Käthe - Überall ist Fremde - Katharina Prünte - E-Book

Käthe - Überall ist Fremde E-Book

Katharina Prünte

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Beschreibung

Katharina Milbert kommt 1908 auf einem bitterarmen Eifler Bauernhof zur Welt. Der Hof wirft gerade genug ab, um das Elternpaar und die neun überlebenden Kinder zu ernähren, mehr nicht. Der ältesten Tochter Maria bleibt das Kloster lange verschlossen, da sie nach dem Tod der Mutter den Haushalt führt; die zweitälteste, Anna, wird von den Franziskanerinnen krankheitsbedingt abgewiesen. Als beide ihrer Wege gehen, bleibt der Haushalt an der nun 14-jährigen Katharina, Kathrienschen genannt, hängen. Nach einem Hauswirtschaftsjahr im Kloster 1922/23 wird sie nicht an einen Bauernsohn verheiratet, sondern führt den Haushalt ihrer Geschwister und arbeitet auf dem Hof mit. Sie ist eine erstklassige Köchin – zeitlebens ihr größter Pluspunkt in allen Haushalten. Eine junge Frau vom Lande, zudem gebürtig von einem armen Bauernhof, hat in den 1920/30er-Jahren kaum erstrebenswerte Lebensperspektiven. Eine Liebesgeschichte mit einem jüdischen Kaufmannssohn scheitert an Standes-dünkel und der beginnenden nationalsozialistischen Judenverfolgung. Käthe heiratet 1938 in Neuzelle in eine brandenburgische Kaufmannsfamilie, doch ihr Ehemann ist schwer krank, und mit ihm heiratet sie seine missgünstige Familie, die ihr das Leben schwermacht.

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Katharina Prünte

KÄTHE – ÜBERALL IST FREMDE

Romanbiografie

Katharina Prünte

KÄTHE – ÜBERALL IST FREMDE

Romanbiografie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Texte: © Copyright by Katharina Prünte

Buchumschlaggestaltung: Annette Haug (Pola Polanski)

Unter Verwendung einer von der Autorin zur Verfügung gestellten Fotografie von ca. 1935.

Verlag Angelika Gontadse,

Inhaber: Dr. Thorsten Cabalo

Bahnhofstraße 33

45879 Gelsenkirchen

E-Mail: [email protected]

Vertrieb: epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

KINDHEIT UND JUGEND ·

JUNGE FAMILIE ·

DER UNTERGANG ·

AUF DAS LEBEN! ·

ANHANG ·

Geleitwort

Das Buch Käthe – Überall ist Fremde von Katharine Prünte war für mich eine Überraschung. Und auch wieder nicht.

Kennengelernt haben wir uns 2020 während einer Weiterbildung zur Biografiearbeit, sie als Teilnehmerin, ich als Leitung. So konnten wir ein Jahr zusammen im biografischen Raum unterwegs sein und ich immer wieder in kleinen Aspekten das Entstehen ihres Romans miterleben.

Ja, was ist dieses Buch eigentlich?

Ein Roman?

Eine familienbiografische Aufarbeitung?

Eine Biografie?

Schwer, sich festzulegen. Ich habe es als all das zugleich gelesen, und es hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Wie kommt der zustande? Auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln gelingt der Autorin diese Intensität des Erzählens?

Es ist eine eigentümliche Stimmung, die beim Lesen entsteht. Geprägt ist sie von der Gleichzeitigkeit großer Nähe und weiter Ferne. Dabei ist die Erzählstruktur einfach, fast simpel: Der Erzählstrom folgt der Zeit. Und bis auf wenige Briefe von Familienangehörigen bleibt die Erzählstimme immer die gleiche. Es ist die von Kathrienschen, so der Dialekt der Eifel, oder eben Käthe, wie sie später in der Mark Brandenburg kurzerhand von ihrem Ehemann und dessen Geschwistern genannt wird, der Großmutter der Autorin.

Aber nicht die Großmutter spricht. Die Enkelin tut es für sie. Und sie tut dies mit großer Präzision. Dabei entwickelt die Autorin, könnte man sagen, den Blick eines Adlerweibchens: Aus großer Ferne sieht sie auch noch kleinste Details.

Ich habe dem Ton des Erzählens nachgelauscht: Es ist der Tonfall einer alten Frau. Die, vielleicht am Küchentisch sitzend, auf ihr Leben zurückblickt und endlich, so möchte man meinen, erzählt. Erzählen darf und kann. Das, was all die Jahre und Jahrzehnte nicht zu Gehör gebracht werden konnte und was nun gehört wird. Denn da ist eine, die sehr genau hinhört. Und selbst aus dem Nichtgesagten Worte formt.

»Vor lauter Nervosität, was mich nun erwarten würde, zwirbelte ich ein Stück Tischtuch zwischen meinen Fingern. Dabei bemerkte ich, dass es an vielen Stellen schon sehr fadenscheinig war. Je mehr ich das Tischtuch nun auf diese Stellen hin untersuchte und meinen Blick schweifen ließ, desto mehr Stellen fielen mir auf.« (S. 153)

Eindrucksvoll, wie detailliert auch die sinnlichen Wahrnehmungen des Kleinen, Unauffälligen – hier das Tischtuch – beschrieben werden, und wie zugleich damit eine große Erzähllinie dieses Lebensabschnittes – hier im Wort ‹fadenscheinig› – angedeutet ist. So zeigt sich eine große Detailgenauigkeit in äußeren Dingen und Ereignissen, also Wissen, Recherche, Zuhören der Autorin, und ebenso ein genaues Einfühlen in innere Räume des Erlebens, Erleidens und Bewältigens im Gesamtverlauf des Erzählens.

Der Erzählton dieses Frauenlebens, das Katharina Prünte als Enkelin ausformuliert hat, ist unprätentiös, ohne Anklage, ohne moralische Aufforderung und gerade deshalb eindringlich. Und das sowohl als Lebenserzählung als auch als Zeitzeugnis. Beides ist gekonnt miteinander verschränkt. Wir erfahren also, indem wir dem unaufdringlichen Erzählton dieser Frau folgen, Details und Zusammenhänge des Zeitgeschehens zwischen 1921 und 1959 und was es bedeutete, in diesen Zeiten als Frau in Deutschland zu leben. Denn auch dies ist etwas Bemerkenswertes: Hier erklingt eine Stimme, die erfahrbar zu machen vermag, was es bedeutete, im Wechsel dieser geschichtlichen Zeiten eine Frau zu sein, und eine mittellose dazu.

Als Leserin – nicht als Literaturkritikerin, die ich nicht bin – fallen mir nach der Lektüre Titel ein wie Die Quints von Christine Brückner und Herbstmilch von Anna Wimschneider; Bücher, die davon handeln, wie sich Frauen als Töchter, Frauen, Ehefrauen und Mütter – das muss hier so genannt werden – im Wechsel der Zeiten und Gewalten im Leben sowohl behaupten als auch es durchstehen.

Nicht zufällig, das lässt sich begründet vermuten, ist Katharina Prünte Therapeutin geworden. In der transgenerationalen Weitergabe von Traumata ist es oft die Enkelgeneration, die ‹aufarbeitet›, also in die ‹Verdauung› bringt, was in und nach der durchlebten Situation emotional nicht integrierbar war. »Denn was blieb, war die Angst, die sich meiner bemächtigt hatte und die ich nicht abschütteln konnte. Die Gewalt, die mir angetan worden war, hatte mich in meinen Grundfesten erschüttert, und ich hatte das Grauen der Erinnerung nur unter großen Mühen unter Kontrolle.« (S. 251.)

Die transgenerationale Wirkung von Traumata kann viele Gesichter haben: Manchmal wiederholen wir die Leiden unserer Vorfahren auf neue Weise, manchmal verteidigen wir unsere Vorfahren, indem wir Schuldanteile leugnen und sie zu ‹Heiligen› erklären, manchmal identifizieren wir uns mit ihnen als Opfer oder mit ihren Opfern und werden moralisch sehr rigoros. Manchmal aber durchdringen wir gestalterisch traumatische Erfahrungen und kommen so zu etwas, was ich nicht Erlösung, aber doch Entspannung, das Ende einer übernommenen Angespanntheit, die sich ausdrücken kann als Angst, Nervosität, Panik, Aggression, nennen möchte.

Denn: Nun sind die Gefühle gefühlt. Endlich. Sie sind am richtigen Ort, das heißt, wieder mit den auslösenden Situationen verbunden. Sie geistern nicht mehr herum, denn sie sind angekommen. Angekommen und geankert: als Wissen vom Leben, als Tiefe im Fühlen und als Freiheit im Sein. Eine Vertrautheit ist entstanden mit der Fremde in und außer uns. Und damit hat diese sich verwandelt in belebbares, begehbares Terrain. Dann ist Pfeifen im Dunkeln keine Angstabwehr mehr. Es ist Pfeifen.

Indem sich die Autorin diesem Prozess anvertraut und ihn sprachlich gestaltet hat, hat sie der mehrgenerationalen Verdauung im Kontext der historischen Vergangenheit Deutschlands ein Enzym hinzugefügt. Es wirkt nun, indem das Buch veröffentlicht ist, im kulturellen Gedächtnis. Gerade in Zeiten gesellschaftlicher Krisen und Kriege ist dies eine wichtige Handreichung.

Ich möchte mich dafür bei ihr bedanken.

Zum Schluss noch eine persönliche Bemerkung: Es freut mich besonders, liebe Katharina, und ist mir jetzt erst am Ende des Nachwortes ins Auge gefallen, dass unsere beiden Buchtitel sich ergänzen: Dein Buch trägt den Titel Überall ist Fremde. Mein Buch zu den Grundlagen systemischer Biografiearbeit von 2022 heißt Sich selbst beheimaten. »Fremdheit und Beheimatung, Sichtbares und Verborgenes sind (…) Pole, zwischen denen das Erzählen als Brücke schwingt.« (Schindler, S. 336.)

Mit diesem Buch ist eine erzählerische Brücke gelungen. Mögen viele darüber gehen.

Herta Schindler, Oktober 2023

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·Herta Schindler, Sich selbst beheimaten. Grundlagen systemischer Biografiearbeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2022.

Kindheit und Jugend

DIE ÄLTEREN UND DIE JÜNGEREN MILBERT-SCHWESTERN CA. 1916 IM INNENHOF DES EIFEL-HOFS (V. L. N. R.): ANNA, KATHARINA, MARIECHEN, MARIA

Schulentlassung und Hauswirtschaftsjahr 1922/23

Im Jahr meiner Schulentlassung war es zu Ostern noch sehr kalt. Morgens früh um 4 Uhr beim Aufstehen kostete es mich große Überwindung, aus dem warmen Bett zu steigen. Ich war immer die Erste, die aufstand, da es meine Aufgabe war, den großen Ofen in der Küche anzuheizen. Ich hatte zwar Übung darin, aber dennoch fiel es mir schwer, denn meistens war ich noch müde und fror.

Besonders schwer fiel es mir, wenn meine Brüder am Abend zuvor vergessen hatten, Holz hereinzuholen, und das passierte nicht selten. Dann war meine Aufgabe auch, in die Kälte hinauszugehen, um Holz zu holen. Ich war knapp 14 Jahre alt, das jüngste von neun Geschwistern, klein für mein Alter und dürr. »Datt Mäderscher is oose Halfjehang, evver zieh!«, sagte Vater immer. (Übersetzt: »Das Mädchen ist unsere Halbabgehangene, aber zäh!« Halbabgehangen steht für dürr und ein wenig unterentwickelt.)

Wenn ich den Malzkaffee und die Hafergrütze für alle vorbereitet hatte, aß ich selbst schnell etwas und ging dann in den Kuhstall, um die Kühe zu melken. Diese Arbeit mochte ich gerne, denn hier im Kuhstall war es immer schön warm und ruhig. So warm und ruhig, dass mir manchmal beim Melken die Augen zufielen, so müde und so erschöpft war ich.

Meine Eltern hatten unseren Hof 1899 übernommen – eigentlich mein Vater, denn meine Mutter war von 1890 bis 1910 mit Kinderkriegen beschäftigt. Unser Hof hieß Büschel, da er am Ende des 60-Seelen-Ortes Eilscheid lag, versteckt inmitten von Büschen und Bäumen. Er lag direkt an einer Straße, die quer zum langgestreckten Hauptgebäude des Hofes verlief, das weiß getüncht war. Diese Straße, die man heute eher als Weg bezeichnen würde, hieß in meiner Kindheit Auf dem Büschel.

Stand man davor, also auf der Straße, lag ganz links der Eingang, über dem beinahe stolz das Schild 1899 prangte. Von der Straße aus sah man auf der rechten Seite des Eingangs ein langgestrecktes Gebäude mit vielen kleinen Fenstern. Hinter diesen Fenstern befanden sich die Kuhställe und die Wirtschaftsräume.

Wenn man um das Haupthaus herumging, befanden sich dort die große Scheune und die Schuster-Werkstatt von meinem Bruder Mettes, der eigentlich Matthias hieß, und ein weiteres großes Gebäude, in dem alles untergebracht war, was wir für die Arbeit auf unserem Land brauchten. Uns Kindern war es streng verboten, dort zu spielen – was natürlich den Reiz erhöhte, dies heimlich zu tun.

Unsere Wohnräume waren, was deren Größe betraf, den Wirtschaftsräumen untergeordnet. Danach hatte sich alles zu richten. Einmal regnete es in den Kuhstall, und mein Vater entschied, dass die zwei Kühe, die es betraf, vorübergehend in die Küche ziehen mussten.

In der unteren Etage befand sich die Küche, die gleichzeitig auch als gute Stube diente und in der wir uns alle aufhielten. Es gab noch eine weitere gute Stube, die aber nur sonntags und an Feiertagen genutzt wurde, um Brennholz zu sparen. Dann gab es im Erdgeschoss noch die Futterküche, durch die man direkt in den Stall treten konnte, und ein Kinderzimmer für die jüngsten Kinder.

Obwohl ich das jüngste Kind war, konnte ich mich nicht erinnern, dass wir hier geschlafen hätten. Das Zimmer hatte jedoch weiterhin den Namen Kinderzimmer. Später hat meine Schwester Anna sich dieses Zimmer für sich ganz allein einverleibt, während alle anderen im Obergeschoss schliefen.

Hier im Obergeschoss lebten meine Eltern, meine älteren Schwestern Maria und Anna, meine Schwester Mariechen (bis zu ihrem Tod 1916), meine Brüder Mettes, Nilles, Philip und Peter sowie mein Bruder Maternus und ich. Mein ältester Bruder Adolf zog in den 1. Weltkrieg und kam danach zwar unversehrt, aber nicht mehr nach Hause zurück. Ihn verschlug es nach Pommern. Ich weiß bis heute nicht, warum er nicht zurück nach Eilscheid kam. Als er in den Krieg zog, war ich sechs. Ich kann mich kaum daran erinnern, dass er bei uns war, als ich noch in Eilscheid lebte.

In der Küche war immer geheizt, daher hielten sich hier alle auf. Die drei Schlafstuben und das Elternschlafzimmer im Obergeschoss, die nicht zu heizen waren, waren so klein, dass hier gerade mal Platz für die Betten war. Es gab eine Schlafstube für meine Eltern, zwei für meine Brüder und eine für uns Schwestern.

Morgen war mein letzter Schultag. Morgen Nachmittag um die gleiche Zeit war ich eine Schulentlassene. Schulentlassene … wie sich das anhörte! Als würde ich aus dem Zuchthaus entlassen. Ich war ein wenig traurig darüber, nicht mehr zur Schule zu können. Der lange Schulweg von ungefähr vier Kilometern bei Wind und Wetter fiel zwar Gott sei Dank weg, aber gleichzeitig war es die einzige Möglichkeit für mich, ein wenig Ruhe zu haben.

Ich liebte die Schule – vom ersten Tag an. Die spannenden Geschichten, die dort erzählt wurden! Ich hatte nie gerne geschrieben und gerechnet, aber Geschichten zu hören und auch selbst zu lesen, das war und blieb für mich immer sehr schön. Der Pfarrer, der uns in Religion unterrichtete, erzählte immer so wunderbare Geschichten aus der Bibel.

Als ich 1914 eingeschult wurde, lag schon Kriegstreiben in der Luft. Das war zu Ostern. Die ersten Wochen in der Schule waren sehr aufregend für mich. Es gab so viel Neues und Interessantes zu hören und zu erfahren, dass ich vor lauter Aufregung kaum stillsitzen konnte. Dennoch folgte ich brav und artig allem, was unser Lehrer Herr Mühlenbach sagte. Er war ein Mann Ende 20 mit Kaiser-Wilhelm-Bart, der zwar sehr modern war, ihn aber mindestens zehn Jahre älter erscheinen ließ.

Es gab viel Gerede um ihn. So wurde erzählt (hörte ich Anna und Maria einmal im Stall tuscheln), er sei von seiner Braut wegen eines anderen Mannes verlassen worden und habe deswegen sein Dorf verlassen, um der Schmach zu entgehen. Nun war er bei uns in der Schule in Dackscheid, und irgendwie fürchtete ich mich vor ihm. Er hatte einen Weidenstock, den er schon mal kräftig niedersausen ließ. Wir hatten manchmal sogar das Gefühl, dass er Freude am Schlagen hatte, denn seine stechend blauen Augen blitzten oft bei jedem Schlag fast schon freudig auf.

Bereits einige Wochen nach Beginn des Schuljahres gab es Ärger, denn er hatte unserem Nachbarsjungen so fest auf die rechte Hand geschlagen, dass dieser eine Zeit lang nicht auf dem elterlichen Hof mitarbeiten konnte – dies kurz vor der Erntezeit. Seitdem setzte er den Stock sparsamer ein und schien zu überlegen, wen er züchtigte und wen nicht.

Irgendwann war er weg, und ich war froh, obwohl ich damals nicht verstand, was es bedeutete, wenn sich jemand ‹freiwillig meldete›. Einige Wochen später erzählte man sich dann, er sei ‹gefallen›. Ich habe lange nicht verstanden, was das bedeutete. Als ich Anna fragte, zischte sie mich an, ich solle mein loses Mundwerk halten. Unser Lehrer schien gefallen zu sein und es nicht geschafft zu haben, wieder aufzustehen.

Kurze Zeit später, nachdem sich unser Lehrer in den Kriegsdienst begeben hatte, gab es dann Ersatz. Die Gemeinde hatte Herrn Schumacher, der eigentlich schon in Pension war, in den Schuldienst zurückgeholt, was diesen sehr zu freuen schien. Er war zu alt für den Kriegsdienst und konnte nicht mehr eingezogen werden.

Solange Herr Schumacher unser Lehrer war, ging ich jeden Tag gerne in die Schule. Herr Schumacher war ein kräftiger Herr Mitte 60 mit einem stets freundlichen Lächeln. Er behandelte alle Schüler warmherzig, und ich habe nie erlebt, dass er auch nur einmal jemanden von uns geschlagen hätte. Wenn es ihm zu bunt wurde, brüllte er meistens in tiefer Baritonstimmlage los und alles verstummte.

Wenn gar nichts mehr half, dann stattete er den Elternhäusern Besuche ab, was für diese Zeit, so glaube ich, sehr ungewöhnlich war. Die Lehrer hatten in der Regel ihre eigenen Erziehungsmethoden und waren nicht verpflichtet, diese Methoden mit den Eltern abzustimmen. Herr Schumacher war stets daran interessiert, herauszufinden, warum z. B. ein Schüler immer schlechtere Zensuren bekam oder sein Verhalten auffällig wurde.

Weil Herr Schumacher so freundlich war, habe ich die Schule geliebt. Besonders die Geschichten und Gedichte, die er uns nahegebracht hat. Wie in vielen anderen Höfen gab es auch bei uns zu Hause nur wenige Bücher, außer natürlich die Bibel und die Gesangbücher für die Kirche. Herr Schumacher merkte recht schnell, dass ich sehr früh sehr gerne las. Nach der Schule durfte ich manchmal noch ein bisschen bleiben und in die Bücher gucken, die im Schulraum standen. Ich musste mich dann aber auch schon sputen und im Laufschritt nach Hause rennen, damit ich keinen Ärger bekam.

Herr Schumacher liebte besonders Herman Löns. Die Begeisterung für dessen Werke übertrug sich auch auf mich. Schon als Kind konnte ich mich stundenlang mit den Gedichten und Geschichten beschäftigen:

GEWITTER

Großmutter Natur im Lehnstuhl sitzt –

Wie langweilig ist es heute.

Sie gähnt. Ganz unerträglich sind sie heute,

Die sonst so lustigen Leute:

Die Bäume brummen so geistlos und fad,

Die Bächlein schwatzen so weise,

Der Wind ist erkältet und stark verschnupft –

Die Großmutter lächelt leise.

Das Lächeln flackert als rotes Licht

Am Himmelsrande empor –

Dem Winde fällt etwas Lustiges ein,

Er sagt es den Bäumen ins Ohr,

Die Bäume nicken verständnisvoll,

Erzählen dem Bächlein es weiter,

Das Bächlein prustet laut lachend los –

Die Großmama wird jetzt heiter.

Großmutter ein uraltes Witzchen erzählt –

Ein Blitzschlag fährt herunter!

Großmütterchen kichert – der Donner rollt!

Die Tafelrunde wird munter –

Es tosen die Bäume, der Bach wird berauscht,

Der Wind ist vollkommen bezecht,

Großmütterchen witzelt und kichert wie toll –

So ist ihr die Tischstimmung recht.

Dieses Gedicht mochte ich als Kind besonders. Ich konnte mich lange noch genau erinnern, wie Herrn Schumachers Augen vor Freude leuchteten, als ich das Gedicht im Schulraum fast fehlerfrei aufsagen konnte. Die Bücher von Herman Löns begleiteten und trösteten mich mein Leben lang, wie auch die Bibel. Ich glaubte schon als Kind nie so richtig daran, was dort geschrieben stand, aber ich fand oft Trost in schweren Stunden.

Es war nicht nur die Liebe zu Herman Löns, die Herr Schumacher mir mitgegeben hatte, sondern zu Büchern im Allgemeinen. Er sagte beispielsweise immer: »Ein Mensch, der liest, der langweilt sich nicht.« Dieser Satz begleitete mich ebenfalls. Die Welt, die sich mir durch das Lesen erschloss, führte dazu, dass ich mein schweres Leben leichter ertragen konnte. So konnte ich mich als Kind besonders für die Abenteuer des Barons Münchhausen begeistern. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich verstand, dass es sich bei seinen Abenteuern um Lügenmärchen handelte.

Meine Mutter starb, als ich elf Jahre alt war. Von diesem Zeitpunkt an durfte ich nicht mehr regelmäßig zur Schule gehen, denn der Hof ging vor – besonders in der Erntezeit. Jede helfende Hand war gefragt.

Ich hatte nicht viele Erinnerungen an meine Mutter, nur, dass sie in den zehn Jahren, in denen ich sie erlebte, fast nur im Bett lag und krank war. Ich weiß bis heute nicht, was sie hatte. Vielleicht hatte sie zu viele Kinder bekommen, immerhin zwölf an der Zahl.

Nachdem meine Eltern im Januar 1890 geheiratet hatten, meldete sich schon recht schnell das erste Kind an. Ich habe mich oft gefragt, ob sich meine Eltern geliebt haben. Der Anzahl der Kinder nach schien das der Fall gewesen zu sein, aber es war ja auch üblich, so viele Kinder wie möglich zu bekommen. Das erste Kind meiner Eltern wurde zehn Monate nach der Hochzeit geboren. Er wurde nur 15 Monate alt. Ich weiß, dass ich meine Mutter einmal fragte, ob sie da sehr traurig gewesen sei. Sie antwortete mir in einem barschen Ton: »Dazu hatte ich keine Zeit! Ich musste direkt wieder arbeiten, außerdem trug ich deine Schwester schon unter dem Herzen!«

Meine älteste Schwester Maria, die später als Schwester Hiltrud ins Kloster eintrat, wurde vier Monate, nachdem der Erstgeborene meiner Eltern starb, geboren. Ob sich meine Mutter viel um meine Schwester gekümmert hat? Oder trauerte sie noch sehr um ihren Erstgeborenen? Wahrscheinlich so, wie sie konnte. Und das war möglicherweise nicht viel. Vielleicht erklärt das auch den Umstand, dass meine Schwester Maria bis zum Eintritt ins Kloster ein wenig freudlos durchs Leben ging, als habe sie ihren Platz noch nicht gefunden. Vielleicht fand sie später in ihrer Klostergemeinschaft die Familie, die es auf dem Büschel für sie nicht gab.

1894 wurde Anna geboren, die zweitälteste Tochter. Meine Mutter wurde oft um ihre ältesten Töchter beneidet. Zum einen, weil beide ihr Leben früh Gott geweiht hatten, und zum anderen, weil sie halt Töchter waren, die man als billige Arbeitskraft überall einsetzen konnte. Eine Nachbarin sagte einmal zu meiner Schwester Anna: »Deine Mutter hat das große Los gezogen, die braucht nicht viel tun. Nur Kinder kriegen und natürlich auch viele Söhne, denn so ein Hof muss bestellt werden.«

Ich fragte mich oft, ob meine Schwestern früh erkannt hatten, dass die Arbeit auf dem Hof nichts für sie war und sie ihr Leben stattdessen Gott weihen sollten. Ich hatte schon als Kind den Eindruck, dass sich beide zu Höherem berufen fühlten und alles, was den Hof betraf, naserümpfend betrachteten.

Meine Mutter hingegen war vielleicht des Lebens überdrüssig und wollte einfach nur sterben – war vielleicht zu schwach, um weiterleben zu können. Sie war erst 50 Jahre alt, als sie starb. Dennoch hätte sie schon über 80 sein können, hinfällig und schwermütig, wie sie war. Sie sah aus wie eine uralte, verbrauchte Frau.

Habe ich sie geliebt? Ich weiß es nicht. Sie war mir vertraut, aber kennengelernt habe ich sie eigentlich nicht. Sie war in ihrer Traurigkeit für mich nicht erreichbar. Als ich später selbst Mutter wurde, habe ich häufig an meine eigene Mutter gedacht. Das hat mir oft geholfen, wenn es auch mit meinem Lebensmut nicht weit her war. Dann wurde mir klar, wie schwer sie es gehabt hatte.

Wenn es im Winter so eisig kalt war, wie es nur in der Eifel kalt werden kann, schlich ich mich oft über die knarrende Treppe nach oben ins Elternschlafzimmer, um mich kurz bei Mutter aufzuwärmen. Ich kroch dann in ihr Bett und wärmte mich an ihrem schweren und müden Körper. Sobald sie merkte, dass ich unter die Decke schlüpfte, zog sie mich an sich, als sei sie froh, dass sich ihr jemand näherte. Das waren die wenigen Momente meiner Kindheit, in denen ich mich, wie es einem Kind zusteht, geborgen fühlte. Meistens schlief ich umgehend ein, so wohlig warm war es, und so erschöpft war ich.

Ich musste mich immer zu ihr hochschleichen. Wenn Anna oder Maria es mitbekommen hätten, hätten sie mich sofort zurückbeordert. Die Treppe nach oben zu den Schlafstuben war eine alte und bereits ausgetretene Holztreppe. Auf jeder Stufe gab es Stellen, die man lautlos betreten konnte, ohne dass die Treppe knarrte. Dabei musste man sich sehr konzentrieren, denn sobald es knarrte, hörte man auch schon Annas schrille Stimme von unten: »Du sollst da nicht hochgehen! Die Mutter braucht Ruhe und muss ruhen!«

Das hörte sich sehr unangenehm an – nicht nur laut, sondern in einer Stimmlage, bei der man sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Zusätzlich zog sie die Sätze durch den Eifler Dialekt unerträglich in die Länge. Sie hatte diesen typischen Singsang beim Sprechen, der sich so wenig vornehm anhörte.

Ich bemerkte schon als Kind, dass sie, wenn sie mich maßregelte, absichtlich laut sprach, damit alle hören sollten, wie fleißig sie war und wie schwer sie es vermeintlich hatte. Ich glaube, sie wollte allen zeigen, wie gut sie mich erzog und wie sehr sie sich aufopferte. Obwohl sie meine Schwester war, konnte ich sie nicht ausstehen. Als sie starb, konnte ich nicht um sie trauern. Mein Herz schien wie versteinert zu sein. Was hatte sie Mariechen und mich gequält!

Meine Mutter musste drei Kinder beerdigen. Ihren erstgeborenen Sohn, der nur 15 Monate alt wurde, an den sich Jahre später niemand mehr erinnern konnte, auch nicht, woran er starb, selbst Mutter nicht. Das zweite Kind, das starb, war das zehnte Kind, Maria Katharina. Sie starb mit zehn Jahren. 1910, zwei Jahre nach meiner Geburt, kam noch ein Mädchen zur Welt. Sie hieß Anna, wurde aber Johanna genannt. Sie starb im Alter von neun Monaten. Einige Jahre später erinnerte sich kaum noch jemand an ihren Namen. Warum in ihrer Geburtsurkunde ‹Anna› und in ihrer Sterbeurkunde ‹Johanna› stand, wusste auch niemand mehr. Meine Mutter war schon über 40, als das Mädchen starb, über dessen Namen man sich nicht im Klaren war; sie weinte wochenlang. Ich wunderte mich als Kind, dass ein Mensch so viele Tränen in sich haben kann.

Ich weiß noch, dass ich sehr um Mariechen weinte, die ja nur knapp zwei Jahre älter war als ich. Ich war ca. acht, als sie starb. Ich habe sie als lustige und neugierige große Schwester erlebt, die sich stundenlang an einem Schmetterling erfreuen konnte, indem sie ihn nur beobachtete. Ich glaube, dass sie in vielerlei Hinsicht sehr klug war. Lustig und fröhlich war sie nur, wenn sie mit mir zusammen war. Sobald Erwachsene dazu kamen, verstummte sie und wurde ernst. Unsere Brüder neckten sie oft damit und versuchten, sie zum Lachen zu bringen. Es gelang ihnen nicht allzu oft.

Wenn Anna und Maria uns riefen, im Haushalt oder im Stall zu helfen, stellte sich Mariechen oft so ungeschickt an, dass Anna sie wegjagte oder Maria sie anherrschte: »Geh mir aus den Augen!« Sie hüpfte dann fröhlich ihrer Wege und schüttelte jedes böse Wort und jede Maßregelung von sich ab, als wären sie nie ausgesprochen worden. Dazu war ich nicht imstande, denn von mir hieß es immer: »Unser Kathrienschen … Das ist so fleißig … Das ist ein richtiges Arbeitspferd!« Das war zwar nicht sehr damenhaft, aber immerhin ein Lob, und ich fühlte mich heimlich geschmeichelt.

Mariechen war meine Verbündete gegen Anna und Maria. Wir sprachen davon, wie wir es Anna heimzahlen würden, wenn wir erwachsen wären. Was wir ihr alles für Wörter und Redensarten an den Kopf werfen würden und dass wir absichtlich viele Dinge tun würden, die sie uns immer und ständig verbat. Z. B. sich über die Wiese den Hügel runterkullern und dabei quieken und jauchzen.

Wenn Anna das sah, schimpfte sie uns furchtbar aus und kniff uns fest in die Arme, so dass wir blaue Flecke bekamen. »Das ist unschicklich und gehört sich nicht. Das sieht der liebe Gott gar nicht gern! Zur Strafe geht ihr jetzt rein und betet zehn Vaterunser und ich höre zu! Und morgen bleibt ihr den ganzen Tag drinnen und schrubbt mit der Wurzelbürste die Küche!«

Wenn sie so mit uns schimpfte, waren ihre Stimme und ihr Tonfall nicht nur keifend, sondern dazu noch herrisch. Für uns hörte es sich manchmal sogar so an, als hätte sie Freude daran, uns zu drangsalieren.

Ich vermisste Mariechen sehr. Eigentlich vermisste ich sie mein ganzes Leben lang. Oft habe ich mich später als erwachsene Frau gefragt, wie wir wohl zueinander gestanden hätten, wenn sie nicht eines Tages eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht wäre.

Kurz bevor Mariechen so plötzlich starb, wurde sie blasser und blasser. Auch ihre Fröhlichkeit wurde weniger, so wie die ganze Person immer weniger wurde. Mariechen hatte kaum noch Kraft. Als sie eines Abends beim Abendbrot kaum das Tischgebet sagen konnte, nahm Vater sie unter den bösen Blicken von Anna und Maria und trug sie nach oben ins Mädchenzimmer. »Die stellt sich wieder an«, keifte Anna, »eine Nacht im Kuhstall, und die ist kuriert!«

Maternus wurde nach dem Arzt geschickt. »Mach voran, sie stirbt sonst«, sagte Vater in seiner behäbigen Art. Allerdings höre ich bis heute das leichte Zittern in seiner Stimme, als er diese Worte sagte. Er legte Mariechen ins Bett, kam mit versteinerter Miene wieder herunter und sagte zu mir: »Geh, sie hat nach dir geschickt!«

»Komm aber wieder runter, die Arbeit hier unten macht sich nicht von allein«, herrschte Maria hinterher. Wenn es um Mariechen und mich ging, waren sich die beiden einig. Sie waren immer zornig auf uns beide. Warum, weiß ich nicht. Ob sie eifersüchtig waren oder uns unsere Zuneigung nicht gegönnt haben – ich hatte ständig das Gefühl, dass sie voller Missgunst uns beiden gegenüber waren. Als Mariechen tot war, hörte ich Anna zu Maria sagen, dass sie sich einfach aus dem Staub gemacht habe; jetzt sei nur noch ich da, um alle zu versorgen.

Als Mariechen an jenem Abend ein letztes Mal nach mir gerufen hatte, ging ich langsam die hölzernen Stufen hinauf. Wie in Trance setzte ich meine Füße so, dass die Stufen nicht knarrten. Ich wollte Mutter nicht wecken. Sie fühlte sich seit Tagen nicht wohl, noch unwohler als sonst, und war nicht imstande, aufzustehen. Ich strengte mich sehr an, ganz leise zu sein und ich erinnere mich noch, dass mein Atem, den ich ausstieß, zu sehen war. Es war bereits November und eisig kalt. Das Treppenhaus war ungeheizt.

Als ich leise ins Mädchenzimmer eintrat, hörte ich Mariechen sagen: »Kathrienschen, komm schnell und leg dich zu mir. Kühl mich ein bisschen, sonst verglühe ich.« Das brauchte sie mir nicht zweimal zu sagen. Als ich unter ihre Decke kroch, verschlug es mir den Atem. Es war so heiß unter der Decke, dass ich Angst hatte, mit ihr zu verglühen.

Sie roch anders als sonst. Hier habe ich diesen Geruch das erste Mal wahrgenommen. In meinem späteren Leben habe ich das noch oft gerochen – das zweite Mal neun Jahre später, als Vater tot mit dem Kopf auf dem Küchentisch lag. Als ich ihn da liegen sah, erinnerte ich mich, dass ich diese Ausdünstung auch bei Mariechen unter der Bettdecke wahrgenommen hatte. Als Vater starb, dachte ich, dass der Tod so riecht.

Bei Mutter habe ich den Geruch des Todes zum Zeitpunkt ihres Ablebens nicht mitbekommen. Sie starb, als ich auf dem Feld arbeitete. Als ich am Abend nach Hause kam, stand die Kutsche des Bestatters vor dem Haus, und sie wurde abtransportiert. Vielleicht roch sie aber auch immer nach Tod und ich habe es nicht mehr wahrgenommen, weil ich so daran gewöhnt war.

Mariechen und ich schliefen oft zusammen ein. Meistens an Tagen, wenn wir nur angeherrscht und zurechtgewiesen worden waren oder wenn eine von uns Angst hatte. Daher kannte ich ihren Geruch. Und in der Nacht, als sie mich verließ, roch sie anders – nach Krankheit, Tod und Vergänglichkeit. Dieser Gestank war eine Mischung aus Fäulnis, Verwesung, Erde und Wald. Ich habe diesen Geruch später noch häufig in die Nase bekommen und wusste immer sofort, was er zu bedeuten hatte: Abschied.

»Singst du mir von Sabinchen vor? Bitte …«, flüsterte sie so leise in ihrer letzten Nacht auf Erden, als sei sie schon dabei, mich zu verlassen. Genauso leise fing ich an zu singen:

Sabinchen war ein Frauenzimmer

Gar hold und tugendhaft.

Sie lebte treu und redlich immer

Bei ihrer Dienstherrschaft.

Da kam aus Treuenbrietzen

Ein junger Mann daher,

Der wollte gern Sabinchen besitzen

Und war ein Schuhmacher.

Ich sang immer leiser, und als ich bemerkte, dass sie gleichmäßig und leise atmete, anscheinend schlief, verstummte ich. Ich blieb neben ihr liegen und schlief ebenfalls ein. Ich weiß nicht, wie lange ich geschlafen habe, ein paar Minuten oder ein paar Stunden. Als ich wach wurde, dachte ich zunächst, sie sei aufgestanden, weil es neben mir ganz ruhig war, auch die Gluthitze nicht mehr da war. Sie lag aber noch neben mir. Leblos. Sie war ganz weich und noch ein bisschen warm, aber kühlte schon ab. Mein geliebtes Mariechen war tot. Ich schrie ganz laut nach Vater, immer wieder. Nur ihm traute ich zu, dass er wusste, was nun zu tun sei. Gestorben war sie wahrscheinlich an Diphterie, wie Vater mir dann später sagte.

Ich habe in meinem Leben nicht oft so stark geweint wie um mein Mariechen. Sie war ein guter Mensch, der sich an Kleinigkeiten erfreuen konnte und mit einer Fröhlichkeit durchs Leben schwirrte, dass es Gott, wenn es ihn gegeben hätte, eine große Freude gewesen wäre, sie in ihrer unaufdringlichen Leichtigkeit zu beobachten.

Ich weinte viele Stunden. Irgendwann kam Anna zu mir ins Zimmer, packte mich an den Schultern und schüttelte mich so heftig durch, dass mir speiübel wurde: »Du hörst jetzt sofort mit dem Gejammer auf, hörst du? Das Leben geht weiter, und Gott hat es so gewollt!«

»Gott? Welcher Gott nimmt so etwas Liebes einfach zu sich?«, fragte ich sie unter Tränen. Ihre Antwort war eine schallende Ohrfeige. »Du hältst jetzt deinen frechen Mund und unterlässt diese lästerlichen Redensarten!«

Anna hatte mir mit Marias Hilfe das Trauern ausgetrieben. Das ging von da an nur noch heimlich. Jemand anders schlug sich seitdem auf meine Seite und stand mir bei: mein Bruder Maternus. Er kam oft nachts in mein Zimmer und tröstete mich. Manchmal versteckten wir uns heimlich im Kuhstall und trauerten gemeinsam.

Er musste nun alles mit mir nachspielen, was Mariechen und ich uns einst ausgedacht hatten. Er machte geduldig mit. Er war lange nicht so ausgelassen und fröhlich wie Mariechen, aber wir hatten viel Spaß miteinander, und das half, aus den traurigen Stunden, die mich wie schwarze Löcher einsaugten, wieder herauszukommen.

Diese schwarzen Löcher begleiteten mich mein Leben lang. Es gab oft Momente, in denen ich drohte, völlig in diesen Löchern zu verschwinden.

Ich habe mich erst viele Jahre später gefragt, ob Maternus auch um Mariechen trauerte. Wahrscheinlich war er so damit beschäftigt, mich aufzuheitern und Mariechens Platz einzunehmen, dass er keine Zeit dazu hatte.

Er verließ Eilscheid 1919. Er ging nach Köln und machte dort eine Ausbildung zum Schneider. Er kehrte nicht nach Eilscheid zurück, sondern ließ sich in Niesky bei Görlitz nieder. Er hatte mich oft unterstützt, mir Arbeit abgenommen. Als er ging, brach es mir beinahe das Herz.

»Irgendwann kommst du nach und wohnst in meiner Nähe, ja?«, sagte er immer wieder, als er bemerkte, wie ich mit den Tränen zu kämpfen hatte. Der gute Maternus, der immer für mich dagewesen war!

Erst hatte mich Mariechen verlassen, nun drei Jahre später auch Maternus! Der Verlust der beiden traf mich schlimmer als der Tod von Mutter. Ich hatte das Gefühl, vollkommen auf mich allein gestellt zu sein.

* * *

Als Maria 1906 die Schule verließ, schickte Vater sie nach Dackscheid in eine Schneiderei. Sie war schon früh für ein Leben im Kloster vorgesehen und sollte dafür gerüstet sein. Da die Familie arm war, sah er für Maria größere Chancen, im Kloster aufgenommen zu werden, wenn sie über handwerkliche Fertigkeiten verfügte, die das Kloster nutzen konnte. Eine finanzielle Mitgift konnte zu keiner Zeit in Aussicht gestellt werden. Doch es sollte nach Abschluss der Lehre noch zehn Jahre dauern, bis sie eintrat. Als älteste Tochter führte Maria Hof und Haushalt. Mutter zog sich immer mehr zurück, je mehr Kinder sie bekam. Bestimmt sah Maria sich um ihre Chancen betrogen und ließ deswegen ihren Unmut an ihren jüngeren Geschwistern aus – besonders an mir.

Die zweitälteste Schwester Anna war 14 Jahre älter als ich. Sie war von zarter Statur, sehr schmal und sah irgendwie verbaut aus. Ihr Oberkörper, so schien es, saß auf viel zu dünnen Beinen; man war geneigt zu befürchten, dass sie jeden Moment umkippte. Sie musste schon sehr früh eine Brille tragen, und ich glaube, ohne Brille war sie nahezu blind. Sie erkrankte mit acht Jahren an einer Meningitis und überlebte, was in jenen Jahren nicht sehr häufig war.

Vielleicht war sie auch deswegen schon in jungen Jahren so willensstark, weil sie so eine schwere Erkrankung überlebt hatte. Seit sie ein kleines Mädchen war, wollte sie eine ‹Braut Gottes› werden, es unserer großen Schwester Maria gleichtun und in ein Kloster eintreten. Allerdings hatten die Franziskanerinnen ihren Eintritt abgelehnt. Sie hatte einen angeborenen Herzfehler und war körperlich insgesamt nicht auf der Höhe, so dass man befunden hatte, dass sie für die Arbeit im Kloster nicht geeignet war.

Ich glaube, das hat sie nie verwunden. Sie tat das Naheliegende und arbeitete in unserer Pfarrgemeinde als Haushälterin im jeweiligen Pfarrhaushalt. Sie war auch dafür verantwortlich, dass in der Kirche alles reibungslos lief, überprüfte den Kerzen- und Weinbestand, organisierte Blumen und mehr. Für ein unverheiratetes Fräulein schien das eine gute Position zu sein.

Nach Mutters Tod 1919 half Anna wieder auf dem Hof, soweit ihre Arbeit in der Gemeinde dies zuließ. Maria übernahm als älteste Tochter widerwillig die vollen Pflichten der Haushaltsführung. Auch Anna ließ alle anderen ständig spüren, wie sehr ihr die Verantwortung auf dem Hof zuwider war. Zugleich nahm ihr religiöser Eifer, ihr Fanatismus in Glaubensfragen ständig zu. Sie schien allen anderen, besonders mir, die Schuld daran zu geben, dass die Franziskanerinnen sie nicht haben wollten.

Ich musste viele Arbeiten im Haushalt übernehmen, fühlte mich von meinen beiden großen Schwestern dabei im Stich gelassen. Maria hatte, wenn es z. B. um den Frühjahrsputz ging, plötzlich immer wichtige Verpflichtungen, und Anna hatte sich dann um ‹ihre› Gemeinde zu kümmern. Sie sprach immer über ‹ihre› Gemeinde, als wäre es ihr Eigentum. Sie konnte hervorragend Arbeit verteilen, ließ sie von anderen – vorzugsweise von mir – ausführen und schmückte sich dann mit Lorbeeren, die ihr nicht zustanden.

Anna machte uns Geschwister manchmal mit ihren seltsamen Ideen und Forderungen verrückt. Wenn sie sich herabließ, sich zu uns zu gesellen, mussten wir oft zur Strafe Bibelverse auswendig lernen. Sie wurde wütend und gemein, wenn wir es nicht taten. Wenn wir Kinder Zeit zum Spielen hatten, kam sie zu uns und stellte uns alle möglichen Fragen zur Bibel. Wenn wir ihre Fragen nicht beantworten konnten, gab es noch mehr Verse zu lernen. Wir durften beim Spielen nicht laut lachen oder schreien. Sie sagte, das sei eine Sünde.

Anna bestand darauf, dass wir vor und nach dem Essen etwa eine halbe Stunde lang Gebete sprachen. Um die langen Gebetsstunden zu vermeiden, kamen die Jungen später herein und schoben Arbeiten auf dem Feld oder in den Ställen vor. Das Essen war dann meistens kalt, als sie anfingen zu essen.

Vater sagte lange nichts dazu. Er war ein eher wortkarger Mensch, der nur arbeitete und schwieg – so war mein Bild von ihm. Nach Mutters Tod wurde er noch wortkarger und schwermütiger.

Umso erstaunlicher, dass er eines Abends mit der Faust auf den Tisch schlug. Anna solle endlich aufhören, alle zu tyrannisieren und herumzukommandieren. Sie keifte zurück, dass die Kinder die Bibel kennen müssten. Vater sagte, dass er dafür verantwortlich sei; wenn es ihr nicht passe, solle sie wegbleiben. »Wir haben unser Kathrienschen, die kann das auch!«, herrschte er sie an.

Mir blieb das Herz stehen, denn wenn Anna nicht mehr kommen würde, würde noch mehr Arbeit an mir hängen bleiben und ich würde noch seltener in die Schule gehen können.

Knapp zwei Jahre nach Mutters Tod, in meinem letzten Schuljahr, trat Maria endlich ins Kloster ein. Dass sie ihr einjähriges Postulat – eine Art Probezeit und Einübung des klösterlichen Lebens – erst mit 29 antrat, war ungewöhnlich, aber sie war zuvor an ihre häuslichen Pflichten gebunden gewesen. Nun kam sie nur noch selten nach Hause. Es wurde seitens des Klosters nicht gerne gesehen; zudem war es 170 Kilometer entfernt; Maria brauchte einen ganzen Tag für eine Strecke.

Sie übergab ihre häuslichen Pflichten an Anna, die in ihrem religiösen Wahn nun alle terrorisierte und die schwere Arbeit mir überließ. Ich habe Maria lange nicht verziehen, dass sie uns verlassen hat, um ihren eigenen Weg zu gehen. Ich fühlte mich im Stich gelassen, denn alle schwere Arbeit im Haushalt blieb nun an mir hängen. Meine Verpflichtungen und das Arbeitspensum nahmen weiter zu. Neben meinen üblichen Arbeiten kamen jetzt – neben der Schule – auch noch die Aufgaben hinzu, die Maria nicht mehr erledigen konnte, z. B. die Zubereitung sämtlicher Mahlzeiten für meinen Vater, meine Brüder und natürlich für Anna. Oft konnte ich nicht zur Schule gehen, weil eine Kuh kalbte oder einer der Brüder krank war und versorgt werden musste. Besonders übel nahm ich Maria jedoch, dass sie mich mit Anna zurückließ, der ich nun auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war.

Doch in den Eifler Bauernfamilien schloss sich stets mindestens ein Nachkomme einer Ordensgemeinschaft an, in unseren Eilscheider und Dackscheider Nachbarsfamilien sogar oft zwei Kinder: Ein Sohn wurde zum Priester geweiht oder ging als Mönch ins Kloster, und eine Tochter wurde Nonne. Für die weiblichen Nachkommen bedeutete dies, dass sie lebenslang versorgt waren.

Bei keinem meiner Brüder hätte ich mir ein Leben in Armut, Gehorsam und Keuschheit vorstellen können. Adolf, mein ältester Bruder, muss schon als kleiner Junge voller Abenteuerlust gesteckt haben. Er träumte früh davon, die Welt zu bereisen. Mettes, der zweitälteste Junge, war ein ‹bockstetzich Tuppes›, ein eigensinniger Kerl, der allein besser zurechtkommt als in einer Gemeinschaft und dann auch noch einer klösterlichen. Nilles, also Cornelius, kam wiederum ohne seinen älteren Bruder Mettes nicht zurecht. Oft hätte man meinen können, die beiden seien Zwillinge, so ähnlich waren sie sich rein äußerlich, aber auch im Inneren. Sie blieben beide unverheiratet, hatten keine Kinder und verließen Eilscheid nie.

Philip und Peter, die Brüder, die dann folgten, hätten sich wahrscheinlich nie vorstellen können, irgendein Gelübde abzulegen, am wenigsten jedoch das der Keuschheit. Und ich? Mich hatte man nie gefragt, und ich hatte mir diese Frage auch selbst nie gestellt.

* * *

Der Tag meiner Schulentlassung war etwas Besonderes. Ich wachte morgens mit dem Gefühl auf, dass ich mich irgendwie verändert hatte. Ich fühlte mich mit einem Mal so erwachsen und weise. Gleichzeitig hatte ich ein flaues Gefühl im Magen, denn ich wusste, dass ich Herrn Schumacher und die Schule sehr vermissen würde.

Einige Monate zuvor hatte ich ihn gefragt, was ich tun müsse, um Lehrerin zu werden. Er hatte mich milde angelächelt und mit einem Tonfall voller freundlichem Mitgefühl gesagt: »Ach Kathrienschen, dazu kriegste keinen überredet!« Ich war sehr enttäuscht, aber was hatte ich denn erwartet? Als junge Frau hätte ich weiterhin eine Höhere Schule besuchen müssen, aber wer hätte die bezahlt? Und mein Vater, Anna und Maria hätten es nie zugelassen, wäre ich weggegangen.

Ich verabschiedete mich traurig von Herrn Schumacher. Ich glaube, er war auch ein wenig bedrückt, denn er fragte mich zum Abschied: »Mit wem kann ich mich denn jetzt noch so schön über Worte und Geschichten unterhalten? Und wer liest mir jetzt den alten Löns vor?« Erstmals konnte ich keinen Schalk in seinem Blick entdecken. Ich hätte am liebsten geweint, aber das verbat ich mir.

Auf dem letzten Heimweg stellte ich mir die Frage, was jetzt aus mir werden würde. Wahrscheinlich arbeitete ich jetzt nur noch auf unserem Hof und würde in wenigen Jahren irgendeinen Bauernsohn aus der Nachbarschaft heiraten und so enden wie Mutter. Würde ich noch Zeit haben zu lesen? Herr Schumacher hatte mir angeboten, jederzeit in der Schulbibliothek schmökern zu dürfen, wenn ich mal Zeit hätte. Tatsächlich habe ich das Schulgebäude nie wieder betreten. Nur die Liebe zu Büchern blieb.

Als ich nach Hause kam, staunte ich nicht schlecht. Maria war da. Als ich das Haus betrat, roch es nach dicker, guter Suppe. »Ach, wie schön!«, dachte ich. »Kochen brauche ich heute nicht!« Bevor ich die Küchentür öffnen konnte, hörte ich, wie Maria zu Vater sagte: »Nee, Vater, das kostet nichts.«

Ich hielt einen Moment inne. Anscheinend hatte mich noch niemand gehört.

»Ich weiß nicht …«, hörte ich Vaters Stimme.

»Sie kriegt dadurch die Flausen aus dem Kopf, die der alte Schumacher ihr dareingesetzt hat! Bücher … zu so was haben wir hier kein Geld! Und wenn sie erstmal einen guten Mann gefunden hat, hat sie dafür sowieso keine Zeit mehr.«

»Flausen kann ja sein,« entgegnete Vater, »aber sie ist trotzdem sehr fleißig und packt immer mit an.«

»Sie wird dann noch fleißiger und vor allem gottesfürchtiger. Da lernt sie Demut und ihren frechen Mund im Zaum zu halten.«

»Und was ist dann mit mir?«, hörte ich Anna weinerlich aus dem Hintergrund. »An mich denkt mal wieder keiner! Ich wäre da auch gerne hingegangen! Ich habe dann hier die ganze Arbeit. Auf dem Hof … in der Gemeinde … ach!« Ihr Wehklagen wurde immer lauter. Es war einfach unerträglich, sie so jammern zu hören. Ich betrat die Küche und alle verstummten, bis auf Anna, die sich theatralisch und für alle gut hörbar die Nase putzte, sich dann aber abwandte.

»Kathrienschen, komm mal her«, forderte mich mein Vater auf.

Ich setzte mich neben ihn auf die Ofenbank, und er legte seinen Arm um mich. Ich musste schlucken und war zutiefst erschrocken, denn so vertraulich war er nur sehr selten zu mir. Meine Geschwister behaupteten immer, dass ich Vaters Lieblingskind sei. Ich konnte das jedoch nie erkennen oder fühlen.

»Was hältst du davon, mit Maria nach Waldbreitbach zu gehen und dort die Hauswirtschaftsschule zu besuchen? Anna und ich sind davon nicht angetan, aber Maria denkt, das ist gut für dich.« Dass Anna davon nicht angetan war, das konnte ich mir sehr gut vorstellen! »Du könntest uns auch zwischendurch besuchen. Und an Weihnachten sowieso.«

»Aber warum soll ich denn in so eine Schule? Kann ich dann auch Lehrerin werden?«, fragte ich in grenzenloser Naivität.

»Von wegen!«, sagten Anna und Maria empört wie aus einem Mund. »Du sollst lernen, zu arbeiten und zu beten, damit du hier und für deinen Mann nützlich bist!«, fügte Maria hinzu.

»Für welchen Mann denn?« Ich verstand die Welt nicht mehr.

»Der, der dich hoffentlich mal nimmt, wenn du nicht mehr so lästerliche Redensarten hast! Denn eine Schönheit mit deinen fusseligen Haaren bist du ja nicht gerade!«, sagte Anna schmallippig.

»Aber was soll ich denn da lernen?«

»Alles, was du brauchst, um eine gute und fromme Ehefrau zu werden«, sagte Vater mit seiner ruhigen und gütigen Stimme.

»Komme ich denn wieder nach Hause?«, fragte ich.

Vater nickte. »Nach einem Jahr biste wieder hier!«

Als Kind hatte ich mir das Klosterleben sehr lustig vorgestellt. So viele Frauen zusammen, die zwar viel beten mussten, aber nie hungerten und bestimmt viel Spaß hatten. Sicherlich brauchten sie sich nie Sorgen zu machen, ob das Geld reichte, denn sie wurden ja rund um die Uhr versorgt – ihr ganzes Leben lang.

Allerdings hatte ich in der Schule gelernt, dass sie sich zu Armut, Keuschheit, Gehorsam und Gottesfürchtigkeit verpflichten mussten. Das verstand ich nicht und habe ich eigentlich nie verstanden. Sie hatten alles, was sie brauchten, glaubten an Gott, unterwarfen sich freiwillig den Klosterregeln und durften so viel lesen, wie sie wollten. So stellte ich es mir in meiner kindlichen Naivität vor. Da brauchte sich doch keiner verpflichten!

Nur den Begriff ‹Keuschheit› verstand ich nicht, und ich hatte auch niemanden, den ich fragen konnte. Und wenn ich so darüber nachdachte, konnte ich auch gut verstehen, warum Anna so traurig war, dass sie nicht ins Kloster eintreten durfte. Warum sie, die für mich der gläubigste Mensch der Welt war, nicht eintreten durfte, habe ich nie verstanden. Ich glaube, dass Anna ihr Leben lang deswegen wütend war. Die ständige Eifersucht, dass Maria ins Kloster durfte und sie nicht, trug wahrscheinlich dazu bei, dass sie immer verbitterter wurde.

Vater musste unterschreiben, dass er damit einverstanden war, mich für ein Jahr in die Obhut von Maria, das heißt in die Obhut der Franziskanerinnen, zu geben. In dem Vertrag stand, dass er erlaubte, dass ich ein Jahr lang das Mädchenpensionat der Franziskanerinnen im Kloster Marienhaus zu Waldbreitbach besuchte und dort auf ein frommes und gottesfürchtiges Leben als aufopfernde Ehefrau und Mutter vorbereitet wurde. Man wolle mir Gehorsam und Anstand beibringen.

Vater unterschrieb, dass, gemäß der ersten Ordensregel, erlassen und bestätigt 1869 durch den Trierer Bischof Matthias Eberhard, Folgendes zu gelten habe:

Die Schwestern verpflichten sich den Werken der tätigen Nächstenliebe: Arme, verlassene Kinder, soweit tunlich, unentgeltlich zu erziehen und auch nach Entlassung aus der Schule in weiblichen Handarbeiten zu tugendhaften, arbeitsamen Menschen heranzubilden; Arme, Kranke und alte verlassene Personen unentgeltlich zu pflegen in und außer dem Hause.

Für Vater war wichtig, dass es für ihn unentgeltlich war, mich nach Waldbreitbach zu schicken. Der Hof brachte gerade so viel ein, dass wir alle genug zu essen hatten, mehr leider nicht. Dennoch verstand ich nicht, warum ich als ‹arm und verlassen› galt. Ich fragte Anna, die mir barsch antwortete: »Weil deine Mutter tot ist!« Deine auch!, dachte ich voller Wut.

»Und was bedeutet ‹soweit tunlich›?«, hakte ich nach.

»Das heißt ‹notwendig› oder ‹vonnöten›! Herrgott, immer musst du fragen und nachbohren. Das ist ja nicht zum Aushalten! Das werden sie dir abgewöhnen. Darauf kannst du dich verlassen!«

Sie keifte und redete sich so in Rage, dass ihre Stimme zu versagen drohte. Ich musste an Mariechen denken. Die hätte jetzt freundlich und ruhig ‹danke› gesagt, sich umgedreht und wäre ihrer Wege gegangen. Sie hätte Annas Keifen an sich abprallen lassen und wäre dankbar gewesen, alles erfahren zu haben, was sie wissen wollte. Oh Gott, wie sehr vermisste ich sie!

Zwei Tage später verließen wir den Büschel und Eilscheid und traten die lange Fahrt nach Waldbreitbach an. Der Fußweg von Eilscheid nach Waxweiler zum Bahnhof betrug ca. sechs Kilometer, führte beschwerlich über Wiesen, unebene Feldwege und durch Wälder. Erschwerend kam hinzu, dass ich neue Schuhe trug und mir bereits während des ersten Kilometers Blasen lief, gleich an beiden Fersen.

Wir gingen im Morgengrauen los – bei Temperaturen am Gefrierpunkt. Niemand begleitete uns, wir gingen ganz allein mit Gepäck durch die kalte morgendliche Luft. Bereits nach wenigen Metern wusste ich, dass der Weg bis Waxweiler eine Qual werden würde. Als ich leicht das Gesicht verzog und schmerzerfüllt die Luft einzog, bekam ich von Maria einen Hieb mit dem Ellbogen in die Rippen.

»Unser Bruder hat diese Schuhe nur für dich gemacht, und nun bist du so undankbar. Du solltest dich was schämen, undankbar wie du bist. Wo gibt es denn so was? Los, bitte den Herrn um Verzeihung!«

Seit sie vor ungefähr sechs Monaten ins Kloster eingetreten war, reichte ihre fast schon fanatische Frömmigkeit an die von Anna heran.

Die Schuhe, die ich auf dem Weg nach Waldbreitbach trug, waren die ersten Schuhe, die eigens für mich angefertigt worden waren. Vorher hatte ich immer die Schuhe von Anna oder Maria auftragen müssen. Ich wusste, dass ich sie mehr hätte würdigen und schätzen müssen, aber hier, auf dem Fußweg von Eilscheid nach Waxweiler, hätte ich sie mir von den Füßen reißen mögen. Ich hatte bestimmt schon Blutblasen an den Füßen.

Mein Bruder hatte sie am Abend vor unserer Abreise fertiggestellt, so dass keine Zeit mehr gewesen war, sie einzulaufen. Es waren flache, aus dunkelbraunem Leder gefertigte Halbschuhe zum Schnüren. Das Leder war noch sehr starr und steif, und die Füße fühlten sich an wie zwischen zwei Mühlsteinen eingequetscht. Ganz sicher hatte sich Mettes sehr viel Mühe gegeben, so lange, wie er dafür gebraucht hatte. Ich war ihm sehr dankbar, dass er sich so viel Zeit dafür genommen hatte, aber es tat im Moment sehr weh. Und der Gedanke daran, dass es die einzigen Schuhe waren, die ich dabeihatte, ließ mich erschauern. Hoffentlich wurde das Leder schnell weich.

Mettes war der drittälteste Sohn und knapp zehn Jahre älter als ich. Da es ein ungeschriebenes Gesetz war, dass der älteste Sohn, also Adolf, den Hof übernehmen würde, entschied sich Mettes früh, ein Handwerk zu erlernen. Mein Vater war froh, dass die beiden ältesten Söhne ihren Platz gefunden hatten, ohne sich zu bekriegen. Das lag sicher an Mettes, dem die Landwirtschaft nie lag. Er lernte in Waxweiler das Schuhmacher-Handwerk.

Anna und Maria fanden es eigenartig, dass er sich ausgerechnet für dieses Gewerk entschieden hatte, denn er hatte rechts einen angeborenen Klumpfuß. Seine Zehen und die Fußsohle zeigten nach innen; er hinkte sein Leben lang. Ich fand es nicht eigenartig, sondern besonders schlau, dass er einen Beruf lernte, der es ihm ermöglichte, sich maßgefertigte Schuhe herzustellen, denn er hätte nirgendwo bezahlbare Schuhe für seine ungleichen Füße kaufen können.

In Eilscheid kümmerte er sich als Schuhmacher um Schuhreparaturen oder kaufte altes Lederschuhwerk auf, um es nach Erneuerung wieder zu verkaufen. Diese Flickschusterei war damals dem Schuster vorbehalten. Neue Schuhe stellte nur der Schuhmacher her. Mettes war immer stolz darauf, dass er beides konnte, auch das Handwerk des Schuhmachers erlernt hatte.

Er arbeitete und blieb am Büschel und heiratete nie. Als Kind hielt ich ihn für den schlauesten Menschen, denn er las viel und wusste alles, was ich ihn fragte. Ich fragte ihn als Kind einmal, warum er nicht heiratete – für mich eine zwangsläufige Konsequenz des Erwachsenenlebens. Die Frage schien ihm unangenehm; er wurde rot. Dann antwortete er mit leiser Stimme verschmitzt: »Das geht nicht. Dazu habe ich keine Zeit. Ich muss noch so viele Bücher lesen und so viele Schuhe reparieren, da ist für so was keine Zeit!« Das machte ihn für mich noch schlauer. Ich wollte so werden wie er: Lesen und arbeiten, das wäre es gewesen!

Mettes war still und in sich gekehrt. Er sprach wenig; man wusste selten, was er dachte. Er half zwar immer im Büschel mit, wenn Not am Mann war, verkroch sich aber ansonsten in seiner Werkstatt neben unserer Scheune. Wenn seine Arbeit am Abend getan war, verschwand er häufig in seinem Zimmer, um zu lesen. Wir unterhielten uns oft über Bücher und Geschichten, und manchmal gab er mir etwas zu lesen, was ihm besonders gefallen hatte, z. B. die Artus-Sage oder die Nibelungen-Geschichte – natürlich heimlich, denn wenn Anna oder Maria davon etwas mitbekommen hätten, hätte es Zeter und Mordio gegeben.

Sie hätten mir wahrscheinlich verboten, jemals wieder ein Buch oder ein Heft zur Hand zu nehmen, denn außer der Bibel war alles, was man lesen konnte, Teufelszeug, Sünde und Inbegriff der Liederlichkeit.

Mettes und ich hatten somit eine große Gemeinsamkeit, die uns verband. Ich glaube, die Schuhe, die mich zu Beginn so quälten, waren ein großer Liebesbeweis, den er ansonsten nicht in Worte fassen konnte.

Als Maria und ich in Waxweiler am Bahnhof ankamen, hatten wir anderthalb Stunden Fußweg hinter uns, und das Blut quoll aus meinen Schuhen heraus. Ich gab keinen Mucks mehr von mir, obwohl ich zeitweise das Gefühl hatte, mich vor lauter Schmerz übergeben zu müssen. Als wir endlich in den Zug stiegen und sogar einen Sitzplatz fanden, hätte ich weinen können vor Erleichterung.

Während der stundenlangen Fahrt nach Neuwied hätte ich gerne gelesen, um mir die Zeit zu vertreiben. Mettes hatte mir ein paar Groschenhefte zugesteckt: Sagen und Legenden aus der Eifel, Helden aus der Vergangenheit und Sagen aus der Lausitz. »Für die lange Reise mit der Eisenbahn«, hatte er mir mit seiner leisen Stimme zugeraunt.

Mit diesen dünnen Heftchen aus billigem Löschpapier und einem Druck, der an manchen Stellen nur schwer zu entziffern war, hatte er mir eine große Freude bereitet. Das war für mich das schönste Geschenk, das mir bis dahin je überreicht wurde.

Allerdings hatte Maria mir das Lesen bereits vor Reiseantritt mit der Begründung verboten, es gehöre sich nicht für ein unverheiratetes Mädchen, in der Öffentlichkeit zu lesen.

»Aber was soll ich denn die ganze Zeit machen? Die Fahrt dauert doch einige Stunden!«

»Beten und über dich nachdenken!«, befahl sie mir.

Was war eigentlich passiert, dass sie so hart geworden war? Sie war mir gegenüber immer strenger geworden, ermahnte mich ständig, mich vor den Gefahren der Welt in Acht zu nehmen, zu Gott zu beten und ihn zu bitten, mich in meiner Tugendhaftigkeit zu beschützen. Ich verstand das alles nicht. Ich wusste nichts über Tugendhaftigkeit und warum alle unbedingt wollten, dass ich mal heiraten und Kinder kriegen solle. »Wir wollen ja nicht, dass du mal ein gefallenes Mädchen wirst!«, hatte Anna zu mir gesagt, als es darum ging, warum das Haushaltsjahr im Mädchenpensionat der Franziskanerinnen in Waldbreitbach für mich so wichtig sei. Maria hatte energisch genickt.

Das Wort ‹gefallen› war für mich ein großes Mysterium. Unser Lehrer war im Krieg ‹gefallen›; warum war er nicht einfach wieder aufgestanden? Und nun wollten alle, dass ich nicht zum ‹gefallenen› Mädchen würde. Wenn ich hinfiel, würde ich schon wieder aufstehen, dachte ich mir.

Seit Maria in die Gemeinschaft der Franziskanerinnen eingetreten war, schien sie mir ganz verändert. Sie war mir noch fremder geworden, vielleicht auch, weil sie äußerlich sehr verändert war. Sie war noch nicht in Nonnentracht gekleidet, da sie sich noch im Postulat befand, doch sie trug nur noch schlichte Kleidung, ein dunkles Kleid aus grobem Leinen mit einem weißen abnehmbaren Kragen. Ihre Frisur bestand aus einem schlichten Knoten im Nacken. Schmuck trug sie nicht mehr.

Während die Eisenbahn durch die Eifel ratterte, begann sie, von ihrem Postulat zu erzählen. Ich hatte sie aus lauter Langeweile gefragt, was sie denn nun im Kloster so den ganzen Tag mache.

»Zu Hause im Büschel habe ich immer bestimmt, seit Mutter so krank war. Als ich dann im September im letzten Jahr in die Gemeinschaft eintreten durfte, war ich zwar sehr glücklich, aber es war auch schwer, mich unterzuordnen. Aber der liebe Gott hat mir geholfen, gehorsam zu werden.«

»Wie hat er das denn getan?«

»Ich habe viel gebetet. Auch zur Jungfrau Maria, zur Mutter Gottes. Das hat mir viel Kraft und Stärke gegeben.«

»Und deine ganzen Sachen und Kleider hast du doch auch abgeben müssen?«, stellte ich halb fragend fest.

»Ich musste nicht, ich wollte dem Herrgott alles Weltliche geben, denn das spielt jetzt keine Rolle mehr. Und ich bin schon jetzt sehr gespannt, welchen Namen mir der Herrgott gibt!«

Das war für mich das größte Rätsel: Nicht nur, dass man seine weltlichen Güter abgab, auch seinen Namen musste man abgeben und erhielt so scheußliche Namen wie Rudolfa, Renita oder Obligata. Das wollte der Herrgott? Das war ihm wichtig? Ich konnte das alles nicht verstehen, so wenig, wie Gott es gewollt haben konnte, dass mein Mariechen nicht mehr bei mir war.

Ich hatte Maria nie besonders gemocht, allerdings ein wenig mehr als Anna. Beide waren mir immer fremd. Jetzt während der langen Eisenbahnfahrt hatte ich das Gefühl, dass wir uns nahe waren, denn ich spürte eine kleine Unsicherheit ob des Lebens, das vor ihr lag, obwohl sie es ja schließlich so gewollt hatte. Das Leben, das sie auf dem Büschel geführt hatte, hatte ihr nie gefallen.

»Und wenn du nun eine Braut Christi wirst, dann darfst du ja auch nicht mehr heiraten und Kinder kriegen, nicht wahr? Aber wenn du jetzt einen netten Mann triffst, den du sehr magst, was ist dann?«

»Gott wird nicht zulassen, dass ich unkeusche Gedanken habe. Er wird mich stark machen und dafür sorgen, dass ich mich von keiner weltlichen Verlockung hinreißen lasse.« Davon schien sie sehr überzeugt zu sein. Schon der Gedanke an eine ‹weltliche Verlockung› ließ ihr sichtlich die Empörung ins Gesicht steigen, denn sie wurde über und über rot im Gesicht.

»Ich will auch nicht heiraten. Ich will frei sein und viele spannende Abenteuer erleben«, stimmte ich ihr mit kindlichem Enthusiasmus zu. Diese Unterhaltung gefiel mir gerade ausnehmend gut.

Umso erschrockener war ich, als sie mich ankeifte: »Jetzt ist aber Schluss mit diesen lästerlichen Redensarten!« Ihr blieb fast die Luft weg. »Du gehst nicht zum Vergnügen für ein Jahr ins Mädchenpensionat. Du sollst Gehorsamkeit und Gottesfürchtigkeit lernen, damit du es schaffst, einen braven Mann für dich zu gewinnen, dem du viele Kinder schenken darfst. DAS hat der Herrgott für dich vorgesehen!«, schnaubte sie entrüstet.

Wieder einmal verstand ich die Welt nicht mehr. Der kurze Moment der Nähe zwischen ihr und mir war mit einem Schlag dahin. Und ich verstand auch nicht, woher sie wusste, was Gott für mich vorgesehen hatte.

Den Rest der Zugfahrt musste ich mit ihr beten; wir sprachen laut ein Rosenkranzgebet, was mir sehr unangenehm war. Ich spürte, wie sich die Mitreisenden gestört fühlten und sich weiter von uns wegsetzten. Als wir endlich in Waldbreitbach ankamen, schickte ich ein leises »Gott sei Dank« gen Himmel.

Vom Bahnhof aus mussten wir den steilen Klosterberg hinauflaufen. Das laute Beten in der Eisenbahn hatte dazu geführt, dass ich die Schmerzen am Fuß gar nicht mehr wahrnahm. Ich hatte, wie in Trance, einfach die Worte des Rosenkranzes gesprochen, ohne auf deren Sinn zu achten. Jetzt, während wir den Berg hinaufmarschierten, kamen die Schmerzen mit Macht zurück. Nun konnte ich die Übelkeit nicht mehr unterdrücken. Ich übergab mich ins Gebüsch am Wegrand just in dem Moment, als ein Automobil an uns vorbeifuhr.

Maria stellte sich zwar schützend vor mich, um mich zu verdecken. Als das Automobil uns passiert hatte, fuhr sie mich jedoch an: »Kannst du dich nicht einmal zusammenreißen und dich nicht dauernd in den Mittelpunkt stellen? Diese Flausen werden dir im Pensionat hoffentlich ausgetrieben. Schwester Beata und Schwester Caritas haben ja Gott sei Dank Erfahrung mit Mädchen wie dir!«

»Wie sind denn Mädchen wie ich?«, fragte ich halb würgend und keuchend.

»Gib jetzt keine Widerworte mehr, sonst wird der Herrgott dich hart bestrafen!«