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Als die hübsche Annie Hannigan den schüchternen Landarbeiter Terence kennen lernt, verliebt sie sich in ihn. Doch Cathleen Davidson, Annies arglistige Freundin, weiss das aufkeimende Liebesglück zu verhindern. Denn sie ist eine raffinierte Verführerin und der unerfahrene Terence ein leichtes Opfer ...
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Seitenzahl: 486
CATHERINE COOKSON
Kate Hannigans Tochter
Roman
Aus dem Englischen
von Elisabeth Parada Schönleitner
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE ALLGEMEINE REIHE
Nur. 01/13543
Titel der Originalausgabe KATE HANNIGAN’S GIRL
Redaktion: Verlagsbüro Oliver Neumann, München
Deutsche Erstausgabe 06/2002 Copyright © 2000 The Trustees of the Catherine Cookson Charitable Trust Copyright © der deutschsprächigen Ausgabe 2002 Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München unter Verwendung von Bildmaterial von Shutterstock Images LLCSatz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
eISBN 978-3-641-18097-3V001
http://www.heyne.de
www.randomhouse.de
Das Buch
Die hübsche Annie Hannigan wächst nach der Heirat ihrer Mutter Kate mit dem Arzt Rodney Prince in gut situierten Verhältnissen auf. Eines Tages lernt Annie Terence Macbane kennen und verliebt sich in ihn. Auch Terence, der in seinen Semesterferien bei Arbeiten auf dem Land der Princes hilft, hegt mehr als nur freundschaftliche Gefühle für Annie. Doch die beiden schaffen es nicht, sich ihre gegenseitigen Empfindungen einzugestehen. Das bemerkt auch Cathleen Davidson, Annies arglistige Freundin. Sie ist eine raffinierte Verführerin und der unerfahrene Terence ein leichtes Opfer.
In den darauf folgenden Semesterferien treffen sich Annie und Terence wieder. Dieses Mal scheint ihre Begegnung unter einem besseren Stern zu stehen. Aber der Schein trügt, denn Annie findet das Tagebuch von Terence und macht eine erschütternde Entdeckung …
Die Autorin
Catherine Cookson, 1906 in Nordengland geboren, wuchs als uneheliche Tochter in ärmlichen Verhältnissen auf. Schon im Alter von 16 begann sie Kurzgeschichten zu verfassen. Mit ihren 90 Romanen wurde sie eine der beliebtesten Autorinnen Großbritanniens, deren Werke mittlerweile weltweit in zahlreichen Sprachen veröffentlicht werden. Auf Grund ihres großen Erfolges wurde Catherine Cookson 1993 der Titel »Dame of the British Empire« verliehen.
Annie hielt den Lenker ihres Fahrrades fest umklammert und starrte den großen Jungen mit dem rotbraunen Haar, der sich lässig auf den Sattel seines Fahrrades stützte, mit weit aufgerissenen Augen an.
»Was hat dir Cathleen Davidson erzählt?«, fragte sie.
»Wenn ich dir das sage, gehst du mir an die Kehle.«
»Nein, das werde ich nicht tun.« Ohne den Blick von Brian abzuwenden, schüttelte sie den Kopf und warf ihre langen silberblonden Flechten über die Schultern zurück.
»Dein Haar ist wunderschön«, meinte er.
»Was hat Cathleen über mich gesagt?«, fragte Annie erneut, während ein nervöses Zittern über ihr Gesicht glitt.
»Versprichst du mir, dass du mit mir gehst, wenn ich es dir sage?«
»Mit dir gehen? Oh, das kann ich nicht.« Annie sah ihn bestürzt an. »Du bist fast sechzehn. Und … und da ist noch Cathleen.«
»Wie du willst.« Er zuckte die Achseln und fuhr sich mit der Hand durch das wellige Haar.
»Okay, Brian, ich werde es tun«, stieß sie hastig hervor.
»Tja …« Sein Blick glitt über ihr Gesicht, von dem Pony über die großen grünen Augen bis zu dem breiten, geschwungenen Mund. Er genoss die Wirkung, die seine Worte auf Annie erzeugen würden, schon im Voraus. »Sie hat gesagt, dass deine Mutter und dein Stiefvater nicht wirklich verheiratet sind.«
»Was!« Das hatte Annie nicht erwartet – es war etwas Neues.
»Das hat sie gesagt.«
»Dieses gemeine Ding. Natürlich sind sie verheiratet. Ich war sogar dabei, als sie geheiratet haben. Das war einen Tag nach Neujahr, vor fast vier Monaten.«
»Bist du wirklich dabei gewesen?«
»Ja, ich bin dabei gewesen!«, erwiderte Annie heftig.
»Werd nicht gleich wütend, du wolltest doch, dass ich es dir erzähle. Sie hat gesagt, dass es keine echte Ehe ist, weil ihr Katholiken seid und weil sie nur auf dem Standesamt waren. Und der Pfarrer meint angeblich, dass sie in den Augen Gottes und aller Katholiken in Sünde leben. Das hat Cathleen gesagt.«
»Oh, sie ist so gemein! Sie sind wirklich verheiratet. Was hat sie noch gesagt?«, forschte Annie mit weit aufgerissenen Augen nach.
»Sie hat gesagt … Ach, aber das ist nicht wichtig.«
»Doch, es ist wichtig! Was hat sie gesagt?« Der drängende Ton ihrer Stimme verriet, wie sehr sie sich quälte. Sie wusste genau, was Cathleen gesagt hatte, aber sie musste es laut hören.
»Es ist mir wirklich völlig egal, das musst du mir glauben, aber sie hat gesagt, dass du keinen Vater hast. Sie hat behauptet, dass Kate – deine Mutter – nie verheiratet war.«
Annie war in ihrem Leben noch nie so schnell gefahren. Als sie das Tor zum Wald erreichte, lief ihr der Schweiß über das Gesicht. Brian hatte versucht, mit ihr zu fahren, aber sie hatte ihn so heftig weggestoßen, dass er abspringen musste, um einen Sturz zu verhindern. Dann war sie in die Pedale getreten, als wäre der Teufel hinter ihr her gewesen.
Sobald sie das Tor hinter sich gelassen hatte und von der Straße aus nicht mehr zu sehen war, stieß sie das Fahrrad ins Gras und rannte weinend über den Pfad durch den Wald … Oh, Cathleen Davidson, du gemeines Biest! Wie konntest du so etwas zu Brian sagen! Jetzt begriff sie auch, warum ihr die anderen Mädchen in der Klosterschule aus dem Weg gegangen waren. Alle wussten es jetzt. Die Nonnen wussten es … Schwester Ann … auch Schwester Ann wusste es jetzt. Oh, Cathleen Davidson, ich hasse dich! Es ist mir egal, dass es eine Sünde ist, ich hasse sie. Und natürlich ist Mama verheiratet … Warum mag Rodney Cathleen bloß? Er kann sie nicht mögen, sie ist so gemein. Ach, wenn Mama und Rodney bloß in einer katholischen Kirche geheiratet hätten, wenn Mama nur wieder zum katholischen Glauben zurückkehren würde! O heilige Jungfrau, mach, dass sie wieder katholisch wird und dass sie in einer katholischen Kirche heiraten, damit niemand je wieder so etwas behaupten kann!
All der kürzlich erlittene Schmerz kehrte zurück; das Wissen, keinen Vater zu haben, lastete wieder schwer auf Annie. Jahrelang hatte sie darum gebetet, einen Vater wie Rodney zu haben. Jetzt, nachdem er Kate geheiratet hatte, war er tatsächlich ihr Vater, aber irgendwie schien es nichts daran zu ändern, dass sie keinen richtigen Vater hatte. Niemand in dieser Gegend wusste, dass Kate noch nie verheiratet gewesen war. In Jarrow, sechs Kilometer entfernt, da wussten sie es. Dies hier war eine andere Welt, eine Welt mit hübschen Häusern und wundervollen Möbeln, üppigen Mahlzeiten und neuen Kleidern, und … der Klosterschule. Doch jetzt war alles zerstört.
Annie rannte blindlings weiter, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. »Oh, Cathleen Davidson, ich wünschte, du wärst tot. Ja, das wünsche ich mir. Und es ist mir egal, dass das eine Sünde ist … Sie ist gemein, und sie hat alles kaputtgemacht.«
Seit Rodneys Hochzeit mit Kate war Cathleen abscheulich gewesen. Sie hatte behauptet, Annie habe ihr den Onkel weggenommen. Rodney war jedoch nicht Cathleens Onkel, er war bloß ein Freund ihres Vaters. Vielleicht hatte sie zu diesem letzten Schlag ausgeholt, weil ihr Vater Rodney aufgefordert hatte, ihr nicht mehr so teure Geschenke zu kaufen. Er hatte gesagt, dass sie zu sehr verwöhnt worden war und derartige Geschenke erwarte, als hätte sie ein Recht darauf. Annie hatte die Ohren gespitzt, als Kate und Rodney darüber diskutiert hatten. Sie war gleichzeitig glücklich und traurig gewesen, denn Cathleens Bruder Michael würde derselben Einschränkung unterliegen, und Michael war ein netter Junge.
Wie wünschte sie sich, wieder in Jarrow zu sein, wo sie aufgewachsen war, im vertrauten Viertel der fünfzehn Straßen, in denen Trostlosigkeit und Armut herrschten. Dort schien es nicht so wichtig zu sein, wer wessen Vater war. Man war seinen Nachbarn so nah, dass man ihre Auseinandersetzungen und ihr Lachen durch die Wände hören konnte. Dort war es unmöglich, Geheimnisse zu haben. Hier hingegen, wo die Anwesen so weitläufig waren, dass man nicht einmal das Haus seines nächsten Nachbarn sehen konnte, schien es unabdingbar, den Makel ihrer Geburt geheim zu halten. Bis vor vier Monaten hatte sie Shields nur als Gegend gekannt, in der reiche Menschen wohnten, und nun schien Shields wieder in weite Ferne gerückt zu sein. Und Jarrow … ach, Jarrow lag ebenfalls eine ganze Welt entfernt. Dennoch sehnte sie sich in diesem Augenblick in jene vertrauten Straßen zurück.
Geblendet von ihren Tränen, taumelte sie weiter. In ihrer Benommenheit wusste sie, dass sie einen Ort finden musste, an dem sie sich verbergen konnte, bis sie sich ausgeweint hatte, denn so konnte sie nicht ins Haus zurückkehren. Ihre Mutter würde zu viele Fragen stellen.
Sie verließ den Pfad und lief im Zickzack durch den Wald hinter dem Haus. Wenn sie die Richtung beibehielt, würde sie die Lichtung umgehen, die Rodney für seine Kinderklinik hatte schlagen lassen. Mr. Macbane könnte dort sein, und sie fürchtete sich vor Mr. Macbane. Er wohnte in dem Cottage am Waldrand und half in seiner Freizeit auf dem Anwesen aus. Jeden Morgen fuhr er mit dem Fahrrad auf dem Weg ins Bergwerk am Haus vorüber. Rodney mochte Mr. Macbane. Er sagte, dass er ein rechtschaffener Mann sei, auch wenn er gut verstehen könne, wie sehr er dem früheren Eigentümer durch seinen Starrsinn zu schaffen gemacht habe. Annie wusste jedoch, dass sie ihn nie mögen würde.
Plötzlich schienen sich ihre verworrenen Gedanken und Seelenqualen auf ihren Körper zu übertragen – ihr wurde regelrecht der Boden unter den Füßen weggerissen. »Pass auf!«, rief eine Stimme. Doch sie wirbelte bereits in einem Salto durch die Luft, ehe sie hart auf der Erde aufschlug.
Als sie die Augen öffnete, tanzten die Bäume vor ihrem verschwommenen Blick, und nachdem sie wieder zur Ruhe gekommen waren, blickte sie in das wütende Gesicht eines jungen Mannes.
»Ich … ich bin gestolpert«, murmelte sie.
»Du solltest aufpassen, wohin du trittst«, sagte er scharf. »Läufst wie verrückt durch den Wald! Bist du verletzt?«, fragte er etwas freundlicher.
»Nein, ich glaube nicht.« Sie stand langsam auf und fegte die trockenen Blätter von ihrer Kleidung. »Ich bin über irgendetwas gestolpert.«
Wortlos drehte er sich um und straffte ein Seil, das von einem Eisenstab im Böden bis zu einem Baum in einiger Entfernung gespannt war. Annie beobachtete den jungen Mann benommen und fragte sich, ob er ihre Tränen bemerkt und gesehen hatte, dass ihr Gesicht ganz nass war. Vermutlich war es ihm nicht aufgefallen. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen, wusste jedoch, wer er war: der Sohn von Mr. Macbane, über den Kate und Rodney am Abend zuvor gesprochen hatten. Sie hatten von ihm erst erfahren, als Mr. Macbane erklärte: »Mein Junge kommt heim. Können Sie ihn nicht vielleicht stundenweise einstellen, damit er mir hilft, den Wald zu roden?« Die Macbanes schienen immer zu arbeiten: Mr. Macbane arbeitete im Bergwerk, schlug zwischen den Schichten Bäume und fand noch genug Zeit, sich um seinen Gemüsegarten zu kümmern – Blumen gab es dort keine. Mrs. Macbane ging jeden Tag in das Dorf, um zu arbeiten, und nun war auch dieser mysteriöse Sohn zur Arbeit gezwungen worden.
Sie bemerkte, dass er sehr dünn war, dass ihm das glatte schwarze Haar in die Stirn fiel, wenn er sich bückte, und dass er trotz seines schmalen Gesichts einen großen Kopf hatte …
Erstaunt sah sie, wie der Kopf anschwoll, bis er den Himmel über ihr verbarg. Als Nächstes bemerkte sie, dass seine Hand auf ihrem Kopf lag, der zwischen die Knie gepresst war.
»Tief einatmen«, sagte er, während er sie wieder hochzog.
Sie versuchte es, doch es war unmöglich.
»Komm schon«, rief er verärgert aus, »reiß dich zusammen!«
Er ist genauso aufbrausend wie sein Vater, dachte sie. Dann fiel sie, abwärts in die Erde, während sie aus der Ferne seine flehende Stimme vernahm. »Gütiger Gott! Nicht ohnmächtig werden! Reiß dich zusammen!«
Als sie wieder zu sich kam, wurde sie getragen. Langsam blinzelte sie dem Gesicht zu, das dicht vor ihrem schwebte. Er ist zu dünn, er kann mich nicht tragen, dachte sie in Panik, sobald sie fühlte, dass seine Arme zitterten.
Er zog sie enger an sich, und sie schloss die Augen. Wieder drohte die Dunkelheit sie einzuschließen.
Sie hatten den Wald hinter sich gelassen und überquerten nun die kleine Holzbrücke über den Fluss. Das erkannte sie an dem undeutlichen Klappern der losen Planken. Sie hätte sich gern übergeben und überlegte, ob sie ihn bitten sollte anzuhalten, damit sie sich über das Geländer der Brücke erleichtern konnte.
Annie erinnerte sich nicht, den Obstgarten oder den Tannengürtel durchquert zu haben. Doch sie hatten bereits die Gewächshäuser unterhalb der Zypressenhecke erreicht, die den Rasen neben dem Haus begrenzte, als sie Steves erschreckte Stimme hörte. »Allmächtiger! Was ist passiert?«
Erleichtert fühlte sie, wie seine kräftigen Arme sie umfassten und ihr Kopf gegen seine breite Brust sank. Sie mochte Steve: Er war groß und strahlte Sicherheit aus. Er erlaubte ihr auch, neben ihm im Wagen zu sitzen und die Hände auf das Lenkrad zu legen, so als ob sie den Wagen steuerte. Nun wurde sie schnell und vorsichtig ins Haus getragen.
Rund um sie ertönten Stimmen. »Ist sie tot? Ach, das arme Kind!«, rief Summy. Die Köchin war eine freundliche Frau und machte herrliche glasierte Biskuitkuchen mit Nüssen darauf … »Was in aller Welt ist geschehen?«, rief ein Mann. Das war die Stimme ihres geliebten Rodney! Was für ein wundervolles Wort, ›geliebt‹. Sie hatte es erst in den letzten Monaten gelernt … Geliebt, mein Liebling, Liebste, alles wundervolle Worte. Das Haus schien von ihnen erfüllt zu sein. Immer wieder rief Rodney: »Wo bist du, mein Liebling?«, und Kate antwortete dann: »Hier, Liebster.« Nun fühlte sie Kates Hände, die sich rasch und zärtlich bewegten. Wie tröstlich es war, in der Nähe von Mutter zu sein – die ihr eines ihrer zauberhaften Nachthemden anzog. Nun hörte sie wieder Rodney: »Mach dir keine Sorgen, es ist nur eine leichte Konkussion.« Benommen fragte sie sich, was eine ›Konkussion‹ war, doch was immer es auch war, Rodney würde es heilen, denn er war Arzt.
Das Bett war warm und weich, und sie schien darin zu schweben. Undeutlich war sich Annie bewusst, dass Kate und Rodney auf sie herabsahen. Sie standen bestimmt nah beeinander, und er hatte seinen gesunden Arm um sie gelegt. Er hatte zwar zwei Arme, aber den einen konnte er nicht mehr für allzu viel verwenden, seit er 1917 in Frankreich verwundet worden war. Dasselbe galt für seine Beine: Auch davon hatte er zwei, von denen eines nicht mehr richtig zu gebrauchen war. Tatsächlich fehlte daran der Fuß. Als Annie das Bein ohne Fuß zum ersten Mal gesehen hatte, war ihr übel geworden. Eines Tages war sie in ihr Schlafzimmer gelaufen, als Kate ihm eben half, den steifen Stiefel an das Bein zu schnallen, das in einem Stumpf über dem Knöchel endete. Wortlos war sie hinausgerannt, und es hatte lange gedauert, ehe sie das Hosenbein wieder ansehen konnte, ohne daran zu denken, was es verbarg.
Rodneys Stimme drang an ihr Ohr: »Ich werde Peter anrufen. Es gibt zwar keinen Grund zur Sorge, aber es wäre mir lieber, wenn er sie sich trotzdem ansieht.«
Einen Augenblick lang rief ihr der Name von Cathleens Vater den Grund wieder in Erinnerung, weshalb sie so gerannt war. Sie war jedoch plötzlich viel zu müde, um Cathleen zu hassen. Während sie ins Vergessen sank, wünschte sie sich, dass Rodney nach dem Krieg nicht ein Jahr lang bei den Davidsons gelebt hätte, denn dann könnte Cathleen nicht solche Ansprüche auf ihn erheben.
Annie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, doch als sie aufwachte, war es bereits Nacht. Sie öffnete langsam die Augen und sah im abgedunkelten Schein der Nachttischlampe, dass Kate bei ihr saß. Sie hatte das Gesicht halb abgewandt, und ihre Augen waren abwärts gerichtet; sie las. Da Annie noch immer zu müde war, um zu sprechen, beobachtete sie ihre Mutter vom Bett aus. Kate trug ihren rosafarbenen Schlafmantel, der im Glanz ihres braunen Haars zu schimmern schien. Die Haut ihrer Wange wirkte warm und weich. Selbst in der abgetragenen Kleidung war Kate Annie immer wunderhübsch erschienen, doch in den Kleidern, mit denen Rodney sie nun überschüttete, hatte sie eine Schönheit entwickelt, die Annie nie für möglich gehalten hätte. Manchmal ertappte sie sich dabei, dass sie Kate wie eine Fremde betrachtete, denn die Kleider verliehen ihr eine unbekannte Aura. Dann drängte es sie danach, Kates Arme um sich zu spüren, ihre Stimme zu hören und in ihre freundlichen Augen zu sehen, um sicherzustellen, dass diese schönen Kleider sie nicht verändert hatten. Als Kate vor einigen Jahren im Haus der Familie Tomaches gearbeitet hatte, bekam sie jedes Jahr zu Weihnachten neue Kleider. Sie waren jedoch nicht mit diesen zu vergleichen, die sie jetzt trug. In ihnen sah sie aus wie … nun … ach, sie wusste nicht, wie sie es beschreiben sollte, und außerdem war sie viel zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen.
Als sich neben ihr leise die Tür öffnete, schloss Annie die Augen. Sie wollte weder sprechen, noch etwas trinken. Sie sehnte sich nur danach, wieder einzuschlafen.
»Komm, meine Liebe, du brauchst nicht länger hier zu sitzen«, sagte Rodney. »Es geht ihr gut, und sie wird bis zum Morgen schlafen.«
»Ich habe mich den ganzen Tag darauf vorbereitet, es ihr zu sagen, und nun musste das geschehen«, sagte Kate. Diese Antwort verwirrte Annie.
Dann hörte sie das flüchtige Geräusch eines Kusses und lächelte schwach. Es machte sie keineswegs verlegen zu wissen, dass ihre Mama und Rodney einander küssten. Ganz im Gegenteil, sie freute sich für Kate, denn sie erinnerte sich noch gut an die langen Jahre, nachdem Kate das Haus der Familie Tolmaches hatte verlassen müssen, um ihre kranke Mutter zu pflegen. Jahre, in denen jeder Tag mit Arbeit, Wäsche waschen und Angst vor Kates Furcht erregendem Vater erfüllt waren. Der Gedanke an ihren Großvater, der nun schon seit mehr als zwei Jahren tot war, ließ Annie nach wie vor erschauern.
Sie war eben im Begriff einzuschlafen, als weitere geflüsterte Worte von Rodney sie zurückholten und sie mit brennender Eifersucht und tiefem Groll erfüllten. Während sie zuhörte, erstarrte sie. Nun waren ihr die Worte ihrer Mutter kein Rätsel mehr. Jetzt glichen sie Pfeilen, die ihren Geist durchbohrten: Mama bekam ein Baby. Sie fragten sich, ob Annie das gefallen und wie sie die Nachricht aufnehmen würde.
»Sobald sie es weiß, wird sie das Kindchen lieben. Je früher wir es ihr sagen, desto besser«, meinte Rodney.
Würde sie das Baby lieben? Wie sollte sie? Immerhin würde es Rodney als echten Vater haben! Ach, warum hatte Kate Rodney nicht schon vor Jahren geheiratet, vor ihrer Geburt, dann hätte sie sich nicht all die Jahre schamerfüllt vor den Worten »Annie Hannigan hat keinen Vater!« fürchten müssen.
Am fünften Tag fühlte sich Annie gut genug, um aufzustehen, doch Rodney bestand darauf, dass sie eine ganze Woche im Bett blieb. Die ersten beiden Tage war es angenehm gewesen, in einem seltsamen, sorgenfreien Zustand regungslos im Bett zu liegen, während Cathleen nicht wirklicher erschien als eine Hexe in einem Märchen. Was das Baby betraf, stellte Annie bereits am Morgen, nachdem sie von seiner Existenz erfahren hatte, erstaunt fest, dass ihr der Gedanke gefiel. Allmählich kehrte jedoch der Schmerz zurück, den ihr Cathleens Verrat zugefügt hatte. Vielleicht brannte er nicht mehr so heftig wie am Anfang, er war jedoch noch immer deutlich zu fühlen.
»Vor wem bist du davongelaufen, als du gestürzt bist, mein Liebling?«, fragte Kate leise, die am Fenster saß. »Wir haben dein Fahrrad gleich hinter dem Tor zum Wald gefunden.« Die Worte ihrer Mutter ließen den Schmerz erneut aufflammen.
»Ich bin vor niemandem davongelaufen, Mama«, antwortete Annie zögernd.
»Aber du hast geweint. Dein Gesicht war ganz verquollen.«
Durch die Stangen des Fußendes ihres Bettes beobachtete Annie die Flammen im Kamin, die fröhlich tanzten. Während sie noch ins Feuer starrte, setzte sich Kate zu ihr und nahm ihre Hand. »War es wegen Brian Stannard?«
»Nein. Nein, wirklich nicht.«
»Was war es dann? Wegen Cathleen? War es wegen Cathleen Davidson? Hat sie irgendetwas zu dir gesagt?«
Annie sah zu ihrer Mutter auf. »Woher weißt du das, Mama? Warum fragst du?«
Kate lächelte sie still an. »Weil Cathleen weder dich noch mich mag, mein Liebes. Schon seit langem warte ich auf so etwas.«
Annie fühlte, dass sie erleichtert einige Zentimeter tiefer in die Matratze sank. Es war wie am tiefen Ende eines Schwimmbeckens mit einem guten Schwimmer an der Seite.
»Was hat sie gesagt? Sobald du es mir erzählt hast, wird es nicht mehr halb so viel schmerzen. Ist es etwas über mich gewesen?«
Mama machte alles so einfach. Sie schien alle Probleme lösen zu können. Nun stand Annie Cathleen nicht mehr allein gegenüber. Sie wusste jedoch, dass sie ihrer Mutter nur einen Teil dessen anvertrauen konnte, was Cathleen gesagt hatte. »Cathleen … hat jemandem erzählt, dass du … na ja, sie hat gesagt, dass du und Rodney nicht wirklich verheiratet seid, weil ihr euch nicht in einer katholischen Kirche vermählt habt.«
Annie sah deutlich, dass Kate – ebenso wie sie – etwas anderes zu hören erwartet hatte, denn sie starrte sie einen Augenblick lang nur überrascht an. »Ist das alles gewesen?«, fragte sie schließlich.
Nein, das war es nicht. Annie würde jedoch nie im Stande sein, über das Thema zu sprechen, das in ihrem Geist die Form eines Dreiecks besaß, mit Kate in einer Ecke, einem gesichtslosen Mann in einer zweiten und einer formlosen Masse namens ›Schande‹ in der dritten.
Dieses Dreieck war vor mehreren Jahren am Morgen nach Heiligabend entstanden. Als Annie damals erkannte, dass sie keinen Vater hatte, beschloss sie, sich selbst einen zuzulegen und wählte den Arzt für diese Position.
Sie erzählte es ihrer besten Freundin Rosie Mullen, Rosie erzählte es Cissy Luck, diese erzählte es ihrer Mutter, und Mrs. Luck verspottete Kate damit auf offener Straße. Es war ein grauenvolles Weihnachtsfest! Nein, darüber konnte sie nie wieder mit Kate sprechen.
»Wie du weißt, mag Cathleen Rodney sehr, und sie beschuldigt uns, dass wir ihn ihr weggenommen haben«, erklärte Kate. »Du musst versuchen, keine Notiz von den Dingen zu nehmen, die sie sagt, denn Rodney würde sich grämen, wenn er das Gefühl hätte, dass ihr euch nicht vertragt. Verstehst du?«
»Ja, Mama.«
»Immerhin gehört Rodney jetzt zu uns, richtig?«
»O ja, ja!« Annie schmiegte sich tiefer in das Bett. Ja, Rodney gehörte zu ihnen. Jetzt und für alle Zeit. Er war nicht mehr bloß ›der Doktor‹, er war ein Teil von ihnen. Kate war Mrs. Prince, was Cathleen auch immer sagen mochte. Ach, wenn sie doch bloß Annie Prince statt Annie Hannigan heißen würde! Aber sie würde immer Annie Hannigan bleiben. Nichts konnte daran etwas ändern. Nur wenn sie heiratete, würde sich ihr Name ändern, oder? Ja, selbstverständlich, wenn sie heiratete. Wie schnell konnte sie heiraten, und wen? Ach nein, nicht Brian; sie wollte nicht einmal sein Mädchen sein, auch wenn sie es versprochen hatte …
»Alles wieder gut«, sagte Kate, beugte sich über sie und küsste sie. »Mach dir keine Sorgen. Denk einfach an die herrlichen langen Osterferien, die vor dir liegen. Und vergiss nicht, Cathleen wird schon bald die Klosterschule verlassen, um auf eine Kunstschule zu gehen. Dann wird sie dich nicht mehr belästigen. Und wenn sie später mit ihrer Familie kommt, behandle sie so, als wäre nichts geschehen. Wirst du das tun?«
»Ja, Mama.«
»Und Rodney werden wir nichts davon erzählen. Einverstanden? Ich meine, diese Geschichte mit unserer Hochzeit und der katholischen Kirche. Das würde ihn nur kränken.«
Kate verließ das Zimmer, stieg jedoch nicht sofort die Treppe hinab, sondern ging in ihr Zimmer am anderen Ende des Flurs. Während sie ans Fenster trat, biss sie sich auf die Lippen. Dieses kleine Biest! Wie konnte sie nur so etwas sagen! Kate hatte geglaubt, Annie würde ihr erzählen, dass Cathleen sie verspottet hatte, weil sie keinen Vater hatte; das würde zu ihr passen. Aber zu behaupten, dass sie und Rodney nicht verheiratet waren, weil die Zeremonie nicht in einer katholischen Kirche stattgefunden hatte, war absurd. Würde der Streit darüber nie enden?
Wieder hörte sie die alten Argumente und Peggy Davidsons Stimme: »Aber Rodney, du kannst von Kate nicht verlangen, nur in einem Standesamt zu heiraten, sie ist doch Katholikin.«
Sie hatte versucht, Peggy und Peter zu erklären, dass sie ihre Ansichten geändert hatte.
»Du bist aber zu keiner anderen Kirche übergetreten, oder?« hatte Peggy gefragt.
»Nein.«
»Dann bist du immer noch katholisch. Du weißt, dass du in deinem Herzen noch immer katholisch bist, Kate, das weißt du!«
Nichts hatte Peggy davon überzeugen können, dass sich Kate in ihrem Herzen nicht mehr als Katholikin fühlte. Im Gegenteil, ihr Herz sagte ihr, dass sie nicht mehr katholisch war. In ihrem Glück hatte sich Kate dennoch überreden lassen und um eine Dispens des Bischofs ersucht, da Rodney nicht katholisch war und eine Mischehe nur mit Einwilligung des Bischofs in der Kirche geschlossen werden durfte.
Als Kate jedoch sah, welcher Aufruhr in Rodney tobte, nachdem er begriffen hatte, dass er auf die geistige Freiheit aller dieser Ehe entstammenden Kinder verzichten müsste, um die Dispens zu erhalten, wusste sie, dass sie ihn nicht darum bitten durfte. Sie selbst war ebenfalls nicht bereit, diese Bedingung zu akzeptieren. Daher wurde ihre Ehe in einem Standesamt geschlossen.
Pater Bailey kämpfte bis zum Schluss, um sie zur Vernunft zu bringen, wie er sagte. Vor allem verwunderte ihn ihre unerbittliche Haltung gegenüber der Kirche, obwohl sie ihm gleichzeitig versprach, keinen Einspruch dagegen zu erheben, dass Annie katholisch blieb. Als sie Annies Wunsch nachgab, in die Klosterschule einzutreten, kratzte er sich nur in völliger Verwirrung am Kopf.
»Auch wenn es für mich die falsche Religion ist, scheint es für Annie die richtige zu sein«, erklärte Kate. »Wir sind nicht alle gleich: Wir sind Individuen. Sie ist glücklich in der katholischen Kirche, was ich nie war. Im Gegensatz zu mir liebt sie den Prunk und das Gefühl, einer großen Familie anzugehören. Von frühester Jugend an habe ich mich dagegen aufgelehnt. Ich kann in mir keine Liebe und Zuneigung dafür finden. Was mich betrifft, müssen all meine Gefühle einer Sache oder einer Person gelten oder eben gar nichts. Ich muss direkt an die Quelle gehen, um es so auszudrücken. Jede Art von Vermittlung löst in mir Verzweiflung aus. Und die Kirche ist voll von Vermittlern. Annie scheint hingegen Trost und Frieden aus ihr zu beziehen, und ich werde nie etwas unternehmen, das diese Gefühle zerstören würde. Das verspreche ich. Als Kind habe ich sie in eine protestantische Schule geschickt, aber sie nie davon abgehalten, in die katholische Kirche zu gehen. Und jetzt, wo es ihr Herzenswunsch ist, in die Klosterschule einzutreten, werde ich ihr ebenfalls keine Steine in den Weg legen.«
Während sie an das Gespräch mit Pater Bailey zurückdachte, stieg in Kate erneut ein ungutes Gefühl auf. Warum durfte man sein Heil nicht selbst suchen? Das Leben war Gott weiß hart genug, auch ohne die alten Kämpfe immer wieder ausfechten zu müssen. Wenn sie den falschen Pfad gewählt hatte, würde sie allein dafür büßen, denn mit ihrer Entscheidung hatte sie Annie in keiner Weise beeinflusst.
Während sie nun die Treppe hinabstieg, hörte sie von draußen das dreifache Tuten einer Autohupe. Unbewusst straffte sie den Rücken und hob das Kinn. Mrs. Summers war bereits an der Tür, und die erste Person, die Kate sah, war Cathleen. Sie war ihrer Mutter und Michael vorausgerannt.
»Hallo. Wo ist Onkel Rodney?«, fragte sie, während sie Kate einen Blick zuwarf, den man als unverschämt bezeichnen hätte können.
Noch ehe Kate antworten konnte, stürmte Cathleen bereits an ihr vorüber in das Arbeitszimmer. Als Kate den Weg hinunterging, um Peggy Davidson zu grüßen, erkannte sie, dass es sie jede Menge Selbstbeherrschung kosten würde, Cathleen nicht wissen zu lassen, wie sehr sie sich über sie ärgerte.
Die Ostergeschenke waren verteilt worden, und nun saßen alle um Annies Bett. Allerdings fand Cathleen, dass es keine richtigen Geschenke gewesen waren. Sie saß auf Rodneys Bein und hatte einen Arm um seinen Nacken gelegt. Das war ihre Lieblingshaltung, wenn sie beabsichtigte, ihn zu necken. Von Zeit zu Zeit wandte sie sich ihm zu und sagte: »Na, mein Schatzi? Kennst du mich?« Dann wartete sie, bis er ihr zuzwinkerte und etwas sagte wie »Du süßes Biest!« oder »Du kleiner Teufel!« Da sie wusste, dass Annie sie beobachtete, wendete sie alle Tricks an, die sie kannte. Außerdem hatte sie auf der Kommode zwei große Schachteln entdeckt, die nur flüchtig mit Seidenpapier zugedeckt waren. Vermutlich waren das die Geschenke, die Onkel Rodney für Annie gekauft hatte. Sie fragte sich, warum er so lange damit wartete, ihr seine Geschenke zu geben. Er hatte Kate ein wunderschönes, modernes Radio gekauft, während sie zu Hause noch immer eines mit diesem dummen, alten Kopfhörer hatten. Alles zu Hause war schäbig. Kein Vergleich zu dem Haus, das Onkel Rodney gekauft hatte. Zwölf Zimmer mit prächtigen Möbeln, alle Böden mit dicken roten Teppichen belegt, und die Wände in Weiß und zartem Blaugrau gehalten. Und diese Kate hatte ein Zimmer ganz für sich, einen Damensalon. Pah! Ein Damensalon, wo sie doch ihr ganzes Leben in Jarrow zugebracht hatte. Und wie sie da stand, schon wieder in einem neuen Kleid, einem gelben aus einer Fülle fließenden Stoffes.
Cathleen warf den Kopf zurück, so dass das kurze schwarze Haar ihr Gesicht in attraktiver Unordnung einrahmte, und ließ ihre dunklen, glänzenden Augen von einem im Raum zum anderen schweifen.
Ihren Bruder, der Annie schmachtend ansah, strafte sie mit einem verächtlichen Blick, während sie ihre Mutter auf die Folter spannte, indem sie sie raten ließ, was sie als Nächstes tun würde. Mit Annie, diesem ängstlichen Kaninchen, wusste sie fertig zu werden. Zufrieden lächelnd, dachte sie daran, dass sie sie schon in mehreren Runden geschlagen hatte. Ihr Blick kehrte zu Kate zurück, und ihr Gefühl verleitete sie zu dem Wunsch, diese Frau zu ärgern, der nun Rodneys ganze Aufmerksamkeit galt. Sie wandte sich zu Rodney um, zog seinen Kopf zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Na komm! Sei kein törichtes Mädchen«, sagte er etwas ungehalten, nachdem sie geendet hatte.
»Cathleen, benimm dich!«, schaltete sich Peggy ein. Ihre Mahnung erfolgte mit solcher Schärfe, als hätte sie darauf gewartet, ihre Tochter zu schelten. Sie fühlte sich eindeutig unbehaglich. »Glaubst du, dass Steve den Wagen für mich wenden würde, Kate?«, fragte sie dann. »Ich bin hoffnungslos verloren, wenn ich auf einer schmalen Straße wenden soll, und wir müssen zurück.«
»Natürlich, Peggy. Ich werde hinuntergehen und es ihm sagen«, meinte Kate, als das Geräusch eines Kusses alle herumfahren und zu Rodney und Cathleen hinübersehen ließ.
Cathleen hatte die Arme fest um Rodneys Nacken gelegt und küsste ihn mitten auf die Lippen. Als er, verlegen lachend, ihre Arme zu lösen versuchte, schmiegte sie sich noch enger an ihn.
»Benimm dich, Mädchen!«, fuhr Peggy ihre Tochter wütend an, während sie sie hochzog. Als Antwort stieß Cathleen nur ein tiefes, schalkhaftes Lachen aus.
Eine unangenehme Spannung legte sich über den Raum. Mit einem zornigen Blick auf Cathleen stand Michael auf. »Warum unternimmst du nichts, Mutter?«, rief er entrüstet aus.
Seine Mutter blickte verwirrt und hilflos vom einen zum anderen. »Ich weiß nicht, was die Zukunft noch bringen wird«, sagte sie nur, an niemand Bestimmtes gerichtet.
Kate spürte, dass sie den Raum augenblicklich verlassen musste, und war froh über den Vorwand, Steve zu suchen. Das Gefühl in ihrem Inneren glich nicht dem Ärger auf ein vierzehnjähriges Mädchen. Ihr war, als kämpfte sie gegen eine erwachsene Frau. Plötzlich dachte sie, dass Cathleen auf seltsame Weise ihrer aller Glück bedrohte.
Als sie Steve nicht in der Garage fand, fragte sie Mrs. Summers, wo er sein könnte.
»Ich glaube, er ist in seinem Zimmer, Madam. Aber wenn Sie zu ihm hinuntergehen, sollten Sie lieber Ihren Mantel nehmen. Der Wind schneidet Sie sonst mittendurch.« Kate legte sich den Mantel über die Schultern und rannte durch den Garten zum Sommerhaus, das in eine Einzimmerwohnung für den Chauffeur umgewandelt worden war.
Sie klopfte, und die Tür wurde geöffnet. »Steve«, sagte sie, »würde es Ihnen etwas ausmachen, Mrs. Davidsons Wagen zu wenden? Es tut mir Leid, Sie damit zu belästigen, aber selbst nach Ihrem ausgezeichneten Unterricht glaube ich nicht, dass ich dazu schon im Stande bin.«
»Selbstverständlich. Ich komme gleich mit.« Er warf das Buch, das er eben gelesen hatte, auf den Tisch hinter sich, schloss die Tür und knöpfte den Mantel zu, während er neben ihr den Garten hinaufging.
»Es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie gestört habe, Steve, wo Sie gerade ein wenig Zeit für sich hatten«, wiederholte sie. »Wir scheinen Sie immer zu den seltsamsten Zeiten zu benötigen. Wenn es nicht der Generator ist, dann ist es der Boiler, und wenn es nicht der ist, dann ist es …« Eine kräftige Windböe wehte ihr den Mantel über den Kopf und verschluckte ihre restlichen Worte.
Unbeholfen kam ihr Steve mit seinen großen Händen zu Hilfe. »Dafür bin ich hier, Madam«, sagte er. »Es freut mich, wenn ich nützlich sein kann. Ich glaube, Sie sollten den Mantel besser anziehen, ansonsten reißt ihn der Wind noch fort.« Er hielt den Mantel auf, während sie sich bemühte, in die Ärmel zu finden. Dann gingen sie weiter den Pfad hinauf.
Sie hatten beinahe das Fenster von Rodneys Arbeitszimmer erreicht, als Kate bemerkte, dass Cathleen dahinter stand. Sie starrte die beiden mit ihren tiefen, dunklen Augen an, ohne zu blinzeln, und ihr Blick war von unverhüllter Neugier erfüllt. Ihre Augen hatten etwas an sich, das Kate nicht in Worte zu fassen wusste. Sie gleicht einer Hexe, dachte sie, einer sehr alten Hexe in einem jungen Körper. Mit erstaunlicher Sicherheit wusste sie, dass sie dieses Mädchen würde bekämpfen müssen. Sie musste sie für sich selbst und für Annie bekämpfen, und sie musste vorsichtig vorgehen, wenn sie Erfolg haben wollte.
Sie verabschiedete sich knapp von Steve und ging direkt auf das französische Fenster des Arbeitszimmers zu, öffnete es und trat in den Raum. Dann schloss sie das Fenster bewusst langsam. Während sie den Mantel ablegte, lächelte sie auf Cathleen hinab, die nun neben dem Fenster stand, ohne den Blick von ihr genommen zu haben. »Es ist schrecklich windig«, bemerkte Kate mit einer Ruhe, die sie keineswegs fühlte, denn sie sehnte sich nach nichts mehr, als diesen Blick mit einem Schlag von dem dunklen, hübschen Gesicht zu fegen.
Statt etwas zu erwidern, fuhr Cathleen lediglich fort, Kate unverfroren anzustarren. Kates vorgeschützte Ruhe drohte angesichts dieses Schweigens und des unverwandten Blickes zu zerbrechen, doch in diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Rodney kam herein. »Ach, da bist du, mein Liebling. Wird sich Steve um den Wagen kümmern?«
»Ja, Schatz. Er wendet ihn bereits.«
Rodney wandte sich Cathleen zu. »Da bist du also, du kleiner Kobold. Deine Mutter will, dass du dich von Annie verabschiedest. Sie sind schon fertig zum Gehen.«
Cathleens Benehmen hatte sich verändert, sobald sich die Tür geöffnet hatte. »In Ordnung, Onkel Rodney, ich komme schon«, erklärte sie mit Kleinmädchenstimme. Einen Augenblick lang lächelte sie gewinnend zu ihm empor, ehe sie aus dem Zimmer lief.
Rodney trat an Kate heran und nahm ihre Hand liebevoll in seine. »Sie ist ein kleiner Schlingel. Hast du je eine Vorstellung wie die von vorhin gesehen? Ich glaube, das hat sie wegen Annie gemacht, glaubst du nicht auch? In Wirklichkeit ist sie harmlos. Auf ihre Art ist sie ein attraktives kleines Ding. Man kann gar nicht anders, als sie gern zu haben, nicht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Sie gleicht aber weder Peggy noch Peter. Hast du das schon bemerkt? Ich frage mich, wem sie nachgerät.«
Das wüsste ich auch gern, dachte Kate. »Ich muss gehen und mich verabschieden«, sagte sie stattdessen laut.
»Komm her.« Er zog sie an sich. »Was ist los, mein Liebling? Bist du wütend? Hat sie dich geärgert?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Bist du sicher?« Er betrachtete sie besorgt.
»Ja.«
»Dann ist es in Ordnung. Einen Augenblick hast du ausgesehen, als ob … Ach, komm her.« Er presste das Gesicht in ihr Haar. »Liebling, du bist wunderschön. In diesem Kleid siehst du wie die Verkörperung des Frühlings aus. Es ist schon seltsam«, flüsterte er, »so gern ich auch Besuch bekomme, sehne ich mich danach, dass er wieder geht, damit ich dich ganz für mich allein habe. Du wirst von Tag zu Tag schöner.«
»Sie werden jeden Augenblick hier sein.«
»Nur noch einen Kuss.«
»Liebling, die Tür ist offen!«
»Wie stehen meine Chancen?« Mit seinem gesunden Arm hielt er sie fest an sich gedrückt. »Liebst du mich?«
»Mhm …«
»Wie sehr?«
»Das werde ich dir später sagen.« Lachend löste sie sich aus seinem Arm und ging rasch in den Gang hinaus, wo sie abrupt stehen blieb, denn sie sah gerade noch, wie Cathleen hastig die Treppe hinauflief. Da wusste sie, dass Cathleen sie die ganze Zeit über durch den Spalt zwischen Tür und Türstock belauscht und beobachtet hatte.
Während sie langsam hinter Cathleen die Treppe hochstieg, überkam sie ein Gefühl der Erschöpfung, welches das Glücksgefühl, das sie eben noch empfunden hatte, völlig auslöschte. Warum war es notwendig, gegen dieses Kind – oder irgendjemand anderen – zu kämpfen? Ihr ganzes Leben lang hatte sie gegen das eine oder andere gekämpft: gegen Armut, Schande, Angst, Trunksucht und vieles, das sich nicht in Worte fassen ließ. Als sie und Rodney einander schließlich gefunden hatten, hatte sie geglaubt, dass die Tage des Kämpfens vorüber wären. Nun schien dieses Mädchen einen Schatten auf ihr Leben und das ihrer Tochter zu werfen. Vielleicht war es auch nur eine psychologische Folge ihrer Schwangerschaft, dass sie Cathleens Handlungen so viel Bedeutung zumaß und sie nicht als Zeichen kleinlicher Eifersucht betrachtete, sondern als Taten einer dunklen Macht. Ja, vielleicht war es bloß das.
Sie folgte Cathleen in das Schlafzimmer und fand sogar die Kraft, sie mit größerer Gelassenheit als zuvor anzulächeln. Das verwirrte Cathleen zutiefst, verringerte jedoch in keiner Weise die Wut, die in ihr tobte: Sie fuhren nach Hause, obwohl sie nichts bekommen hatte! Nicht das geringste Geschenk – denn ein rotes Osterei konnte man doch wirklich nicht als Geschenk bezeichnen. Und dass Onkel Rodney diese Kate so hatte küssen müssen! Und der Chauffeur, der seine Arme um sie gelegt hatte. Es war schon richtig vorzugeben, dass es windig war; das hatte sie selbst auch getan, wenn sie wollte, dass ein Junge sie berührte. Sie würde den Mann beobachten, wann immer sie konnte.
Sie würde beide beobachten.
Zum vierten Mal schon ging Annie in den Wald hinunter, um den jungen Mann zu suchen und ihm dafür zu danken, dass er sie nach Hause getragen hatte. Sie wusste, dass er stundenweise auf dem Anwesen beschäftigt war, und stieß auch immer wieder auf frische Arbeitsspuren. Bisher hatte sie ihn jedoch noch nicht gesehen. Heute aber war er da und rodete das Unterholz.
Sobald sie ihn erblickte, begann sie zu laufen, bremste sich aber rasch wieder ein; sie wollte nicht wieder stürzen – sonst glaubte er noch, dass sie es absichtlich tat. Als sie »Hallo!« rief, richtete er sich auf und sah ihr entgegen, während sie näher kam.
»Ich suche dich schon seit drei Tagen«, begann sie. »Ich wollte dir danken, dass du mich nach Hause« – sie wollte nicht das Wort ›tragen‹ verwenden, und so schloss sie – »dass du mich nach Hause gebracht hast.«
»Geht es dir jetzt besser?« Seine Stimme klang kühl.
»O ja, danke.«
»Dann ist es in Ordnung.«
Während er sich wieder dem Unterholz zuwandte, beobachtete sie ihn mit hinter dem Rücken verschränkten Händen. Sie bewegte die Spitze des Schuhs und zog in dem dunklen Laubboden kleine Furchen. »Wie heißt du?«, fragte sie schließlich zaghaft.
»Terence«, antwortete er nach kurzem Zögern.
»Terence … das ist ein hübscher Name. Ich heiße Annie«, sagte sie. »Was für ein Glück, dass die Ferien schon zwei Tage nach meinem Sturz begonnen haben. Es hätte mir gar nicht gefallen, im Unterricht zu fehlen. Ich gehe in eine Klosterschule.« Sie fragte sich, warum sie ihm all das erzählte. Er musste sie für albern halten. Wie ernst er war. Er sah aus, als würde er nie lächeln. Annie versuchte sich vorzustellen, wie er wohl aussah, wenn er doch lächelte. Er war gewiss schon alt, sehr alt, vielleicht achtzehn oder zwanzig.
Während sie ihn beobachtete, erkannte sie, dass er ihr Leid tat; er musste arbeiten, obwohl er offenbar Ferien hatte. Und er war so dünn. Möglicherweise bekam er nicht genug zu essen. Das musste es sein – der arme Kerl bekam nicht genug zu essen, weil seine Mutter zur Arbeit ging. Sie würde taktvoll vorgehen wie Kate und behaupten, im Wald Tee zu trinken. Dann würde sie sagen, dass er sich ihr anschließen könne. »Hast du jetzt Ferien?«, fragte sie als Einleitung.
»Ja«, erwiderte er schlicht, nachdem er einen kleinen Seufzer ausgestoßen hatte.
»Wo arbeitest du?«
Er gab keine Antwort.
»Hast du keinen Job?«
»Doch.«
»Wo denn?«
Er hielt inne und zog die Schultern hoch. »Ich werde in Oxford arbeiten«, sagte er schließlich.
»Oh.« Das war etwas anderes als Newcastle oder Whitley Bay oder einer der anderen Orte, die sie kannte. »Ich habe Hunger«, erklärte sie gut gelaunt. »Ich werde ins Haus gehen und meinen Tee hierher bringen … Soll ich für dich auch etwas mitbringen?«
»Nein, danke.«
»Bist du denn nicht hungrig?«
»Nein.«
»Hättest du nicht auch gern … eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen?«
»Nein!« Das Wort hatte etwas Endgültiges an sich.
»Aber deine Mutter arbeitet doch auswärts, und es gibt niemanden, der dir etwas zu essen macht.«
Als er sich zu ihr umwandte und sie anstarrte, hob sie die Finger an die Lippen. Seine Augen waren grau und kalt und glichen denen von Mr. Macbane.
»Du schwitzt doch, und es würde dir gut tun«, stammelte sie weiter.
»Danke. Ich will keinen Tee.«
»Aber es wäre überhaupt keine Mühe …«
»Ich will nicht! Ich habe dir gesagt, dass ich keinen Tee will … Und nun sieh zu, dass du fortkommst!«
»Es gibt keinen Grund, mich anzubrüllen.« Annies Lippen bebten, und ihre Augen begannen zu brennen. Zur Flucht bereit, verharrte sie regungslos.
»Auf ruhige Worte hörst du ja nicht.«
»Ich habe nur geglaubt, dass … dass es dir gut tun würde.«
»Ich brauche nichts, was mir gut tut … Gütiger Gott«, brach er ab, »fang doch nicht zu weinen an! Was ist denn jetzt mit dir los?«
Sie ließ den Kopf hängen, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Ohne das geringste Geräusch von sich zu geben, stand sie bebend vor ihm. Er starrte sie mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen an. »Nicht! Was hast du denn für einen Grund zu weinen? Gütiger Gott!« wiederholte er, während er die Hacke mit einer verzweifelten Bewegung auf die Erde schleuderte.
Sie konnte ihm nicht sagen, dass sie weinte, weil er ihr Leid tat; er war so dünn, und er ließ es nicht zu, dass sie etwas für ihn tat. Sie wollte davonfliegen, schien jedoch dazu verdammt zu sein, regungslos vor ihm stehen zu bleiben.
»Nicht! Hör auf damit! Hör jetzt auf!«, befahl er ihr, während er einen Schritt auf sie zu machte. »Du hast doch keinen Grund zu weinen. Ein großes Mädchen wie du, das weint!«
Als sie zu ihm aufsah, glitzerten die Tränen auf ihrem Gesicht wie Regentropfen: »Du bist so … so abweisend«, schluchzte sie.
Er starrte sie verdutzt an.
»Ich … ich wollte dir doch nur einen Tee anbieten.« Sie suchte nach ihrem Taschentuch, konnte es jedoch nicht finden. »Jetzt habe ich auch noch mein Taschentuch verloren«, schloss sie, während sie die Tränen mit der Zungenspitze aufsammelte.
Allmählich wurden seine Züge weicher, und der Anflug eines Lachens lag in seiner Stimme und seinen Augen, als er sagte: »Hier, nimm das.« Er zog ein außergewöhnlich weißes Taschentuch aus der hinteren Hosentasche und gab es ihr. »Ich werde eine Tasse Tee trinken«, sagte er ruhig, während sie sich die Augen trocknete.
Als sie nun zu ihm aufsah, lächelte sie durch ihre Tränen hindurch. »Wirklich? In Ordnung, dann hole ich den Tee.«
»Aber erst, wenn du deinen Tee im Haus getrunken hast«, fügte er hinzu. »Es ist zu kalt, um hier draußen zu sitzen.«
»Ja. In Ordnung.« Sie warf ihm das Taschentuch zu und stürmte mit weiten Sätzen zwischen den Bäumen davon. Ach, wie glücklich sie war, dass er ihr aufgetragen hatte, ihren Tee im Haus zu trinken, denn wenn sie nun darüber nachdachte, hätte es ihre Mutter vielleicht nicht erlaubt, ihn im Freien zu trinken, denn es war tatsächlich noch sehr kalt. Und jetzt brauchte sie nur um einen Tee für ihn zu bitten.
Zwanzig Minuten später schritt sie vorsichtig mit einem Korb, der eine Kanne enthielt, durch den Wald. Es war nicht so einfach gewesen, den Tee zu bekommen, wie sie geglaubt hatte. »Es hat keinen Sinn, ihm Tee zu bringen«, hatte Summy eingewendet. »Steve hat ihm schon vor Tagen Tee angeboten, und er wollte nicht.«
»Und Rodney hat ihm gesagt, dass er zum Abendessen heraufkommen kann, und er hat abgelehnt«, hatte Kate hinzugefügt.
Annie hatte nicht erzählt, zu welcher Szene es gekommen war, ehe er ihr Angebot schließlich angenommen hatte. »Nun, ich habe ihn gefragt, und er hat Ja gesagt«, wiederholte sie stattdessen nur.
Sie stellte den Korb auf einen Baumstamm inmitten der gerodeten Lichtung. »Ich habe den Tee gebracht«, rief sie in das Dickicht.
Dann ordnete sie das Teegeschirr erst auf eine und dann auf eine andere Weise an. »Hier ist er!«, sagte sie schließlich wie eine Zauberin, als der Junge neben ihr auftauchte. »Und da ist auch noch ein hart gekochtes Ei und Brot und Butter und ein Stück Kuchen und ein Krembiskuit mit Nüssen darauf. Das Biskuit wird dir sicher schmecken … ich liebe es.«
Er starrte die sorgsam angeordneten Speisen schweigend an und wandte sich dann halb zu ihr, als wollte er etwas sagen. Stattdessen blickte er nur wortlos in ihr lächelndes Gesicht, setzte sich abrupt neben dem Baumstamm auf die Erde und begann zu essen.
Als sie sich auf einen Stamm in der Nähe setzte und ihn schweigend betrachtete, fuhr er sich rasch mit der Hand über das Gesicht, als wollte er einen Ausdruck wegfegen. Annie glaubte, dass er gleich zu lachen beginnen würde, aber sein Gesicht blieb unbewegt.
Er aß gerade das letzte Stück des Obstkuchens, als sein Vater auf die Lichtung trat. Verlegen erhob er sich und wischte die Hände ab. Die ergrauten Brauen zusammenziehend, betrachtete Mr. Macbane erstaunt die Überreste des Mahls. »Wirst nicht dafür bezahlt«, sagte er.
»Sie haben es heruntergeschickt«, anwortete sein Sohn ruhig.
»Du hättest ablehnen sollen.«
»Das habe ich.«
»Dann sieh jetzt zu, dass du die verlorene Zeit nachholst.«
»Was ist mit dem Krembiskuit?«, rief Annie. »Es ist einfach herrlich und …«
»Das wirst du selbst essen«, erklärte Mr. Macbane keineswegs unfreundlich, »der Junge muss arbeiten.«
»Aber ich bekomme davon, so viel ich will, Mr. Macbane.«
»Glaubst du vielleicht, dass er verhungert?« Mr. Macbanes Augenbrauen schienen sich über der Nasenwurzel zu vereinen. »Seine Mutter is’ eine gute Köchin!«
»Ich … ich habe nicht gemeint …«, begann Annie.
»Immer mit der Ruhe«, sagte der junge Mann gelassen zu seinem Vater. Dann packte er das Geschirr in den Korb und reichte ihn Annie. »Ich habe es sehr genossen … Danke … und danke auch deiner Mutter.«
Während sie davonging, hörte sie den jungen Mann sagen: »Im nächsten Augenblick hätte sie zu weinen begonnen. Ihr kommen rasch die Tränen. Ich musste die Einladung annehmen, damit sie nicht weint.«
Das ist nicht wahr, dachte sie entrüstet. Mir kommen nicht rasch die Tränen! Das ist unfair. Damals habe ich geweint, weil Cathleen etwas so Hässliches gesagt hat, und du hast mich zum Weinen gebracht, weil du mich so grob angefahren hast. Und außerdem hast du mir Leid getan, weil du so dünn bist. Das werde ich dir morgen auch sagen. Ja, das werde ich!
Am nächsten Morgen zeigte sich, dass der junge Mann seine Arbeit bereits beendet hatte, hoch ehe sich Annie die Gelegenheit bot, in den Wald hinunterzugehen. Die Reste eines vor kurzem angezündeten Feuers glühten noch in der Lichtung. Sie war enttäuscht, denn sie wollte eindeutig klarstellen, dass sie nicht sofort zu weinen begann.
Ihre Enttäuschung war jedoch rasch wieder vergessen, als Kate ihr einen Auftrag erteilte. »Würdest du für mich zu den Mullens gehen, Liebes?« Das bedeutete eine Reise nach Jarrow, und sie freute sich darauf, einen Korb voll köstlicher Speisen zu den Mullens zu bringen und Rosie zu treffen, sofern sie schon von der Arbeit nach Hause gekommen war.
Annie half Kate eben in der Küche, den Korb zu packen, als Rodney vom Garten hereinkam. Es war offensichtlich, dass er aufgeregt war. »Du wirst es nicht glauben, Liebling. Weißt du, was ich soeben erfahren habe?«, sagte er.
»Was denn?« Kate lächelte ihm über den Tisch freundlich zu.
»Ich kann es selbst nicht glauben«, fuhr er fort, »aber Steve hat mir etzählt, dass Macbanes Sohn nach Oxford geht.«
Kate hielt im Packen inne. »Oxford? Du meinst doch wohl nicht auf ein College?«
»Doch, nach St. Joseph.«
»Das ist wundervoll! Einfach wundervoll!«
»Stell dir nur vor, der alte Mann hat kein Wort davon gesagt; Steve hat ihn gestern Abend im Pub unten im Dorf reden gehört. Offenbar hat der Junge ein Stipendium bekommen. Wie es scheint, ist er in allen Fächern gut, aber wahrlich brillant in Mathematik. Er beginnt im Oktober.«
»Oxford!«, wiederholte Kate. Plötzlich dachte sie an Bernard Tolmache; er war Dozent in Oxford gewesen. Der liebe, gute Mr. Bernard, der ihr eine neue Art von Leben gezeigt hatte. Er war in die Küche gekommen und hatte gesagt: »Hör auf, das Silber zu polieren, Kate, und polier stattdessen deinen Geist, damit er strahlender erglänzt als das Silber.«
Ohne jeden Zweifel hatte er mit den Gesprächen und den Büchern, die er ihr geliehen hatte, ihren Geist aufpoliert. Auch wenn sie nicht in Oxford gewesen war, hatte sie durch ihn doch einen kleinen Einblick in den Zauber dieses Ortes erhalten. Und nun würde der Junge aus dem kleinen Cottage dort unten tatsächlich nach Oxford gehen. »Das ist also der Grund, warum sie so hart arbeiten«, sagte sie zu Rodney.
»Ach, meine Liebe, was sie mit ihrer Arbeit verdienen, wird kaum reichen, um seine Kleidung und seine Kost zu bezahlen. Er muss neben dem Stipendium einen Zuschuss bekommen. Einfach unglaublich, dass der finstere alte Teufel nicht ein einziges Wort davon gesagt hat!«
»Oxford«, wiederholte Kate erneut. »Das ist wie ein Märchen. Ich freue mich sehr für ihn. Wie schwer sie gekämpft haben müssen, um ihn so weit zu bringen.«
»Ich bewundere den alten Knaben«, sagte Rodney.
»Und den Jungen«, fügte Kate hinzu.
»Ja, auch den Jungen.«
»Und vergiss nicht die Mutter. Sie muss sich jahrelang abgerackert haben mit diesem Ziel vor Augen. Was für eine Ehre für sie! Aber warum haben wir ihn nie gesehen, wenn er noch zur Schule geht?«
»Offenbar wohnt er bei einer Tante in Newcastle, um nah bei der Schule zu sein«, erklärte Rodney.
Annie sah von einem zum anderen. Ja, dachte sie, er hat gesagt, dass er nach Oxford gehen würde, um zu arbeiten. In ihrem Kopf war Oxford untrennbar mit einem anderen Namen verbunden: Cambridge. Diese beiden Namen erschienen ihr nicht wie die von Städten, sondern wie die Namen weit entfernter Inseln, wo Menschen, die anders waren als sie, hingingen und lernten, prahlerisch zu reden. … Würde auch er prahlerisch zu reden beginnen? Das tat er doch jetzt nicht. Aber er sprach auch nicht wie sein Vater. Und er war so dünn, und seine Kleidung wirkte abgenutzt. Vielleicht trug er die alte Kleidung bloß, wenn er arbeitete. Er ist also in Mathematik besonders gut. Ach, und sie hatte zu ihm gesagt, dass er abweisend sei!
Annie blieb in der Küche zurück, während Kate und Rodney, noch immer in ihr Gespräch vertieft, hinausgingen. War er ein Gentleman, weil er nach Oxford ging? Konnte er ein Gentleman sein, wenn sein Vater unten im Bergwerk arbeitete? Und gab es tatsächlich Gentlemen, die Wälder rodeten? Rodney arbeitete im Gewächshaus, und er war gewiss ein Gentleman. Sie war enttäuscht darüber, dass Terence nach Oxford ging. Irgendwie war es ihr dadurch nicht mehr möglich, dass er ihr Leid tat. Sie konnte ihm nun auch keinen Tee mehr anbieten.
»Summy, kennst du Mr. Macbanes Sohn?«, fragte sie Mrs. Summers, die eben in die Küche geeilt kam. »Er wird nach Oxford gehen.«
»Oxford? Du musst dich verhört haben, Kleines … Dieser Junge!«
»Doch, das wird er. Steve hat es Rod … dem Doktor erzählt.«
»Er sieht aber nicht aus, als hätte er den Grips dazu.«
»Er ist sehr klug und hat viele Prüfungen bestanden.«
»Hört, hört! Und seine Mutter ist Reinemachefrau bei Mrs. Tawnley im Dorf. Ach!« Mrs. Summers hielt im Beladen des Tabletts inne. »Dann ist das wohl der Grund, warum er es abgelehnt hat, heraufzukommen und hier Tee zu trinken, als Steve ihn eingeladen hat. Ist anscheinend zu groß geworden für seine Stiefel. Weißt du, was man sagt, Kleines? ›Man muss den Teufel nur auf ein Pferd setzen, und schon reitet er …‹ Na, er reitet irgendwo hin und wird sich dabei vermutlich den Hals brechen. So wie Emporkömmlinge seiner Art es im Allgemeinen tun«, schloss sie.
Annie verließ die Straßenbahn in Westoe Fountain und nahm eine andere nach Tyne Dock. Die Fahrt glich dem Übergang von einer Welt in eine andere. Alles, was dort grün war, wirkte hier dunkler; selbst die Frühlingsblumen und Bäume im Park schienen von einer dunklen Schicht überzogen zu sein. Sie sahen nicht so frisch aus wie in der Umgebung ihres neuen Heims. Während sie sich Tyne Dock näherte, wurden die Häuser niedriger und säumten enge Nebenstraßen, die von der Hauptstraße abzweigten. Die Straßenbahn folgte dem Ufer, und als sie an der katholischen Kirche vorbeifuhr, neigte Annie ehrfurchtsvoll den Kopf. Es wäre schön gewesen, dort einen Besuch abzustatten, aber der Korb war zu schwer, als dass sie ihn weit hätte tragen können. Die Straßenbahn verließ die Haltestelle und ratterte durch Tyne Dock, vorüber an der Bede Street und Bobs Pfandhaus, dessen dunkles Inneres sich in der Straße widerzuspiegeln schien. Die glänzenden Messingkugeln zogen ihre Aufmerksamkeit auf sich, und Annie erinnerte sich daran, dass sie einmal dorthin hatte gehen müssen, als Kate an einer heftigen Verkühlung gelitten und ihre Großmutter in der Dachkammer im Sterben gelegen hatte. Sie war zu jung, um etwas in die Pfandleihe geben zu dürfen, und so hatte sie einer Frau drei Pence bezahlt, damit sie es für sie tat. Bob war ein freundlicher Mann. Deshalb schämte sie sich jedoch kein bisschen weniger, und so war sie zur Hintertür hinausgeschlichen und in die Straße gelangt, in der die Hafenarbeiter am Zaun auf der anderen Straßenseite lehnten und jeden beobachteten, der kam oder ging. Sie erinnerte sich, dass sie, während sie an ihnen vorüber dem Hafentor zustrebte, dachte, dass dies der Grund war, warum Kate lieber in das Pfandhaus nach Shields ging, statt sich den unverschämten Blicken dieser Männer auszusetzen. Jetzt würden jedoch weder Kate noch sie je wieder eine Pfandleihe wie die von Bob betreten müssen … nie wieder.
Die Straßenbahn fuhr am Hafen entlang, an den Pubs und Geschäften vorbei und hielt gegenüber der hohen Steinmauer mit den eisernen Bolzen, die hell klirrten, wenn sich die Hafenpferde bewegten, die an der anderen Seite der Mauer festgemacht waren.
Während sie ausstieg, sah sie die Straßenbahn nach Jarrow hinter dem ersten Torbogen verschwinden. Sie ging bis zur Ecke gegenüber dem Hafentor und stellte den Korb in der Nähe des Zauns ab. Dann beobachtete sie die Menschen verschiedenster Nationalitäten, die durch das Tor ein und aus gingen. Eine seltsame Erregung stieg in ihr auf. Es war lange her, seit sie das letzte Mal am Hafentor gestanden war. Nun fuhr sie üblicherweise in Rodneys Wagen schnell vorüber … Das gefiel ihr, aber auch was sie jetzt erlebte, war interessant. Es glich einer Rückkehr zu etwas, das zu ihr gehörte.
In der Nähe stand ein kleiner Junge, der sich mit den Händen hinter dem Rücken an dem Eisenzaun festhielt, der die Hafengebäude umgab. Er ließ sich nach vorn fallen und zog sich dann in einer schwingenden Bewegung wieder hoch. Als er sie anlächelte, lächelte Annie zurück. Sie fragte sich, wo sie ihn schon einmal gesehen hatte. Sein Haar, das den Kopf in weichen Ringellöckchen umspielte, war glänzend schwarz wie Ebenholz und seine Haut hell und klar. Er hatte große blaue Augen, in denen ein trauriger Blick lag. »Wartest du auf die Straßenbahn?«, fragte sie ihn.
»Nein, auf meine Mama. Sie ist da drüben.« Er deutete mit dem Kopf auf die Pubs und Geschäfte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Ich habe einen Penny.« Er öffnete die Hand und zeigte ihr den Penny; den der Eisenzaun tief in seine Handfläche gepresst hatte.
»Oh, du bist ja reich«, gab sie zurück. »Da ist noch einer. Was wirst du jetzt damit kaufen?«
»Schweinefleisch mit Soße oder Pastete mit Bohnen«, antwortete er.
»Kluge Entscheidung, sorg nur gut für deinen Bauch, mein Sohn«, meinte ein Mann, der mit einem Rennhund an der Leine in der Nähe wartete. »Earl hat auch was übrig für einen guten Happen und einen guten Schluck.« Dabei bückte er sich und tätschelte den Hund. »Sieh nur«, sagte er, zog eine Flasche aus der Tasche und goss dem Hund ein wenig Alkohol in die Kehle. Der Hund schüttelte sich, sodass man die Knochen unter dem Fell tanzen sah.
Der Junge lachte, während Annie ausdruckslos zusah. Sie mochte diese Hunde nicht, denn sie konnte sich noch gut an den Samstagnachmittag erinnern, als sie mit Rosie zu der Hunderennbahn in East Jarrow gegangen war. Dort hatte man arme kleine Hasen in Käfigen gehalten und sie schließlich freigelassen, damit die Hunde hinter ihnen herjagten. Als die Startpistole abgefeuert wurde, war sie rücklings von der Sitzbank gefallen und in einen gefüllten Wassergraben gestürzt. Später war ihr übel geworden, und sie war nicht wieder hingegangen.
»Da ist meine Mama!«, rief der kleine Junge, ließ den Zaun los und stürmte auf zwei Frauen und einen Mann zu, die eben die Straße querten. Eine der Frauen, die selbst aus der Entfernung unendlich fett aussah, gab dem Jungen eine Ohrfeige und schrie ihn an, worauf er sich umwandte und wieder auf den Bürgersteig zurücklief.
Annie starrte die Frau an, die sich ihr näherte, und ihre Augen weiteten sich vor Überraschung. Es war ihre Cousine Connie – eigentlich Kates Cousine, Connie aus Jarrow, die immer einen besonderen Geruch an sich hatte, einen unangenehmen Geruch. Sie hatte sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Als sie noch hier wohnten, hatte Connie sie oft besucht. Doch nachdem sie Pat Fawcett geheiratet hatte, war sie nicht mehr gekommen … Warum, das hatte Annie nie herausgefunden. Sie wusste nur, dass es etwas mit Pat zu tun hatte, denn Kate hätte Pat heiraten sollen. Pat war im Krieg in Frankreich gefallen, und nun war Connie Witwe und unendlich fett. Konnte sie tatsächlich die Mutter dieses Jungen sein? Annie betrachtete das Kind. Jetzt wusste sie, warum sie geglaubt hatte, ihn schon gesehen zu haben. Er sah genau wie Pat aus, nur dass sein Gesicht nicht gerötet war.
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