre – unsere Jahre, in denen wir uns so innig verbunden waren – mit Malheur, mit Unglück in Verbindung? Die Frage trieb mich um, doch gesagt habe ich es keinem. Mit dem iPhone fotografierte ich die Seite ab und starrte danach immer wieder auf die Worte »Unwirklich … Malheur …« Ich war unsicher, ob ich seine Schrift richtig entzifferte. Vergangenen Sommer zeigte ich die Zeilen dann einem Freund auf dem Display. Auch er hatte zunächst Mühe beim Lesen, doch dann sagte er: »Ich glaube, das heißt nicht Malheur, Baptiste, sondern Mahler. Der deutsche Komponist, weißt du? Die Worte beziehen sich auf ein Lied von Gustav Mahler.«

Ich war sehr erleichtert. Karl liebte klassische Musik über alles, genau wie seine Bücher. Ganze Sonntage brachte er in seiner Wohnung am Quai Voltaire damit zu, Entwürfe zu zeichnen, ab und zu auf die Seine zu blicken und dabei klassische Musik zu hören. Als er »der Welt abhanden kam«, erinnerte er sich nicht an Malheur, sondern an Mahler. Und obwohl er in einem Brief an einen Freund einmal schrieb, er sei kein besonders glücklicher Mensch, so war er doch auch kein unglücklicher gewesen. Er liebte die schönen Seiten des Lebens, die Künste, die Freiheit. Humor und Freundschaft waren ihm wichtig, er sprühte vor Energie und Esprit, und er war ein großer Genießer. Er war witzig, umgänglich, immer aufmerksam und großzügig. Selbst in Momenten größter Erschöpfung, wenn ihm alles zu viel wurde, blieb er beherrscht und brummte höchstens leise in sich hinein, um niemanden vor den Kopf zu stoßen. Er zeigte stets Contenance. Und wenn ich in den zehn Jahren, die wir gemeinsam verbrachten, nie etwas von Mahlers Lied gehört hatte, dann lag das daran, dass »Kaiser Karl«, wie ihn die französische Presse – meines Erachtens zu Unrecht – titulierte, anderen nie etwas aufdrängte. Nachdem ich seine letzten Worte endlich einordnen konnte, suchte ich auf YouTube nach diesem Lied und lauschte »Ich bin der Welt abhanden gekommen« zum ersten Mal.

Bis heute vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Karl denke. Mein Karl. Er lebt in meiner Erinnerung fort, strahlt als heller Stern an meinem Firmament. So hell wie das Licht, das nachts durch die Fenster seines weißen Salons am Quai Voltaire schien und die Seine zum Funkeln brachte. In dieser Wohnung, die mit ihren dreihundertfünfzig Quadratmetern voller Hightech-Equipment wirkte wie ein Raumschiff im All, haben wir viele Sonntage gemeinsam verbracht, während der Fernseher oder die Stereoanlage lief, natürlich drahtlos verbunden mit HighEnd-Parrot-Lautsprechern von Starck. Ich fläzte mich auf dem edlen Sofa, während er am Arbeitstisch saß und Entwürfe zeichnete. Das konnte stundenlang so gehen, ihm war nur wichtig, dass ich da war. Allerdings blieb ich nie über Nacht. Abends kehrte ich zu mir nach Hause zurück und überließ ihm sein Raumschiff allein. Ich habe Karl geliebt, Karl hat mich geliebt. Ich liebe ihn immer noch. Und an dem stillen Ort, an dem er jetzt ruht – er, der nicht an Gott glaubte –, liebt auch er mich in alle Ewigkeit, das weiß ich. Ich glaube nämlich an einen Himmel. Und der beste Beweis ist: Eines schönen Tages rannte mir Karl Lagerfeld auf der Straße entgegen.

Kapitel 1

»Es liegt an uns selbst, jeden Tag so vollkommen wie möglich zu leben.«

Karl Lagerfeld

Der Moment der Wahrheit ereignete sich, als wir in seinem Appartement am Quai Voltaire waren. Wir standen in der Küche, ausgestattet wie die eines Edelrestaurants, tipptopp eingerichtet, alles blitzblank, aber völlig nutzlos, denn Karl nahm seine Mahlzeiten stets in einer anderen Wohnung ein. Ich hatte den Eindruck, dass er die Küche mit dem Riesenkühlschrank voller Pepsi-Dosen, dem Brot im unteren Fach neben der Edel-Butter und der Flasche Ruinart-Champagner im Türfach überhaupt nur betrat, wenn ich da war. Karl hatte keine Ahnung, wer die Flasche dort deponiert hatte – für alle Fälle, falls Besuch vorbeikam. Allerdings empfing Karl am Quai Voltaire nie jemanden, und er selbst rührte keinen Tropfen Alkohol an (außer in seinen letzten Jahren, da genehmigte er sich ein kleines Glas Château Cheval Blanc zum Essen, auf Anraten seines Arztes). Ich übrigens auch nicht.

Der Tag war, soweit ich mich entsinne, überhaupt nicht außergewöhnlich verlaufen, es gab auch nichts zu feiern. Karl und ich standen einfach so in der Küche und unterhielten uns. Und dann, während einer Gesprächspause, wurde es plötzlich hoch emotional. Dieser Moment hat sich in meine Erinnerung eingegraben wie kein zweiter. Karls Stimme klang plötzlich anders, zärtlich, leise, ganz weich, als spräche nun sein wahres Selbst: »Weißt du, Baptiste, dass wir dabei sind, eine Linie zu überschreiten? Eine Grenze, über die ich keinen kommen ließ seit Jacques1. Spürst du das?«

Er blickte mich erwartungsvoll an mit seinen braunen Augen. Er wollte einen Pakt besiegeln, wirkte gespannt, fast ein wenig hilflos. Solche Geständnisse gehörten nicht zu seinem normalen Repertoire. Er wartete auf meine Reaktion.

»Es gibt kein Zurück mehr«, sagte er.

Ich war verblüfft und gerührt. So emotional hatte ich ihn noch nie erlebt – er, der stets ausgeglichen wirkte und nie öffentlich Gefühle zeigte. Ich zog ihn spontan an mich.

»Ach, Karl, was soll ich sagen!«

Vor Glück drückte ich ihm einen Kuss auf die Wange, einen dicken, innigen, so herzlich hatte ihn wahrscheinlich schon lange keiner mehr umarmt. Wie ein Sohn den Vater. Karl schien sehr aufgewühlt und zitterte leicht, ich sehe ihn noch vor mir, unfähig zu sprechen, als wäre ihm so etwas noch nie passiert. Die Zeit schien stillzustehen. Wir mussten uns für nichts schämen, unsere Zuneigung war echt, es waren unsere Gefühle, es ging um uns. Ich musste irgendetwas sagen.

»Karl … das ist das größte Geschenk, das ich mir vorstellen kann. Dass du mir so viel Zuneigung und Wärme entgegenbringst, hätte ich nie für möglich gehalten! Aber eines weiß ich sicher: Du und ich, das ist kein Zufall. Das ist Schicksal. Wir waren dazu bestimmt, uns eines Tages zu begegnen.«

Was ich bis heute nicht weiß, ist, ob Karl an die Macht des Schicksals glaubte. Eigentlich glaubte er an nichts, außer an seine Arbeit. Doch in diesem Augenblick wirkte er fast ein wenig unsicher. Er schwieg.

Zwischen uns war vom ersten Moment an eine unglaubliche Nähe entstanden, die er mit niemandem sonst teilte. Wir hatten unsere ganz eigene Art entwickelt, Zeit miteinander zu verbringen: entspannt, innig, mit vielen Gesprächen, Lachen, Necken, Fernsehen und Spazierengehen am Ufer der Seine und über die Pont des Arts. Bevor wir uns begegneten, hatte Karl nicht mehr daran geglaubt, in seinem Leben, in seiner selbst gewählten, prächtigen Isolation, noch einmal so viel Zuneigung und Liebe zu erfahren. Er suchte die Nähe zu anderen Menschen nicht und brauchte sie auch nicht. Die Art von Nähe, die entsteht, wenn man zum Beispiel in den Arm genommen wird. Ich bin ein Kind des Südens, aus Marseille, dort haben wir keine Scheu vor Berührungen. Was nicht bedeutet, dass ich ständig alle und jeden betatsche und umarme. Auch kleine Gesten müssen von Herzen kommen. Karl genoss meine kleinen Streicheleinheiten sehr, die er gern ein bisschen auskostete, bevor er sich dann wieder löste.

»Na, na, mon coco …«, murmelte er damals in der Küche und klopfte mir etwas unbeholfen auf die Schulter, ohne mich anzusehen. Er hatte feuchte Augen.

Sein Geständnis wühlte mich auf, ich war vollkommen überrascht. Und auch wieder nicht. Es hatte die enge Verbindung zwischen uns nur besiegelt, die seit dem Augenblick unserer ersten Begegnung etwa ein Jahr zuvor bestand. Ich war kaum zwanzig, er über siebzig Jahre alt, und doch fand ich ihn weder alt noch mich besonders jung, auch wenn die nackten Zahlen eine andere Sprache sprachen. Ich hatte das Gefühl, das ganze Leben liegt noch vor mir. Karl aber wusste, dass sein Leben größtenteils hinter ihm lag.

Uns steht eine große Zukunft bevor, dachte ich, und es würde paradiesisch werden. Vielleicht würde es manchmal Ärger im Paradies geben, ein bisschen hohe See hie und da, aber das würde uns nicht erschüttern. Denn zwischen uns bestand ein Band, das nur der Tod auflösen konnte – an den ich damals natürlich keine Sekunde dachte. Mir ging es nicht darum, ihn zu besitzen. Karl ging es nicht darum, mich haben zu wollen. Unser Band bestand aus aufrichtiger, zärtlicher Zuneigung, die über jeden Anspruch erhaben war. An dem Tag in der Küche am Quai Voltaire war daraus Liebe geworden. Auch ich hatte es gespürt, Karl hatte es nur als Erster ausgesprochen. Eigentlich war er nicht halb so scheu hinter seiner dunklen Sonnenbrille und der exzentrischen Aufmachung, wie von ihm behauptet wurde. Unsere große Liebe, eine Liebe, wie es noch keine gab, begann an jenem Tag.

Karl sagte oft, wir beide seien uns sehr ähnlich. Ich habe mich immer gefragt, warum. Auf einer Fotografie, die ihn im Alter von etwa zwanzig Jahren zeigte, sah er tatsächlich ein bisschen aus wie ich. Aber was hatten wir sonst gemeinsam? Er blieb mir die Antwort schuldig. Und ich stelle mir die Frage bis heute: Warum? Warum hat er, der Gott und die Welt kannte und die hübschesten Jungs im Universum hätte um sich scharen können, warum hat sich dieser Mann ausgerechnet für mich entschieden?

Im Grunde war ich ein Außenseiter. Ich stand nicht über und auch nicht unter den anderen, sondern meistens einfach daneben. Schon als kleines Kind spürte ich eine tiefe Einsamkeit in mir. Ich war da, in der Welt, aber allein. Mir lag nie etwas daran, andere herumzukommandieren oder über Menschen zu bestimmen, aber ich träumte davon, mich von anderen abzuheben. Nur: in welcher Hinsicht? Ich hatte keine Ahnung, fühlte nur eine unbestimmte Sehnsucht nach etwas anderem, nach Wandel und Veränderung. Und ich war überzeugt, dass mir das Schicksal eines Tages einen Wink geben würde. Irgendetwas hatte es mit mir vor, etwas Besonderes, daran bestand für mich kein Zweifel.

Die Kindheit war mir lästig, darin glichen wir uns, Karl und ich. Obwohl ich mich nicht über mangelnde Zuwendung von meiner Mutter und den beiden älteren Schwestern beschweren konnte. Ich wuchs zwar ohne Vater auf – er hatte die Familie früh verlassen –, aber ich wurde geliebt und verhätschelt. Trotzdem war mir das Kindsein vergällt, es zog sich ewig hin und war vor allem öde. Mit fünfzehn oder sechzehn begehrte ich auf und ließ mir nichts mehr sagen. Nun wollte ich das Steuer in die Hand nehmen, und entweder fuhr ich mein Leben an den nächsten Baum, oder ich hob ab in die Lüfte! Verantwortung zu tragen machte mir keine Angst. Doch in der Gegenwart anderer Kinder fühlte ich mich unwohl. Mir war die Gesellschaft von Erwachsenen lieber, und ich mischte mich gern unter sie, wenn sie sich unterhielten. Wenn ich dann zurechtgewiesen wurde, bekam ich schlechte Laune. Meine sechzehn Jahre ältere Schwester Marie-Line sagte immer: »Wenn die Großen miteinander reden, hast du Pause!« Das machte mich wütend, ich wollte mir von ihr nicht vorschreiben lassen, mit wem ich sprechen und was ich sagen durfte. Dafür musste sie büßen – ich bin Sternzeichen Skorpion, und zwar ein ziemlich ausgewachsenes Exemplar! Also habe ich ihr die Schnürsenkel ihrer Lieblingsschuhe zerschnitten. Mein Freund und Agent Élie meinte dazu, ich sei eben manchmal »ein kleines Arschloch«. Er kennt mich ziemlich gut, aber manche Dinge vereinfacht er auf gröbste Weise.

Mit den Lehrkräften an unserer Schule hatte ich es auch nicht so: Sie wurden ja dafür bezahlt, uns jahrein, jahraus Lektionen zu erteilen. Das hielt ich nicht lange aus. Ich war kein schlechter Schüler, sondern einer von der Sorte, über die man in der Zeitung liest, dass sie durchs Raster des französischen Bildungssystems fallen. Mir fehlte es nicht an Respekt, ich habe mich im Unterricht nur zu Tode gelangweilt. Schon damals hatte ich ein gutes Gespür dafür, was mir lag und was nicht. Allerdings war ich als Teenager noch nicht in Bestform, eher vom Stamme mager und hässlich. Jedenfalls wanderten die Blicke der Mädchen stets über mich hinweg, und ich versuchte, nicht weiter aufzufallen. Deshalb passierte nichts, nichts passte mir, das passte alles nicht zusammen. Ich war ein pubertierender Jungspund auf der Suche nach etwas … auf der Suche nach mir selbst. Niemand hätte damals einen Centime auf mich gewettet. Vielleicht rührt es aus der Zeit, dass ich bisweilen etwas aufbrausend reagiere. Ich war kreuzunglücklich, wenn ich nicht beachtet wurde oder wenn das, was ich sagte oder dachte, kein Gehör fand. Ich war nicht blöd und machte mir durchaus ein paar Gedanken über die Welt, doch das scherte die anderen einen feuchten Kehricht. Wenn ich zu Hause mehr als drei Worte sagte, ging’s los: »Och jechen!«, kicherten meine Schwestern dann. »Hör dir den Kleinen an, will mitreden! Wie niedlich!« Knirschgrummelnerv … Nach außen wirkte ich vielleicht nett und niedlich, aber innerlich wäre ich jedes Mal fast geplatzt. Obwohl mich ihr Spott empfindlich traf, ließ ich mir nichts anmerken, weil ich meinte, dass nett sein einen besser durchs Leben bringt. Es half nicht immer. Ab und zu explodierte mein innerer Schnellkochtopf doch.

Andererseits hatte ich stets das große Bedürfnis, zu teilen, mich mitzuteilen, anderen etwas von mir zu geben. Die Frage war nur: Wen interessierte es? Wer wollte etwas von mir? Ich fühlte mich einsam und unglücklich. Aber immer den netten Kerl markieren, das ging auch nicht, sonst stand man schnell als Loser da. Alle hacken dann auf dir rum, und den Letzten beißen die Hunde. Das war auch Karls Ansicht nach den Erfahrungen eines langen Lebens: Nettigkeit bringt einen in dieser Welt nicht weiter. Und so mutierte ich vom niedlichen Nesthäkchen zweier älterer Schwestern, die den lieben langen Tag quatschten, ohne mir zuzuhören, zum jähzornigen Teenager. Doch selbst wenn ich in meinem Frust laut brüllte, um gehört zu werden, meinten meine Schwestern ungerührt: »Lass stecken und zisch ab in dein Zimmer, Baptiste!« Mit dem Ergebnis, dass ich bis heute hitzig reagiere, wenn ich den Eindruck habe, dass man mich nicht ernst nimmt.

Ich wollte mich beweisen, Grenzen austesten, über mich hinauswachsen. Die Banalität des Teenager-Alltags drohte mich zu ersticken. Mein Grundgefühl war damals Überdruss. Ich suchte den Adrenalinkick, wollte kreativ und selbstbestimmt sein, vor dem Wind segeln, atemlos durchs Leben. So war ich drauf, ohne genau zu wissen, was ich wollte, als ich am 8. Juni 2008 Karl Lagerfeld begegnete. Ich war achtzehn Jahre alt, vaterlos, von der Mutter verwöhnt, aus unbürgerlichem Hause. Karl merkte sofort, dass ich nicht den Erfolg, sondern im Grunde mich selber suchte. Er erkannte in mir den Jungen, der neue Horizonte erobern wollte, das Abenteuer suchte und Geschichten erzählen wollte, denen man begierig lauschte.

Nach der Schule fing ich zunächst eine Ausbildung in der Hotellerie an, um mein eigenes Geld zu verdienen. Und ich lernte Geduld, mich zusammenzureißen und nicht ständig aus der Haut zu fahren: Auch das konnte nicht schaden. Denn Stil ist keine äußerliche Angelegenheit, guter Stil ist ein Spiegel. »Eine angenehme äußere Erscheinung ist der Ausweis einer schönen Seele«, war Karls Meinung dazu. Bald wechselte ich das Metier und wurde Monteur im Flugzeugbau, das heißt, ich schraubte Hubschrauber zusammen. Eine anspruchsvolle Aufgabe, für die man viel Geduld und Konzentration brauchte und exakt arbeiten musste. Ein Helikopter ist ja kein Toaster oder Spielzeug. Mir wurde sogar ein Ausbildungsplatz angeboten, doch ich wollte einfach Geld verdienen und war bestimmt nicht der Erste, der sich auf der Suche nach seiner wahren Berufung mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt. Die Firma Eurocopter mit Sitz im südfranzösischen Marignane war weltberühmt, und es erfüllte mich mit Stolz, dort beschäftigt zu sein. Eurocopter klang in meinen Ohren wie Top Gun. Ich fühlte mich auch wie ein kleiner Tom Cruise, obwohl ich unsere Arbeitskluft ziemlich unsexy fand. Damals fing ich an, sehr wählerisch in Sachen Kleidung zu werden. Heute bin ich geradezu pedantisch. Wenn ein Knopf an meinem Hemd fehlt, könnte ich kreischen. Aber nur kreischen, nicht mehr aus der Haut fahren. Meistens trage ich ohnehin Sweat- oder T-Shirts.

Und dann kam der Tag, mit dem so viele Model-Karrieren beginnen: Man wurde auf mich aufmerksam, ich wurde entdeckt. Von einem etwas schrägen Typen um die dreißig, unbeholfen, nicht gerade attraktiv, aber auch nicht suspekt. Ich fand ihn ganz sympathisch. Auf einmal öffnete sich mir die Tür in eine unbekannte Welt, ein neuer Horizont tat sich auf. Ich arbeitete gern bei Eurocopter, verstand mich gut mit den Kollegen, fühlte mich wohl in der etwas hemdsärmeligen Atmosphäre des Malochermilieus und schätzte die Gewissenhaftigkeit, mit der alle jeden Tag aufs Neue ans Werk gingen. Doch Nicolas, mein neuer Bekannter, hatte Kontakt zur Modeszene. Nicht, dass ich immer schon davon geträumt hätte, in diese Branche einzusteigen. Von allein wäre ich nie auf die Idee gekommen. Doch er fixte mich an. Wir konnten uns super unterhalten und freundeten uns an. Nicolas unterrichtete Fotografie, war künstlerisch sehr begabt und ein hervorragender Fotograf. Allerdings verbreitete er stets eine unergründliche Melancholie um sich herum und war alles andere als eine Stimmungskanone. Doch er war intelligent, einfühlsam, kultiviert … und einsam, wie ich. Nicolas wusste genau, was er wollte, wenn er mich fotografierte; er gab mir wertvolle Tipps, obwohl ich das Modeln zuerst nicht ernst nahm. Ich fand es eine interessante Ablenkung, aber eine Möglichkeit, meinen Lebensunterhalt zu verdienen? Ich wusste es nicht. Er behauptete, ich sei ein »echtes Juwel«. Na, von mir aus … Nicolas mochte mich mehr als gern, ohne es offen einzugestehen. Er begehrte mich, aber ich tat so, als merkte ich es nicht. Er sagte nichts, und ich wollte es nicht so genau wissen. Als er mir eines Tages Nacktaufnahmen vorschlug, habe ich die Stopptaste gedrückt. Nicht aus Prinzip oder weil es mir Angst machte, sondern weil mir das Gefühl dabei fehlte. Ein Gefühl für ihn. »Okay«, meinte er, »trotzdem schade.« Er war nicht pervers, eher sexuell unsortiert und sich selbst fremd und hinter seiner professionellen Fassade im Grunde ein tieftrauriger, hochsensibler Mensch. Wir blieben Freunde, obwohl er ein bisschen seltsam war. Menschen, die einem neue Horizonte eröffneten, traf man schließlich nicht alle Tage. Nicolas wurde mein erster Agent, als das mit den professionellen Castings losging, erst in Marseille und später in Paris. Gemeinsam zogen wir von Agentur zu Agentur, Nicolas kannte erstaunlich viele Leute aus der Branche. Er war kein Aufschneider oder Stümper, sondern ein talentierter Fotograf aus der Provinz, dem der große Durchbruch nicht gelungen war. Nun setzte er auf mich und wollte dabei sein bei meinem Siegeszug. Ich fragte mich ernsthaft, von welchem »Siegeszug« er faselte, und war eher verwundert, wie fest er glaubte, ich hätte das nötige Potenzial dafür. Ich ging dann bei Marilyn Agency, einer großen Agentur, unter Vertrag. Doch Nicolas blieb mein persönlicher Agent. So ein Arrangement war in der Model-Branche durchaus üblich.

Ich merkte bald, dass ich den Leuten gefiel. Ein seltsames Gefühl: angenehm, verlockend, ein bisschen gefährlich. Immer mehr Castings standen an, immer mehr Art-Direktoren und Fotografen wollten Aufnahmen mit mir machen. Meine Agentur bestärkte mich, nun mehr denn je am Ball zu bleiben. Ich hätte mir selbst ein Bein gestellt, wäre ich damals in Marseille geblieben. Die Modewelt wird zentralistisch regiert. Entweder man ging nach Paris, oder man ging baden. Voll reinschmeißen oder Handtuch schmeißen, so lautete die Devise. Ich versuchte, meine Zukunftschancen abzuwägen. Am einen Tag wollte ich einfach kurz entschlossen aufbrechen, am nächsten Tag war mir wieder angst und bang und alles viel zu unsicher, ständig im Wechsel. Ich beriet mich mit meiner Mutter und den Schwestern, vor allem mit Marie-Line, die quasi meine zweite Mutter war. Und dann wagte ich den Sprung ins kalte Wasser. Ich kündigte bei Eurocopter, das heißt, ich lief zum Chef, um ihm meinen Zwiespalt zu erläutern. Er mochte mich und spürte mein Schwanken zwischen Unsicherheit, Verwirrung und wilder Entschlossenheit. »Schau einfach, was passiert«, sagte er. »Und wenn es nicht klappt, kommst du zurück zu uns.« Sein Vertrauen rührte mich, und ich war unglaublich stolz auf unseren kleinen Deal. Vermutlich, weil mir der väterliche Blick fehlte, die Anerkennung des Vaters, Vertrauen und Vertraulichkeit unter Männern.

Also machte ich mich auf nach Paris – wobei das Wörtchen »auf« fast irreführend ist, denn zunächst ging ich eher unter. Die Agentur verfrachtete mich in eine freudlose Sammelunterkunft, durchaus üblich für vielversprechende »neue Gesichter« in der Branche, die in die Höhle der Löwen geschickt werden, um auszutesten, wie sie sich schlagen. Dort, in Paris-sur-Seine, kannte ich kein Aas, die Atmosphäre war unersprießlich und meine »WG« nervig. Wir wohnten zusammengepfercht in einem großen Haus nahe der Porte de Champerret, das eine alte Dame an die Agentur vermietete. Sie selbst wohnte in einem Seitenflügel, wir Models verteilt auf verschiedene Zimmer. Der ehemalige Salon war zu einem Mehrbett-Schlafsaal umgebaut worden, in dem vier Leute hausten. La dolce vita war das nicht. Nachts wurde ich unsanft aus dem Schlaf gerissen, weil der Brasilianer im Bett neben mir wieder eine Frau abgeschleppt hatte, obwohl das eigentlich verboten war. Sie versuchten zwar, beim Vögeln keinen großen Lärm zu veranstalten, weckten mich aber trotzdem auf. Ich fand die Situation schrecklich, so allein in der Nacht unter den Laken, während nebenan zwei Fremde rummachten. Ich dachte nur: »Oha, so geht’s also in der Großstadt zu. Baptiste, du hast echt keine Ahnung vom Leben.«

Tags darauf stand ich auf, absolvierte brav Casting-Termine und telefonierte abends mit meiner Mutter, meiner Schwester und Nicolas. Was nicht gut lief, hakte ich gleich ab. Ich sah enorm viele Fotostudios von innen mit mehr oder weniger sympathischen Fotografen, tolle Showrooms, protzige Showrooms, kuriose Settings. Ich war nicht glücklich und nicht unglücklich. Ich wartete ab und gab die Hoffnung nicht auf. Ich hielt meine Groschen zusammen, gab wenig aus und machte mir oft Sorgen ums Geld. Doch irgendetwas würde schon passieren. Die Profis um mich herum schienen sich dessen zumindest recht gewiss zu sein, besonders Nicolas. Aber Sicherheit gab es keine, in der Welt der Mode schon gar nicht. Es galt also, immer pünktlich dort aufzukreuzen, wohin dich die Agentur schickte: Mappe präsentieren, dein Gesicht in die Kamera halten, zwischendurch ein paar Nudeln oder eine Schale Reis futtern. Und gute Miene zum brasilianischen Superstecher im Bett nebenan machen.

Ich freute mich auf die Ferien. Der Frühling war endlich in Paris eingezogen, und bald würde ich zu meiner Familie in den Süden fahren und meine Freunde Filou und Bison treffen. Bis dahin stemmte ich fleißig Gewichte in einem Sportstudio, das den Models meiner Agentur freien Eintritt gewährte. Ich verbrachte viel Zeit dort, da ich sonst kaum ausging. Meinen Körper im Slim-Modus zu halten fiel mir nicht schwer, denn lieber fastete ich, als meine Ersparnisse aufzubrauchen. Für »neue Gesichter« übernahm die Agentur zunächst alle Miet- und Fahrtkosten, die sie sich zurückholte, sobald erste Verdienste reinkamen. Meine Schuldenliste wurde mit jedem Tag länger. Das beunruhigte mich. Ich bin ein kleiner Schisser, der bereit ist, sofort alles hinzuschmeißen, nur um die Angst loszuwerden. Falls sich die Situation bis zum Sommer nicht grundlegend änderte, schwor ich mir, würde ich für immer nach Marseille zurückkehren. Zu meiner Helikopter-Firma und meinen Kumpeln.

Die Agentur hatte wieder einmal einen Vorstellungstermin für mich arrangiert, beim WAD Magazine, einer der angesagtesten Zeitschriften der Branche. Alle wollten mich sehen. Ich raste kreuz und quer durch Paris mit meiner Mappe unterm Arm, treppauf, irgendwo klingeln, zehn Minuten später wieder treppab – und dann auf Nimmerwiederhören. Manchmal wurde ich tatsächlich für eine Veranstaltung gebucht, einmal von einem großen Modehaus, für das ich dann einen verrückten Nachmittag lang defilierte, ganz großes Kino, völlig surreal. Fashion Week, Seite an Seite mit den ganz Großen der Szene, bekannte Topmodels, die überall rauschende Erfolge feierten und schnell mal nach New York zu total wichtigen Premieren düsten, dafür hoch bezahlt wurden, mit Stylisten und Designern im Schlepptau, Champagner in Strömen und allem Drum und Dran. In der ersten Reihe saßen berühmte Stars, die mir bewundernde Blicke zuwarfen, während ich irre teure Klamotten auf dem Laufsteg präsentierte.

Dann kehrte wieder der graue Alltag ein, die Jagd nach Aufträgen und Fototerminen. Für die Vorstellung bei WAD bereitete ich mich sorgfältig vor, weil Nicolas meinte, es handle sich um ein ziemlich wichtiges »Trend«-Magazin, Stichwort: »arty«. Ich wusste mittlerweile nur zu gut, was »arty« bedeutete – nämlich unterirdische Bezahlung. Wo der »Trend« hinging, erschloss sich mir nicht, aber ich war mir sicher, dass ich mich ihm nicht anschließen wollte. Mir wäre ein ordentliches Honorar lieber gewesen.

Als ich nach dem Termin bei WAD wieder auf die Rue Faubourg Saint-Denis hinaustrat, schien die Nachmittagssonne, und ich spürte, der Sommer nahte. Die Gassen waren lichtdurchflutet, der Termin mit dem etwas speziellen Casting-Direktor Brice Compagnon war super gelaufen. Meine Mutter hatte mich total aufgebaut davor. Trotzdem brauchte ich Struktur, einen Rahmen, feste Termine, Deadlines, sonst fühlte ich mich schnell verloren. Anscheinend ist das bei Scheidungskindern normal. »Wir melden uns«, sagten die Leute vom WAD Magazine – na, warten wir’s ab.

Die Sonne brummte, und mein Telefon summte. Es war die Bookerin von der Agentur.

»Hey, Baptiste, Delphine hier! Gerade hat Monsieur Lagerfeld angerufen, er will dich sehen.«

Den Namen hatte ich schon mal gehört, den Typ schemenhaft vor Augen: beeindruckende Erscheinung, weiß gepuderter Zopf, im Nacken zusammengebunden – aber richtig einordnen konnte ich ihn nicht.

»Cool! Ist doch toll, Delph – oder?«

»Das ist mehr als toll, Baptiste. Das ist der Ham-mer! Er ist der Kreativdirektor von Chanel!«

Ich musste sofort meine Mutter anrufen.

»Maman, stell dir vor, was gerade passiert ist! Ich habe einen Termin bei Karl Lagerfeld!«

»Bei wem?«

»Bei Karl Lagerfeld. Dem berühmten Modedesigner, der von Chanel!«

Meine Mutter schien mit dem Namen noch weniger anfangen zu können als ich.

»Ach, du meinst den etwas Moppeligen, dem immer so warm ist, dass er sich ständig Luft zufächeln muss?«

Chanel, Decathlon, alles dasselbe – meine Mutter freute sich jedenfalls für ihren Buben. Wenn wir mit der Familie zum Einkaufen loszogen, besuchten wir eben andere Läden. Doch so langsam schien meine berufliche Zukunft Form anzunehmen.

»Siehst du, mein Junge, sag ich doch. Man darf sich nie entmutigen lassen und muss dranbleiben, dann klappt das schon.«

Ein liebendes Mutterherz ist Gold wert. Das mag abgedroschen klingen, aber bei meiner Mutter stimmt es unbedingt.

Im Frühjahr, als ich durch Paris raste und die guten Tage noch weit weg waren, als man den Kopf ganz weit über die grauen Blechdächer der Großstadt hinausrecken musste, um sie herannahen zu sehen, hatte ich einen gewaltigen Blues. Die Ostertage hatte ich deshalb in Marseille bei der Familie verbracht. Nachdem ich den Duft der großen weiten Welt geschnuppert hatte, war es für mich der schönste Ort, den ich mir vorstellen konnte. Ich war kein Nestflüchter, und im Süden war es warm. Maman hatte gespürt, dass ich drauf und dran war, aufzugeben, und meine Fotomappe am liebsten unters Bett in Marignane gepfeffert hätte. Wir sprachen darüber. »Wie bitte? Und was willst du stattdessen machen?« Alles war viel komplizierter und unsicherer als gedacht, das machte mir Angst. Gerade war ein »Angebot« einer italienischen Illustrierten aus Mailand hereingeflattert, auch wieder total »arty« und »trendig«. So arty und trendig, dass sie mir nicht mal das Flugticket bezahlen wollten. Meine Agentur auch nicht. Und dann dieser beknackte Name des Blattes: Slurp! Nicolas wollte, dass ich hinflog von wegen »internationalem« Auftritt und so … aber nichts da! Sogar der Club Med bezahlte die Anfahrt seiner Animateure. Nur Planet Mode war da noch hinterm Mond. Danke, aber nein, danke, Slurp, beurp und merde! Die konnten mich mal. Marseille–Mailand vierhundert Euro hin und zurück, das war ein kleines Vermögen. Ich war stinksauer. Die boten mir quasi einen unbezahlten Job an! Vaffanculo, Milano! Ich hab keine Lust, mich ein Leben lang von euren Spaghetti zu ernähren. In einer solchen Stinklaune hockte ich zu Hause herum, fluchend und angefressen. Meine Mutter verstand das alles, meinte aber trotzdem, ich dürfe nicht aufgeben.

Wir fuhren dann zum Einkaufen in den Supermarkt in Vitrolles. Auf dem Rückweg kamen wir an einer Filiale des Reisebüros Fram vorbei. Maman hielt inne, stellte ihre Einkaufstüten bei einer Bank ab, und wir setzten uns einen Moment. »Was ist denn los?«

»Du gehst da jetzt rein und kaufst das Flugticket, Baptiste. Ich bezahle es dir.«

»O nein, Maman, ganz bestimmt nicht!«

»O doch! Ich bezahle es, betrachte es als dein Ostergeschenk. Diese Mal ist es eben ein ganz besonders dickes Ei. Los, rein mit dir. Ich mache es gern. Ich glaube nämlich an dich. Du musst dranbleiben. Halte durch, Junge, ich bin sicher, dass du es schaffen wirst.«

Und so kam es, dass ich doch nach Mailand geflogen bin für das Shooting bei Slurp. Das für die Ausgabe ausgewählte Bild brachte ich meiner Mutter mit, die es umwerfend fand, auch wenn sie mich darauf kaum wiedererkannte. Das passierte schon mal, dass Maman mich nicht wiedererkannte.

Doch sie war nicht die Einzige, die das Foto später in den Händen hielt. Kurz darauf saß ein Fotograf im Wartebereich eines italienischen Flughafens, sah Slurp auf dem Tisch liegen und blätterte darin herum. Er war gerade auf der Suche nach einem jungen Model für sein nächstes Projekt. Es sollte als eine Art Alter Ego inszeniert werden, als er selbst in jungen Jahren. Obwohl er aus Europas Norden stammte, hatte er einen südländischen Einschlag, sinnliche Lippen, dunklen Teint und dunkelbraune Haare. Ich erinnerte ihn an ihn selbst zu einer Zeit, in die er sich zurückwünschte. An jemand, den er bisher vergeblich gesucht hatte.

Der Fotograf hieß Karl Lagerfeld. Er gab Anweisung, mich ausfindig zu machen. Und wenn dieser Mann Anweisungen gab, dann wurde das pronto erledigt.

Und nun, lieber Karl, sag mir: Wenn das nicht Schicksal war – was dann?

1 Jacques de Bascher, Karls Freund und Lebensgefährte in den Siebziger- und Achtzigerjahren, der 1989, im Jahr meiner Geburt, an Aids verstarb.

Kapitel 2

»Ich bin ein Schlittschuhläufer auf dünnem Eis, ich muss schwerelos gleiten, um nicht einzubrechen.«

Karl Lagerfeld

Der 8. Juni war ein Sonntag, denn Monsieur Lagerfeld pflegte eine Siebentagewoche. Ich ging die Rue du Faubourg Saint-Denis nicht entlang, ich schwebte. Die Sonne lachte mir ins Gesicht, Paris is wonderful, ich hatte ein Ziel, eine große Chance wartete auf mich in der kommenden Woche.