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Der Karmapa ist das Oberhaupt der Karma-Kagyü-Linie, der ältesten Reinkarnationslinie der Welt, und damit das höchste geistliche Oberhaupt Tibets nach dem Dalai Lama. Schon jetzt wird er als Gott verehrt, und viele Tibeter und buddhistische Anhänger in der ganzen Welt sehen in ihm die Zukunft und das neue Gesicht Tibets. Der Journalist und Theologe Stephan Kulle hat den 26-jährigen Ogyen Trinley Dorje, den 17. Gyalwang Karmapa, viele Male in dessen Exil in Dharamsala und an anderen Orten getroffen und ihn in persönlichen Gesprächen so gut kennengelernt wie kein anderer westlicher Journalist oder Besucher. Sein Portrait zeigt den Karmapa nicht nur als den möglichen neuen spirituellen Führer Tibets, sondern vor allem auch als außergewöhnlichen Menschen – aus allernächster Nähe.
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Seitenzahl: 452
Stephan Kulle
Karmapa
Der neue Stern von Tibet
Fischer e-books
In den geschäftigen engen Straßen von Dharamsala, dem Exilort der Tibeter in Nordindien, herrschte im Oktober 2008 große Aufregung. Wie ein Lauffeuer sprach es sich herum: Seine Heiligkeit der Dalai Lama war in eine Klinik nach Delhi geflogen worden. Angeblich für eine Notoperation. In die Aufregung der Exilgemeinde mischten sich Verzweiflung und Traurigkeit. Auf dem Tempelberg beteten Hunderte Mönche, Nonnen, Tibeter und westliche Buddhisten für ihren damals 73 Jahre alten Gottkönig. Ihre große Sorge war, dass er sterben könnte. Plötzlich waren sie sich seiner Vergänglichkeit bewusst geworden, und sie fragten sich verzweifelt, wie es nach ihm weitergehen würde. Immer wieder hörte ich leise Andeutungen, dass im Falle seines Todes der Karmapa die spirituelle Führerschaft der Tibeter übernehmen sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie bewusst vom Karmapa gehört. Ich kannte nur den Dalai Lama.
Damals hielt ich mich gerade am Exilsitz des Dalai Lama auf, um in einem Buch über ihn und seine Umgebung zu berichten. Ich wollte der Faszination nachspüren, die von den Tibetern und ihrem Oberhaupt ausgeht. Mit jeder Begegnung lernte ich Neues über ihre Welt und ihre Religion – mehr, als ich mir als Journalist und katholischer Theologe je hatte träumen lassen.
An das geplante Interview mit dem Dalai Lama war nun natürlich nicht mehr zu denken. Ein Staatssekretär im Ministerium für Religion und Kultur der Administration der Tibeter im Exil bedauerte diese unglückliche Fügung des Schicksals und fragte mich nach meinen sonstigen Wünschen. Spontan antwortete ich ihm, ich würde gern den Karmapa treffen, um ihn zu interviewen. Denn ich hatte noch im Ohr, wie zwei finnische Frauen zu mir gesagt hatten: »Der Karmapa ist die Zukunft.« Sie hatten mir auch erzählt, dass er noch jung sei, aber dennoch einer der höchsten Lamas[1] des tibetischen Buddhismus. Seine Augen seien unglaublich, aber er würde nur selten lächeln.
Ein paar Tage später saß ich in einem schlichten, sonnendurchfluteten Audienzzimmer im Gyuto-Kloster, etwas außerhalb von Dharamsala. Vor mir ein dreiundzwanzig Jahre alter Mönch, besonnen und freundlich und gekleidet wie der Dalai Lama: Seine Heiligkeit der 17. Gyalwang Karmapa.
In der Zwischenzeit hatte ich mich informiert, so dass ich nun etwas besser wusste, mit wem ich es zu tun hatte. Auf der Titelseite des Stern prangten schon 1993 sein Bild und die Zeilen: »Vom Nomadenjungen zum neuen Buddha – Ein Kind ist Gott«. Der britische Independent hatte ihn 2001 den »mächtigsten Teenager der Welt« genannt. Ein Jahr später kürte ihn das Time Magazine Asia zum »Asiatischen Helden des Jahres«. »Tibetan Idol« titelte die amerikanische Time.
Trotz seines jugendlichen Alters trägt er bereits die Verantwortung für eine der vier größten tibetisch-buddhistischen Traditionen, die Karma-Kagyü-Linie, auf seinen Schultern. Mehr noch: Er ist lebendige Geschichte, ein »lebender Buddha« in seinem siebzehnten Leben auf der Erde. Seine Linie reicht 900 Jahre zurück.
Im 12. Jahrhundert führte der erste Karmapa das System der bewussten Wiedergeburt von spirituellen Meistern ein, die erst später von allen tibetisch-buddhistischen Linien übernommen wurde. Seitdem inkarniert sich der Karmapa immer wieder.
Vor mir saß ein Mensch aus Fleisch und Blut. Trotzdem führt der Karmapa weder das normale Leben eines jungen Mannes, noch das eines gewöhnlichen tibetischen Geistlichen. Im Alter von vierzehn Jahren floh er, wie einst der Dalai Lama, ins indische Exil. Gegenspieler haben seine Linie gespalten und setzen ihm zu. Sein Alltag ist alles andere als komfortabel: Er lebt in einer provisorischen Residenz, in einer Art goldenem Käfig, auf den die Bezeichnung »golden« nicht einmal zutrifft.
Wie passt das zusammen mit dem Bild eines bedeutenden religiösen Führers?
Der Karmapa schaute mich an. Er lächelte sogar. Ich war überrascht – von ihm und von seiner Ausstrahlung, aber auch über eine seiner Antworten. Ich hatte ihn gefragt, wie er über die Auferstehung von den Toten denkt, so wie sie die Christen als wichtigsten Grund ihres Glaubens kennen. Seine Antwort war nüchtern, aber dafür umso verblüffender: »Ja, ich denke, das ist möglich!«
Das wollte ich kaum glauben. Einer der höchsten Würdenträger des Buddhismus hält das für möglich, womit so manche Christen ihre Probleme haben? Lag es daran, dass Mystik für Tibeter viel alltäglicher ist als für die Menschen im christlichen Abendland? Oder lag es vielmehr daran, dass der Karmapa selbst seit 900 Jahren sagt: »Ich werde wiederkommen«?
Nach dieser ersten Begegnung war mein Interesse an seiner Person geweckt. Ich wollte mehr über ihn und das Geheimnis seiner Reinkarnationen erfahren. Deshalb sagte ich mir: Ich werde wiederkommen – weil auch er immer wiederkommt.
Es war im Juni 2010, als ich gutgelaunt und erwartungsvoll die Stufen des Gyuto-Klosters hinaufstieg. Riesige rote Hibiskusblüten und Rosen in allen Farben säumten den Weg. Zwischen den Säulen von frischgrünen Wacholdern reckten sie ihre Köpfe der Morgensonne entgegen. Es war ein erhebendes Gefühl, den leicht ansteigenden, langgestreckten Klosterhof zu durchqueren, vorbei an den gelb getünchten Unterkünften für die Mönche geradewegs auf den Tempel zu. Wie ein riesiger Altar thronte er unter der Kuppel des weißblauen Himmels, und die schneebefleckten Berge des Himalaya schmiegten sich wie eine gewaltige Kulisse um ihn herum. Obenauf glänzten die weißen Gipfel wie die Spitzen einer Krone. Dahinter liegt das Hochland von Tibet, das Dach der Welt. Die Grenze ist kaum 50 Kilometer Luftlinie von hier entfernt.
Um Punkt zehn Uhr füllte sich der Klosterhof plötzlich mit Leben. Eine quirlige Menge in Dunkelrot strömte aus dem Tempel und die breiten Tempeltreppen hinunter. Unzählige Kindermönche rannten an mir vorbei und verschwanden durch die Türen der Klosterflügel. Die Größeren von ihnen und die Erwachsenen spazierten eher besonnen und in kleinen Gruppen die Stufen hinab. Die gebogenen dottergelben Lama-Hüte balancierten sie zusammengefaltet auf ihren rasierten Häuptern, um die Kopfhaut vor der Sonne zu schützen.
Auf dem umlaufenden Laubengang im obersten Geschoss des Tempelgebäudes entdeckte ich jemanden im roten Gewand, der sich auf die Brüstung stützte und über das Kloster hinweg ins weite Tal schaute. In der Sonne blitzten Brillengläser. Ich überlegte kurz. Dort oben trug nur einer eine Brille, und das war Seine Heiligkeit der 17. Karmapa. Er stand vor der Tür seiner provisorischen Residenz im Exil. Ich winkte kurz in seine Richtung, da drehte er sich um und verschwand. Wenige Augenblicke später tauchte ein Kopf zwischen den goldglänzenden Dachornamenten auf. Da war er wieder, der Karmapa.
Die Sicherheitskontrolle im großen, leeren Foyer gestaltete sich wie gewohnt nüchtern und umständlich. Ich kannte das Prozedere, denn seit 2008 hatte ich den Karmapa bereits einige Male besucht. An einem Tisch saßen drei Männer von drei verschiedenen Polizeien. Jeder von ihnen blätterte mehrfach meinen Reisepass durch und notierte etwas in einem von drei Büchern. Dann händigten sie mir wortlos einen dunkelblauen Ausweis aus, der an einem blauen Band hing. Der Aufdruck »Visitor« berechtigte mich, den Sicherheitsbereich um den Karmapa herum zu betreten.
Zwei junge Mönche kamen auf mich zu und begleiteten mich in den Warteraum, der hinter der schlichten Empfangshalle lag. Bei Milchtee und Plätzchen sollte ich auf einem der weiß verhüllten Sofas warten.
Heute war nur eine Handvoll Audienzgäste versammelt. Außer einem Ehepaar aus dem Westen sah ich nur asiatische Gesichter. Alle wollten sie den Karmapa persönlich treffen. Sie hantierten aufgeregt mit aufwändig verpackten Geschenken und versuchten sich immer wieder daran, den Khatag, einen langen Segensschal aus weißer, schimmernder Seide dem üblichen Brauch nach zunächst achtmal zu falten und dann bis zum fransigen Ende aufzurollen.
Plötzlich stand Chemed, der Audienzsekretär, neben mir. Mein Blick blieb an den goldenen Knöpfen seines dunkelblauen Sakkos hängen. Er war einer der wenigen Laienmitarbeiter des Karmapa und zuständig für die Planung und Durchführung der Privataudienzen. Wer von ihm einen der begehrten Termine erhalten hatte, durfte Seine Heiligkeit für ein paar Augenblicke sehen, gerade lang genug für eine Begrüßung und einen Segen. Ich wollte aber mehr als nur den Segen, ich wollte ein Buch schreiben. Chemed war daher vom Karmapa gebeten worden, in der folgenden Zeit einige Gesprächstermine für mich zu arrangieren, damit wir ausführlich über sein Leben von der Kindheit bis heute, über die Rolle und die Geschichte der Karmapas, über seine eigene aktuelle Situation und über die Zukunft sprechen konnten. Ich brauchte Zeit mit ihm, und zwar möglichst viel, aber gerade das war ein Problem. Denn nach Vorgabe sowohl der indischen Regierung als auch der tibetischen Administration des Dalai Lama im Exil war es dem Karmapa nur erlaubt, innerhalb der eineinhalbstündigen Audienzzeit am Vormittag Besucher zu empfangen.
Chemed flüsterte, es sei alles vorbereitet. Dann ging es schon los. Unter den strengen Augen zweier indischer Polizisten mit Maschinengewehren kontrollierten sechs Sicherheitsleute der tibetischen Administration alle Taschen und Kleidungsstücke der Besucher. Ich bemerkte ein neues Metalldetektor-Gerät, wie man es von Flughäfen kennt. Es piepte unaufhörlich, entsprechend umfangreich fiel daher auch die Leibesvisitation aus. Vorsorglich hatte ich alle elektronischen Geräte und alle metallischen Gegenstände in meiner Unterkunft gelassen. Aber nun sollte ich auch noch den Kugelschreiber abgeben, der in meiner Sakkotasche steckte. Vorschrift hin oder her, den brauchte ich zum Schreiben. Alle Proteste und Erklärungen halfen jedoch nichts.
Oben im vierten Stock stand ich dann in Strümpfen auf dem grünen Kunstrasen, der geradewegs zur Tür des Audienzzimmers führte. Meiner Schuhe hatte ich mich schon eine Etage tiefer entledigen müssen. Ich erinnerte mich an Audienzen beim Heiligen Vater und an das Klacken der Absätze auf den spiegelnden Marmorböden des Papstpalastes im Vatikan. Dort hatte es immer nach frischem Bohnerwachs und Rasierwasser gerochen. Hier duftete es nach Wiese und Weihrauch.
Chemed hatte mich auf die letzte Position gesetzt. Am Ende der Warteschlange zu stehen, war bisher immer am unterhaltsamsten gewesen, denn nach hinten begrenzten nur ein bewaffneter Polizist und vor ihm zwei junge Mönche den Bereich. Ich kannte sie schon von vorhergehenden Audienzen, und wie damals unterhielten wir uns auch jetzt über Ballack und Lehmann, über Bayern München und Chelsea.
Es ging recht schnell voran. Nur noch das westliche Paar in weiten Leinenkleidern und wilden Locken, dann war ich dran. Zwei asiatische Nonnen in langen hellgrauen Gewändern verließen den Audienzraum verbeugt und im Rückwärtsgang, schon schoben die Leibwächter die Westler hinein.
Endlich war ich an der Reihe. Mitten im Raum stand Seine Heiligkeit lächelnd auf dem grünen Teppich. Ich ging langsam auf ihn zu und kämpfte mit dem Segensschal. Er wollte sich einfach nicht entrollen lassen.
»Guten Morgen Stephan«, begrüßte er mich auf Englisch, und griff sich die Rolle. »Oh je, was hast du denn da gemacht?«, rief er.
Die langen Fransen hatten sich verknotet. Es dauerte einen Augenblick, bis er das Knäuel entwirrt hatte und mir die nun knittrige Khatag um den Hals legen konnte. Dann streckte er die Arme aus, als wollte er sich entspannen und ließ mich auf einem Plexiglas-Sofa Platz nehmen, das im rechten Winkel zu seinem stand. Diese Sofas hatten einen kuriosen Effekt: Wenn man die Augen leicht zusammenkniff, sah es so aus, als würde der Karmapa auf dem grünbuntkarierten Sitzpolster über dem Boden schweben. Er saß noch nicht ganz, da fragte er schmunzelnd: »Und, wie weit bist du mit dem Buch?«
»Fast fertig!«, gab ich zurück. »Ich brauche nur noch ein paar Antworten, dann ist es schon geschafft.«
»Wirklich?«, fragte er erstaunt zurück und sah mich mit großen Augen an, aber ich erkannte sofort, dass er den Spaß verstanden hatte.
Auf dem Glastisch zwischen uns lag ein modernes Aufnahmegerät, das ein Mitarbeiter aus dem Pressebüro vorher eingerichtet hatte. Der Karmapa schaute nach, ob das Gerät bereit war und sagte, wir könnten sofort beginnen. Mit einer Handbewegung wies er Chemed einen Platz auf dem Teppich zu, denn der sollte Seine Heiligkeit aus dem Tibetischen ins Englische übersetzen. Ich fragte den Karmapa, warum er denn nicht gleich Englisch sprechen wolle. Da streckte er seine flache Hand gegen mich aus und zischte: »Tsch Tsch … mein Englisch ist nicht gut.«
»Doch, es ist gut«, widersprach ich.
»Es ist wie arabisch klingendes Englisch. Besser also mit Übersetzung …!«
Er lachte, und Chemed blickte verlegen auf den Teppich.
Ich hatte Verständnis für seine Entscheidung, denn bei wichtigen Themen und heiklen Angelegenheiten empfiehlt es sich, die eigene Muttersprache zu benutzen, um keine Fehler zu begehen. Bei jemandem in einer so hohen Position wird bekanntlich jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Auch der Dalai Lama, der ein recht gutes Englisch spricht, formuliert öffentliche Ansprachen lieber auf Tibetisch, vor allem wenn es um buddhistische Unterweisungen oder um komplizierte politische Fragen geht.
»Worüber sprechen wir?«, eröffnete der Karmapa das Interview und sah mich erwartungsvoll lächelnd an.
»Über die Kindheit«, sagte ich und suchte die richtige Seite in meinem Notizbuch.
»Über mich? Über meine Kindheit?«, fragte er nach und schien plötzlich zurückhaltend.
Mir war bewusst, wen ich vor mir hatte, daher war ich unsicher, ob es angemessen war, ihm Fragen über seine frühen Jahre zu stellen. Schließlich war er nicht irgendein Mönch, sondern jener spirituelle Führer Tibets, der zu einer wichtigen Stimme im Dialog der Religionen werden würde. Er war die Hoffnung der Tibeter und möglicherweise das zukünftige Gesicht des Buddhismus, so wie es seit einigen Jahrzehnten der 14. Dalai Lama ist. Der Karmapa ist das Oberhaupt einer der vier Traditionen des tibetischen Buddhismus, der Karma-Kagyü-Schule. Er ist Träger der Schwarzen Krone, die seine spirituelle Meisterschaft symbolisiert, und das jüngste Glied einer Kette erleuchteter Wesen, die zurückreicht bis zum historischen Buddha Shakyamuni, der 500 vor Christus in Indien lebte. Im 12. Jahrhundert führte diese Kette erleuchteter Wesen zum ersten Karmapa, der die einzigartige Fähigkeit entwickelte, seine Reinkarnation genau vorauszusagen. Dies tun ihm seit nunmehr 900 Jahren alle Karmapas gleich, während die Übertragungslinie der Dalai Lamas erst 300 Jahre später entstand.
Vor mir saß nun also dieser bedeutende spirituelle Meister in seiner siebzehnten Inkarnation, scheinbar ein junger Mönch von 25 Jahren, aber im Grunde 900 Jahre alt. Ehe man über seine Geburt und seine Kindheit spricht, sollte man ein paar äußerst wichtige Ereignisse vor seiner Geburt beleuchten. Nur so wird die Besonderheit seines Lebens deutlich.
*
Es war Ende Januar 1981, im letzten Monat des tibetischen Eisenaffenjahres. Seine Heiligkeit der 16. Karmapa, Rangjung Rigpe Dorje, litt an einer schweren Krebserkrankung und war nach Kalkutta gefahren, um sich ärztlich behandeln zu lassen. Für die letzten Tage dort rief er Situ Rinpoche, einen seiner vertrautesten Lamas und Linienhalter, zu sich, damit der ihm Gesellschaft leiste. Am Vormittag des fünften Tages wollten sie auf den Markt für Ziervögel gehen und Sehenswürdigkeiten besichtigen. Seine Heiligkeit war trotz seiner Krankheit bester Laune, erzählte Geschichten von früher und gab seinem Schüler auch eine Reihe von spirituellen Anweisungen zur Meditation.
Wie an jedem der Abende zuvor redeten sie nach dem Essen bis spät in die Nacht. Kurz vor dem Schlafengehen brachte Situ Rinpoche dem Karmapa einen frisch gepressten Orangensaft, weil er wusste, dass er ihn besonders gern mochte. Das war der Augenblick, als ihm der Karmapa ein Schutzamulett gab und sagte: »Das ist ein sehr wichtiger Schutz. Er wird dir einmal gute Dienste erweisen.« Zehn Monate danach starb der 16. Karmapa. Kurz vor seinem Tod hatte er den getreuesten seiner Lamas noch gesagt: »Weint nicht. Ich werde wiederkommen …«
*
Während im indischen Exil die Anhänger des 1981 verstorbenen 16. Karmapa verzweifelt nach dem Prophezeiungsbrief für seine nächste Inkarnation suchten, bahnte sich im fernen Osten Tibets Erstaunliches an: Im Frühjahr 1984 saß ein Ehepaar mittleren Alters vor dem schlichten Thron von Amdo Palden, dem Abt des Karlek-Klosters im osttibetischen Hochland nördlich der Himalaya-Kette. Döndrup und Lolaga waren von ihrem Nomadencamp aus dem Bakhor-Tal zu dem kleinen ländlichen Kloster gepilgert. Die buddhistischen Mönche und die Nomadenfamilien aus der Umgebung hatten es nach der Zerstörung durch die Soldaten der chinesischen Befreiungsarmee mit wenig Geld und viel Mühe gerade erst wieder aufgebaut. Endlich konnte der Abt wieder junge Mönche ausbilden.
Döndrup und Lolaga wollten von Amdo Palden Hilfe und Unterstützung für die Geburt eines Sohnes erbitten. Sie waren zwar schon Eltern eines fast erwachsenen Sohnes und sechs nachfolgender Töchter, aber sie sehnten sich nach einem weiteren Sohn. Ihr Wunsch war lange Zeit unerfüllt geblieben.
Abt Amdo Palden war ein stattlicher Mann mit strahlenden Augen in einem kantigen, sonnengegerbten Gesicht. Seine extrem langen schwarzen Haare trug er zu einem Turban aufgetürmt, wie es große Yogis in Tibet traditionell tun. Es war noch nicht lange her, dass er aus einem chinesischen Gefängnis entlassen worden war. Die zwanzig Jahre Inhaftierung und Folter sah man ihm nicht an. Ein Yogi[2] seines Kalibers kann dank seiner spirituellen Kraft noch ganz andere Herausforderungen überleben, heißt es. Döndrup und Lolaga vertrauten ihm. Der Abt sah sie lange an, sann nach und sagte ihnen schließlich seine Hilfe zu. Jedoch stellte er die Bedingung, dass die Eltern ihren zukünftigen Sohn als Mönch in sein Kloster geben. Nachdem die Eltern zugestimmt hatten, sagte er ihnen, was zu tun sei. Sie sollten Pilgerfahrten unternehmen, den Armen und Bedürftigen Almosen gewähren und besondere Gebete sprechen – es handelte sich dabei immerhin um 111000 Mantren. Amdo Palden selbst versprach auch, besondere Gebete zu sprechen und Rituale für ein gutes Gelingen abzuhalten.
Ihre Gebete sollten bald erhört werden.
Die Nomadenfamilie von Döndrup und Lolaga stammt aus der Siedlung Bakhor im Bezirk Lhatok, der in der Region Kham im Osten Tibets gelegen ist. Lhatok ist ein riesiges Gebiet etwa von der Größe der Eifel. Die Dimensionen des Landes und die Verteilung der Bevölkerung versteht man erst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ganz Tibet ungefähr so groß ist wie Westeuropa. Eine Fläche, die von nur knapp sechs Millionen Tibetern bewohnt wird. Bakhor liegt etwa 1500 Kilometer östlich von der Hauptstadt Lhasa in Zentraltibet.
In ihrer Siedlung leben fast 70 Familien mit über 400 Menschen in mehr oder weniger lockeren Verbänden und Nachbarschaften zusammen. Den rauen Winter über bleiben sie zusammen in Bakhor. In den kalten Monaten bewohnt die Familie von Döndrup und Lolaga ein geräumiges Steinhaus mit einem angebauten Stall für die Tiere. Sie besaßen damals sieben bis acht Pferde, etwa 200 Schafe und Ziegen und etwa 80 Yaks. Somit waren sie als ziemlich wohlhabend angesehen.
Etwa neun Monate im Jahr kampieren die Familien an den sattgrünen Weiden auf dem Dach der Welt, wo ihre Tiere reichlich Futter und Auslauf finden. Nur wenige staubige Pfade durchziehen die hügelige Hochebene wie helle Adern. Früher befanden sich hier noch dichte, gesunde Wälder, heute sind auf den kahlen Berghängen nur noch die abgesägten Stümpfe zu sehen. Die Bäume wurden von den Chinesen in den 1960er und 70er Jahren radikal abgeholzt. Also bleibt den Nomadenfamilien für ihren Lebensunterhalt nur noch das Vieh. An geeigneten Stellen in den Tälern, bei den Flüssen, die kristallklares, mineralreiches Wasser von den Gletschern der Achttausender herab tragen, schlagen sie ihre Quartiere auf. Meistens sind es drei oder vier Familien, die zusammen von Ort zu Ort ziehen. Sie sind in der Regel verwandtschaftlich verbunden, aber zugleich auch eine Nutzgemeinschaft, denn in der Abgeschiedenheit sind sie oft auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Nur ganz selten kreuzen Pilger oder Händler ihre Wege. Im Laufe des Sommers wechseln sie etwa drei- bis viermal den Standort, damit die Tiere frische Weiden und genügend Wasser zur Verfügung haben.
Jede Familie bewohnt ein kreisförmiges großes Zelt aus schwarzem Yak-Haar. Gegenüber dem Eingang befindet sich meist der Altar, mit Buddha-Statuen, Bildern von hohen Lamas, Opferschalen und einer immer brennenden Butterlampe, als Symbol der erleuchteten Buddha-Natur. Der Boden ist mit Teppichen bedeckt, und am inneren Zeltrand stehen große Kisten mit den Habseligkeiten der Familie und die Ausrüstung für das tägliche Leben. Elektrizität gibt es dort oben in etwa 4000 Metern Höhe natürlich nicht. »Künstliches« Licht spenden ausschließlich das Feuer und die Butterlampen, die den ganzen Tag brennen. Tageslicht dringt nur durch die aufgefaltete Tür und eine große verschließbare Öffnung an der Spitze des Zeltdaches ins Innere. Durch diese obere Öffnung entweicht auch der aufsteigende Rauch von der Feuerstelle in der Mitte des Zeltes. Fenster gibt es keine.
Der Lebensrhythmus der Nomaden wird vom Mond bestimmt. Zu Zeiten von Neumond und Vollmond werden besondere Rituale abgehalten. Für das Schlachten von Tieren oder für den Abschluss von Geschäften wird nach einem günstigen Zeitpunkt im Mondkalender geschaut.
Sonnenorientierte Völker sind eher patriarchalisch organisiert, weil die Sonne an sich dem rationalen, also dem als männlich geltenden Prinzip zugeordnet ist. Nomadenvölker sind mondorientierte Gemeinschaften. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Frauen in den Nomadensiedlungen eine wichtige und bestimmende Rolle innehaben, weil sie das Alltagsleben organisieren und aufrechterhalten.
Die Frauen führen mit sanfter Hand Regie im Zelt, versorgen und erziehen die Kinder und betreuen die Alten. Die Männer verbringen den Tag meist draußen. Ihre Aufgabe ist es, sich um die Tiere zu kümmern und den Lebensunterhalt zu sichern. In kleinen Gruppen reiten sie etwa einmal im Monat in die nächstgelegene Stadt, um selbsterzeugte Wolle und verschiedene Milchprodukte gegen andere Waren einzutauschen, denn ohne Reis, Tee, Salz und andere nützliche Dinge wie Werkzeuge könnten sie oben im Hochland nicht überleben. Von ihren tagelangen Reisen bringen sie auch Gerste mit, die sie für die Herstellung von Tsampa brauchen. Die tibetische Nationalspeise Tsampa ist ein Teig aus geröstetem Gerstenmehl, Butter und Tee, der zu allen Gelegenheiten gegessen wird, wie andernorts Kartoffeln oder Nudeln.
Ihre Kleidung nähen sie aus den Fellen der Yaks und der Schafe. Aus der Schafwolle weben und stricken sie Teppiche, Pullover, Mützen und Strümpfe. Auf den Märkten kaufen sie aber auch bunte Stoffe. Tibetische Frauen tragen über ihrem dunklen Gewand, der Chuba, gerne farbenfrohe Tücher und Schürzen.
Das Yak ist das wichtigste Nutztier und wird vom Horn bis zum Huf verwertet. Haut und Haare für Kleidung und Zelt, das Fleisch wird gepökelt und für die kalte Jahreszeit getrocknet. In den harten Wintern brauchen die Nomaden Fleisch und Fett, um die extremen Temperaturen von bis zu minus 30 Grad Celsius überstehen zu können. Die Milch der Yak-Kühe wird zu Butter, Joghurt und verschiedenen Arten von Käsen verarbeitet. Ohne die Yak-Butter gäbe es nicht den berühmten salzig-öligen Buttertee. Selbst die Exkremente des Yak finden Verwendung. Der getrocknete Dung wird in der Feuerstelle zum Kochen und Heizen genutzt.
Die Unterstützung Amdo Paldens erwies sich als erfolgreich. Döndrup war nach Lhasa gepilgert, wie der Abt ihn geheißen hatte. Lolaga und die Großmutter hatten gut die Hälfte der einhundertelftausend Gebete verrichtet. Da wurde Lolaga schwanger. Nun war es höchste Zeit, den Rest der aufgetragenen Aufgaben zu erfüllen.
Nach Bekundung der Familienmitglieder hatten mehrere von ihnen, auch die Mutter, vor der Geburt des Kindes besondere Träume. Am ersten Tag des fünften tibetischen Monats im Holzochsen-Jahr, also am 19. Juni 1985[3], brachte Lolaga einen gesunden Jungen zur Welt.
Etwa drei Tage nach der Geburt des Kleinen, den die Schwestern nur Apo Gaga, »glücklicher kleiner Bruder«, nannten, soll der seltsame Klang eines Muschelhornes zuerst das Zelt der Familie und dann das ganze Tal erfüllt haben, wird berichtet. Familie und Nachbarn seien verwundert umhergelaufen, um die Quelle des Klangs zu erkunden, konnten aber offenbar nichts finden. Dies war nur eines von vielen überlieferten Zeichen, die nach tibetischem Verständnis darauf hindeuteten, dass das Neugeborene ein besonderes Wesen sei.
Amdo Palden bestätigte, dass der Junge ein Tulku[4], eine besondere Wiedergeburt eines Lama war. Der Abt war auch in dieser Beziehung ein erfahrener Yogi, der das Potential eines Kindes meist auf den ersten Blick erkennen konnte. Dem kleinen Apo Gaga wollte er aber nicht wie üblich einen Namen geben. In Tibet suchen nicht die Eltern einen Namen für ihr Kind aus, sie überlassen die Namenswahl einem Lama, der dem Kind die buddhistische Zuflucht erteilt. Die Zuflucht bedeutet, dass das Kind eine karmische Verbindung zu Buddha und seinen Lehren knüpft, und gilt als ein ähnlicher Akt wie die christliche Taufe oder die Beschneidung bei den Juden. Amdo Palden hatte den Eltern gesagt, sie sollten später einen hohen Würdenträger, der den besonderen Ehrentitel Rinpoche trägt, fragen, wessen Inkarnation das Kind ist.
So wurde der Kleine erst einmal einfach nur Apo Gaga genannt. Er war ein ruhiges und heiteres Kind, fand schnell seinen eigenen Platz im Kreise der Großfamilie und wurde von allen, ganz besonders von der Mutter, warm und herzlich umsorgt. Seine Schwester Palzom sagt: »Er war unser Sonnenschein.«
Für viele im christlichen Abendland, besonders für Nichtgläubige, bedeutet es einen gedanklichen Spagat, sich auf die Idee von der Wiedergeburt einzulassen. Was in der fernöstlichen Religion des tibetischen Buddhismus zum Alltagsleben gehört, hält man hierzulande kaum für möglich. Manche Christen haben ja schon mit dem eigenen Glaubensgrundsatz der Auferstehung von den Toten ein Problem. Wie soll man dann erst mit dem mystisch anmutenden Vorgang einer bewusst gesteuerten Wiedergeburt umgehen?
Wie eine Billardkugel, die ihren Impuls an die angestoßene nächste weitergibt, wie eine Butterlampe, an deren Flamme sich die nächste entzünden lässt, das sind die klassischen Bilder, die eine Reinkarnation nach buddhistischer Auffassung anschaulich beschreiben. Demnach wird das Bewusstsein des gegenwärtigen Lebens durch die Gesamtheit der gespeicherten Informationen vergangener Existenzen geprägt. Es ist ein ununterbrochener und zugleich individueller Bewusstseinsstrom aufeinander folgender Existenzen. Ein Wiedergeborener wird mit den Folgen von Ereignissen und Taten aus seinem vorigen Leben konfrontiert. Die stärksten Eindrücke aus dem Vorleben bestimmen die Umstände des zukünftigen Lebens. Wenn man heutzutage im Westen damit kokettiert, dass man »schlechtes Karma« habe, bedeutet dieser Ausdruck eigentlich, dass einen die Taten des Vorlebens wieder einholen. Das beinhaltet aber auch die Möglichkeit, in diesem Leben etwas besser zu machen und zum Wohle anderer zu handeln. Und genauso kann man im aktuellen Leben sozusagen für das nächste vorsorgen, indem man Gutes tut und seine innere Einstellung positiv ausrichtet.
Über die herkömmliche Form der Wiedergeburt hinaus kennen die Buddhisten aber noch eine besondere Form der willentlichen Wiedergeburt. Diesen Prozess der Informationsweitergabe bewusst und kontrolliert zu steuern, vermögen nur große spirituelle Meister. Buddhisten nennen sie erleuchtete Wesen, Tulkus. Ihnen gelingt es durch jahrelanges Studium und ausdauernde Meditation, ihren Bewusstseinsstrom besonders zu trainieren und die darin gespeicherte Information gezielt auszurichten. Im Augenblick des Todes, wenn ihr Bewusstsein den alten Körper verlässt, sind sie imstande willentlich zu entscheiden, wann, wo und in welchen Umständen sie wieder Geburt annehmen. Sie wählen die Bedingungen ihrer neuen Inkarnation bewusst so, dass sie ihre wohltätige Arbeit im neuen Leben fortführen können.
Die Zeit zwischen zwei Inkarnationen bezeichnet man im tibetischen Buddhismus als Zwischenzustand, Bardo genannt. Traditionell spricht man von einer Länge von 49 Tagen, die noch einmal in verschiedene Phasen unterteilt sind. Tatsächlich kann der Zwischenzustand aber mehrere Jahre dauern.
Der erste historisch verbürgte, bewusst wiedergeborene Lama in der Geschichte des tibetischen Buddhismus war der 1. Karmapa, Düsum Khyenpa. Der 14. Dalai Lama bemerkt dazu: »Düsum Khyenpa war der erste tibetische Lama, der klare Hinweise über die Einzelheiten seiner nächsten Geburt hinterlassen hat, die das Auffinden seines Nachfolgers ermöglichten. Insofern hat er die Institution der anerkannten reinkarnierten Lamas eingeführt, die für den tibetischen Buddhismus so charakteristisch ist …«[5]
Die Tulkus begründen ein einzigartiges System der Nachfolge, das die Kontinuität der Klöster und deren gemeinnütziges Wirken ermöglicht. Sie bilden die lange Reihe der »spirituellen Sozialarbeiter«, die unzähligen Klöstern in Tibet und den angrenzenden Himalaya-Regionen vorstehen und dort ihren Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft leisten.
Die Tibeter sagen, bewusste Wiedergeburt sei kein Automatismus. Tulkus kehren nur zurück, wenn sie gebraucht werden und wenn ihre Anhänger für ihre Wiedergeburt beten.
Vieles im Leben des 17. Karmapa lässt sich besser verstehen, wenn man die Lebensgeschichte seines Vorgängers betrachtet.
Der 15. Karmapa hinterließ die genauen Einzelheiten seiner zukünftigen Wiedergeburt in einem schriftlichen Dokument, das er seinem Schüler und Begleiter Jampal Tsültrim gab. Darin waren die Namen der zukünftigen Eltern, die Beschreibung der Region und des elterlichen Hauses sowie das Jahr der Wiedergeburt notiert. Der Mönch war sich aber der Bedeutung des Schriftstückes nicht bewusst. Nach dem Tod des 15. Karmapa im Jahr 1922 begab sich eben dieser Schüler auf Pilgerschaft und war jahrelang nicht aufzufinden. Das kostbare Dokument trug er bei sich, und so blieb den Mönchen des Klosters Tsurphu nichts anderes übrig, als den 11. Situ Rinpoche, einen der Linienhalter der Karma-Kagyü-Linie, um Rat zu fragen. Jener war in ganz Tibet bekannt für seine besondere Begabung, Wiedergeburten von hohen Lamas aufzufinden. Mit den Details seiner Visionen schickte man einen Suchtrupp los, der das Kind bald finden und identifizieren konnte.
Der 16. Karmapa, Ranjung Rigpe Dorje, war 1924 in eine sehr angesehene Familie hineingeboren worden. Sein Vater war Minister im Kabinett des Königs von Derge, einer bedeutenden Provinz in Osttibet. Jedoch gestaltete sich die Inthronisation des Karmapa schwierig, weil sich der 13. Dalai Lama weigerte, das Kind offiziell anzuerkennen, ohne das Dokument des 15. Karmapa gesehen zu haben – es war nicht auffindbar. Gleichzeitig meldete man ein weiteres Kind als mögliche Reinkarnation des Karmapa. Das Dilemma konnte erst gelöst werden, als der Mönch Jampal Tsültrim nach jahrelanger Pilgerschaft in das Kloster Tsurphu zurückkehrte. Das kostbare Dokument bestätigte Ranjung Rigpe Dorje als Nachfolger. Daraufhin erkannte der Dalai Lama das Kind aus Derge offiziell als 16. Karmapa an.
Alle Erzählungen und Berichte über den 16. Karmapa beschreiben ihn als einen besonders begabten und charismatischen Lama. Seine majestätische und zugleich väterliche Art hat ihm viele Anhänger und einflussreiche Unterstützer über die Landesgrenzen hinaus beschert.
Noch vor seiner Flucht vor den chinesischen Besatzern im Jahr 1959 frischte er auf zwei Reisen die historischen Kontakte zu den buddhistischen Königshäusern in Sikkim und Bhutan persönlich auf. In Indien wurde er nicht nur von Staatschef Nehru, sondern auch von einigen prominenten, einflussreichen Familien mit großen Ehren empfangen und sicherte sich so wertvolle Unterstützung für die Zukunft. Diese Kontakte haben seine Lage und die der mit ihm flüchtenden Tibeter im Herbst 1959 sehr erleichtert. Der 16. Karmapa und seine Begleiter entkamen den Truppen der chinesischen Armee über Bhutan nach Sikkim, das zu dieser Zeit noch ein unabhängiges Königreich war. Dort hatte bereits der 9. Karmapa drei berühmte Karma-Kagyü-Klöster gegründet, die bis heute erhalten geblieben sind. Eines davon war das Kloster Rumtek nahe der sikkimesischen Hauptstadt Gangtok. Dieses Kloster sollte fortan sein Hauptsitz im Exil sein. Das sikkimesische Königshaus überließ ihm stattliche Grundstücke, um ein neues Kloster und Unterkünfte für seine Begleiter zu errichten. Praktische Unterstützung kam auch aus Bhutan. Der dortige König stattete den Karmapa, die vier jungen Linienhalter und eine Reihe hoher Kagyü-Lamas mit bhutanesischen Diplomatenpässen aus. Das verschaffte ihnen Reisefreiheit und einen gesicherten Status. Mit Spenden von Anhängern und Wohltätern aus Indien, Sikkim und Bhutan konnte das neue Kloster Rumtek 1966 eingeweiht werden.
1974 veränderte sich die politische Lage in Sikkim. 1975 wurde das Königreich von Indien annektiert und fortan als 22. Bundesstaat des Subkontinents geführt. In jener unruhigen Zeit begab sich der 16. Karmapa auf seine erste Reise in den Westen. Der 16. Karmapa und die höheren Kagyü-Lamas waren dank ihrer buthanesischen Pässe viel beweglicher als beispielsweise der 14. Dalai Lama, der in Indien jahrelang einen ungeklärten Flüchtlingsstatus hatte und deshalb lange Zeit nicht reisen konnte. Sie – und nicht wie allseits angenommen der Dalai Lama – waren es, die die ersten Schritte in die westliche Welt wagen konnten.
Dies war auch die Zeit, in der die ersten Wellen der sehnsüchtig sinnsuchenden Blumenkinder und Hippies Indien, Nepal und auch das Kloster Rumtek in Sikkim erreichten. Sie kamen, um bei Gurus und spirituellen Meistern wie Sai Baba, Maharishi Mahesh oder den tibetischen Lamas Bestätigung zu finden und ihre Ideale von einem selbstbestimmten, sinnerfüllten Leben zu verwirklichen.
Die oft aus bürgerlichem Hause stammenden rebellischen Söhne und Töchter der 68er-Bewegung lehnten sich gegen das Establishment in ihren von Materialismus geprägten Gesellschaften auf. Die tibetischen Lamas nahmen sich dieser jungen Menschen mit viel Geduld, gesundem Pragmatismus und bedingungsloser Zuwendung an. Mit natürlicher Autorität und Glaubwürdigkeit gelang es ihnen häufig, die rebellierenden und oft drogenabhängigen jungen Leute zu sozial denkenden, verantwortungsvollen und selbstbewussten Menschen zu machen. Diese Metamorphose konnte man auch in vielen westlichen Ländern beobachten, wo tibetische Lehrer wirkten.
Im Laufe der 1970er und 80er Jahre entstanden in den USA und Europa mehrere große Zentren und buddhistische Organisationen unter der Leitung von namhaften Karma-Kagyü-Lehrern. Innerhalb weniger Jahre etablierten sie sich als angesehene Institutionen, in denen die im Ursprungsland gefährdeten Schätze der tibetisch-buddhistischen Tradition durch authentische Lehrer weitergegeben und in die westliche Kultur integriert wurden.
Im November 1981 starb der 16. Karmapa in Chicago in den USA mit nur 57 Jahren an einem Krebsleiden.
Die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte Apo Gaga mit seinen Geschwistern und den kleinen Spielkameraden aus der Nachbarschaft auf den malerischen Bergwiesen und in den fruchtbaren Flusstälern in Lhatok. Besonders gern streifte er stundenlang mit seiner weiß-schwarzen Ziege Kayu auf den Bergen umher, manchmal ritt er auch auf ihr. Das ging ganz gut, weil sie ziemlich groß war, erzählte seine acht Jahre ältere Schwester Palzom. »Es war eine besondere Ziege. Das Außergewöhnliche an ihr war, dass sie drei Ohren hatte, aber dafür keine Hörner.« Diese Tatsache schien die Ziege für den kleinen Apo Gaga besonders interessant zu machen. Seine Schwester sagte, dass es eine glückliche Fügung war, dass das Tier, obwohl eigentlich ein Ziegenbock, keine Hörner besaß. So konnte ihr kleiner Bruder darauf reiten, ohne dass die Gefahr bestand, dass er sich an den Hörnern verletzte.
Sie lachte, als sie sich an eine Begebenheit erinnerte, die ihr ganz lebhaft im Gedächtnis geblieben ist. »Er hat damals immer bei den Erwachsenen zugesehen, wie sie ihre Pferde sattelten und dann fortritten. Eines Tages wollte er es ihnen gleichtun und holte sich einen der Pferdesattel. Es sah so lustig aus, der kleine Mann und der große Sattel. Dann hat er tatsächlich versucht, ihn der Ziege aufzusetzen. Aber der Sattel war so groß, dass er immer wieder nach rechts oder links wegrutschte. So sehr sich mein Bruder auch abmühte, es wollte und wollte nicht funktionieren.« Palzom lachte noch immer und fügte hinzu, dass der kleine Apo Gaga dann richtig wütend geworden sei.
Spielzeug besaßen sie nicht. Sie begnügten sich mit dem, was ihnen die Natur bot. Wie hierzulande Kinder aus christlichen Familien gern einmal Pfarrer und Messdiener spielen, mimte Apo Gaga manchmal auch einen Lama, und die anderen Kinder waren seine Mönche. Diese Lama-Spiele seien nur Zeitvertreib gewesen, sagte der Karmapa, als wir darüber sprachen.
Ich fragte ihn, ob er vielleicht damals schon gespürt hat, dass er der Karmapa ist. Da antwortete er lächelnd: »Nein, nicht in dieser Weise. Aber meine Mutter hat mir von einer Begebenheit erzählt, als ich noch ganz klein war. Zu dieser Zeit hatte sie auf unserem kleinen Altar eine Schüssel mit klarem Wasser und eine Butterlampe als Opfergabe dargebracht. Da habe ich meine Mutter gefragt, wem sie das opfern würde. Wir hatten ein Bild vom 16. Karmapa auf dem Altar. Sie sagte, sie würde es dem Karmapa opfern, und ich soll dann gesagt haben, dass ich das nehmen würde. Da hat sie mit mir geschimpft und meinte, das sei unheilvoll und es bringe Unglück, so etwas zu sagen.«
»Hatten Ihre Eltern vielleicht eine Vorahnung?«, hakte ich nach.
»Nein, nicht direkt. Sie haben sehr wohl gemerkt, dass ich ein besonderes Kind, vielleicht ein Tulku bin, aber daran, dass ich der Karmapa sein könnte, haben sie niemals gedacht. Denn der Karmapa ist sehr bedeutend, und es wäre vermessen gewesen, so zu denken.«
Menschen, die die Eltern des Karmapa kennengelernt haben, berichten, dass sein Vater ein lebhafter, gutaussehender und wortgewandter Mann ist. Döndrup brachte allen seinen Kindern Lesen und Schreiben bei, auch den Mädchen, was für Nomadenverhältnisse ungewöhnlich war. Die Mutter Lolaga, eine großgewachsene Frau mit klaren, harmonischen Gesichtszügen und strahlenden Augen, zeigt sich eher zurückhaltend und still. Dennoch scheint sie die Geschicke der Familie entscheidend zu lenken. Ihre besondere und kraftvolle Ausstrahlung zeugt davon, auch wenn sie gern im Hintergrund bleibt.
Als Apo Gaga etwa vier Jahre alt war, brachten ihn seine Eltern ins Karlek-Kloster, wie sie es versprochen hatten. Abt Amdo Palden und die Mönche führten ihn dort mit einer feierlichen Zeremonie ein. Er bekam sogar einen kleinen, leicht erhöhten Sitz neben dem Abt. Die Mönche des Klosters waren stolz, ihn in ihrer Mitte zu haben, weil sie glaubten, dass er ein Tulku ist. Nur wussten sie noch nicht, wen sie da bereits verehrten. Jedes Kloster ist froh über besondere Mönche, auch in wirtschaftlicher Hinsicht, denn Tulkus ziehen besonders viele Besucher an, die das Kloster dann auch mit höheren Spenden unterstützen. Deshalb sagt man in Tibet, es sei für jedes Kloster gut, zwei oder drei Tulkus zu haben. Das gilt erst recht für Karlek, ein sehr ländliches Kloster ohne Reichtum und Prunk.
Weil Apo Gaga noch so jung war, verbrachte er weiterhin die meiste Zeit bei seiner Familie. Nur zu besonderen Feierlichkeiten kam er ein- bis zweimal im Jahr für einige Tage ins Kloster. Ich fragte den Karmapa, ob er damals so wie die anderen Jungs in seinem Alter oder eher wie ein Mönch gekleidet war. »Ich hatte schon eher rote Sachen an«, sagte er und kniff dabei seine Augen zusammen, als suche er in meinem Gesicht nach einer Reaktion. »So eine rote Chuba. Ein wenig wie eine Mönchsrobe, aber nicht ganz so«, schob er nach und schaute an sich herunter. In Tibet werden Kinder, die als Tulkus gelten, von ihren Eltern in Vorbereitung auf die zukünftige Mönchsweihe meist schon dunkelrot oder erdfarben gekleidet.
Der Karmapa erzählte mir, dass er sein unbeschwertes Leben als Nomadenjunge oben im Bakhor-Tal sehr gemocht hatte. Während er in Gedanken bei seiner Kindheit war, wirkte er fast ein wenig aufgeregt. Er zupfte die Gewandfalten über der Schulter zurecht, rieb sich den linken Arm und beugte sich weit zu mir herüber. Dann sprach er weiter: »Es war 1991. In dieser Zeit war ich noch nicht als der Karmapa identifiziert worden. Sie hatten mir nur gesagt, dass ich ein besonderer Tulku sei, aber sie wussten nicht welcher. Damals ist Situ Rinpoche sechs Wochen lang durch Tibet gereist und auch nach Palpung gekommen.«
Als bekannt wurde, dass Situ Rinpoche aus dem indischen Exil zu Besuch nach Tibet kommt, machten sich Tausende Anhänger und Hunderte hohe Lamas dorthin auf den Weg. Alle wollten eine ganz spezielle Serie von Einweihungen[6] erhalten, weil sie sehr selten von hohen Lamas gegeben werden. Man kann zum Beispiel in wenigen Wochen 200 bis 300 Einweihungen erhalten – und das reicht dann für das ganze Leben. Für viele war dies eine einmalige Gelegenheit. Außerdem wussten die Tibeter, dass Situ Rinpoche die besondere Fähigkeit besitzt, Tulkus zu erkennen. So erklärt sich der Andrang beim ersten Besuch des Rinpoche in Tibet viele Jahre nach seiner Flucht. Das Kloster soll aus allen Nähten geplatzt sein, die Wiesen drum herum glichen Heerlagern. Es war ein riesiges Ereignis.
»Viele sind nach Palpung gefahren«, sagte der Karmapa, »und vor allem hatte man weit über hundert Tulkus dorthin gebracht, damit sie von Situ Rinpoche erkannt werden. Man erzählt sich, er habe bis zu diesem Zeitpunkt bereits zwei- oder dreihundert Tulkus identifiziert. Auch mein Vater und unser Lama, Abt Amdo Palden, sind mit mir nach Palpung gereist, um ihn zu fragen, wessen Inkarnation ich bin. Als wir dort ankamen, war Situ Rinpoche aber noch nicht da.«
Weil man für die beschwerlichen Reisen in Tibet großzügig Zeit einplanen muss, waren sie ein paar Tage früher angekommen und hatten die Zeit für Ausflüge in die Umgebung genutzt. Palpung ist eines der größten Klöster in Osttibet. Viele kleine Klöster und Retreathäuser[7] gehören dazu.
»Mein Vater hatte sich wirklich große Hoffnungen gemacht«, fuhr der Karmapa fort. Er hielt kurz inne, fixierte einen Punkt irgendwo hinter meinen Augen und sagte dann kurz und bündig: »Aber Situ Rinpoche sagte nicht, wessen Inkarnation ich sei.«
Das erstaunte mich. Ausgerechnet den Karmapa hat Situ Rinpoche nicht erkannt, obwohl er in diesen Tagen etwa 160 Tulkus identifiziert haben soll? War damit die ganze beschwerliche Reise umsonst gewesen? Oder hat Situ Rinpoche vielleicht doch geahnt, wem er bei den Ritualen begegnet war, aber den Zeitpunkt noch nicht als richtig erachtet, die Identität des Karmapa zu enthüllen?
Apo Gaga, Döndrup und Amdo Palden hatten zwar an allen Ritualen teilgenommen, die Einweihungen erhalten und waren somit reich gesegnet, doch was ihr eigentliches Anliegen betraf, kehrten sie unverrichteter Dinge ins Bakhor-Tal zurück, die Enttäuschung im Gepäck.
Es scheint aber, dass Situ Rinpoche in dem kleinen Apo Gaga doch etwas Besonderes gesehen hat. Von seiner nächsten Station in Peking schickte er ihm ein kleines Päckchen mit einer wertvollen Gebetskette aus roten Korallen und einem Segensschal ins Kloster Karlek. Solche kostbaren Geschenke macht man traditionell nur einem besonderen Tulku.
Während Apo Gaga seine unbekümmerte und glückliche Kindheit inmitten seiner Familie, mit Spielgefährten und Tieren im Hochland des Himalaya verbrachte, spielten sich einige hundert Kilometer weiter im Kloster Rumtek Dinge ab, von denen er nichts ahnen konnte, die aber für sein weiteres Leben von großer Bedeutung sein würden.
Nach dem Tod des 16. Karmapa, des Oberhauptes der Karma-Kagyü-Linie, waren vier ranghohe Lamas, »Herzenssöhne« genannt, als Linienhalter für den Fortbestand der Tradition und die Auffindung der neuen Karmapa-Inkarnation verantwortlich. Sie waren zwar fast gleichen Alters, aber in ihren Charakteren sehr verschieden. Der Älteste unter ihnen, Shamar Rinpoche, auch Shamarpa genannt, war 1952 als Sohn des Bruders des 16. Karmapa geboren und rein rechnerisch die 13. Inkarnation, also die älteste Linie der bewussten Wiedergeburten unter den Herzenssöhnen. Er war der einzige der Linie, der sich in früheren Jahrhunderten auch politisch betätigt hat.
Dem 10. Shamarpa wurde nachgesagt, im Krieg zwischen Tibet und Nepal Ende des 18. Jahrhunderts die Zentralregierung des Dalai Lama in Lhasa verraten und die nepalesischen Invasoren unterstützt zu haben. Daraufhin verbot der Dalai Lama die Inkarnation des Shamarpa und belegte sie mit einem Bann. Zukünftige Inkarnationen konnten danach nicht mehr offiziell anerkannt und inthronisiert werden. Seine Klöster wurden konfisziert. Erst 1963 gab der 14. Dalai Lama den Bitten des 16. Karmapa nach und erteilte seine Zustimmung für die offizielle Inthronisation des gegenwärtigen 13. Shamarpa. Seine politischen Ambitionen und sein ständiger Anspruch auf die Führungsrolle scheinen zu bestätigen, dass es sich hier um die Reinkarnation des lange verbotenen Rebellen handelt.
Der nächste »Herzenssohn«, Tai Situ Rinpoche, geboren im Februar 1954, ist die 12. Inkarnation in einer Reihe prominenter Vorgänger, die alle Äbte des berühmten Klosterkomplexes Palpung waren. Palpung liegt in der Region Derge im Gebiet Kham in Osttibet. Die Situ Rinpoches waren nicht nur hervorragende spirituelle Meister mit der besonderen Fähigkeit, wiedergeborene Lamas aufzufinden. Sie waren auch berühmte Künstler, die eine besondere Richtung der Thangka-Malerei begründeten, und außerdem für ihre literarischen Talente und ihre Heilkünste in ganz Tibet bekannt. Der vorherige 11. Situ Rinpoche hatte den 16. Karmapa gefunden und inthronisiert und war dessen wichtigster Lehrer.
Es folgt der im Oktober 1954 geborene 3. Jamgön Kongtrul Rinpoche, ein Kind aus einer sehr angesehenen Gelugpa-Familie aus Lhasa. Seine Inkarnationslinie ist kurz, aber der 1. Jamgön Kongtrul, Lodrö Thaye, war im 19. Jahrhundert ein berühmter Gelehrter, Arzt und Eremit. Zusammen mit prominenten zeitgenössischen Vertretern anderer tibetisch-buddhistischer Schulen begründete er die ökumenische »Rime«-Bewegung und reformierte die buddhistische Tradition in Tibet tiefgreifend.
Der 3. Jamgön Rinpoche war ein sensibler, feinsinniger Lehrer, der sich mit besonderer Zuneigung und Interesse westlichen Schülern zuwandte. In den 1980er Jahren leitete er den Dialog zwischen Buddhismus und westlicher Psychologie ein. Er pflegte und umsorgte den 16. Karmapa in seinen letzten Jahren hingebungsvoll und begleitete ihn auf vielen seiner Reisen.
Der vierte Herzenssohn, der ebenfalls 1954 geborene Goshir Gyaltsab Rinpoche, ist die 12. Inkarnation in einer ungebrochenen Linie von bewusst wiedergeborenen spirituellen Meistern. Seine Vorgänger übernahmen traditionell die Rolle des Regenten, wenn ein Karmapa entweder gerade verstorben oder noch zu jung war. Gyaltsab bedeutet im Tibetischen Regent. Sein Hauptkloster in Tibet liegt in unmittelbarer Nähe zum historischen Hauptsitz der Karmapas in Tsurphu und ist bis heute eng mit dem Tsurphu-Kloster verbunden. Der gegenwärtige Gyaltsab Rinpoche ist ein außerordentlich gelehrter und auch in der tantrischen Meditationspraxis sehr erfahrener Meister. Er hat in der Abwesenheit des Karmapa dessen Exilsitz im Kloster Rumtek in Sikkim betreut.
Der Karmapa hatte in der Karma-Kagyü-Tradition immer eine unbestrittene Führungsrolle inne. Diese herausragende und auch in Tibet einmalige Stellung des Linienoberhauptes war den besonderen Fähigkeiten und der in allen Inkarnationen aufs Neue bewiesenen spirituellen Meisterschaft des Karmapa geschuldet.
Die Funktion der »Herzenssöhne« genannten Linienhalter ist für die Karma-Kagyü-Tradition überlebenswichtig. Durch die Geschichte hindurch waren die Linienhalter abwechselnd Schüler des Karmapa und nach seinem Tode die Lehrer der Wiedergeburt. Die seit nunmehr 900 Jahren ununterbrochen übertragenen Lehren vom Karmapa an seine Schüler und wieder zurück zu ihm werden auch die Übertragungslinie des »Goldenen Rosenkranzes« genannt. Ob in der Rolle des Lehrenden oder des Empfangenden, alle Übertragenden waren große spirituelle Meister der Karma-Kagyü-Linie. Der »Goldene Rosenkranz« ist in seiner direkten Verbindung zum Ursprung der Lehren vielleicht vergleichbar mit der Apostolischen Sukzession in der katholischen Kirche. Danach geht das Amt des Papstes lückenlos bis zu dem von Jesus Christus als Leiter der christlichen Gemeinden eingesetzten Heiligen Petrus zurück.
Auch wenn der Buddhismus als eine Weltreligion gilt, so ist er doch kein monolithischer Block. Ähnlich wie sich die Christen und Muslime in verschiedene Traditionen und Schulen aufteilen, existieren auch im Buddhismus verschiedene Zweige. In Tibet sind es im Wesentlichen vier[8]: Nyingma, Kagyü, Sakya und Gelugpa. Man nennt sie Schulen, Traditionen oder Orden. Vielleicht ist der Vergleich mit Orden ganz hilfreich, zumal es sich auch hierbei um monastisch geprägte Institutionen handelt. So gehört beispielsweise der Dalai Lama dem Gelbhut-Orden an, den Gelugpas, der Orden des Karmapa ist nach dem Schwarzen Hut benannt.
Der Generalsekretär des Rumtek-Klosters hatte nach dem Tod des 16. Karmapa beschlossen, dass die Regentschaft zwischen den vier »Herzenssöhnen« im jeweils vierjährigen Rotationsverfahren aufgeteilt wird, bis der nächste Karmapa die Volljährigkeit erlangt hat. Die anderen drei Linienhalter sollten den jeweiligen Amtsinhaber unterstützen. Als Ältester übernahm der energische Shamarpa die erste Regentschaft. Da die anderen drei Linienhalter eher spirituellen Aktivitäten zugeneigt waren, führte er die Geschäfte in Rumtek weitgehend eigenständig.
Nur ein Jahr nach dem Tod des 16. Karmapa und der Einführung der Regentschaft per Rotation verstarb der alte Generalsekretär, der dem Karmapa schon in Tibet gedient hatte, unter mysteriösen Umständen auf einer Reise in Bhutan. Seine Nachfolge regelte der Shamarpa ziemlich eigenmächtig und in seinem eigenen Sinne. Als neuen Generalsekretär ernannte er seinen Cousin Topga Rinpoche, ebenfalls ein Neffe des verstorbenen Karmapa. Topga Rinpoche hatte den Zorn des 16. Karmapa auf sich gezogen, als er die Mönchsroben abgelegt und eine bhutanesische Prinzessin geheiratet hatte. Jahrelang wollte ihn der Karmapa nicht sehen, bis schließlich die enge spirituelle Verbindung zum bhutanesischen Königshaus den Zwist schlichtete.
Topga Rinpoche lebte als Geschäftsmann in Bhutan und erfüllte dort hauptsächlich repräsentative Funktionen. Seine hervorragenden Verbindungen zur indischen Regierung und zum politischen Establishment in Delhi vermittelte er weiter an den Shamarpa, der von diesen Verbindungen bis zum heutigen Tage profitiert. Nach der Ernennung Topga Rinpoches zum Generalsekretär arbeiteten die beiden besonders eng zusammen und gaben die Regentschaft über das Kloster Rumtek nicht mehr ab. Das Rotationsprinzip wurde außer Kraft gesetzt. Ihr Verhältnis zu den anderen Linienhaltern und den Getreuen des 16. Karmapa wurde mit den Jahren immer angespannter.
Anfang der 1980er Jahre ließen die chinesischen Machthaber in Tibet eine vorsichtige Lockerung der Verhältnisse zu. Viele tibetische Lamas im Exil richteten ihren Blick auf die verlassene Heimat und versuchten beim Wiederaufbau der während der Kulturrevolution zerstörten Klöster behilflich zu sein. 1985 kehrte auch einer der alten Getreuen des 16. Karmapa, Drupon Dechen Rinpoche, aus dem indischen Ladakh nach Tsurphu zurück. Er hatte dem 16. Karmapa vor dessen Tod versprochen, das zerstörte Kloster dort wieder aufzubauen. Unterstützung erhielt er dabei auch von den Herzenssöhnen des Karmapa aus Rumtek.
Während Situ Rinpoche, Jamgön Rinpoche und Gyaltsab Rinpoche ihre zerstörten Klöster in der tibetischen Heimat wieder aufzubauen versuchten, konzentrierte sich der Shamarpa mit voller Aufmerksamkeit auf seine Aufgabe als Regent des Karmapa. Er hatte dabei nicht nur das Kloster Rumtek, sondern die zahlreichen Karma-Kagyü-Klöster und Zentren weltweit im Auge, die er mit Hilfe seines Generalsekretärs in einer Art Dachverband zu organisieren suchte.
Die Jahre vergingen, und die Karma-Kagyü-Anhänger in der ganzen Welt warteten sehnsüchtig auf die gute Nachricht von der Auffindung der neuen Karmapa-Inkarnation. Aber die »Herzenssöhne« fanden kein schriftliches Dokument des 16. Karmapa. Der Druck auf die Linienhalter wuchs, und die Unzufriedenheit unter den Gläubigen und Schülern nahm zu. Hin und wieder tauchten seltsame Vorschläge für Kandidaten auf. Mal war es ein Junge, der in Bodhgaya, am heiligsten Ort Indiens, geboren wurde. Ein anderes Mal war es ein bhutanesischer Prinz. Keiner war anhand der üblichen schriftlichen Hinweise des verstorbenen Karmapa gefunden worden.
In ihrer Verzweiflung griffen die vier Linienhalter sogar zu einer Notlösung, die nicht nur aus spiritueller Sicht zweifelhaft war und im Nachhinein nicht gerade vertrauensbildend wirkte. Da sich partout kein schriftliches Dokument des Karmapa finden ließ, kamen sie 1986 bei einer ihrer seltenen Zusammenkünfte überein, eine persönliche Meditationsanweisung, die der verstorbene Karmapa einmal Gyaltsab Rinpoche erteilt hatte, aufzuschreiben und in einem kostbaren Reliquienbehälter auf dem Altar des 16. Karmapa zu platzieren. Anschließend verkündeten sie den ungeduldig wartenden Karma-Kagyü-Anhängern, dass zusätzliche Gebete und Rituale notwendig seien, um die Hindernisse zur Auffindung der neuen Karmapa-Inkarnation zu beseitigen. Mit dieser Taktik wollte man die Anhängerschaft beruhigen und Zeit gewinnen. In den Zentren rund um den Erdball wurden fortan unzählige Gebete und Rituale verrichtet.
Vielleicht stellte sich der eine oder andere die Frage, ob es überhaupt einen Prophezeiungsbrief gab. Aber wer hätte darauf mit einem klaren »Nein« antworten können? Bis dahin hatte jeder Karmapa einen Hinweis hinterlassen, und es stand für die Beteiligten außer Zweifel, dass auch der 16. Karmapa seine nächste Inkarnation angekündigt hatte.
Viele waren sich sicher, dass der neue Karmapa längst geboren sein müsste, denn in der Regel vergehen nur ein paar Jahre vom Tod eines Karmapa bis zu seiner nächsten Reinkarnation. Man erinnerte sich mit ungutem Gefühl an die Schwierigkeiten bei der Auffindung des 16. Karmapa, als ein Mönch mit dem Prophezeiungsbrief jahrelang auf Pilgerreise unterwegs gewesen war.
Erst neun Jahre nach Ableben des 16. Karmapa, im Jahr 1990, machte der Linienhalter Situ Rinpoche eine wichtige Entdeckung: Ihm kam die Begebenheit in Kalkutta in den Sinn, als ihm der schwerkranke 16. Karmapa das Schutzamulett übergeben hatte.
»Ich machte gerade eine Klausur. Aber es war nicht so, dass ich mich in einem tiefen meditativen Zustand befand; da waren auch keine Stimmen oder so etwas Ähnliches. Ich habe mich einfach nur an dieses Bild zurückerinnert, und das hat mich gewundert. Aus irgendeinem inneren Impuls heraus öffnete ich schließlich das Amulett.«[9] Im Innern des Brokattäschchens fand er einen zusammengefalteten Umschlag mit der Handschrift, dem aufgedruckten Wappen und dem Siegelstempel des 16. Karmapa. In roter Tinte stand geschrieben, dass der Brief im Jahr des Metallpferdes, also 1991, zu öffnen sei.
Situ Rinpoche war sehr glücklich über die Entdeckung der Offenbarung der Wiedergeburt. Er war sich »zu neunzig Prozent sicher, dass der Umschlag den Vorhersagebrief des Karmapa enthielt«.[10]
Im März des Jahres 1992 präsentierte Situ Rinpoche den drei anderen Linienhaltern bei einem Treffen im Kloster Rumtek den Prophezeiungsbrief, den er 1990 gefunden hatte.
»Als ich ihnen den Brief zeigte, war Gyaltsab Rinpoche sehr glücklich«, sagte Situ Rinpoche im Interview. »Aber Shamar Rinpoche zeigte Zeichen von Unzufriedenheit. Ich war zutiefst schockiert. Das war das erste Mal, dass er sich so verhielt. Aber später, als wir alles besprochen hatten, alle Details, zeigte er weder Widerspruch noch Uneinigkeit.«
Der Shamarpa hatte den Brief als Erster begutachtet und sofort daran Anstoß genommen, dass Situ Rinpoche darin erwähnt war. Nach seinen eigenen Darstellungen zweifelte er die Echtheit des Briefes an, weil die Schrift des Briefes nicht die Handschrift des 16. Karmapa sei. Er vermutete eine Fälschung und einen Komplott der drei anderen Linienhalter und ging davon aus, dass man insgeheim schon einen Jungen gefunden habe und diesen Brief nun zur Legitimation missbrauche. Laut seiner Darstellung habe er sofort eine forensische Untersuchung der Handschrift und der Unterschrift gefordert, die von den drei anderen abgelehnt worden seien, weil man in dem Brief die Handschrift des 16. Karmapa erkannt habe.[11]
Diese Auseinandersetzung, von der nur der Shamarpa berichtet, hat die vier aber offenbar nicht davon abgehalten, sich schnell an die Deutung der Zeilen zu begeben, denn die Hinweise waren wie üblich in Form eines Gedichts verfasst. Der heilige Brief war handschriftlich in tibetischer Sprache geschrieben.
Der Wortlaut des Prophezeiungsbriefs:
Emaho!
Selbstgewahrsein ist immer Glückseligkeit;
Der Dharmadhatu[12] hat weder Mitte noch Grenzen.
Von hier aus im Norden, im
Osten des Schneelandes,
Ist ein Land wo heiliger Donner
Spontan erklingt.
An einem schönen Ort von Nomaden,
Mit dem Zeichen der Kuh,
Ist die Methode Döndrub,
Und die Weisheit ist Lolaga.
Geboren im Jahre dessen,
Der die Erde bearbeitet,
Mit dem wundersamen weitreichenden Klang
Der Weißen,
Ist dies derjenige, der als Karmapa bekannt ist.
Unterstützt wird er von Lord Dönyö Drubpa.
Ohne sektiererisch zu sein durchdringt er alle Richtungen,
Nicht einigen nahestehend und anderen fern,
Er ist der Beschützer aller Wesen,
Die Sonne von Buddhas Dharma, die anderen nützt, erstrahlt unaufhörlich.[13]
Nach einem ganzen Tag harter Arbeit kamen alle vier Linienhalter einmütig zur gleichen inhaltlichen Deutung des Briefes. Gyaltsab Rinpoche erklärte sie: »›Hier‹ bedeutet Rumtek, der Verfassungsort des Briefes. Von da aus nördlich liegt das Land des Schnees, wie die Tibeter ihre Heimat nennen. Der Ort im Osten, wo heiliger Donner erschallt, deutet auf einen Ort im Bezirk Kham in Osttibet hin. Lha heißt heilig und Thok heißt auf Tibetisch Donner. Damit war klar, dass nur ein Ort gemeint sein konnte, der Lhatok heißt. Nun folgt die genauere Beschreibung der Region. ›An einem schönen Ort von Nomaden‹, erklärt eine fruchtbare Gegend, die gern von Nomaden bevölkert wird. Sie steht im Zeichen der Kuh. Ba ist Tibetisch für Kuh und Kor bedeutet Kreis oder Bezirk. Damit müsste die Siedlung Bakhor gemeint sein.
Als Nächstes widmet sich das Gedicht den Eltern. Mit Döndrub, die Sonne, und Lolaga, der Mond, sind die Namen der Eltern beschrieben. Sonne, männlich, Methode. Mond, das Weibliche, die Weisheit.
Sein Geburtsjahr wird angegeben mit dem Jahr dessen, der die Erde bearbeitet. Der tibetische Kalender kennt nur ein Tierkreiszeichen, das für die Arbeit an der Erde genutzt werden kann: den Ochsen. Also weist alles auf das Jahr 1985, das Jahr des Ochsen hin. Damit ist klar, dass der Karmapa 1985 wiedergeboren wurde.
Bei den Worten ›Mit dem wundersamen weitreichenden Klang Der Weißen‹ denkt jeder Tibeter sofort an die weiße Muschel, das Gehäuse einer großen Meeresschnecke. Das laut und durchdringend tönende Instrument, das Mönche zu den Zeremonien in die Tempel ruft und in den Liturgien Bestandteil des Orchesters ist, wird allgemein nur ›Die Weiße‹ genannt.
»›Unterstützt wird er von Lord Dönyö Drubpa‹, verweist auf Situ Rinpoche, denn er trägt den buddhistischen Namen ›Dönyö Drupa‹. Der vorherige 11. Situ Rinpoche hatte seinerzeit den 16. Karmapa identifiziert, und sein Nachfolger, der 12. Situ Rinpoche, war offensichtlich auch diesmal dazu bestimmt.«[14]